Crap (eBook) - Scott McClanahan - E-Book

Crap (eBook) E-Book

Scott McClanahan

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Beschreibung

Nach dem Erfolg von "Sarah": Scott McClanahan über sein Aufwachsen im ländlichen West Virginia in der Übersetzung von Clemens J. Setz Scott McClanahan traut sich, wozu die wenigsten von uns in der Lage sind. Er schaut das Leben an, als das, was es ist: herzzerreißend tragisch und herzzerbrechend schön, voller Krankheit, Freude, Tod, Groteske, Begeisterung und Liebe. Über seine Romane und Erzählungen lässt sich auch herrlich streiten; man kann sie repetitiv, naiv, zu simpel, weinerlich, infantil finden; dabei trifft er den Kern: den Mensch mit all seinen Fehlern und in seinem göttlichen Glanz. In Crap erzählt er von (s)einer Kindheit in West Virginia, von struktureller Armut und Grubenunglücken, die ganze Ortschaften ausgelöscht haben, er erzählt von Grandma Ruby, Onkel Nathan und den anderen Durchgeknallten im McClanahan-Clan, von der amerikanischen Jugend und davon, wie Naked Joe zu seinem Namen gekommen ist. Bei ars vivendi erschien 2020 bereits "Sarah" von Scott McClanahan, ebenfalls in der Übersetzung von Clemens J. Setz.

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Scott McClanahan

 

CRAP

 

Aus dem amerikanischen Englisch

von Clemens Setz

 

 

 

ars vivendi

 

Für Sarah

 

Copyright © Scott McClanahan

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Deutsche Originalausgabe 2021)

 

© 2021 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten.

www.arsvivendi.com

Umschlag: Sarah Eschbach

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0223-4

 

»Geschichtliches und poetisches Bewusstsein sollten einander nicht ausschließen, denn wenn Poesie der kleine, von uns erschaffene Mythos ist, dann ist Geschichte der große, von uns erlebte Mythos, den wir, durch unser Erleben, immer wieder neu erschaffen.«

 

Robert Penn Warren

 

Inhalt

EINE KURZE GESCHICHTE DER McCLANAHAN-FAMILIE

EINE EPISODE, DIE RUBYS CHARAKTER NÄHER BESCHREIBT

EINE ZWEITE EPISODE, DIE RUBYS CHARAKTER NÄHER BESCHREIBT

DAS ERSTE KAPITEL

DER ABEND DANACH

FRIEDHÖFE

TICK, TICK, TICK, TICK, TICK

DAME

RHONDA

EINE GESCHICHTE ÜBER RUBYS NEIGUNG, ZEUG AN SICH ZU REISSEN

EIN REZEPT KANN MAN NICHT UMARMEN

ALSO

BILL

UND IN DER NÄCHSTEN NACHT KAM …

WIE MAN BILL DURCHEINANDERBRINGT

ALSO GING ICH RUBY BESUCHEN

UND HIER NOCH EINMAL EINE ERINNERUNG AN DAS THEMA DIESES BUCHES UND ÜBERHAUPT ALLER BÜCHER

ALLE MEINE KOMPLETT DURCHGEDREHTEN BEKANNTEN

LEE BROWN

ABER EIGENTLICH

ALSO GING ICH WIEDER RUBY BESUCHEN

RUBYS ENDE

KEINE AHNUNG

AM NÄCHSTEN TAG

BILL VERLIEBT SICH

JANETTE

FREIHEIT?

JANETTE, TEIL 2

DIE LISTE FÄNGT SO AN

DER EINBRUCH

BESUCH IM ALTEN HAUS

ALSO ZOG ICH WEG VON HIER

EINE KURZE GESCHICHTE VON CRAPALACHIA, TEIL 3

ICH SCHAFFTE ES NICHT

ANHANG UND ANMERKUNGEN

DER AUTOR

 

EINE KURZE GESCHICHTE DER McCLANAHAN-FAMILIE

Es waren dreizehn Kinder. Alle trugen Namen, die mit -i aufhörten. Ich konnte nicht schlafen, also holte ich mir die Fotoalben meiner Großmutter und erfuhr etwas über meine Verwandtschaft und die Namen, die alle mit -i aufhörten. Da war Betty und da war Annie und da war Stirley und da war Stanley und da waren Leslie und Gary und Larry und Terry.

Ruby sagte: »Ich mag Namen, die mit -i aufhören.«

Sie wuchsen alle in Danese, West Virginia, auf. Sie aßen Brombeeren zum Frühstück und Brombeeren zu Mittag. Und der Schnee kam im Winter unter der Tür durch. Scheiße, ist es kalt.

 

Mein Onkel Stanley murmelte die ganze Zeit »shiiiiiiit« vor sich hin, und einmal hörte ich ihn eines Nachts im Krankenhaus zu jemandem sagen, dass der Staat West Virginia nun die Helmpflicht für Quadfahrer einführte. Er war total wütend deswegen und sagte zu dem Typen: »Schwule dürfen überall heiraten, aber ich darf nicht mal mein Quad ohne Helm fahren.«

 

Ich blätterte im Fotoalbum, und da kam meine Tante Betty. Eines Tages war sie bei uns zu Besuch und erzählte uns diese Geschichte über Elgie. Sie nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Sie erzählte uns von seinem Kampf um die Pension aus der Bergwerksarbeit. Bevor er endlich eine Antwort erhielt, hatte er sich einige Monate lang herumärgern müssen. Schließlich schickten sie ihm einen Brief, der so anfing: »Sehr geehrter Mr. McClanahan, wir bedauern sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Antrag abgelehnt wurde. Wir bitten Sie, uns innerhalb von sieben Tagen eine Antwort zukommen zu lassen, damit wir eine neue Anhörung vereinbaren können.«

Elgie sagte nichts mehr.

Er nahm den Brief mit ins Klohäuschen und wischte sich den Arsch damit ab. Dann steckte er ihn in den Umschlag, versiegelte ihn und schickte ihn zurück. Meine Tante Betty sprach darüber, als wäre das ein durchaus vernünftiges Vorgehen. Ihre vier-, fünf-, sechs- und achtjährigen Nichten und Neffen hörten ihr zu. Und es war eine angemessene Geschichte für achtjährige Kinder.

Wir lernten etwas daraus.

 

Mein Onkel Leslie war eine harte Sau. Wie hart? Das fragte ich meine Großmutter einmal. Und sie sagte mir, wie hart. Da war ein Typ, der war Der härteste Mann von Fayette County: Ex-Häftling, verprügelte jeden, der ihm irgendwie blöd kam. Eines Tages fingen Leslie und Der härteste Mann von Fayette County an zu streiten. Und Leslie zertrampelte Dem härtesten Mann von Fayette County sein dummes Gesicht. Der Grund: Der härteste Mann von Fayette County verwendete in der Gegenwart einiger Frauen andauernd vulgäre Ausdrücke.

Ich fragte Ruby: »Und wie alt war Leslie damals?«

Ruby schwieg, dann sagte sie: »Elf.«

 

Es gab auch Cousins und Cousinen. Meine Cousine Bonnie etwa, die einen kleinen Sohn von einem Mann namens Ernie hatte. Ernie war im Gefängnis gewesen und verdiente sein Geld mit Hahnenkämpfen. Ich sah die Familie einmal im Pizza Hut, und Ernie hielt den kleinen Paul im Arm und schlug ihm ins Gesicht. PATSCH. PATSCH. Also so richtig hart. Und alle Leute ringsum waren verstört, weil der kleine Paul nicht weinte. Er lachte.

Er lachte, weil er es liebte, ins Gesicht geschlagen zu werden.

 

ABER HALT!

 

Es gibt da was, was ihr nie über meinen Onkel Nathan erfahren werdet. Ihr werdet nie wissen, wie lieb er war. Und wie lebendig.

 

Dann kamen Fotos meines Onkels G. Mein Onkel G. hatte immer versucht, sich umzubringen, aber jedes Mal ging irgendwas schief. Einmal, als er gerade in einer Fabrik im Norden arbeitete und am Eriesee wohnte, kaufte er sich ein Boot und eine Schrotflinte mit Munition und beschloss, sein Leben draußen im See zu beenden, an einem Samstagmorgen. Er verabschiedete sich von all seinen Freunden. Seiner Frau sagte er, das sei jetzt das Ende. Er hatte endlich den Mut dazu. Er wollte, dass die Leute wussten, dass er es diesmal wirklich durchziehen würde. Also reinigte er das Gewehr und ging zu seinem Boot. Er hatte es am Tag zuvor richtig schön hergerichtet. Motor an, und er fuhr hinaus auf den See. Dort saß er, blickte auf das glänzende Wasser ringsum und dachte über sein Leben nach. Er wusste, das war das Ende. Er entsicherte das Gewehr, steckte sich den Lauf in den Mund und drückte den Abzug. Nichts geschah. Er lebte immer noch.

 

Er schaute nach und sah, dass das Gewehr nicht geladen war. Bei der Reinigung hatte er die Patronen herausgenommen. Die lagen jetzt zu Hause auf seinem Bett. Shit.

 

Also fuhr er mit dem Boot zurück. Er wusste, dass nun alles anders sein würde. Er versuchte nie wieder sich umzubringen.

 

Es gab Geschichten über kleine Jungen mit Ohrenentzündungen, die Ruby aus Geldmangel nicht zum Arzt schicken konnte. Also drehten und wendeten sie sich tagelang in ihrem Krankenbett, bis ihr Trommelfell pufff aufplatzte und sie nichts mehr hörten. Was hast du gesagt?

 

Als er neunzehn war, arbeitete mein Vater bei Kroger. Eines Tages bei der Mitarbeiterbesprechung nannte der Geschäftsleiter die Namen einiger Typen, die eingebrochen waren und irgendwelches Zeug mitgenommen hatten. Der Name eines Einbrechers war: »Stanley McClanahan.«

Dann fragte er, ohne nachzudenken, meinen Vater: »Kennst du den, Mack?«

Mein Vater sagte: »Ja, das ist mein Bruder.«

Da wurde es still im Raum. Später entschuldigte sich der Geschäftsleiter bei meinem Vater.

 

Da war mein Onkel Grover, der an Depressionen und Schizophrenie litt. Anstatt dass jemand mit ihm zum Arzt ging, schickte man einen Heilprediger zu ihm. Sie hielten ihn fest und versuchten, die in ihm steckenden Dämonen auszutreiben. So wurden diese Dinge erledigt. DÄMONEN.

Es gab ein Foto von Elgies Familie – alle elf standen in einer Reihe, und ich fragte meine Großmutter: »Wer ist das, und wer ist das?«

Sie sagte: »Ach die, ja, sie hat sich umgebracht.«

Und ich: »Und das hier, und wer ist das?«

Ruby sagte: »Oh, das ist die, ja, die hat sich umgebracht.«

Von elf Kindern hatten fünf Selbstmord begangen.

Also fragte ich: »Okay, aber was ist mit Elgies Vater passiert?«

Sie sagte: »Oh, eines Tages schaukelte er das Baby auf seinem Schoß, und dann legte er das Baby weg und ging hinaus hinters Plumpsklo.« Den Rest flüsterte sie, damit Nathan es nicht hörte: »Und dort hat er sich erschossen.«

 

Ich blätterte im Fotoalbum und sah alles genau vor mir. Einige von meinen Familienmitgliedern blieben hier und bekamen Kinder, andere zogen an weit entfernte Orte, etwa nordwärts nach Flint, Michigan, oder nach Cleveland, Ohio, und dort arbeiteten sie in Fabriken. Einige arbeiteten für General Motors in Flint, Michigan, und andere in den Stahlwerken in Cleveland, Ohio. Und die jungen Frauen gingen nach Washington, DC, und wurden Sekretärinnen. Und andere blieben hier und wurden verurteilte Verbrecher, und einer heiratete eine Lehrerin namens Audrey Karen und hatte mit ihr ein Baby namens Scott. Und andere heirateten Frauen, die von weit her kamen, mit einem anderen Akzent, und selbst die Kinder hatten andere Akzente. Und sie zogen weit weg, nach San Francisco, Kalifornien, und Washington, DC, und Richmond, Virginia. Und New York. Und sie trafen nie mehr aufeinander und taten, was alle tun, und verkörperten alle diese alte langweilige scheiß Geschichte. Eine Geschichte voller Tod und Sterben, Leben und Erleben, Titten und Arsch und Eier und Schwänze und Muschis. Eine ur-ur-ur-alte Geschichte, die immer gleich beginnt: Und sie zeugten und sie zeugten und sie zeugten.

 

Eine Million wahnsinnige Säuglinge explodieren aus unserem Lächeln und verteilen sich wild brüllend über die ganze Welt: Ahh­hh-hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh!

 

SHIT!

 

EINE EPISODE, DIE RUBYS CHARAKTER NÄHER BESCHREIBT

Nach ihrer Operation wollte ich sie nicht sehen, aber Ruby sagte, ich muss. Man hatte ihr am Tag davor einige Gallensteine entfernt, und nun saß sie zu Hause aufrecht in ihrem Bett, neben ihr auf dem Tisch so eine Tablettendose aus Plastik. Ich ging auf sie zu, langsam, ängstlich, mit Kleinkind-Trippelschritten, sie ganz aufrecht und gepolstert im Bett, und ich machte einen langsamen Schritt seitwärts, dann noch einen und noch einen. Sie nahm die Tablettendose und schüttelte sie vor meinem Gesicht. Es klapperte wie eine Klapper, aber der Inhalt war ungewöhnlich.

»Was ist das, Grandma?«

Sie hielt die Dose noch einmal in die Höhe und sagte: »Meine Gallensteine. Einundzwanzig insgesamt. Der Arzt hat sie rausgeholt, und ich hab sie mitnehmen dürfen. Außer den größten, den musste ich dort lassen. Er hat gesagt, der ist für seinen Schreibtisch.«

Dann schüttelte sie die Dose vor meinem Gesicht a rat a tat tat und sagte: »Die kommen ins Blumenbeet.«

Dann gab sie mir die Dose und sagte, ich solle sie ins Blumenbeet legen. »Aber nicht, dass du sie aufisst, Todd!«

Ich schüttelte meinen Kopf, als redete sie verrücktes Zeug.

Dann ging ich zum Fenster, öffnete die Dose und drückte die Gallensteine in die Erde, bis auf den Boden eines Blumentopfs. »Da wächst nichts«, sagte ich. Sie sagte, sie würden schon aufgehen. Ich glaubte ihr nicht.

 

Am nächsten Tag begann eine Blume im Topf zu blühen.

 

Und jetzt …

 

EINE ZWEITE EPISODE, DIE RUBYS CHARAKTER NÄHER BESCHREIBT

Ich weiß nicht mehr, wer sich für Aids den Namen Aids ausgedacht hatte, jedenfalls hasste meine Großmutter das Tier. Sie sagte immer: »Geh weg von den Schweinen«, aber Aids der Kater hörte nicht auf sie. Er war total Aids: große haarlose Stellen überall, ganz ausgemergelt und mager, immer fünf Minuten vorm Sterben.

Eines Tages waren wir wieder einmal im Hof Schweine füttern, und sie sagte wie gewöhnlich zu Aids, er solle nicht immer zu den Schweinen hin, aber er hörte nicht auf sie.

 

Natürlich stahl Aids den Schweinen das Futter. Im Futtertrog, aus dem immer der dicke fette Eber fraß, war ein Astloch, da steckte Aids seinen Kopf durch. Fetter Daddy-Keiler mit der Schnauze im Trog – Aidskater Kopf durchs Loch, schlabbert den Brei. Er tat es einmal. Zweimal. Dann ein drittes Mal. Er steckte seinen Kopf durch das Loch und holte sich Brei mit der Pfote.

»Geh da weg«, warnte Ruby ein letztes Mal.

Aber er tat es wieder und blickte zu uns, gierig grinsend.

Irgendwann hatte der dicke fette Eber genug und hob sein Maul und biss den Kopf von Aids einfach ab – schnapp. Der Katzenkörper fiel rückwärts, krampfte und beinelte und zuckte, und der Eber mampfte und schlang. Ruby sagte nichts mehr. Sie fütterte weiter die Schweine, und als wir fertig waren, setzten wir uns auf die Veranda und schauten den Kolibris zu, die uns umschwirrten. Es fühlte sich friedvoll an.

 

Also fangen wir noch einmal an, mit dem ersten Kapitel.

 

DAS ERSTE KAPITEL

Mit vierzehn zog ich zu Ruby und meinem Onkel Nathan.

Ungefähr zu dieser Zeit verdarb mir Ruby meinen Geburtstag, indem sie Brustkrebs bekam. Ich weiß noch, ich war in der Küche, als sie es mir erzählte. Sie blickte mich an, dann fing sie zu schreien an: »Oh Lordie!«

Der Arzt in Beckley hätte ihr gesagt, sie habe Brustkrebs und müsse sterben, wenn sie sich nicht die Brust entfernen ließ.

 

Am Abend kam uns Onkel Stanley besuchen. Ich erzählte ihm, dass Ruby Krebs hatte und bald sterben würde.

Er flüsterte nur »Shit«, dann rief er den Arzt an, und es stellte sich heraus, dass sie gar nicht Brustkrebs hatte, sondern einfach eine Geschwulst, die möglicherweise bösartig werden könnte.

Der Arzt meinte, man könne das gut mit einer Salbe behandeln.

Aber sie wollte trotzdem, dass jeder glaubte, sie habe Brustkrebs.

 

In den nächsten Monaten nervte sie den Arzt so lang, bis er irgendwann einwilligte, ihr die Brust zu entfernen, als Vorsichtsmaßnahme. Sie ließ ihn wissen, Brustkrebs liege bei uns in der Familie. Was gelogen war.

Mein Onkel Stanley stellte sie zur Rede.

Ruby verteidigte sich: »Mir geht’s doch nur darum, nicht am Krebs zu sterben.«

Stanley sagte: »Meine Güte, Mama, du hast doch gar nicht Krebs! Hab doch den Arzt gefragt. Das ist nur eine Geschwulst, und die ist zum jetzigen Zeitpunkt gutartig.«

»Aber wie ich mit ihm geredete habe, hat er gesagt, er schneidet sie weg. Als Vorsichtsmaßnahme.«

Stanley sagte wieder »Shit«. »Ja natürlich hat er das zu dir gesagt. Scheiß Chirurgen. Die schneiden Dinge weg. Chirurgen sind die schlimmsten Menschen der Welt. Wenn du ihnen vorschlägst, irgendwas von deinem Körper wegzuschneiden, dann machen sie das sofort.«

 

Am Tag nach der Operation warteten wir vor ihrem Zimmer auf der Intensivstation.

Die Schwester trat heraus, in der Hand einen Behälter voll mit einer bräunlichen Substanz, die aus Rubys Körper gekommen war. Dann durften wir zu ihr. Wir versammelten uns um ihr Bett. Sie lachte und strahlte, in ihrem Arm Infusionsschläuche.

Sie zog den Kragen ihres Operationshemds herunter und zeigte uns die Stelle. Verbandszeug, Nähte, eingesunkene Haut. »Man hat’s nicht leicht als kranke alte Frau«, sagte sie.

Onkel Stanley schüttelte den Kopf und flüsterte »Shiiit«.

Für mich sah meine Großmutter vollkommen schief aus. So zerschnitten und reduziert.

 

Aber dann deutete sie rüber zu der alten Frau im Nebenbett. Die Frau lag da, ohne irgendwas zu sagen. Sie starrte nur zur Decke.

Ruby fing an, uns von ihr zu erzählen. »Die arme Frau weint und weint immer nur, die ganze Nacht über.« Und dann fügte sie, laut genug, dass die alte Frau es hören konnte, hinzu: »Sie weiß noch nichts davon, aber ich hab gehört, was die Schwestern gesagt haben, als sie sie gebracht haben. Voller Tumore ist sie, das arme Ding. Die Familie hat’s ihr noch nicht gesagt. Sie hat nur noch ein paar Wochen, höchstens.«

Tante Mary machte »Schschsch«, damit Ruby leiser sprach. Da öffnete die alte Frau, die vorher noch total leblos ausgesehen hatte, die Augen und schaute drein, als wollte sie sagen: »Was zum Teufel haben Sie grade gesagt? Ich liege im Sterben?«

 

Natürlich hätte es uns nicht sonderlich überraschen sollen, dass Ruby am selben Abend, als wir zur Besuchszeit ins Zimmer kamen, gerade dabei war, einen Quilt zu verkaufen. Sie war immer noch mit Verbandszeug umwickelt, aufrecht im Bett, am Telefon mit einer Frau, die im vierten Stock lag. »Also, wenn Sie diesen Quilt wollen, dann rufen Sie am besten gleich Ihre Tochter an, damit die das Geld bringt. Ja, ich weiß schon, dass Sie nicht gehen können, aber irgendeinen Weg finden Sie schon. Ich bin in Bett Nr. 2.«

 

Aber da kam eine Schwester ins Zimmer und fing an zu schimpfen:

»Mrs. McClanahan, Schluss jetzt mit dem Telefonieren und Quiltverkaufen, man hat Ihnen gerade erst eine Brust entfernt, Sie müssen sich ausruhen.«

Sie nahm Ruby den Hörer aus der Hand und legte auf.

»Es ist nicht erlaubt, dass Leute hier ins Krankenhaus herkommen, um Käufer für ihr Zeug zu finden. Das gilt auch für Sie und ihre Quilts.«

Die Schwester verließ das Zimmer, und Ruby zeigte uns die Genesungskärtchen, die sie von Bekannten erhalten hatte.

 

Eine Karte kam von Mae und eine andere von Geneva, auf der stand »Gute Besserung«. Dann noch eine Karte von Leslie und Bernice, und die Blumen waren von Stirley und Brenda.

»Ich glaub nicht, dass irgendwer hier schönere Karten hat als ich«, sagte Ruby. »Als Mae heute Morgen hier war, sagte sie, dass sie noch nie so viele Karten und Genesungsgrüße auf einem Haufen gesehen hat. Eine Frau von der Altenpflege war hier, die sagte, sie hätte schon mehr Karten auf einem Haufen gesehen. Aber die ist bloß neidisch. Sie hatte einen Herzinfarkt letztes Jahr und hat kaum welche bekommen.«

Sie nahm eine Karte und hielt sie in der Hand. Da auf ihr nur Ruby stand, strich sie den Namen mit einem Bleistift durch, damit man die Karte wiederverwenden konnte, für wenn jemand Geburtstag hatte. Sie gab mir die Karte und sagte: »Alles Gute zum Geburtstag.« Ich war gerade vierzehn geworden.

 

Als wir danach von allen Seiten über Rubys wundersame Heilung vom Krebs hörten, hätte uns auch das nicht weiter wundern sollen. Eines Tages war sie gerade von einem ihrer Seniorentreffen nach Hause gekommen. Sie saß im Lehnstuhl, auf ihrer Brust ein Breast-Cancer-Survivor-Anstecker, den sie andauernd bewunderte. »Ich liebe meinen kleinen Anstecker.«

Dann lächelte sie, tippte den Anstecker an und sagte: »Sie haben eine Feier für mich organisiert im Seniorenzentrum, und ich hab das hier bekommen, weil ich überlebt habe!«

 

Meine Tante Mary hatte die Nase voll.

Sie sagte zu Ruby, sie solle aufhören, so einen Anstecker zu tragen und Leuten zu erzählen, sie habe Krebs gehabt. Der Anstecker sei für Leute, die wirklich überlebt hatten. Nicht für jemanden, der bloß allen erzählte, er hätte überlebt. Es sei ein Wunder, dass der Chirurg nicht verklagt worden sei.

Ruby saß da und dachte nach. Dann sagte sie: »Eine von diesen gehässigen Frauen im Seniorenzentrum hat das auch gesagt, aber was weiß die schon?«

Und dann fügte sie ihren Refrain hinzu: »Abgesehen davon war die Operation eine Vorsichtsmaßnahme!«

 

Ruby saß lange auf ihrem Platz, grübelnd, und kam schließlich auf diesen Gedanken: »Ach, die armen Leute. Als könnte man nicht einmal aus dem eigenen Haus gehen, schon passiert irgendwas Fürchterliches.«

Sie dachte an all die Menschen, die sie kannte, denen irgendetwas Grauenvolles zugestoßen war.

Sie erzählte von dem kleinen Mädchen, dem ein Rasenmäher mehrere Zehen abgetrennt hatte. Und von meinem Einzug bei ihr.

Oder von ihrer Cousine, die, während sie im Auto auf der Straße fuhr, von einem Erdrutsch zu Tode gequetscht wurde. Oder von einer ihrer Freundinnen, der man das entstellte Bein amputiert hatte und die ihr Haus nun nicht mehr verlassen konnte.

Ihr Blick sagte: Wenn du aus dem Haus gehst, passiert irgendwas Schlimmes, Hurrikans, Erdbeben. Und dann veränderte sich ihr Blick ein wenig in: Eines Tages wird uns allen irgendwas Schlimmes passieren.

 

Und wisst ihr was?

 

Es wird passieren.

 

… wenn nicht am heutigen Tag, dann am Abend danach.

 

DER ABEND DANACH

Am Abend danach war wieder der Prediger im Radio. Das bedeutete nur eines: Mein Onkel Nathan würde Bier trinken. Ich versuchte ihm zu erklären, dass das keine gute Idee war, aber er kümmerte sich nicht darum. Er war 52 Jahre alt und wohnte immer noch bei meiner Großmutter. Er war spastisch gelähmt und konnte nicht sprechen. Mit seinem üblichen Stöhngeräusch deutete er auf das Bier und den Schlauch seiner Magensonde. Meine Hände zitterten ein wenig, als ich die Dose öffnete. »Ah, ich weiß nicht, Nathan. Grandma wird so wütend sein. Sie war doch gerade erst im Krankenhaus, ihre Nerven …«

Nathan hob seine Hände und deutete in die Ecke des Zimmers, wo Ruby wieder an ihren Quilts nähte, und dann ließ er die Finger flattern, um einen plappernden Mund zu imitieren. Er meinte, sie rege sich doch dauernd über irgendwas auf.

 

Er wies mich auf den Teddybären-Pullover hin, den er trug. Den hatte sie ihm heute Morgen angezogen, und er war immer noch sauer deswegen. Er machte ein Geräusch wie »guup up«, was so viel wie »Scheiß auf Ruby, ich bin ein erwachsener Mann, und die zieht mir einen Teddybären-Pullover an« bedeutete.

Also entfernte ich den Klebverschluss der Sonde und zog den Schlauch heraus.

»Soll ich wirklich?«, fragte ich. Ich näherte die Bierdose der Mündung.

Er deutete auf den Schlauch und gestikulierte: Jetzt mach schon.

Er tippte sich an die Schläfen, um anzudeuten, dass er nicht dumm sei. Wozu das Bier mühsam Schluck für Schluck trinken, wenn man ein Sixpack direkt in den Magen leeren und dadurch viel schneller in den Blutkreislauf bekommen konnte? Also schüttete ich ein Bier in den Schlauch, dann noch eines. Ich öffnete ein weiteres und noch eines. Dann den Rest. Er grinste und rülpste. Es roch nach einem Bierrülpser.

Ich reinigte die Magensonde, verklebte den Zugang und zog den Teddybären-Pullover wieder über seinen Bauch. Nathan deutete in Richtung Radio. Er wollte den Prediger hören.

»Ach, verdammt«, sagte ich, »ich mag mir den Prediger heute Abend lieber nicht anhören, Nathan.«

Aber er bestand darauf.

 

Er wedelte mit den Armen, und währenddessen sprach der Radioprediger über das Feuer der Hölle und die Verdammnis und den Tag des Jüngsten Gerichts, der uns alle erwartete.

Nathan schüttelte seinen Zeigefinger in Richtung Radio: Genau. Der sagt’s, wie’s ist. Der gibt’s ihnen, den ganzen Wichsern.

Ich legte die leeren Bierdosen in eine Tüte, die ich draußen versteckte.

Das war auch gut so, denn wenige Minuten danach kam Ruby ins Zimmer. Sie hatte immer noch die Nähte drin und trug Verband, aber sie konnte schon wieder selbstständig herumlaufen. Sie sagte: »Ganz genau, Nathan – der Herrgott nimmt dich bald zu sich.«

 

Nathan liebte es, den Radioprediger bei seinen Verwünschungen anzufeuern. Eine andere Leidenschaft von ihm war Benny Hinn. Er deutete auf den Tisch, wo ein Benny-Hinn-Buch lag.

Dann deutete er in die Luft.

»Was meinst du?«, fragte ich.

Ruby sagte: »Oh, er spricht von dem kleinen Mädchen, das der Prediger neulich geheilt hat. Die war arm, ganz verkrüppelt und konnte nicht mal gehen. Der Prediger hat für sie gebetet.«

Nathan nickte und deutete auf sein Auge. Das bedeutete: Ich hab’s selbst gesehen.

Ruby sagte: »Er war so aufgeregt, dass er gar nicht schlafen konnte – das arme Kind.«

Ich sagte zu Nathan, dass ich nicht an Prediger glaubte.

Er warf seine Hände in die Höhe, stöhnte und deutete auf seinen Kopf, um zu sagen, dass es aber die Wahrheit sei.

Ich sagte: »Ach, zum Teufel, Nathan, diese Prediger ziehen doch nur den Leuten das Geld aus der Tasche. Du kennst doch den Blues, I’m gonna join the Baptist Church / You know I wanna be a Baptist preacher / Just so I won’t have to work.«

Ich musste kichern. Und griff nach dem Tischtuch. »Wird schon einen Grund haben«, sagte ich, »warum du dein Geld versteckst.«

Damit zog ich das Tischtuch beiseite, und tatsächlich lagen da immer noch die Fünf-Dollar-Scheine, die er dort verborgen hielt.

Nathan lachte und kicherte, weil ich wusste, wo er sein Radiopredigergeld bunkerte.

Es war unser kleines Geheimnis.

 

Im Radio schrie immer noch der Prediger. Ich half Ruby beim Verstauen ihrer Puppen. Sie hatte sie heute Vormittag angesehen.