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Sollen Texte, die einst spontan oder für Schreibkurslesungen zu Papier gebracht wurden, hiernach ein Schattendasein auf der Festplatte meines Computers fristen? Dann würden ja nur die damaligen Zuhörer erfahren, warum Rapunzel auch mit kurzen Haaren ihren Weg machte, wie kompliziert sich der Übergang ins Jenseits, bzw. das friedliche Verweilen dort angesichts überbordender Bürokratie gestalten kann, und warum es selbst in unserer betriebsamen Zeit völlig in Ordnung ist, mal überhaupt nichts zu tun.
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Seitenzahl: 90
Veröffentlichungsjahr: 2019
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SPANNUNG, TOD UND GRUSEL
Bürokratischer Erweckungszauber
Der rote Saft
Kreuzfahrt ohne Wiederkehr
Zeit zu gehen
Das Portrait der alten Dame
Regional und artgerecht
Von der Wiege bis zur Bahre
IN EIGENER SACHE
Als ich einmal Parkour machte... ein bisschen
Novemberwetter
Vom Zauberlauch
„Da is ja gar nix“
Die innere Mitte
Drogenküche und andere Vorurteile
Praktikantin, Philosoph und Katze
WER ZULETZT LACHT…
Was wäre wenn…Rapunzel kurze Haare gehabt hätte
Kann Spuren hinterlassen
Cineastische Vorlieben
Ich wache auf und bin…
Begegnung am Meer
Sämtliche in diesem Buch gesammelten Texte entstanden entweder im Rahmen eines Schreibkurses für die jeweilige Abschlusslesung oder einfach aus eigenem Abtrieb.
Die Idee, ein eigenes Buch mit meinen Kurzgeschichten zu veröffentlichen, kam mir, als meine Schreibkursfreundin Meike stolz ihr neustes Werk dieser Art präsentierte. So etwas wollte ich auch haben.
Die Idee zu dieser Geschichte ereilte mich bei einem Spaziergang auf dem Friedhof Bonames. Dort findet man auf manchen Grabsteinen bunte Aufkleber, über welche die Friedhofsverwaltung mit den Besitzern der jeweiligen Grabstelle kommuniziert. Für jede der bisher von mir entdeckten vier verschiedenen Botschaften gibt es eine eigene Farbe.
In Gelb gehalten die Ermahnung „Ungepflegtes Grab“, ein roter Aufkleber warnt vor der „Unfallgefahr“ durch nicht länger standsichere Grabmäler. Es gibt auch einen blauen Aufkleber, den habe ich aber nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Da ich damals noch nicht wusste, dass die Information darauf einmal bedeutsam werden würde, habe ich sie mir leider nicht gemerkt.
Ausschlaggebend für meine Geschichte war jedoch der grüne Aufkleber „Ablauf des Nutzungsrechtes - bitte melden Sie sich bei der Friedhofsverwaltung“.
Na dann…
Die Frau stieß einen spitzen Schrei aus. Gleich darauf noch einen. Zu einem dritten kam sie nicht mehr, weil Herr Vierling sie abwürgte, indem er entschlossen den Regler am Radio drehte und so den Sender wechselte. Das war ja nicht auszuhalten. Wäre er eine Frau, hätte er die Macher derartiger Radiowerbungen sofort wegen übler Nachrede verklagt. So lachhaft wie in Radiospots benahm sich keine Frau, die er im realen Leben je kennen gelernt hatte.
Er konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Gestern hatte er grüne Aufkleber auf 14 der vielen Grabmäler draußen auf dem Friedhof angebracht.
„Das Nutzungsrecht für Ihre Grabstelle läuft in Kürze ab - bitte melden Sie sich bei der Friedhofsverwaltung“. Es musste schließlich alles seine Ordnung haben. Und damit auch jene Hinterbliebenen, die nicht regelmäßig das Grab ihrer Lieben besuchten, von dieser bürokratischen Maßnahme in Kenntnis gesetzt wurden, saß er jetzt im Büro der Friedhofsverwaltung und verschickte die dazugehörigen Bescheide. Sachkundig leckte er die Klebefläche an der Lasche jedes einzelnen Briefumschlags an, bevor er den Umschlag durch Andrücken der angefeuchteten Klebelasche verschloss. Er hätte es nicht tun müssen. Ein befeuchtetes Feuchtekissen stand einsatzbereit neben ihm. Aber er tat es gerne. Der stets gleiche Ablauf hatte etwas Meditatives: falten, tüten, lecken, kleben. Falten, tüten, lecken, kleben.
Ein Geräusch auf dem Flur ließ ihn inne halten. Er hob den Kopf und lauschte, hörte aber nichts mehr. Also faltete, tütete, leckte und klebte er weiter. Im Radio spielte jetzt Musik, sogar ein Lied, das er sehr gern hörte. Das gab seiner Stimmung zusätzlichen Auftrieb.
Abermals ein Poltern. Herr Vierling schaltete das Radio aus und hörte ein klackendes, vertrautes Geräusch. Dieses Geräusch verursachte die Eingangstür, wenn sie ins Schloss fiel. War jemand hereingekommen? Tatsächlich näherten sich Schritte auf dem Flur. Sehr langsame, schlurfende Schritte.
Herr Vierling krauste die Stirn. Er hatte absolut keine Lust, seine meditative Routine von einem Hinterbliebenen unterbrechen zu lassen, der sich über unangemessene Grabbepflanzung beschweren wollte. So wie neulich Frau Schwappenhäuser. Die alte Dame fühlte sich von den Stiefmütterchen auf dem Nachbargrab in ihrer stillen Andacht gestört, da diese, so Frau Schwappenhäuser, „den bösen Blick“ hätten. Was sollte er dagegen tun? Es gab zwar einen gelben Aufkleber „Ungepflegte Grabstelle - bitte halten Sie Ihre Grabstelle in ordnungsgemäßem Zustand“, der Aufkleber „Unangemessene Grabbepflanzung - bitte pflanzen Sie keine Vegetation mit augengleicher Blütenblattzeichnung“ existierte jedoch nicht. Halbherzig schlug er Frau Schwappenhäuser vor, den Stiefmütterchen doch die Augen zu verbinden, was immerhin den Erfolg gehabt hatte, dass die alte Dame empört abgezogen war.
Die Schritte im Gang verstummten, gleich darauf kratzte etwas an der Bürotür.
Herr Vierling legte den eben zugeklebten Umschlag beiseite.
„Herein!“
Zuerst geschah nichts. Dann wieder ein Schaben am Holz, die Klinke bewegte sich zwei Zentimeter nach unten, schwang gleich darauf jedoch wieder in ihre Ruheposition zurück. Durch die Tür war ein leises Röcheln zu hören.
Wer immer dort Einlass begehrte, war nicht nur des korrekten Öffnens einer Tür unkundig, sondern darüber hinaus auch noch schwer erkältet.
Herr Vierling stand seufzend auf, ging hin und öffnete.
Was da hinter der Tür stand, ließ sein Blut gefrieren.
Ein Mann, jedenfalls etwas, das mal ein Mann gewesen war. Das blasse Gesicht war mit Erde verschmiert, in dem einstmals eleganten Anzug hingen Erdkrumen, Insekten krochen darauf herum. Zwei trübe, weißgelbe Kugeln starrten unter verfilztem braunem Haar hervor.
Herr Vierling schrie auf. Er wollte die Tür zuschlagen, doch die Kreatur drückte von der anderen Seite dagegen. Der Spalt vergrößerte sich zusehends. Ein ekelhafter Geruch nach verwesendem Fleisch, vermischt mit dem von feuchter Erde, drang in seine Nase.
Trotz ihres Zustandes verfügte die Kreatur über deutlich mehr Kraft als der Beamte. Zentimeter um Zentimeter verbreiterte sich der Türspalt.
Eine verwesende Hand schob sich zwischen Türblatt und Zarge.
Beim Anblick der nagellosen, fleckigen Finger gab Herr Vierling seinen Widerstand auf.
Er ließ die Klinke los und flüchtete hinter seinen Schreibtisch, wo er sich wie der Hase vor dem Fuchs am Boden zusammen kauerte.
Mit unsicheren Schritten schlurfte die Gestalt ins Zimmer. Von seinem Versteck aus konnte Herr Vierling lediglich ihre Füße sehen, aber das genügte. Ameisen bedeckten die Hosenbeine, die Lederschuhe, einstmals von guter Qualität, waren wurmstichig, eine Großfamilie Asseln hatte sich im linken Hosenaufschlag häuslich eingerichtet. Unmittelbar vor dem Schreibtisch verhielten die Füße.
„Oooouuuh!“
Der Untote stieß einen unartikulierten Laut aus und schlug mit der Hand auf die Schreibtischplatte. Herr Vierling duckte sich tiefer.
„Mooouuullden!“
Ein weiterer Schrei ließ Herr Vierlings Herz einen Schlag aussetzen. Dem Untoten war es offenbar zu anstrengend, ihn hinter dem Schreibtisch hervorzuziehen. Stattdessen versuchte er, sein Opfer durch seine grausigen Schreie in Angst und Schrecken zu versetzen und so aus der Deckung zu treiben. Was tatsächlich funktionierte. Herr Vierling war nicht mehr weit davon entfernt, auf gut Glück loszurennen. Wenn er nur irgendwie aus dem Büro kommen könnte, außer Reichweite dieser Kreatur. Vielleicht hatte er eine Chance, der Untote war nicht besonders schnell.
Dieser schlug abermals auf die Tischplatte.
„Mmöööeelldddeen!“
Diesmal meinte Herr Vierling, aus dem Schrei ein Wort heraus zu hören.
Melden!
Was sollte das bedeuten? Wollte diese Kreatur, dass er wie ein Schüler die Hand hob?
Wieder wechselten die Füße ungeduldig die Position, ein Dutzend Ameisen verlor den Halt auf den Hosenbeinen.
„Möööeeellldden!“
Herr Vierling beschloss, das Risiko einzugehen. Alles war besser, als länger unter dem Schreibtisch zu kauern. Er streckte eine zitternde Hand über die Tischplatte, in der Erwartung, dass die Zähne des Untoten, sich jeden Augenblick darin versenken oder er sie mit bloßer Hand abreißen würde. Es geschah jedoch nichts dergleichen.
„Möelden“, grunzte der Untote, nun schon recht klar verständlich. Da steckte Herr Vierling tapfer den Kopf über die Tischplatte.
„Sie wollen sich melden?“
Der Untote nickte. Ein Regenwurm ringelte sich aus dem einen Ohr, fiel in den Kragen und verschwand irgendwo zwischen Hemd und Sakko. Mit einem vermoderten Finger deutete das Wesen auf den Schreibtisch unmittelbar vor sich.
„Melden!“
Herr Vierling starrte ungläubig auf das bedruckte Stück grüne Plastikfolie, das sein Besucher dorthin gelegt hatte. Es handelte sich um einen jener Aufkleber, die er gestern eigenhändig auf den Grabsteinen der betroffenen Gräber angebracht hatte. „Das Nutzungsrecht für Ihre Grabstelle läuft in Kürze ab - bitte melden Sie sich bei der Friedhofsverwaltung.“
Herr Vierling schluckte. Dann riss er sich zusammen, kletterte auf seinen Stuhl und nahm das entsprechende Formular zur Hand, intensiv bemüht, Anblick und Geruch seines äußerst ungewöhnlichen Kunden zu ignorieren.
Es dauerte eine Weile, bis Herr Vierling dessen Daten vollständig und korrekt in das Formular für die „Verlängerung der Nutzungsdauer einer Grabstelle“ eingetragen hatte. Aber wer konnte dem armen Mann das vorwerfen? Mit halb verwesten Stimmbändern kann man sich eben nicht mehr so klar und deutlich artikulieren. Eine Viertelstunde später war es dann doch geschafft, aus dem anonymen Untoten war Paul Schäfer geworden.
Herr Vierling zögerte kurz. Müsste er nicht eine Notiz über die ungewöhnliche Daseinsform des Antragstellers hinzufügen? Aber was war dieser denn nun genau? Ein Untoter? Ein Zombie? Ein Wiedergänger?
Herr Vierling beschloss, zugunsten seiner Nerven und seiner Nase auf diese Notation zu verzichten und die Angelegenheit besser zügig abzuschließen.
Herr Schäfer bezahlte die Gebühr für weitere zehn Jahre Totenruhe mit leicht vermoderten Geldscheinen und setzte mit seiner fahrigen Unterschrift gleich noch zwei Tausendfüßler aus seinem Ärmel auf das Formular. Hiernach schlurfte er unter Ächzen und Stöhnen zur Tür hinaus. Herr Vierling holte die Kehrschaufel aus der Abstellkammer und fegte das von seinem Besucher zurückgelassene Getier zusammen, welches er auf dem Rasenstück neben der Eingangstür in die Freiheit entließ.
Eines wusste er mit Sicherheit: Die missverständliche Formulierung „Das Nutzungsrecht für Ihre Grabstelle…“ auf den Aufklebern musste dringendst geändert werden. Wo käme man hin, wenn alle paar Tage lebende Leichname ins Büro der Friedhofsverwaltung geschlurft kämen, um das Nutzungsrecht ihrer eigenen Grabstellen verlängern zu lassen?
Es musste schließlich alles seine Ordnung haben.
Nachtrag:
Auf der Skala meiner bei einer Lesung vorgetragenen Geschichten rangiert diese ganz klar auf Platz 1. Soviel Spaß wie bei der Intonation der Zombielaute hatte ich selten beim Vortrag eines Textes. Dem anhaltenden Gelächter zufolge ging es dem Publikum nicht anders.
Dimitri zog die Schneide des Messers mit gleichmäßig festem Druck über die gerötete Haut. Sein wehrloses Opfer, das er während des Eingriffs auf dem Arbeitsfläche festhielt, gab keinen Laut von sich. Als ob es dazu jemals Gelegenheit gehabt hätte. Ohne jeden Widerstand glitt die scharfe Klinge durch das Gewebe, dunkelrote Flüssigkeit spritzte aus dem klaffenden Schnitt gegen die Küchenwand. Wie umgekehrte rote Tränen klebten die Spritzer auf den weißen Kacheln. Dimitri fluchte leise.
Nicht nur der weißgekachelte Raum sollte sauber bleiben, der rote Saft hinterließ überdies hässliche Flecken auf der Kleidung, die sich nur schwer wieder entfernen ließen, wie er nur zu genau wusste.
Nachlässigkeit konnte er sich nicht leisten, dafür würde er später einen hohen Preis bezahlen müssen.
Bei seiner ersten Extraktion dieser Art hatte er seine Euphorie nicht zügeln können, hatte wie wild drauf los gesäbelt und in seinem Übereifer die Küche in ein Schlachthaus verwandelt.
Inzwischen hatte er seine Methode perfektioniert.
Er trug Latexhandschuhe. Vor Beginn der Prozedur hatte er die Klinge seines Messers sorg