Da sind wir - Graham Swift - E-Book

Da sind wir E-Book

Graham Swift

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Zauberer und ein Entertainer lieben dieselbe Frau Jack Robbins und Ronnie Dean sind Freunde und sie träumen beide vom Ruhm – Jack als Entertainer, Ronnie als Zauberer. Nach ihrer Militärzeit lassen sie das berüchtigte Londoner East End hinter sich und stürzen sich Ende der 50er-Jahre ins flirrende Showgeschäft. Als die bezaubernde Evie White zu ihnen stößt, steigt ihr Stern, bis er zu verglühen droht: Aus Freunden werden Rivalen. Denn Evie – erst Ronnies Assistentin, später seine Verlobte – beginnt eine Affäre mit Jack. Wenig später verschwindet Ronnie während eines Auftritts und bleibt verschwunden. Als könnte er wirklich zaubern. Hypnotisch und elegant beschreibt der große Romancier Graham Swift die magischen Momente im Leben, die sich selten im Rampenlicht abspielen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 209

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Jack Robbins ist Entertainer, Ronnie Dean ist Zauberer. Gemeinsam steigen die Freunde Anfang der Fünfzigerjahre in Brighton ins Showgeschäft ein. Als Evie White zu ihnen stößt, kommt der große Erfolg. Aber dann beginnt Evie – erst nur Ronnies Assistentin, dann seine Verlobte – eine Affäre mit Jack. Wenig später verschwindet Ronnie während eines Auftritts und bleibt verschwunden. Als könnte er wirklich zaubern.

Hypnotisch und verführerisch elegant erzählt der große englische Romancier Graham Swift von den magischen Momenten im Leben, die sich selten im Rampenlicht abspielen. Von Liebe und Freundschaft. Von Schein und Schönheit einer Welt voller Wunder.

Von Graham Swift ist bei dtv außerdem lieferbar:Das helle Licht des TagesSchwimmen lernenWasserlandIm Labyrinth der NachtLetzte RundeEngland und andere StoriesEin FesttagWärst du noch hierEinen Elefanten basteln

 

 

 

 

Für Candice

 

 

 

 

It’s life’s illusions I recall.

Joni Mitchell

 

 

 

 

Jack stand in der Seitenkulisse. Er wusste, wie man das Erscheinen auf der Bühne hinauszögert, um genau die richtige Anzahl von Sekunden. Er war ruhig. Er war achtundzwanzig Jahre alt und hatte reichlich Bühnenerfahrung, zwölf Jahre auf den Brettern, die anderthalb Jahre beim Militär nicht mitgezählt. Zeitgefühl lag einem im Blut; dachte man drüber nach, war man verloren.

Er betastete seine Fliege, legte die Hand vor den Mund und räusperte sich höflich, so als würde er gleich ein Zimmer betreten, nichts weiter. Er strich sich die Haare zurück. Nachdem die Beleuchtung im Zuschauerraum heruntergefahren worden war, konnte er das anschwellende Gemurmel hören, ein Brodeln, als würde auf dem Herd gleich etwas zu kochen anfangen.

Es passierte nicht oft, aber jetzt doch. Das plötzliche flaue Gefühl im Magen, Panik, Schwindel, Abscheu. Er hatte das hier nicht nötig, er brauchte sich nicht in einen anderen zu verwandeln. Es warf die lähmende Frage auf, wer er überhaupt war, und es gab diese einfache Antwort: niemand. Er war ein Niemand.

Und wo? Nirgendwo. Er stand auf einer fragwürdigen Konstruktion über wogendem Wasser. Normalerweise dachte er darüber nicht nach. Möglicherweise hatten sich seine Beine in nutzlose rostige Eisenträger verwandelt, tief im Sand verankert. Hauptsache, keiner sah ihn so, niemand sollte bemerken, dass er darunter litt.

Das passierte auch nicht. In fünfzig Jahren nicht.

Zum vierten oder fünften Mal prüfte er seinen Hosenschlitz, diesmal war es lediglich ein Befühlen der Luft darüber.

Er brauchte jemanden, der ihm einen Stoß gab, einen ordentlichen Stups in den Rücken. Das konnte einzig und allein seine Mutter. Auch das würde nie jemand erfahren. Jeden Abend, bei jeder Vorführung ihr ungesehener Stups. Er nahm kaum Notiz davon, noch weniger fiel es ihm ein, ihr dafür zu danken.

Wo seine Mutter heute Abend wohl war? Soweit er wusste, war sie mit einem Mann namens Carter zusammen, ihrem zweiten Ehemann, wie sie ihn nannte, Besitzer einer Autoreparaturwerkstatt in Croydon. Hauptsache, sie war glücklich. Trotzdem hatte sie ihm in all den Jahren diesen unsichtbaren Stoß in den Rücken gegeben. Manchmal stellte er sie sich sogar, auch dann unsichtbar, auf einem Platz im Zuschauersaal vor, mit aufmerksamem, wohlwollendem Blick.

Das ist mein Jack, mein talentierter Sohn.

Besitzer einer Autoreparaturwerkstatt, Carter hieß er. Was soll ich sagen, Leute, ich bitte euch. In Croydon gab es ein Theater, The Grand. Dort war er aufgetreten, ein Märchen, er hatte Buttons gespielt, den Diener in Cinderella. War sie heimlich im Publikum gewesen, zusammen mit Mr Carter, der nach Automotoren roch, und dachte: Cinderella, ich fass es nicht? Das ist mein Junge, mein Jack.

Jetzt war der Junge achtundzwanzig Jahre alt, hatte reichlich Bühnenerfahrung, und sein schwarz-weißes Kostüm, die übliche, inzwischen jedoch überholte Verkleidung von Schaustellern, Schauspielern, Aufschneidern, trug er wie eine zweite Haut. Heutzutage traten sie in Jeans und Lederjacke auf und zupften auf der Gitarre. Nun, das kam für ihn zu spät. Für ihn waren es Spazierstock, Kreissäge, Steppschuhe. »Und hier, verehrtes Publikum – haltet euch zurück, Mädels – die Rockabye Boys!« Als wäre er, verdammt, ihr Onkel. Aber er hatte (das wusste er) das Aussehen und das Lächeln, dazu die Haarlocke – er strich sie sich abermals zurück –, die ihm zur Verzückung aller (auf der Bühne wie im Leben, nebenbei bemerkt) in die Stirn fallen würde.

Vorausgesetzt, er schaffte es auf die Bühne.

Ihr »erster Mann«, tja, der war wirklich ein Niemand gewesen und nirgendwo zu finden: sein Vater. Dazwischen – und das Dazwischen hatte lange gedauert – war sie selbst auf die Bühne gegangen, ins harte, unbarmherzige Showgeschäft. Dachte man drüber nach, war man verloren. Und wer war für sie da gewesen, hatte ihr einen Stups gegeben?

Dies hier darf keiner sehen, keiner wissen. Er hörte das anschwellende Gemurmel, das ihn gleich fortschwemmen würde. Er brauchte Luft, Luft. »Nicht weinen, kleines Aschenputtel.« Jetzt hatte er nur sich selbst, musste sich selbst den Stups geben, aber wie sollte er das anstellen? Überschreite die Linie, tritt über den Rand.

In dieser Saison (seiner zweiten hier) war Jack der Conférencier, Ronnie und Evie hatten ihren Auftritt gleich nach der Pause. Jack war es zu verdanken, dass sie überhaupt eine Nummer in der Show hatten, und an erster Stelle gleich nach der Pause dran zu sein war beachtlich. Als im August plötzlich nichts mehr war wie zuvor und alles auseinanderbrach, wurde ihre Nummer, von Jacks Abschlussauftritt abgesehen, ans Ende der Show verlegt.

Auch auf den Plakaten waren sie damals ganz nach oben gerückt. Die Leute kamen speziell, um Ronnie und Evie zu sehen. Auf die Plakate wurden Zettel geklebt mit Sätzen wie: »Das müssen Sie mit eigenen Augen sehen!« Darauf Jack: »Mit wessen denn sonst?«, aber in letzter Zeit machte er nicht mehr so viele witzige Bemerkungen. Auf der Bühne schon. Kennen Sie schon den von dem Besitzer einer Autoreparaturwerkstatt und seiner Frau? »The show must go on!«

»Ihr seid im sonnigen Brighton, liebe Leute, jetzt zeigt eure sonnigen Seiten!«

Die Saison lief weiter, bis Anfang September, und das Publikum sah nur das Wunderwerk, das, worüber alle sprachen. Dann war die Saison vorbei, und das, worüber alle sprachen, war weiter nichts als das, es existierte nur in der Erinnerung derjenigen, die es gesehen hatten, mit eigenen Augen, in den wenigen Wochen des Sommers. Nach und nach würden diese Erinnerungen verblassen. Vielleicht würden die Menschen sich fragen, ob sie es wirklich gesehen hatten.

Auch anderes war vorbei. Ronnie und Evie, die aus dem Nichts gekommen waren und nach ihrer außergewöhnlichen Premiere als Sommerberühmtheiten gefeiert wurden, hatten sich eindeutig künftige Shows gesichert und sahen einer großen Karriere entgegen, aber sie traten nie wieder auf einer Bühne auf. Und Ronnie trat überhaupt nicht mehr in Erscheinung.

Eddie Costello, Reporter für Kultur und Unterhaltung bei der Lokalzeitung, hatte noch im Monat zuvor geschrieben, das Paar – und die beiden waren ein echtes Paar – habe Brighton »im Sturm erobert«. Damals mochte das etwas übertrieben gewesen sein, aber inzwischen war es nur die halbe Geschichte, und sie gehörte auch nicht mehr in die Rubrik Kultur und Unterhaltung.

Dann kam der Zeitpunkt, da Evie ihren Verlobungsring abzog. Auch das ein Fall von »the show must go on«. Als die witzigen Bemerkungen noch frei flossen, hatte Jack gealbert, ihnen sei für die Sommersaison ein Programmplatz versprochen worden, sie mussten sich nicht gleich gegenseitig das Versprechen fürs Leben geben. Doch genau das hatten sie getan. Der Verlobungsring mit seinem funkelnden Stein war die sichtbare – winzige, aber sichtbare – Ergänzung zu Evies silbern schillerndem Kostüm. Wie hätte es ausgesehen, wenn sie den Ring vor Ende der Saison abgenommen hätte? Und so wie jeder Ring dieser Art war er eine Garantie. Wenn alles gut ausging – und das stand zu hoffen, oder? –, dann würden sie im September, wenn die Saison vorbei war, heiraten und irgendwo, möglichst nicht in Brighton, ihre Flitterwochen verbringen.

Vielleicht hatte Evie auch gehofft, wenn sie den Ring weiterhin trug, würde sich alles einrenken und wieder so werden wie früher. Alles könnte gut werden. Sie hatte Ronnie den Ring nicht zurückgegeben. Ronnie hatte sie auch nicht darum gebeten. Er hatte gar nichts gesagt. Soll der Ring entscheiden.

Eines Tages dann in diesem September, die Saison war zu Ende und die Polizei hatte gesagt, Evie könne Brighton verlassen, tat sie das, was nur natürlich war: Sie ging ans Ende des Piers, zog den Ring ab und warf ihn ins Meer. Das hatte sie Jack nie erzählt. Damals hatte sie geglaubt, ohne zu wissen, wie ihr Leben verlaufen würde, dass alles zurückkommen konnte, wenn sie den Ring fortwarf. Dass vielleicht sogar Ronnie zurückkommen konnte.

Es war eine typische Seebadshow. Varieté. Alles, von Akrobaten bis zu den Rockabye Boys am Anfang ihrer Karriere und der üppigen Doris Lane, die keineswegs am Anfang ihrer Karriere stand und manchmal »Meisterin der Melodie«, manchmal (mit frechem Seitenblick auf eine ihrer Konkurrentinnen) die »Verlobte der Streitkräfte« genannt wurde. Alles, von Jongleuren und Tellerdrehern bis zu »Lord Archibald«, der mit einem großen Teddy auf die Bühne kam – »die Hand in Teddys Arsch«, wie Jack es ausdrückte – und Gespräche mit ihm führte, in denen der Teddy erstaunliche Schlagfertigkeit bewies. Im Verlauf der Saison redeten sie über die Entwicklungen in der Welt – was Macmillan zu Eisenhower hätte sagen soll und dergleichen. Manchmal wurden sie auch zu Macmillan und Eisenhower oder zu Chruschtschow und de Gaulle. Nichts war komischer, als den Teddy wie General de Gaulle sprechen zu hören.

Alles wurde von Jack, dem Conférencier, zusammengehalten. Als wäre es seine Show. Er nahm die anderen unter seine Fittiche und verlieh der Vorstellung das gewisse Flair. Er war für diesen Abend dein guter Freund, der beste aller Gastgeber. Er sei, sagte er hinter der Bühne, lediglich das Öl im Getriebe – je mehr Öl, desto geschmeidiger. Aber so leicht war das nicht.

Damals war er der Flinke Jack. Ein bisschen Geplauder, ein paar Witze, manche schlüpfrig, ein bisschen Singen, ein bisschen Tanzen, ein wenig Steppen. Er machte die Einführungen und Überleitungen, hatte aber auch ein paar eigene Auftritte, und am Ende rundete er die Show mit seiner Schlussnummer ab.

Die Zuschauer sollten in ihrer Ferienstimmung vollends aufgehen und mit dem Gefühl nach Hause gehen, dass sie etwas für ihr Geld bekommen und sich gut amüsiert hatten, und vielleicht verspürten sie sogar den Wunsch, selbst ein bisschen zu singen und ein paar Tanzschritte zu wagen. Für viele der Gäste war der Abend auf dem Pier der Höhepunkt ihrer Ferien.

»Und jetzt, verehrtes Publikum, sagt euch euer alter Freund, der Flinke Jack, gute Nacht. Träumt süß, von wem auch immer. Zum Abschluss geb’ ich euch noch ein kleines Lied mit auf den Weg. Ihr kennt es bestimmt. Maestro – bitte!«

When the red red robin … – Wenn das rote, rote Rotkehlchen …

War das Publikum in der richtigen Stimmung, sang es mit. Und manchmal, wenn die Zuschauer hinaustraten in die Lichter und zu dem Gemurmel und dem Geruch des Meeres, und wenn sie mit glücklichen Schritten auf den Planken entlanggingen, sangen sie vielleicht im Kopf, oder auch laut, ein paar Takte von diesem Lied.

I’m just a kid again doing what I did again! – Da bin ich wieder Kind und spiele wie ein Kind!

Das war im August 1959.

Als Ronnie und Evie ans Ende des Programms rückten und sogar die Rockabye Boys verdrängten, wurde Jacks Abschiedsnummer in mehrerlei Hinsicht etwas schwieriger. Warum waren Ronnie und Evie ans Ende des Programms gerückt? »The show must go on«, das war das eine, aber es gab noch ein anderes Gesetz im Theater: Spar den nicht zu überbietenden Höhepunkt bis zum Schluss auf. Andererseits war es undenkbar, auf Jacks Schlussnummer zu verzichten, es hätte die Show an sich verändert. Also trat er, nachdem der Applaus für Ronnie und Evie verklungen war, wie gewohnt auf die Bühne, allerdings mit abgeänderter Abschiedsplauderei. Er hob die Hände und legte die Handflächen zusammen, als hätte er mitapplaudiert oder entböte einen gebetsartigen Gruß. Er zog sein weißes Taschentuch heraus und wischte sich über die Stirn. Dass er übertrumpft worden war, quittierte er mit einer schalkhaften Geste.

»Na, was habe ich gesagt, verehrtes Publikum, was habe ich gesagt? Jetzt habt ihr nur noch mich. Zurück auf dem Boden der Tatsachen, wie?«

Er wickelte sich das Taschentuch um die Hand und schüttelte es dann, als erteilte er einen Befehl. Mit einem Schulterzucken blickte er ins Publikum.

Er wechselte zu einem unbeschwerten Ton des Abschiednehmens. Das hatte er drauf. Sie hingen an seinen Lippen. Nicht nur ein Fall von attraktivem Aussehen und Theaterschminke, schon damals war das zu erkennen.

Eddie Costello, der später für die News of the World schreiben sollte, behauptete immer, er habe das Talent gleich erkannt, obwohl damals seine Bewunderung in erster Linie Ronnie und Evie galt.

Während Ronnie und Evie in der Garderobe wieder in ihre Alltagsgestalten schlüpften, hörten sie, wie die Band zu spielen begann und das Publikum mit Jack zusammen sang. Sie selbst stimmten nicht mit ein. Womöglich sprachen sie nicht einmal miteinander. Vielleicht versuchten sie es. Das Publikum, das die beiden eben noch, als sie ein Wunder vollführten, bestaunt hatte, machte sich von diesem Unvermögen hinter der Bühne keine Vorstellung.

Jahre, sogar Jahrzehnte später, als Jack schon längst nicht mehr der Flinke Jack war – wer erinnerte sich überhaupt noch an diese leichtfüßige Gestalt? –, sondern einfach wieder Jack Robbins, obwohl manche davon sprachen, er könne eines Tages Sir Jack Robbins sein, sagte er in Interviews mit meisterhafter Bescheidenheit: »Schauspieler? Nein, einfach ein Varietékünstler, das bin ich.« Und er konnte das Lied immer noch singen, das zu seiner Rolle gehörte, seine Erkennungsmelodie. Wake up, wake up, you sleepy head! – Wach auf, Langschläfer, wach auf! Und wenn er wollte, konnte er nach wie vor mit seinem Theaterzwinkern und dem strahlenden Lächeln betören, beides bis in die letzte Reihe sichtbar und ansteckend.

Jack, Ronnie und Eve sah man in jenem Sommer oft im Walpole Arms. Sie bildeten ein ungleiches Dreieck, Jack und das Pärchen, und öfter noch eine schiefe Vierergruppe – Ronnie und Evie, die Verlobten, und Jack mit einer willfährigen, jedoch nur zeitweiligen Gespielin am Arm, deren Name bald vergessen war.

Jetzt, als der August schon fast in den September überging, waren weder das Dreiergestirn noch das Vierergespann in Sicht. Wenn Ronnie und Evie es schon schwierig fanden, miteinander zu sprechen, dann mieden Jack und Ronnie erst recht das Gespräch. Gleichzeitig rückte Ronnies und Evies Nummer in der Werbung auf, und Ronnie wurde, was ebenfalls Jack zu verdanken war, ein besonderer Titel verliehen. Diese Ehre blieb Jack (der auch nie Sir Jack wurde) versagt.

Unterdessen fanden es Lord Archibald und sein Teddy überhaupt nicht schwierig, sich miteinander zu unterhalten.

Jack und Ronnie waren schon seit einigen Jahren befreundet. Sie hatten sich beim Militärdienst kennengelernt, wo sie unabhängig voneinander die Militärbehörde in eine kleine Verlegenheit brachten, denn Jack gab seinen bürgerlichen Beruf nicht als »Varietékünstler«, sondern als »Komiker« an, und Ronnie trug »Zauberer« ein. Keiner der beiden machte eine unwahre Aussage noch – in Jacks Fall – einen Witz.

Die Armee hätte sie auf verschiedenste Weise für ihre Keckheit bestrafen können, man hätte sie auch der Einheit zuteilen können, die für die Unterhaltung der Truppen zuständig war. Letztlich war es etwas dazwischen. Statt die beiden zu Übungen in schlammigem Gelände zu schicken, wurden sie, in der Annahme, sie seien zartbesaitete Künstlerwesen, mit einer Aufgabe betraut, die in ihrer Eintönigkeit normalerweise dem zivilen Leben vorbehalten war. Sie mussten nämlich das Ablagesystem des Royal Corps of Signals auf Leben und Tod, wie Jack es später formulierte, bewachen und verteidigen.

So grausam war diese Entscheidung nicht, schließlich hätten sie auch in Einsatzgebiete geschickt werden können, wo die Gefahr bestand, erschossen zu werden. So aber hatten sie die meisten Wochenenden frei. Jack, der im Walpole für Evie einige der Stationen in Ronnies Leben ausschmückte, die Ronnie offenbar im Ungefähren gelassen hatte, beschrieb es so: Sie verbrachten jeden Tag der Woche in Blandford – »im grünen Schoße Dorsets« – und jedes Wochenende in London, wo sie auf unterschiedlichste Weise ihre Verbindungen zum Showgeschäft pflegten.

»Das Royal Corps of Signals war nebensächlich, Evie. Wir waren JFZ. Jeden Freitag zurück.«

In dieser Zeit wurde Jack bekannt dafür, dass er vor dem Lichtaus den ganzen Schlafsaal mit seinen meisterlichen Nachahmungen sämtlicher Offiziere unterhielt, die ihre Wege kreuzten (er hätte ein Lord Archibald sein können), und Ronnie erlangte einen Ruf als jemand, mit dem man auf eigenes Risiko Karten spielte, denn nicht nur würde er wahrscheinlich gewinnen, sondern er konnte das Spiel auch in etwas ganz anderes verwandeln.

Nach ihrer Militärzeit blieben sie in Verbindung, eine Zeit lang traten sie sogar als Doppel auf. Damit war ihnen jedoch kein Glück beschieden. Ein Komiker und Varietékünstler zusammen mit einem Zauberer? Das konnte nicht gut gehen. Nachdem sie sich in Freundschaft getrennt hatten und Jack als Alleinunterhalter ziemlich erfolgreich wurde, kam der Moment, da Jack seinem Freund und dessen dümpelnder Karriere auf die Sprünge half. Als er nämlich bei der Show in Brighton für eine zweite Saison engagiert wurde (ein beachtlicher Coup!) und dadurch einigen Einfluss bei der Geschäftsleitung erwarb, sagte er zu Ronnie: »Such dir eine Assistentin, und du kriegst bei mir nächsten Sommer eine Nummer.«

Jack musste nicht erklären, warum es eine Assistentin sein sollte. Er musste nicht breit ausführen, dass Zauberei zwar eine feine Sache war – Zauberei war einfach zauberhaft –, aber Zauberei mit Glanz gepaart, das war die perfekte Mischung.

Ronnie hatte nicht widersprochen. Es war das Jahr 1958. Er war Zauberer, aber er hatte auch die weniger bezaubernden Seiten des Showgeschäfts kennengelernt. Und jetzt bot sich ihm eine Chance. Allerdings war seine zweite Reaktion auch realistisch. Eine Assistentin? Dazu noch eine glanzvolle? Wie sollte das gehen? Seine Taschen waren leer.

Doch kurz darauf starb Eric Lawrence, ehemals bekannt als »Lorenzo« (und für Ronnie schlicht und einfach »der Magier«).

Zwar waren Jack und Evie einander bis zu dem Zeitpunkt noch nicht begegnet, aber sie waren wesensverwandt und hätten das sicherlich bald entdeckt. Die drei freundeten sich schnell an. Es war nur natürlich. Ronnie und Evie hatten es Jack zu verdanken, dass sie als Paar engagiert wurden – und auch, so könnte man behaupten, dass sie ein Paar wurden. Also hatte Jack selbst eine Art Zauber gewirkt.

Zu Ronnie sagte er allerdings: »Ich habe von einer Assistentin gesprochen, weiter nichts.«

Jack war nicht unbedingt der Typ, der sich verlobte, aber wenn er sich einmal nicht mit Ronnie und Evie im Walpole traf, lag es gewöhnlich daran, dass er mit einem Mädchen angebändelt hatte. Manchmal kam sie mit. Dass sie es mit einer festen Dreiergruppe zu tun hatte und nur rein zufällig dabei war, konnte ihr nicht entgehen, aber wie Evie einmal zu Ronnie sagte: »Wenigstens ist sie mal drangekommen.« Diese Gelegenheitsmädchen verschmolzen miteinander zu einem und wurden für Ronnie und Evie zu »Flora«. Wie Flora wohl diese Woche sein mochte? Ihre eigentlichen Namen schienen unbedeutend.

Der Saloon im Walpole galt als Treffpunkt für Theaterleute, und auch Eddie Costello suchte ihn gelegentlich auf, um ein Bier zu trinken und sich ein wenig umzusehen.

Wenn sie zusammen im Walpole saßen, konnte es sein, dass der Blick der Flora des Tages Evies Blick begegnete und umgekehrt. Oder Evie bemerkte, wie das Mädchen Evies Verlobungsring musterte. Das Mädchen mochte achtzehn oder neunzehn sein, und Evie war inzwischen gestandene fünfundzwanzig, aber vor nicht allzu langer Zeit hatte sie in einer Reihe mit anderen jungen Dingern – allesamt kleine Floras – untergehakt auf der Bühne gestanden und die Beine in die Luft geworfen. Und dann sah sie das Mädchen, das sich so entschlossen an Jacks Arm klammerte, mit einem komplizierten Lächeln an.

Ja sicher, wenn man Ronnie neben seinen Freund Jack Robbins stellte, welchen würde ein dummes Mädchen wählen? Vorausgesetzt, es war dumm. Aber Ronnie hatte etwas, das wusste Evie inzwischen. Und hatten sie, Evie und Ronnie, nicht auch etwas Gemeinsames? Ihre Nummer war mittlerweile ziemlich erfolgreich, und lag das nicht an diesem einfachen Geheimnis? Auf jeden Fall hatten sie etwas. Zusammen waren sie gut, sie waren ein natürliches Paar. Das weiß man, das merkt man. Evie stellte sich vor, dass die Menschen im Publikum, wenn sie selbst mit Ronnie auf der Bühne stand, spürten, was sie beide verband. Dazu kam der Verlobungsring, der an ihrem Finger funkelte, wie zur Bestätigung.

Das Mädchen erwiderte dann blinzelnd Evies Lächeln und steckte die Nase tiefer ins Glas, ohne ihren Griff um Jacks Arm zu lockern.

Wenn Jack ihre Nummer ansagte, ob an erster Stelle nach der Pause oder später in der Saison, als sie an herausgehobener Stelle am Ende kam, sagte er manchmal auf seine gönnerhafte Art: »Und jetzt, verehrtes Publikum, bringe ich euch den echten Zaubermeister. Nicht einen wie mich, was?« Und dann grinste er sein breites Nussknackergrinsen.

Jack Robbins und Evie White waren vom selben Schlag und gehörten einer damals recht verbreiteten Art an. Evie entdeckte, dass auch Jack eine Mutter hatte, die ihn, wie ihre es getan hatte, vom frühesten Alter an wie einen kleinen Hund für ein Leben auf der Bühne abgerichtet hatte.

Die Bühne war ein Weg. Wenn man sonst nichts hatte, so verfügte man doch über den eigenen Körper, den man für Auftritte und zur Unterhaltung einsetzen konnte. Mütter einer bestimmten Herkunft schienen dieses Wissen zu besitzen und waren besonders dann, wenn kein Vater vorhanden war – auch hier entdeckten Evie und Jack eine Ähnlichkeit –, daran interessiert, dieses Wissen weiterzugeben.

Evie hatte so eine Mutter. Eine Mutter, die sie trainierte und dressierte und mit ihr zum Vorspielen ging wie zu einer Viehauktion. Evie erinnerte sich, dass ihre Mutter nach solchen Ereignissen jedes Mal sagte: »Das Leben ist ungerecht, mein Schatz, war es schon immer und wird es immer sein«, und dann mit einem strahlenden Lächeln hinzufügte: »Aber keine Angst, mein Häschen, du kommst noch dran.«

Was sollte sie nun glauben? Dass das Leben ungerecht war oder dass sie noch drankam? Und was war damit gemeint: drankommen? Es klang wie etwas, das schnell vorbeiging. Wie das, was sie ohnehin tat. Nichts leichter! Sie konnte jederzeit und ohne Zögern, fast als wäre es ihr zur zweiten Natur geworden, aufstehen und sich drehen und lächeln und die Arme schwingen und, wenn sie die richtigen Schuhe anhatte, mit den Absätzen klappern und auf Zehenspitzen stehen, den Mund zum Singen geöffnet. Aber noch nie hatten die Männer und wenigen Frauen, die mit Bleistiften ausgerüstet an den Tischen saßen, sie aus der Menge der sich abstrampelnden Mädchen von elf oder zwölf ausgewählt, alle mit spitzen Ellbogen und von ihren Müttern präpariert und präsentiert, die das Gleiche konnten wie sie. Manche auch besser. »Die Nächste bitte!«

»Pass gut auf deine Beine auf, Evie. Obwohl, vielleicht passen die auch alleine auf sich auf. Und immer lächeln, du darfst nie das Lächeln vergessen. Du hast die Beine und du hast ein hübsches Gesicht, mein Engel, aber an deiner Stimme, an der müssen wir arbeiten.«

Da war was dran. Sie hatte die Beine, wohlgeformt und mit der Zeit noch länger, und sie hatte ein hübsches Gesicht und wusste es einzusetzen. Sie konnte lächeln und tanzen, aber – das Leben ist wirklich ungerecht – sie konnte nicht singen, sosehr sie sich auch bemühte. Deshalb musste sie bei ihren Probeauftritten darauf achten, dass dieser Mangel nicht auffiel.

Zum Glück war das nicht so schwer, wenn sie mit den anderen Mädchen, die als Elf- und Zwölfjährige angefangen hatten, untergehakt war und die Beine in die Luft warf und sich mit ihnen zusammen drehte, hierhin und dorthin – und immer lächeln, immer lächeln! Und wenn Singen verlangt wurde, konnte sie sich eine Weile von den anderen tragen lassen, während sie eifrig die Mundbewegungen machte.

Keep your sunny side – up – up! – Zeig deine Sonnenseite, immer nur die Sonnenseite!

Evie White. War sie früher nicht eine einfache Revuetänzerin gewesen? Hatte sie nicht in einer Show mitgemacht? Im Varieté?

Jack dagegen, dessen Leben ganz ähnlich begonnen hatte und dessen Mutter ihn ähnlich trainiert hatte, konnte alles Mögliche, auch singen.

There’ll be no more sobbin’ when he starts throbbin’ … – Wer wird denn noch weinen, bei diesen tanzenden Beinen …

Bei Ronnie Deane lag der Fall anders, und mit der Zeit und einiger Hartnäckigkeit bekam Evie heraus, dass seine Einführung in die Welt des Unterhaltungsgeschäfts eine ganz andere gewesen war, so wie auch seine Mutter ganz anders war als ihre.

Einmal, da war er erst fünf, hatte seine Mutter ihn, seine Hand fest in ihrer, um ein paar Ecken von ihrem Haus zum Tor einer Schule gebracht, wo er ihrer Überzeugung nach all das lernen würde, was ihm ein besseres Leben sichern würde als das, was seiner geplagten Mutter und seinem nur selten anwesenden Vater beschieden war.

Später, wenn Agnes Deane an diese Schulwege zurückdachte, im Winter manchmal bei beißendem Frost, kamen sie ihr wie die wenigen hellen Momente in ihrem Mutterleben vor.

»Sei brav, Ronnie, sei ein braver Junge«, sagte sie zu ihm und drückte ihm ein letztes Mal die Hand. Ein vernünftiger und gut gemeinter Rat, und Ronnie war bereit, ihn zu befolgen. Bald würde er den Weg zu diesem anfangs gefürchteten Tor mit Eifer und Stolz allein zurücklegen. Doch es dauerte nicht lange, bis seine Mutter ihn – seine Hand fest umgriffen und bemüht, seine (wie auch ihre eigenen) Ängste zu beschwichtigen – woandershin brachte und abgab.