Coup - Johann Palinkas - E-Book + Hörbuch

Coup Hörbuch

Johann Palinkas

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Was wäre, wenn? Ein temporeicher Politthriller mit düsterem Zukunftsszenario Wie stabil ist die politische Lage in Deutschland und in Europa wirklich? Ist unsere Demokratie in Gefahr? In "Coup" denkt Thrillerautor Johann Palinkas aktuelle politische Themen weiter und stellt ein faszinierendes Gedankenexperiment an: Korruption, Machtmissbrauch und ein militärischer Staatsstreich in Berlin – völlig ausgeschlossen! Oder doch nicht? Ein abgeschossener Kampfjet über der Ostsee stürzt die Europäische Union ins Chaos. Während die NATO-Bündnispartner streiten, wie auf den drohenden militärischen Konflikt reagiert werden soll, planen zwei korrupte Politiker, den ungeliebten deutschen Kanzler loszuwerden. Was sie nicht ahnen: Der Chef der Bundeswehr hat längst alle Fäden für einen Militärputsch in der Hand, um die Schaltzentralen der Macht an sich zu reißen. - Erschreckend realistisch: Wie viel Wahrheit steckt in diesem dystopischen Roman? - Fesselnd und authentisch: Der Autor lässt Erfahrungen aus seiner Wehrdienst-Zeit bei der Bundeswehr einfließen - Klug konstruierter Politthriller für Fans von Robert Harris - Hohes Erzähltempo durch kurze Kapitel und rasche Perspektivenwechsel – Lesevergnügen für Krimi-Liebhaber! Gesellschaftskritisch und kühl analysiert: packender Zukunftsroman mit Weitsicht Johann Palinkas nimmt das Selbstverständnis des Militärs und seine Rolle in der Gesellschaft kritisch unter die Lupe. Er spürt vertuschten Skandalen und korrupten Machenschaften nach und offenbart die wahren Motivationen seiner Figuren: Macht, Geld, Einfluss. Obwohl es sich um eine fiktive Geschichte handelt, ist das Buch kenntnisreich recherchiert und greift Tendenzen des gesellschaftlichen Klimas auf. Wie steht es um die Zukunft Deutschlands und Europas? Was wird aus unserer demokratischen Gesellschaft? In »Coup« beschreibt Johann Palinkas eine beunruhigende Zukunftsvision, die wachrüttelt.

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Zeit:11 Std. 16 min

Sprecher:Ulla Wagener

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JOHANN PALINKAS

COUP

ROMAN

Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder vom Autor ausgedacht, Geschehnisse anderen und/ oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2021

Copyright © 2021 by Johann Palinkas

Copyright deutsche Erstausgabe © 2021 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Bison

Lektorat: Nina Hübner

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: © Ute Klaphake / Trevillion Images

ISBN: 978-3-7109-0120-1eISBN: 978-3-7109-5123-7

Inhalt

1. GRAF

2. HARTIG

3. KEHLER

4. BERG

5. KEHLER

6. GRAF

7. KEHLER

8. SABLINSKI

9. HARTIG

10. GRAF

11. BERG

12. GRAF

13. KEHLER

14. GRAF

15. HARTIG

16. GRAF

17. KEHLER

18. SABLINSKI

19. BERG

20. KEHLER

21. BERG

22. GRAF

23. SABLINSKI

24. KEHLER

25. BERG

26. GRAF

27. SABLINSKI

28. GRAF

29. KEHLER

30. HARTIG

31. SABLINSKI

32. KEHLER

33. GRAF

34. SABLINSKI

35. KEHLER

36. HARTIG

37. GRAF

38. BERG

39. GRAF

40. BERG

41. SABLINSKI

42. KEHLER

43. GRAF

44. HARTIG

45. BERG

EPILOG

ÜBER DEN AUTOR

1. GRAF

MITTWOCH, 7. FEBRUAR, 6.32 UHR

BERLIN

Julius Graf genoss die verstohlene Aufmerksamkeit, als er in die S-Bahn stieg. Sie war eine der wenigen Vorzüge des Soldatenberufs. So mancher frühmorgendliche Fahrgast musterte ihn, aber sobald Graf den Blick erwiderte, schaute jeder rasch weg. Die Gedanken seiner schläfrigen Mitreisenden mochten von Verachtung bis Bewunderung reichen, doch das war Graf einerlei. Was zählte, war die Aufmerksamkeit. Ihm war bewusst, dass er einen stattlichen Anblick bot. Groß, durchtrainiert, chic, die blühende Jugend. Selbst der Dienstanzug war akkurat gebügelt und saß perfekt auf seinen breiten Schultern. Den Eindruck, den er auf andere machte, überließ er nicht dem Zufall.

Kaum hatte er sich auf einen freien Platz gesetzt, vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Er kramte es hervor, doch bevor er auf die Morgengrüße seiner Freundin antworten konnte, fiel ihm die Pushnachricht einer Online-Zeitung ins Auge. Ein Blick auf die Schlagzeile genügte, und er wusste, dass dies kein gewöhnlicher Arbeitstag werden würde. Auf dem Bildschirm stand: Russischer Jet über Ostsee abgeschossen.

Am Potsdamer Platz verließ er die S-Bahn und legte die letzte Etappe seines Arbeitsweges zu Fuß zurück. Trotz zügigen Gehtempos verstrich aber noch eine Viertelstunde, bis Graf schließlich in die Stauffenbergstraße einbog – Zeit, die er brauchte, um sich für den bevorstehenden Stress zu wappnen. Als er schließlich durch das spartanische Metalltor neben dem Schild Bundesministerium der Verteidigung mit dem Bundesadler darüber trat, hatte ihm die beißend kalte Morgenluft auch das letzte bisschen Müdigkeit ausgetrieben.

Der Wachposten stand stramm und salutierte. Noch ein Vorteil des Soldatenberufs: eindeutige Hierarchien. Obwohl Graf als Hauptmann nur einen niederen Offiziersdienstgrad innehatte, war er für diesen Obergefreiten wie ein König. Als er nun aber den Parkplatz im Schatten der mächtigen Fassade des Bendlerblocks überquerte, musste er seinerseits fast jeden Uniformträger, dem er begegnete, unterwürfig grüßen. Noch befand Graf sich in der Mitte der militärischen Nahrungskette, aber er hatte nicht vor, seinen jetzigen Rang lange zu behalten. Vom Sohn einer Postbotin und eines Frührentners hatte er es bis in seine heutige Position schon weit gebracht. Seine Eltern hatten nicht das Geld gehabt, um ihrem Sohn ein Studium zu finanzieren. Sein Vater hielt ohnehin nichts von Akademikern und war der Meinung, sein Sohn solle lieber einen anständigen Beruf lernen. Seine Mutter hatte sich gar nicht erst dazu geäußert. Sie waren zwei erbärmlich ambitionslose Menschen, und Graf empfand nichts als Verachtung für sie. Am Morgen seines 18. Geburtstags war er schnurstracks zum nächsten Karrierecenter der Bundeswehr gegangen und hatte sich für eine Offizierslaufbahn verpflichtet. Seit diesem Tag war sein Lebensweg vorgezeichnet, und Graf zweifelte keine Sekunde daran, dass er das absolut Beste daraus machen würde.

Die Berliner Außenstelle des Verteidigungsministeriums glich an diesem Morgen einem Bienenstock. Auf den Fluren wuselten Beamte und Soldaten hektisch durcheinander, zweifelsohne aufgescheucht von derselben Nachricht, die auch Grafs Herz schneller schlagen ließ. Er hatte gerade hinter seinem Schreibtisch Platz genommen, als die Tür des kleinen Einzelbüros aufflog und sein Chef hindurchstürmte. Graf sprang auf und wollte eben zu einem schneidigen »Guten Morgen, Herr General« ansetzen, da winkte sein Gegenüber ab.

»Ah, Graf, pünktlich wie immer – sehr vorbildlich! Hier ist mal wieder die Hölle los, wie Sie sehen. Aber kommen Sie erst mal mit zur Morgenlage, ich brauche Ihre Unterstützung. Machen Sie fleißig Notizen.«

Seine Freude über das Kompliment verbergend, folgte Graf eilig und versuchte, dem großen hageren Mann von knapp sechzig Jahren, dem ranghöchsten Soldaten der deutschen Streitkräfte, auf dem kurzen Weg in den Besprechungsraum so dicht wie möglich auf den Fersen zu bleiben. Ernst Tröpke war Militär durch und durch. Selbst während er über die Gänge des Verteidigungsministeriums hastete, sah er aus, als schreite er eine Paradeformation ab. Graf bewunderte ihn; er war die Sorte Mann, die einen Raum augenblicklich mit seinem Charisma ausfüllte, und so verspürte Graf große Genugtuung, dass mancher Stabsoffizier, der ihn sonst keines Blickes würdigte, ehrfürchtig zur Seite wich, als er dicht hinter dem Generalinspekteur der Bundeswehr den Flur hinuntereilte.

Der Besprechungsraum war hochkarätig besetzt. Neben einigen unwichtigeren Anzug- und Uniformträgern waren der Verteidigungspolitische Berater in Russlandfragen, der Militärattaché der polnischen Botschaft, eine Dame vom Militärischen Abschirmdienst, ein Staatssekretär, der Ministerialdirektor aus der Abteilung Politik und Verteidigungsminister Wolfgang Schnarr höchstpersönlich anwesend.

Tröpke setzte sich zur Rechten des Verteidigungsministers, während Graf mit einem Platz am untersten Ende des langen Tisches vorliebnehmen musste. Alle Blicke waren auf einen großen Bildschirm gerichtet, auf dem eine adrett gekleidete Frau von Mitte fünfzig zu sehen war.

»Guten Morgen«, begrüßte Schnarr die Versammelten knapp. »Ich denke, Ihnen ist allen klar, weshalb wir hier sitzen. Der polnische Botschafter lässt sich entschuldigen. Er ist derzeit im Auswärtigen Amt, und wie wir alle wissen, ist das AA viel wichtiger als wir.«

Der ironische Seitenhieb durfte niemanden überraschen. Die erbitterte Konkurrenz zwischen Außen- und Verteidigungsminister war ein offenes Geheimnis.

Jetzt wies Schnarr auf den Fernseher. »Uns ist die deutsche Botschafterin in Warschau zugeschaltet.«

Damit ging das Wort an die Frau auf dem Bildschirm. Sie begann sogleich, alles, was sie von der polnischen Regierung erfahren hatte, mit den Anwesenden zu teilen. Viel Neues war für Graf nicht dabei. Das meiste hatte er schon in der S-Bahn im Internet lesen können. Dennoch hörte er aufmerksam zu. Es war nie ratsam, sich in solch sensiblen Angelegenheiten auf die Presse zu verlassen.

In den frühen Morgenstunden war ein russischer Kampfjet vom Typ Suchoi Su-35 von Kaliningrad aus gestartet und wenig später über der Ostsee in den Luftraum der NATO eingedrungen. Das polnische Marineinspektorat hatte daraufhin eine in der Nähe patrouillierende Fregatte in das Gebiet beordert. Nachdem das russische Flugzeug etwa eine halbe Stunde lang immer wieder zwischen russischem und polnischem Hoheitsgebiet hin- und hergeflogen war, war es schließlich auf die polnische Fregatte getroffen. Der russische Pilot war direkt über dem polnischen Schiff mehrere riskante Manöver geflogen. Bei einigen dieser Überflüge hatte sich der Jet bis auf wenige Meter der Fregatte genähert und dabei der Brückenbesatzung die Waffen an der Unterseite seiner Flügel gezeigt.

Bis zu diesem Punkt handelte es sich um keinen ungewöhnlichen Vorgang, überlegte Graf. Derartige Provokationen zwischen Russland und der NATO waren Alltag, von Spitzbergen bis zum Kaukasus. Als die Botschafterin fortfuhr, wurde jedoch klar, dass sich der russische Pilot dieses Mal den falschen Fregattenkapitän für sein Spielchen ausgesucht hatte.

»Der Kapitän hat den Piloten mehrmals über Funk zum Abdrehen aufgefordert und schließlich mit dem Einsatz der Bordwaffen gedroht«, erklärte die Botschafterin auf dem Bildschirm.

»Der Pilot hat aber auf keinen dieser Funksprüche reagiert«, schaltete sich der polnische Militärattaché ein.

Die Botschafterin fuhr unbeirrt fort: »Daraufhin hat die Fregatte mit einer Flugabwehrrakete das Feuer eröffnet. Der Jet wurde am Heck getroffen und stürzte in die Ostsee. Der Pilot konnte sich zuvor mit dem Schleudersitz retten und landete etwa 200 Meter von der Fregatte im Meer. Er wurde zwanzig Minuten später von zwei russischen Hubschraubern aufgelesen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Polen den Schauplatz bereits verlassen.«

»Unsere Schiffsbesatzung hat dem Piloten zuvor noch eine Rettungsinsel zugeworfen«, fügte der Militärattaché hinzu. Die polnische Botschaft hatte ihn offensichtlich damit beauftragt, die eigene Seite in ein möglichst gutes Licht zu rücken. Nur trugen seine Einwürfe nichts zur tatsächlichen Informationsgewinnung bei.

Offenbar gelangte Verteidigungsminister Schnarr zu derselben Einsicht. Er wandte sich an den Militärattaché und sagte höflich, aber bestimmt: »Vielen Dank für Ihre Unterstützung. Ich denke, wir haben jetzt ein klares Lagebild. Wir werden Sie kontaktieren, sobald unsererseits neue Erkenntnisse vorliegen.«

Der Pole registrierte die freundliche Aufforderung, die Runde zu verlassen. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, entspannte sich die Atmosphäre im Raum deutlich, und Graf verstand, dass nun nicht mehr jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden musste. Nicht, dass Graf Gefahr gelaufen wäre, sich zu verplappern. Seine Rolle als Adjutant des Generalinspekteurs war die eines stillen Zuhörers.

»Hat sich Moskau bereits geäußert?«, ergriff General Tröpke das Wort.

Die MAD-Frau räusperte sich. »Der polnische Botschafter wurde erwartungsgemäß unverzüglich ins russische Außenministerium einbestellt. Präsident Kusnezow bestreitet, dass sich die Absturzstelle in polnischen Hoheitsgewässern befindet, und dementiert jede Verletzung des polnischen Luftraums. Wörtlich spricht er von einem Akt der Aggression. Er hat entschlossene Konsequenzen angekündigt.«

»Das dürfte den Polen gar nicht gefallen. Sie werden eine Solidaritätsbekundung von uns erwarten«, warf die zugeschaltete Botschafterin ein.

»Ja, das ist klar«, sagte der Verteidigungsminister. »Nur ob sie eine solche auch bekommen, ist bei unserer Regierung eine ganz andere Frage. Ich denke, es wird wegen dieses Vorfalls ohnehin einen NATO-Gipfel oder zumindest Rücksprachen mit den Partnern geben. Herr Staatssekretär, bereiten Sie schon mal ein Statement vor, das aussageschwach genug ist, dass selbst der Kanzler nichts dagegen einwenden kann. Aber halten Sie vorher Rücksprache mit dem Auswärtigen Amt.«

Graf musste sich ein Grinsen verkneifen. Es war unerhört, wie Schnarr die Autorität des Kanzlers untergrub, obwohl die beiden zur selben Partei gehörten. Doch er hatte recht. Neubauer war ein schwacher Regierungschef, und es würde schwierig werden, ihm genug Rückgrat abzugewinnen, um zusammen mit der NATO wenigstens ein Minimum an Geschlossenheit gegenüber Russland zu demonstrieren. Was Graf aber so amüsierte, war der Opportunismus des Verteidigungsministers. Er hatte es in Neubauers politischem Windschatten bis in die Regierung geschafft. Doch jetzt, da die Umfragewerte des Kanzlers seit Wochen im Keller waren, versuchte er, sich von seinem langjährigen Mentor loszusagen.

Schnarr fuhr fort: »Ich möchte, dass der MAD da dranbleibt. Passen Sie vor allem bei der Cybersicherheit auf und erstatten Sie mir unverzüglich Bericht, sobald Sie neue Erkenntnisse haben. Herr Generalinspekteur, was sind Ihre Optionen?«

»Ich schlage vor, wir kontaktieren zunächst unser Kontingent in Litauen. Wir könnten den S2-Offizier dort anweisen, Gefährdungsstufe Bravo auszurufen. Um zu verhindern, dass russische Agenten in unserer litauischen Kaserne rumschnüffeln. Wir wissen ja nicht, was für entschlossene Konsequenzen Kusnezow so im Sinn hat.«

»Sehr gut, wenden Sie sich ans Einsatzführungskommando. Die sollen die notwendigen Schritte in die Wege leiten. An die Arbeit, meine Damen und Herren. Alles zu dieser Sache geht direkt an mich.«

Die Konferenz war beendet und, den Wunsch Tröpkes vorausahnend, sprang Graf auf. Als der General aus dem Besprechungsraum trat, passte er ihn ab: »Ich werde unverzüglich im Einsatzführungskommando anrufen.«

Tröpke war sichtlich erfreut. »Sehr gut, grüßen Sie Generalleutnant Ebers von mir. Er ist ein Freund aus Hamburger Zeiten. Und setzen Sie sich bitte auch mit Oberstleutnant Worzler in Verbindung und bestätigen Sie sicherheitshalber noch mal unseren Termin heute Nachmittag. Das ist der Kommandeur des Gebirgsjägerbataillons 233, der heute für das Ein-Ohr-an-der-Truppe-Treffen vorgesehen ist. Er soll bloß nicht denken, dass es wegen dieser Russlandgeschichte zu Verschiebungen kommt.«

Auf dem Weg zurück in sein Büro hätte Graf Freudensprünge machen können. Nicht wegen Oberstleutnant Worzler. Der war ihm herzlich egal. Der General traf ihn im Rahmen einer Initiative, für die sich die Presseabteilung den geistreichen Namen Ein Ohr an der Truppe ausgedacht hatte. Sie sollte den Soldaten das Gefühl geben, von der Führung ernst genommen zu werden, indem der Generalinspekteur höchstpersönlich ein Sorgengespräch mit möglichst vielen Bataillons- und Brigadekommandeuren führte. Graf hielt das Programm für völlige Zeitverschwendung, doch merkwürdigerweise schien es für den General Priorität zu haben.

Was Graf hingegen so freute, war, dass Tröpke ihm über das dienstlich Notwendige hinaus eine private Information gegeben hatte. Es war eine Kleinigkeit, doch sie zeigte, dass er zunehmend das Vertrauen seines Vorgesetzten gewann. Er war also auf dem richtigen Weg.

Graf betrat sein Büro und setzte sich an seinen Schreibtisch. Während er den Telefonhörer abhob, um im Einsatzführungskommando anzurufen, hämmerte er sich die neue Erkenntnis ins Gedächtnis. Tröpke und Generalleutnant Ebers waren alte Freunde aus Hamburger Zeiten. Man konnte nie wissen, wozu derlei Detailwissen eines Tages von Nutzen sein würde.

2. HARTIG

DONNERSTAG, 8. FEBRUAR, 8.05 UHR

RIGA

Der Frühstückstisch war ein kleines Stück Deutschland mitten in Riga. Dampfender Kaffee, duftende Brötchen, Schinken, Käse, Nutella und ein gekochtes Ei. Richard Hartig ließ seinen Blick über diese herrliche Vielfalt gleiten und dachte darüber nach, wie glücklich er sich schätzen konnte. Er wusste nicht, warum ihm dieser Gedanke gerade jetzt kam. Vielleicht hatte es etwas mit Schuldgefühlen zu tun; jeden Morgen richtete seine Frau Katja ein solch aufwendiges Frühstück her, und er war ihr nicht oft genug dankbar für alles, was sie für ihn aufgegeben hatte. Ihren Beruf, ihre Freunde, ihr Leben in Deutschland. In Momenten wie diesem wurde ihm klar, wie sehr er sie liebte. Sie waren bereits zwanzig Jahre verheiratet, und die aufregende, heiße Liebe der Jugend war einer reiferen Beziehung gewichen, die Hartig am ehesten als ein tief greifendes Verständnis füreinander beschrieben hätte. Ein Gefühl der Sicherheit und Zwanglosigkeit. In ihrer Gegenwart musste er sich nie verstellen.

Er ließ den Blick von seiner Frau zu seinen Kindern schweifen. Franz war zwölf und Vanessa sechzehn. »Mensch, du siehst heute aber gut gelaunt aus, Vanessa«, stellte er fest. »Was ist denn los?«

»Ich freue mich halt auf die Schule«, antwortete seine Tochter verschmitzt.

»Schwachsinn, Mädchen in deinem Alter freuen sich doch nicht auf die Schule!« Katja lachte. »Komm schon, raus mit der Sprache, was ist los?«

»Nichts ist los, kann man nicht einfach gut drauf sein?«, entgegnete Vanessa in einem Tonfall, der Hartig daran erinnerte, dass sie die Pubertät noch nicht durchgestanden hatte.

Franz rückte näher an den Tisch heran, und sein schadenfrohes Grinsen verriet, dass er mehr wusste als seine Eltern. »Vanessa ist verliebt«, platzte er los.

Das Gesicht seiner Schwester wurde dunkelrot. »Du bist so ein Miststück, Franz! Hättet ihr beim zweiten Mal nicht verhüten können?« Mit diesen Worten sprang sie vom Tisch auf und stürmte hinaus. Hinter ihr knallte die Wohnungstür ins Schloss.

Als wäre nichts geschehen, widmete sich Franz mit beeindruckender Hingabe dem Schälen seines Frühstückseis. Hartig lächelte seiner Frau vielsagend zu, erhob sich und küsste sie auf die Stirn. Dann verließ er die Wohnung.

Sie lebten im Gebäude der Deutschen Botschaft direkt über den Geschäftszimmern, sodass Hartig binnen einer Minute vor seinem Büro stand. Doch bevor er eintreten konnte, fing ihn seine Sekretärin ab. Sie machte auf Hartig einen gehetzten Eindruck, und nach einem hastig hingeworfenen »Guten Morgen« informierte sie ihn über eine Einladung aus dem Verteidigungsministerium. Er wurde um 10 Uhr zu einer Besprechung erwartet.

Er hatte es befürchtet. Seit diesem entsetzlichen Kampfjetabschuss drehte sich alles nur noch um Russland, vor allem im Baltikum. Sollte die Situation eskalieren, würde es hier in Lettland als Erstes brennen. Er musste alles daransetzen, das zu verhindern, und so bat er seine Sekretärin, den Termin zu bestätigen und seinen Fahrer zu bestellen.

»Zum Verteidigungsministerium?«, vergewisserte sich Sascha in seinem schweren russischen Akzent, als Hartig eine knappe Stunde später im Fond der Botschafterlimousine Platz nahm.

Zwischen der Deutschen Botschaft und Hartigs Ziel lagen nur wenige Blocks, und er hätte auch zu Fuß gehen können. Er wusste aber, dass sein Fahrer Sascha stolz auf seine Aufgabe war, und bestätigte auf Russisch: »Da.«

Während sie durch die prächtigen hanseatischen Straßen der Rigaer Innenstadt fuhren, dachte Hartig nach. Sascha war Teil des Problems, das die lettische Regierung in dieser Situation so kalte Füße bekommen ließ. Er zählte zu einer russischen Minderheit, die über ein Viertel der Bevölkerung ausmachte. Viele, so wie Sascha, fühlten sich mehr russisch als lettisch. Weil sie noch dazu die Landessprache kaum beherrschten, blieben ihnen die lettische Staatsbürgerschaft und so auch das Wahlrecht und die Einstellung in öffentlichen Ämtern verwehrt.

Wegen der diffusen Loyalität dieser Minderheit und der historischen Verflechtung des Baltikums mit Russland machte sich die lettische Regierung ernste Sorgen um ihre nationale Sicherheit. Die Letten befürchteten, der große Nachbar im Osten könne jederzeit den Schutz der russischen Minderheit als Vorwand nehmen, um Panzer über die Grenze zu schicken. Doch Lettland war ein NATO- und EU-Mitglied, und hier kam Hartig ins Spiel.

Wenn er ins lettische Verteidigungsministerium gebeten wurde, konnte das nur eines bedeuten: Die Letten wollten Sicherheitsgarantien von der Bundesregierung. Nur hatte er direkte Weisung aus dem Auswärtigen Amt, eben solche nicht zu geben. Hartig vermutete stark, dass die Außenministerin gerne eine völlig andere Botschaft gesendet hätte, doch unter der Führung von Kanzler Neubauer war die Bundesregierung auf Deeskalationskurs. Es ließ sich auch schwer mit der Politik des Kanzlers streiten. Die Brüskierung eines so kleinen Partners wie Lettland war ein geringer Preis für die Besänftigung Russlands. Allerdings versetzte ihn das als Botschafter in die sehr unangenehme Lage, der lettischen Regierung diese Position schmackhaft machen zu müssen.

Bei seiner Ankunft im Ministerium fiel Hartig ein Stein vom Herzen. Er wurde nicht vom Verteidigungsminister persönlich erwartet. Das hieß, die Lage konnte nicht allzu ernst sein, das Hilfegesuch nicht allzu dringend. Statt des Ministers wurde er von einer Staatssekretärin namens Liepiņa begrüßt. Sie war in Begleitung zweier Herren, eines Militärs und eines Mannes vom Nachrichtendienst. Hartig wurde in einen Konferenzraum geführt, und die drei Letten nahmen ihm gegenüber Platz.

»Ich möchte gleich zur Sache kommen«, sagte Liepiņa und lächelte dünn. »Herr Jansons, würden Sie Seiner Exzellenz die Lage schildern?«

Der Mann vom Nachrichtendienst setzte eine ominöse Miene auf. »Uns haben in den vergangenen Tagen höchst beunruhigende Berichte erreicht.«

»Die Informationen, um die es geht, haben wir selbstverständlich bereits mit all unseren Verbündeten geteilt. Der BND ist informiert«, ergänzte Liepiņa rasch.

»Wie Sie vermutlich wissen, erwägt Polen, Artikel 4 des Nordatlantikvertrages anzuwenden«, fuhr der Geheimdienstler fort.

»Ein Vorhaben, das wir begrüßen würden«, warf Liepiņa ein. Anscheinend wollte sie das Gespräch unbedingt kontrollieren.

Wie zu erwarten war, hatten die Letten die Frontlinien bereits gezogen. Für sie gab es keinen Zweifel daran, wer hier im Recht war und wo sich der Feind befand: im Osten. Erstaunt registrierte Hartig, dass es beiden Beamten sogar gelungen war, den Krisenhergang zusammenzufassen, ohne ein einziges Mal den Abschuss des Jets durch die Polen zu erwähnen. Aber trotz der Voreingenommenheit des Berichts konnte Hartig ihm Neues abgewinnen. Dass Polen die Ausrufung des NATO-Artikels 4 in Betracht zog, war äußerst beunruhigend. Die Klausel verlangte eine Absprache der Vertragspartner als Reaktion auf die territoriale Verletzung eines Mitgliedstaates. Es war die Vorstufe zum Bündnisfall. Hartig gefiel diese Entwicklung ganz und gar nicht.

Der Mann vom Nachrichtendienst ergriff erneut das Wort. »Wir wissen aus sicheren Quellen, dass sich die russische Armee auf ein Militärmanöver im Westen ihres Landes vorbereitet. Wir sprechen hier von einer Großübung, deren Ausmaß alles übertreffen dürfte, was wir seit ’91 gesehen haben.«

»Unsere Grenzposten haben in den letzten zwei Tagen verstärkte Aktivität russischer Truppen in der Oblast Pskow beobachtet«, schaltete sich nun der Militäroffizier erstmals ein. »Das liegt sprichwörtlich vor unserer Haustür. Sollten die Russen ihre Muskeln tatsächlich in Pskow spielen lassen, können wir die Sicherheit unserer Bürger nicht garantieren. Nicht einmal die hier stationierten NATO-Truppen reichen aus. Es gibt nur einen Weg, das Eskalationsrisiko zu minimieren. Wir müssen eine glaubhafte Abschreckung aufbieten. Das Kräftegleichgewicht an der Ostflanke muss gewahrt werden.«

Hartig war klar, in welche Richtung das Gespräch steuerte. Die Letten wollten die Bundeswehr in ihrem Land haben. Das war der eigentliche Anlass für seine Einladung gewesen. Hartig konzentrierte sich. Seine nächsten Sätze wollten gut überlegt sein. Staatssekretärin Liepiņa würde jetzt die Aufgabe zuteilwerden, die konkrete Bitte um Truppenstationierung zu formulieren. Er musste intervenieren, bevor sie die Worte aussprechen konnte. So würde sie noch zurückrudern können, und der ohnehin vorprogrammierte diplomatische Schaden wäre zumindest zu begrenzen. Gerade noch rechtzeitig platzierte Hartig ein hörbares Räuspern.

»Ich habe größtes Verständnis für Ihre missliche Lage. Diese ganze Entwicklung ist äußerst bedauerlich. Allerdings befürchtet die Bundesregierung, dass Moskau eine Aufstockung des NATO-Kontingents im Baltikum als Provokation wahrnehmen könnte. Deutschland ist darauf bedacht, jede weitere Eskalation in diesem Konflikt zu vermeiden.«

Liepiņas schmale Lippen zuckten unmerklich, bevor sie ein Lächeln aufsetzte. »Aber nicht doch, Exzellenz. Wir wissen die Besonnenheit Berlins sehr zu schätzen. Uns geht es lediglich um eines: Wir möchten Sie bitten, Ihre in Litauen stationierten Truppen in höhere Alarmbereitschaft zu versetzen. So wären sie im Fall der Fälle flexibler und könnten rasch im gesamten Baltikum eingesetzt werden. Ich denke, ein solches Vorgehen würde die Ansprüche unserer beiden Staaten an Sicherheit und Zurückhaltung erfüllen.«

Es war ihm unmöglich zu sagen, ob dies tatsächlich von Anfang an die Absicht der Staatssekretärin gewesen war oder ob es sich bei dieser Bitte um einen geschickten Rückzieher zur Wahrung des eigenen Gesichts handelte. Wie dem auch sei, Liepiņa hatte Hartig ebenfalls einen Ausweg gegeben. Er war sich ziemlich sicher, dass auch dieses Gesuch im Kanzleramt auf taube Ohren stoßen würde, doch er erhob sich, lächelte seinen drei Gegenübern freundlich zu und streckte Liepiņa die Hand entgegen. »Ich werde Rücksprache mit der Bundesregierung halten und Sie unverzüglich unterrichten, sobald ich mehr weiß. Vielen Dank für die Einladung.«

Während er in die Limousine stieg, schaute er auf sein Handy: keine weiteren Termine heute.

»Sascha, wir fahren in die Stadt. Ich muss noch einiges besorgen.«

Auf dem Rückweg vom Einkaufen hielt Sascha hinter einer Straßenkreuzung neben der Deutschen Schule Rigas. Hartigs Blick wanderte suchend an der gelben Putzfassade und dem davorstehenden Metallgitterzaun entlang. Am Schultor entdeckte er ein Mädchen. Sie lehnte eng an einem Jungen, sodass Hartig nur ihren Rücken sah.

»Ist sie das?«, fragte er.

Als Antwort hupte Sascha, und das Mädchen fuhr aufgeschreckt herum. Hartig hatte richtiggelegen. Seine Tochter küsste den Jungen flüchtig auf den Mund, was mehr nach einem pickenden Vogel aussah als nach einer leidenschaftlichen Liebelei, bevor sie schnell zum Auto lief. Hartig schmunzelte, als sie neben ihm in den Fond stieg, doch er schwieg. Er wusste, dass sie solche Dinge nicht mit ihm besprechen wollte.

3. KEHLER

FREITAG, 9. FEBRUAR, 7.10 UHR

BERLIN

Marlene Kehler war im Dauerstress. In einer Situation wie dieser musste man permanent am Ball bleiben. Der kleinste Fehltritt könnte sie alles kosten, worauf sie seit Jahren hingearbeitet hatte. Ihr Amt war zu einem Drahtseilakt zwischen der Regierungslinie und der öffentlichen Meinung geworden. Doch an diesem kalten Februarmorgen, während auf den Fluren und in den Büros um sie herum hektische Geschäftigkeit die Ruhe der frühen Morgenstunden ablöste und die Dämmerung langsam die Berliner Nacht vor den Fenstern vertrieb, hätte sie mit niemandem tauschen wollen. Im Gegenteil: Sie liebte den Nervenkitzel, der mit ihrem Amt als Außenministerin einherging. Politik war ihre Droge, und sie ließ sich durch nichts von ihrem Konsum abhalten. Sie hatte keine Kinder und nun schon seit Langem auch keinen Mann mehr – kurzum nichts, was sie von ihrem Ziel ablenken könnte. Und je weiter das politische Berlin ins Chaos abdriftete, desto greifbarer wurde dieses Ziel. Kehler zweifelte keine Sekunde daran, dass sie es letztendlich erreichen würde. Sie war unerbittlich, und ihre Position war stark.

Zufrieden seufzend lehnte sie sich in ihrem Ledersessel zurück und betrachtete geistesabwesend das abstrakte Gemälde an der gegenüberliegenden Wand. Nach dem miserablen Abschneiden ihrer Konservativen bei der letzten Bundestagswahl vor zwei Jahren hatte sie die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sich zur Vorsitzenden der Christlichen Volkspartei wählen lassen. Sie hatte die CVP als Juniorpartnerin in eine Große Koalition eingebracht und es im Laufe des vergangenen Jahres geschafft, sich von ihrem sozialdemokratischen Regierungspartner abzugrenzen. Der Lohn war, dass sie seit Monaten alle Beliebtheitsbarometer anführte, während die Umfragewerte des Kanzlers auf Talfahrt gingen. Kehler konnte sich nicht erklären, warum die Deutschen eine solche Pfeife wie Neubauer in das wichtigste Amt der Republik gewählt hatten, doch sie würde dafür sorgen, dass sich dieser Fehler nicht wiederholte.

Kehler war für ihre dreiundfünfzig Jahre in ausgezeichneter Form, aber auch nicht so schön, dass es von ihren Kompetenzen ablenkte. Sie wusste genau, dass sie selbst deutlich jüngere Männer faszinieren konnte, und sie scheute sich nicht, davon Gebrauch zu machen.

Ein Beispiel war ihr parlamentarischer Staatssekretär, Peter Heuer, der in diesem Moment ihr Büro betrat. Wenn es einen Stützpfeiler ihrer Macht gab, so war es er. Seit den Tagen ihres ersten Bürgermeisterinnenamtes war er Kehlers treuer Weggefährte, und Treue war in ihrem Geschäft seltene Ware. Gemeinsam hatten sie sich durch den verstaubten Parteiapparat der CVP bis ganz nach oben gearbeitet. Heuers Loyalität grenzte an Verehrung. Sie vermutete, dass er von ihr fantasierte, und hin und wieder fütterte sie ihn mit einem Hauch von Koketterie – gerade genug, um ihn bei der Stange zu halten.

Unmittelbar nach ihrer Vereidigung hatte sie die Führungsriege des Auswärtigen Amts restlos ausgetauscht. Die wichtigste Neubesetzung war natürlich Heuer gewesen, den sie sofort in die Schlüsselposition des Staatsministers für Europa gehoben hatte. Seitdem hatte sie seinen Einfluss im Auswärtigen Amt systematisch ausgeweitet. Mittlerweile übte er mehr Kontrolle über die politische Arbeit aus als die restlichen Staatsminister und Staatssekretäre zusammen. Kehler wusste, dass Heuer ihr den Rücken freihielt, und konnte sich so auf das Wesentliche konzentrieren.

»Bitte, alles außer Russland«, sagte Kehler, als er vor ihrem breiten Schreibtisch stand.

»Nein, aber fast genauso gut«, antwortete er grinsend. »Es geht um Polen. Anscheinend spielt Warschau mit dem Gedanken, NATO-Artikel 4 zu aktivieren. Davon abgesehen, haben inzwischen alle führenden NATO-Mitglieder eine Solidaritätsbekundung herausgegeben und das russische Vorgehen verurteilt. Bloß wir schweigen uns aus. Der einzige Kommentar aus Berlin ist derzeit, dass Neubauer den Abschuss sehr bedauere. Das ist wohl kaum das, was die Polen hören wollen. Irgendjemand in der Bundesregierung muss Stellung beziehen.« Heuer sah seine Chefin mit diabolischem Funkeln in den Augen an. »Das ist Ihre Chance, sich als starker Gegenpol zu Neubauers Zögerlichkeit zu positionieren.«

»Das war zu erwarten«, überlegte Kehler laut. Wie immer bewies Heuer ein scharfsinniges Verständnis für die politische Lage. Er hatte mit seiner Analyse recht: Die Gelegenheit war verlockend, aber sie musste achtgeben, jetzt nicht über das Ziel hinauszuschießen. Sie dachte angestrengt nach, wie sie aus dieser neuen Entwicklung den maximalen Profit schlagen konnte. »Wir müssen aufpassen, dass wir am Ende nicht als Saboteure des Koalitionsfriedens oder, noch schlimmer, als Brandstifter gegen Russland wahrgenommen werden. Ich will ein Treffen mit dem Kanzler, so schnell wie möglich, am besten noch heute. Während ich im Kanzleramt bin, kündigen Sie eine Pressekonferenz an. Versuchen Sie am besten, einen Termin bei der Bundespressekonferenz zu bekommen. Auf diese Weise ergreife ich die Initiative und arbeite trotzdem mit der PSP zusammen. Wenn Neubauer sich querstellt, habe ich durch die Pressekonferenz direkt im Anschluss eine Bühne, auf der ich das ausnutzen kann.«

Heuer glühte förmlich vor Eifer. Die Idee war gut, aber Kehler konnte sehen, dass ihr Staatssekretär noch nicht fertig war.

»Da ist noch etwas, das helfen könnte, den Kanzler aus der Bahn zu werfen.« Heuer hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: »Der BND vermutet, dass die Russen ein riesiges Militärmanöver an der Grenze zum Baltikum planen. Das macht die Letten ganz schön unruhig. Unser Botschafter in Riga hat an einer Besprechung im lettischen Verteidigungsministerium teilgenommen. Ihm zufolge wünschen sich die Letten ein größeres Engagement der Bundeswehr vor Ort. Für den Moment haben sie nur um erhöhte Bereitschaft unseres Kontingents in Litauen gebeten. Unser Botschafter vermutet aber, dass sie in Wirklichkeit eine drastische Aufstockung der NATO-Truppen in der gesamten Region wollen.«

»Gut, damit kann ich arbeiten«, sagte Kehler. »Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn der Termin mit Neubauer steht.«

Zum Glück war auf Heuer Verlass. Zwar wollte die Bundespressekonferenz sie so kurzfristig nicht empfangen, aber das Pressefoyer ihres eigenen Hauses würde Kehlers Zwecken auch genügen.

Sie wurde Punkt zwölf im Kanzleramt erwartet, doch als sie um 11.50 Uhr in den eleganten schwarzen Audi stieg, sagte sie dem Fahrer: »Wir haben keinen Zeitdruck.«

Die knappe Taktung war beabsichtigt. Nichts wäre schlimmer, als im Kanzleramt auf Neubauer warten zu müssen wie eine Bittstellerin auf eine Audienz beim König. Sie hatte ihrerseits jedoch kein Problem damit, den Kanzler ein wenig zappeln zu lassen, bevor sie eintraf. Es würde ihn auf das einstimmen, was ihm bevorstand.

In den wenigen Minuten im Wagenfond ging Kehler ihren Schlachtplan noch einmal sorgfältig durch. Heuer hatte den Wert der Informationen, die er ihr gegeben hatte, nicht vollumfänglich erkannt. Bei der konfrontativen Haltung der Letten könnte ein russisches Großmanöver für Kehler ein regelrechtes Geschenk sein. Die Lage hatte die richtigen Zutaten. Mit ein wenig Nachhilfe ihrerseits könnte sich daraus eine handfeste geopolitische Krise entwickeln, die Neubauer hoffnungslos überfordern würde. Alles, was der Kanzler dann noch brauchte, wäre ein Wegweiser in die Selbstzerstörung.

Bei Kehlers Ankunft im Kanzleramt erfüllten sie die Worte »Der Kanzler erwartet Sie bereits« mit Genugtuung. Doch als sie den hellen Raum mit Blick auf den Reichstag betrat, erschrak sie. Vor der großen Fensterfront standen nicht zwei, sondern drei Stühle. Einer war leer, auf dem zweiten saß der Kanzler und auf dem dritten Wolfgang Schnarr. Offenbar hatte sich Neubauer Verstärkung von seinem Genossen geholt. Mit einem Mal sah sich Kehler in der Defensive. Wenn sich Kanzler und Verteidigungsminister gegenseitig Rückendeckung gaben, dürfte es um einiges schwieriger werden, der Berichterstattung über dieses Treffen ihr eigenes Narrativ überzustülpen. Hinzu kam, dass sie Schnarr abgrundtief verachtete, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Der Verteidigungsminister war ein widerlicher Schleimbolzen, dessen Ehrgeiz allein von seinem Narzissmus übertroffen wurde.

Vermutlich hoffte Neubauer, seine beiden Minister im gegenseitigen Konkurrenzkampf binden zu können, um sich ein wenig Luft zum Atmen zu verschaffen. Es war kein schlechter Plan. Allein Schnarrs Anblick, wie er selbstzufrieden lächelnd mit überschlagenen Beinen und gefalteten Händen dasaß, genügte, um Kehler innerlich zum Kochen zu bringen. Eigentlich war Schnarr ein aalglatter Speichellecker, doch er hatte auch eine etwas rustikale Ader – genau die richtige Mischung aus Anpacker-Image und perfekt portionierter Derbheit, um für Beamte und Spießbürger den bodenständigen Kumpeltyp von der PSP zu mimen. Gepaart mit seinem etwas feisten Äußeren und einem unübertroffenen Talent für Bierzeltreden, erlaubte ihm dies, sich als Verteidiger der Belange des kleinen Mannes im abgehobenen Berlin zu inszenieren. Diese Nische, die Schnarr im Herzen seiner Parteiklientel gefunden hatte, machte ihn nicht nur zum Liebling der Boulevardpresse, sondern auch zum einzigen Spitzenpolitiker, der Kehler in Beliebtheitsumfragen auch nur annähernd das Wasser reichen konnte. Doch Kehler wusste, dass Schnarr ihr unterlegen war. Er war zwar ein Arbeitstier, konnte seine Ambitionen jedoch nicht kontrollieren, und das machte ihn ungeduldig und impulsiv. Sie würde ihn noch früh genug aus dem Weg räumen. Für den Moment aber musste sie ihr Augenmerk auf den Kanzler richten.

Neubauer erhob sich. »Guten Tag, Frau Ministerin.«

Sie erwiderte die Begrüßung und wandte sich dann Schnarr zu. Ohne ein Wort zu wechseln, gaben sie einander die Hand, so kurz, wie es die Höflichkeit zuließ. Glücklicherweise war sie kein Mann, überlegte Kehler, sonst wäre sicherlich jeder Handschlag mit dem Verteidigungsminister in ein widerliches Drücken und Zerren um Dominanz ausgeartet. Schnarr war genau der Typ für diese Art von primitivem Konkurrenzverhalten.

Nachdem sie Platz genommen hatte, ergriff der Kanzler das Wort: »Wie ich verstehe, geht es Ihnen um den Kampfjetabschuss. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass sich der Verteidigungsminister zu uns gesellt. Die Angelegenheit betrifft sein Ressort genauso wie das Ihre.«

»Selbstverständlich«, sagte Kehler kalt.

»Nun, was können wir für Sie tun?«

»Der Anlass ist nicht so sehr der Abschuss selbst. Es geht vielmehr um die diplomatischen Wellen, die er schlägt. Ich möchte ganz direkt sein. Deutschland ist das einzige gewichtige NATO-Land, das in dieser Angelegenheit noch nicht den Schulterschluss mit Polen gesucht hat. Die USA, Frankreich, das Vereinigte Königreich, die Türkei, Italien, Spanien: Sie alle haben sich entweder mit den Polen solidarisiert oder zumindest die Luftraumverletzung durch Russland verurteilt. Unsere Verbündeten sind von unserer Unentschlossenheit alles andere als begeistert. Wenn wir uns nicht bald positionieren, könnte der diplomatische Schaden gravierend sein, vor allem bezüglich unserer osteuropäischen Partner.«

Neubauer überlegte einen Moment, bevor er bedächtig antwortete. »Ich verstehe Ihre Sorge, Frau Ministerin. Ich kann vollkommen nachvollziehen, wie frustrierend diese Situation für das Auswärtige Amt sein muss. Bitte bedenken Sie aber, dass ich mit dem Versprechen gewählt worden bin, unsere Beziehungen zu Russland zu normalisieren. Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren. In ein paar Wochen wird diese ganze Aufregung wieder vergessen sein. In Moskau aber wird man sich daran erinnern, wer dieser Tage vernünftig geblieben ist und wer überreagiert hat.«

»Bei allem Respekt, Herr Bundeskanzler, ich halte das für eine Fehleinschätzung«, sagte Kehler ohne Umschweife. Die Antwort des Kanzlers war zu erwarten gewesen. Jetzt war es Zeit, ihre Bombe zu zünden und ihn ins Schwitzen zu bringen. »Die Polen werden möglicherweise Artikel 4 des NATO-Vertrags anwenden. Dann bliebe uns letztendlich sowieso nichts anderes übrig, als ihnen den Rücken zu stärken. In der Zwischenzeit planen die Russen eine riesige Militärübung in der Region Pskow. Das ist direkt an der lettischen Grenze. Zehntausende Soldaten, Hunderte Panzer, Artillerie, Fluggerät. Im Baltikum wird man zusehends unruhig. Die Letten wollen eine stärkere Involvierung der Bundeswehr. Wir können es uns nicht leisten, die Füße stillzuhalten, während sich die geopolitische Lage so rasant entwickelt. Wir haben vertragliche Verpflichtungen.«

»Und was schlagen Sie vor? Möchten Sie wieder deutsche Panzer nach Osteuropa rollen lassen? Ich denke, ich muss Ihnen nicht erklären, warum wir in diesem Land eine Tradition der militärischen Zurückhaltung pflegen. Ich werde mich nicht zum Katalysator einer Eskalationsspirale zwischen West und Ost machen lassen.«

Sie hatte Neubauer fast da, wo sie ihn haben wollte. Er war sichtlich erregt.

Schnarr räusperte sich. »Wenn ich mich kurz einklinken darf. Ich würde davor warnen, unsere Bündnispartner zu verprellen. Das könnte uns sicherheitspolitisch in eine sehr schwierige Lage bringen. Präsident Kusnezow respektiert Stärke. Ich denke, wir sollten sie zeigen.«

Kehler wollte ihren Ohren kaum trauen. Ungläubig sah sie den Verteidigungsminister an, der sich nun, süffisant lächelnd, in seinem Stuhl zurücklehnte. Hatte er ihr gerade ernsthaft zugestimmt? Welches Spiel wurde hier gespielt?

Zugegeben, Neubauer hatte hoch gepokert, indem er Schnarr zu diesem Treffen bat. Der Verteidigungsminister war für den Kanzler alles andere als ein verlässlicher Verbündeter. In Berlin pfiffen es die Spatzen von den Dächern, dass Schnarr mit dem Finanzministerium geliebäugelt hatte. Dass er bei der Kabinettsbildung von Neubauer im Verteidigungsministerium geparkt worden war, hatte er nie so recht verwunden. Vermutlich hatte der Kanzler gehofft, sich den ehrgeizigen Emporkömmling auf diese Weise vom Hals halten zu können. Doch Schnarr war kein Mann, der einen solchen Affront leichtfertig vergaß. Wahrscheinlich hatte er aus Neubauers miserablen Umfragewerten geschlussfolgert, dass es an der Zeit war, sich vom Kanzler loszusagen. Möglicherweise plante er bereits den Dolchstoß. Egal, was er vorhatte, Kehler profitierte davon.

Neubauer war offenkundig genauso überrascht wie sie. Nach mehreren Sekunden angespannter Stille richtete sich der Kanzler schließlich auf. Als er zu sprechen begann, bebte seine Stimme unmerklich: »Ich werde keine deutschen Soldaten schicken, um für das unüberlegte Handeln eines polnischen Fregattenkapitäns geradezustehen. Wir werden uns aus diesem Wahnsinn heraushalten.«

Das war Gold wert. Kehler hatte, wofür sie gekommen war. Was blieb, war reine Formalität.

»Ich protestiere ausdrücklich gegen diesen Umgang mit unseren Verbündeten«, sagte sie ruhig. Es hatte zwar keine Auswirkungen, aber es war wichtig, sich von der Mitverantwortung freizusagen.

Auf der Rückfahrt hätte sich Kehler eigentlich ihre Worte für die anstehende Pressekonferenz zurechtlegen sollen. Aber sie war mit den Gedanken immer noch bei Neubauer. Obwohl das Treffen ausgezeichnet gelaufen war, störte sie etwas. Es war zu einfach gewesen. Kehler verstand Neubauers Motivation nicht, und das machte sie nervös. Jedes Kind konnte sehen, dass der Kanzler seinem Amt nicht gewachsen war, doch dass er schlicht ein verklärter Pazifist sein sollte, wollte Kehler nicht glauben. Solch ein Mann hätte es nie an die Spitze der Progressiv-Sozialen Partei geschafft, geschweige denn an die der Bundesregierung. Weshalb sah er dann aber tatenlos zu, während ihm Stück für Stück die Kontrolle über sein Kabinett entglitt? War dies irgendein durchtriebenes doppeltes Spiel? Der Mann mochte angezählt sein, aber sie konnte ihn nicht einschätzen, und das machte ihn weiterhin gefährlich.

Der Wagen hielt vor dem Auswärtigen Amt, und als Kehler ausstieg, wurde sie bereits von Heuer erwartet.

»Wie sieht’s aus?«, fragte sie, ohne in ihrer Bewegung innezuhalten.

Während Heuer sie durch die Flure des Altbaus zum Pressefoyer begleitete, brachte er sie auf den neuesten Stand: »Alles ist vorbereitet. Wir haben etwa dreißig Journalisten zusammentrommeln können.«

»Irgendetwas, das ich noch wissen sollte?«

»Ja. Ich habe vorhin einen recht seltsamen Anruf erhalten. Angeblich aus der lettischen Botschaft, doch die Nummer stimmte nicht mit unserem Verzeichnis überein. Ich habe natürlich direkt im Anschluss selbst in der lettischen Botschaft angerufen, um den Anruf zu authentifizieren. Die Angelegenheit scheint glaubwürdig zu sein. Der Anrufer hat um ein inoffizielles Treffen zwischen Ihnen und dem lettischen Botschafter gebeten. Falls Sie das wahrnehmen möchten, sollten Sie vielleicht vorsichtig sein, was Sie gleich über die Letten sagen.«

»Interessant. Gut, dass Sie mich informieren. Bestätigen Sie das für morgen, und buchen Sie einen Tisch für zwei – Sie wissen, wo.«

Heuer eilte davon, und Kehler trat an das schlichte Rednerpult vor einer großen blauen Aufstellwand mit dem Schriftzug Auswärtiges Amt. Als sie mit dem Rattern der Kameras im Ohr ihren Blick über das Meer aus Blitzlichtern schweifen ließ, spürte sie, wie sich ihr Puls beschleunigte. Die dreißig Männer und Frauen vor ihr lechzten wie geifernde Hunde nach dem bisschen an Information, das sie ihnen vorwerfen würde. Kehler wusste, dass jedes ihrer Worte von diesen Menschen auf die Goldwaage gelegt, jeder ihrer Sätze zigmal unter die Lupe genommen würde. Der kleinste Versprecher, die winzigste Ungenauigkeit konnte fatale Folgen haben. Was sie sagte, hatte Gewicht: Das war Macht. Sie räusperte sich, und in diesem Moment fühlte sich Marlene Kehler herrlich lebendig.

4. BERG

FREITAG, 9. FEBRUAR, 7.36 UHR

BERLIN

Schlaftrunken stützte sich Emilia Berg im Bett auf und kniff die verquollenen Augen zusammen, um besser zu sehen. Allmählich machte sie Julius aus, dessen nackter Oberkörper sich rhythmisch auf und ab bewegte, während er mit kraftvoller Beharrlichkeit einen perfekten Liegestütz nach dem anderen ausführte. Obwohl Berg immer noch wütend auf ihn war, konnte sie nicht wegschauen. Die scheinbar mühelose Leichtigkeit der Bewegung, das Spiel der Adern über seiner Armmuskulatur – er sah wirklich verdammt gut aus.

Als habe er ihren Blick gespürt, hielt Julius abrupt inne und wandte sich zu ihr um. Ihre Augen trafen sich für einen angespannten Moment. Dann erhob er sich wortlos und stapfte ins Bad.

Frustriert sank Berg zurück in die Kissen. Der neue Tag begann genauso schlecht, wie der vorherige zu Ende gegangen war. Sie hatten eigentlich einen gemütlichen Abend zu zweit geplant, doch wie so oft in letzter Zeit war er in Streit geendet. Julius hätte um sieben zu Hause sein sollen. Die Zutaten für das gemeinsame Abendessen hatte sie bereits eingekauft, doch Stunde um Stunde war verstrichen, das Gratin im Backofen verbrannt und kein Zeichen von Julius eingetroffen, nicht einmal eine Nachricht. Als er dann schließlich spätabends doch noch aufgetaucht war, hatte er ihr nicht einmal vernünftig erklären können, wo er sich so lange herumgetrieben hatte.

Berg seufzte, schlug die Decke zurück und kletterte aus dem Bett. Julius stand in Boxershorts vor dem kleinen Waschbecken und putzte sich die Zähne. Vorsichtig trat Berg neben ihn und musterte ihn forschend im Spiegel. Keine Reaktion.

»Warum bist du denn jetzt so eingeschnappt? Ich habe dir doch nichts getan!«

In aller Seelenruhe legte Julius die Zahnbürste beiseite und spülte sich den Mund aus. »Eingeschnappt?«, sagte er dann, immer noch betont unaufgeregt. »Du bist doch diejenige, die sich gestern wieder aufspielen musste.«

Berg biss sich nervös auf die Unterlippe. Die Sache durfte nicht weiter eskalieren, aber ebenso wenig konnten sie auseinandergehen, ohne sich ausgesprochen zu haben. »Wir waren doch verabredet!«

»Ich kann nicht glauben, dass du das als Journalistin nicht verstehst! Bei der aktuellen Lage kann ich nicht einfach um Punkt 16 Uhr Feierabend machen. Hast du eine Ahnung, was momentan im Verteidigungsministerium los ist? Ich werde gebraucht.«

»Schon klar, du bist ja so wichtig! Wie oft musste ich mir das schon anhören? Man bekommt den Eindruck, du schmeißt den Laden ganz allein.« Berg war jetzt wieder richtig wütend, und sie warf ihm die Worte mit noch mehr Sarkasmus an den Kopf, als sie es beabsichtigt hatte. »Ich habe auch einen stressigen Job, und trotzdem schaffe ich es, mir Zeit für die Dinge zu nehmen, die mir wichtig sind: zum Beispiel für dich!«

»Jetzt bleib mal auf dem Boden. Das kannst du überhaupt nicht vergleichen. Wenn du einen Fehler machst, wird vielleicht ein Artikel mit Zahlendreher auf eurer Homepage veröffentlicht. Wenn ich einen Fehler mache, sterben Menschen. Und auch wenn du es nicht zugeben möchtest: Du stehst doch auf meinen Erfolg. Du liebst es, mich als deinen Freund den Offizier vorzustellen und zu erzählen, wo ich arbeite.« Julius war mittlerweile zurück im Schlafzimmer und begann, seine Uniform anzulegen, die er am Vorabend feinsäuberlich in den Schrank gehängt hatte.

»So ein Schwachsinn! Jedes Mal, wenn wir meine Familie besuchen, beginnst du direkt einen Monolog über deine ach so wichtige Arbeit. Nur weil dich deine Eltern vernachlässigt haben, musst du jetzt bei jedem, der dir auch nur fünf Minuten seiner Aufmerksamkeit schenkt, auf Lob und Anerkennung geiern. Das ist einfach nur peinlich.«

Berg wusste sofort, dass sie zu weit gegangen war. Julius reagierte nicht einmal mehr auf ihre letzte Anfeindung. Stattdessen knöpfte er wortlos seinen Mantel zu und setzte sein Barett auf.

»Julius, das war nicht so gemeint!«, versuchte Berg ihn noch zu beschwichtigen, aber ohne Erfolg. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und sie war mit ihrer Wut, Enttäuschung und Reue allein. Es war immer wieder dasselbe mit Julius. Entweder sie widersprach ihm, und er war beleidigt, oder sie gab klein bei und ließ zu, dass er ihr, seiner langjährigen Freundin, nicht einmal ein Minimum an Respekt entgegenbrachte. Das Schlimmste aber war, dass er recht hatte: Aus demselben Ego, das sie jedes Mal aufs Neue zur Weißglut brachte, speiste sich auch jenes unbeirrbare Selbstbewusstsein, das ihn so unwiderstehlich machte. Am liebsten hätte sie sich wieder unglücklich ins Bett geworfen, aber ihr blieb keine Zeit.

Von der schlichten Zweizimmerwohnung im Wedding war es nicht weit bis zum DRF-Studio an der Spree. Kurz nach 9 Uhr betrat sie den in der Morgensonne metallisch schimmernden Klotz von einem Gebäude, den sie ihren Arbeitsplatz nennen durfte. Schon zu dieser frühen Tageszeit drängten sich Besucher im Atrium der fünf Stockwerke hohen, durch ein Glasdach weit über ihren Köpfen kalt erleuchteten Redaktionshalle – dem Herzstück des Hauses. Vermutlich mal wieder eine Führung, dachte Berg. Unbeeindruckt von dem Trubel erklomm sie die beinahe freistehende graue Treppe, von bösen Zungen Karriereleiter genannt, bis in den dritten Stock, wo die Fernsehredaktionen untergebracht waren.

»Auch schon da?«, grüßte Leo frech, als sie ihren Arbeitsplatz erreichte. »Warum so miesepetrig? Ärger im Paradies?«

Berg schmunzelte. Immerhin, auf ihren Büropartner war Verlass. Selbst an diesem tristen Freitagmorgen schaffte er es, gute Laune zu verbreiten. Er war Anfang dreißig, etwas älter als sie, und unter einem gepflegten Dreitagebart schien stets ein spitzbübisches Lächeln um seine Mundwinkel zu spielen.

Berg schnitt als Antwort eine Grimasse und ließ sich ihm gegenüber auf ihren Stuhl plumpsen.

»Ha, ich wusste es! Wie lange willst du dir das eigentlich noch antun? Du hast doch etwas Besseres verdient.« Leo sah ihr einen Moment mit aufrichtigem Mitgefühl in die Augen. »Schon klar, du willst nicht darüber reden.«

Berg nickte. Trotzdem war sie dankbar für den Zuspruch. Leo war auf ihrer Seite – natürlich. Er war ihr Leidensgenosse und Verbündeter im öffentlich-rechtlichen Rundfunkalltag. Nach dem Ende ihres Volontariats waren sie beide vor gut einem Jahr von DRF Info angeworben worden, und immer noch standen sie in der Hackordnung der Redaktion ganz unten. So war Berg auch kaum enttäuscht, als Leo ihr eröffnete, welchen öden Rechercheauftrag sie heute zu erledigen hatten. Den ganzen Vormittag verbrachten sie damit, ein Skript für eine Sondersendung zu der diplomatischen Krise infolge des vorgestrigen Flugzeugabschusses über der Ostsee durchzugehen und jede noch so kleine Information aufs Neue zu verifizieren.

Obwohl das Thema an sich gar nicht so uninteressant war, verpuffte jede geopolitische Spannung schnell im mondänen Kleinklein des Arbeitsalltags. Immerhin handelte es sich aus Bergs Sicht um einen sinnvollen Auftrag: Die Lage in Osteuropa war tatsächlich heikel, und die Reaktion der deutschen Politik würde in hohem Maße von der öffentlichen Meinung abhängen. Umso wichtiger also, ebendiese Öffentlichkeit korrekt zu informieren – eigentlich die Quintessenz dessen, was Berg ursprünglich dazu bewegt hatte, Journalistin zu werden. Nur würde ihr eigener Beitrag zu dieser Aufklärungsarbeit schrecklich geringfügig ausfallen. Sie arbeitete hier schließlich an keiner weltverändernden Enthüllung, sondern war bestenfalls als eine glorifizierte Korrekturleserin eingespannt. Julius’ Worte vom Morgen schossen ihr wieder in den Kopf. Auch wenn sie einen Fehler machte, führte das schlimmstenfalls zu einem Zahlendreher in der Sendung. Was sie hier tat, würde rein gar nichts bewirken.

Zur Mittagszeit brach in der Redaktion ungemeine Betriebsamkeit aus. Offenbar war die Außenministerin und Vizekanzlerin Kehler zu einer Lagebesprechung ins Kanzleramt gefahren, und das Auswärtige Amt hatte eine Pressekonferenz im Anschluss daran angekündigt. Als Berg davon erfuhr, begann ihr Herz trotz all der Enttäuschungen des letzten Jahres höherzuschlagen. Vielleicht würde sie ja heute erwählt, dachte sie. Doch natürlich wurde einer der erfahrenen grauen Anzugträger ins Auswärtige Amt geschickt, und Berg war überzeugt, dass sie bis zum Feierabend in ihrem kleinen Doppelbüro schmoren würde.

Sie hatte sich gerade wieder in ihre Aufgabe vertieft, da ging ihre Bürotür auf, und Gerd Herold, der Chefredakteur Fernsehen, trat ein.

»Das Verteidigungsministerium hat soeben gemeldet, dass auch Schnarr an dem Treffen im Kanzleramt teilnimmt und danach zeitgleich mit Kehler eine eigene Pressekonferenz abhält. Jemand muss sofort dahin.«

Berg und Leo sahen sich völlig verdutzt an. Leo konnte seine Gedanken aber schneller ordnen. »Geh du! Du hast ja eh schon einen miesen Tag. Ich kann diesen Kram hier auch alleine zu Ende bringen.«

»Na, dann los. Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Herold. »Ich organisiere ein Kamerateam. Treffen in zehn Minuten unten.«

Noch immer zu verdutzt, um sich über ihr Glück freuen zu können, ließ sich Berg von Leo aus dem Büro bugsieren. Zum Haus der Bundespressekonferenz waren es keine siebenhundert Meter, doch das Team hatte schwere Ausrüstung dabei und nahm deshalb trotzdem den Minibus. Berg war erstaunt, dass Schnarr so kurzfristig einen Termin bei der Bundespressekonferenz bekommen hatte. Die Außenministerin hatte das offensichtlich nicht geschafft und musste nun in ihr eigenes Haus einladen. Aber es sah der Hauptstadtpresse ähnlich, dass sie Schnarr keinen Wunsch abschlug. Zu groß war das Interesse an diesem exzentrischen Politemporkömmling.

Während der kurzen Fahrt überlegte Berg weiter. Bei der ganzen Angelegenheit handelte es sich um einen höchst ungewöhnlichen Vorgang. Zum einen, weil beide Pressekonferenzen mit äußerst wenig Vorlauf angekündigt worden waren, und zwar zu einer Zeit, als das Treffen im Kanzleramt dem Vernehmen nach bereits begonnen hatte. Zum anderen, weil jeder Minister selbstständig vor die Presse treten wollte. Nach einer Zusammenkunft wie der heutigen im Kanzleramt hielten die Beteiligten für gewöhnlich eine gemeinsame Pressekonferenz ab, um Geschlossenheit zu demonstrieren und widersprüchliche Darstellungen zu vermeiden. Dass es heute anders ablief, ließ Berg auf Berichtenswertes hoffen.

Im Eingangsbereich angekommen, musste das Team eine Sicherheitsschleuse passieren. Vielleicht lag es an der angespannten Lage im Land, dass das üblicherweise so lethargische Wachpersonal die Ausweise der Gäste heute geradezu hingebungsvoll überprüfte. Nach ungeduldigen Minuten in der Schlange wurde Berg endlich durch einen Metalldetektor gewunken, musste dann aber noch warten, bis ihre Handtasche auf einem ihr unsäglich langsam vorkommenden Förderband durch einen Röntgenapparat transportiert worden war. Als sie endlich den Pressesaal erreichte, der sie an ein riesiges Klassenzimmer erinnerte, sicherte sie sich schnell einen Platz in den vordersten Reihen, während ihr Kamerateam an der rechten Wand Stellung bezog.

Damit fand die Hektik, die Berg aus dem Studio hierher begleitet hatte, ein abruptes Ende. Schnarr befand sich gewiss noch im Kanzleramt, und nicht einmal die Mitarbeiterin der Bundespressekonferenz, die ihrerseits auf dem Podium wartete, konnte sagen, wie lange das Treffen noch dauern würde. Durch die riesige Glasfront auf der linken Seite des Raums beobachtete Berg für eine gute halbe Stunde das geschäftige Treiben zweier Tauben auf einem schräg gegenüberliegenden Fenstersims und registrierte dabei, wie sich der Saal hinter ihr trotz der sehr kurzfristigen Ankündigung schnell füllte. Berg war wohl nicht die Einzige, die eins und eins zusammenzählen konnte und zu dem Ergebnis gekommen war, dass es hier wohl etwas zu berichten geben würde. Doch als sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, um ihr Kollegium zu mustern, stellte sie enttäuscht fest, dass hier nur die zweite Liga spielte. Die wenigen hochkarätigen Journalisten, die im Mittagsloch noch so kurzfristig verfügbar gewesen waren, saßen jetzt alle im Auswärtigen Amt. Verteidigungspolitik war für die großen Medienhäuser von deutlich geringerem Interesse.

Endlich öffnete sich eine Tür neben dem holzvertäfelten Podium, und der Verteidigungsminister betrat den Raum. Er war allein. Weder der Generalinspekteur noch die Staatssekretäre oder seine Pressesprecherin begleiteten ihn. Aus dem Augenwinkel sah Berg, wie ihr Kameramann jede Bewegung Schnarrs genau verfolgte, als dieser Platz nahm.

»Guten Tag, meine Damen und Herren. Vielen Dank, dass Sie es so kurzfristig und in so großer Zahl hierhergeschafft haben«, begrüßte die Mitarbeiterin der Bundespressekonferenz vom Podium aus die Anwesenden und gab das Wort dann an den neben ihr sitzenden Schnarr weiter.

Der Verteidigungsminister wartete, bis das Publikum vollends zur Ruhe gekommen war. Erst als er sich der ungeteilten Aufmerksamkeit der Anwesenden sicher sein konnte, begann er zu sprechen: »Wie Sie alle wissen, komme ich gerade von einer Besprechung mit dem Bundeskanzler und der Außenministerin. Das Treffen war für uns wichtig, um unsere Handhabung der aktuellen außen- und sicherheitspolitischen Lage abzustimmen. Ich möchte keinen Hehl daraus machen, dass es diesbezüglich in der Regierung unterschiedliche Vorstellungen gibt.

Das Verteidigungsministerium steht in ständigem Kontakt mit unseren Bündnispartnern. Das ermöglicht es meinen Mitarbeitern und mir, uns ein sehr klares Bild der Stimmung in diesen Ländern zu machen – vielleicht in einem größeren Maße, als das anderen Kabinettsmitgliedern möglich ist. Ich habe gegenüber dem Bundeskanzler betont, wie wichtig es ist, unsere Vertragsverpflichtungen ernst zu nehmen und in Zeiten der politischen Unruhe geschlossen mit unseren Verbündeten aufzutreten. Unabhängig davon, welche Agenda andere Regierungsstellen verfolgen mögen, das Verteidigungsministerium wird der sicherheitspolitischen Kooperation innerhalb der EU und der NATO weiterhin oberste Priorität einräumen. Unsere Verbündeten zählen auf uns, und wir würden nichts Geringeres von ihnen erwarten. Ich stehe jetzt für Fragen zur Verfügung.«

Schnarr hatte noch nicht ausgesprochen, da schossen bereits zwanzig Hände in die Luft. Berg hingegen saß regungslos auf ihrem Stuhl. Der Verteidigungsminister hatte nicht einmal zwei Minuten gesprochen, aber das, was er gesagt hatte, war bemerkenswert. Augenblicklich hatte Berg erkannt, dass dies ihre Chance für den Durchbruch sein konnte.

Einem jungen Mann wurde das Wort erteilt. »Moritz Blank, Berliner Rundschau, guten Tag. Herr Minister, wenn ich Sie richtig verstanden habe, implizieren Sie, anderen Kabinettsmitgliedern sei der Ernst der Lage nach dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs über der Ostsee nicht bewusst. Könnten Sie konkretisieren, auf wen genau Sie sich mit dieser Aussage beziehen? Meinen Sie Kanzler Neubauer?«

»Es steht mir nicht zu, das Urteilsvermögen meiner Kollegen zu bewerten«, antwortete Schnarr mit selbstsicherem Schmunzeln. »Ich bin mir sicher, dass die gesamte Regierung um eine bestmögliche Lösung dieser Krise bemüht ist.«

»Vielleicht als Nächstes jemand vom Fernsehen? Ja, dort ganz links neben der Kamera!«, schaltete sich die Angestellte der Bundespressekonferenz ein.

»Stefan Larwitz, Infinity News. Können Sie die Gerüchte bestätigen, dass Russland ein Militärmanöver an der Grenze zu Estland und Lettland plant?«

»Nein, aber ich würde Russland vor einem solchen Vorgehen warnen. Das würde nur unnötig Öl ins Feuer gießen. Ich möchte auch daran erinnern, dass zu jeder Militärübung, an der mehr als 13 000 Soldaten beteiligt sind, OSZE-Beobachter zuzulassen sind.«

»Die Dame in Schwarz dort hinten, bitte.«

»Guten Tag, Tatjana Smira, Russia24. Wie gedenken Sie, auf den rechtswidrigen Abschuss des russischen Jets zu reagieren? Und wenn Sie noch eine zweite Frage erlauben: Sie sagen, Sie wollen Ihre Vertragsverpflichtungen ernst nehmen und geschlossen mit Ihren Verbündeten auftreten. Was meinen Sie damit? Möchten Sie an der russischen Grenze aufrüsten? Denken Sie nicht, dass Sie damit zur Eskalation dieser Krise beitragen?«

»Polen ist ein souveräner Staat und hat das Recht, sein Hoheitsgebiet gegen Verletzungen durch das Militär anderer Länder zu verteidigen.«

Die Mitarbeiterin sah sich nach dem nächsten Fragesteller um. »Bitte, die junge Frau hier vorn.«