Dafür musst du sterben - Nancy Bush - E-Book

Dafür musst du sterben E-Book

Nancy Bush

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Beschreibung

In dem Thriller "Dafür musst du sterben" von der amerikanischen Bestseller-Autorin Nancy Bush haben es die junge Witwe Andrea Wren und Privatdetektiv Luke Denton mit einem machtbesessenen Serienkiller und seinem makabren, todbringenden "Spiel" zu tun. Wie im Vorgänger-Thriller "Dafür wirst du leiden" übernimmt Detective September Rafferty vom Laurelton Police Department die Ermittlungen – doch wird sie das alles entscheidende Endgame gewinnen? "Ein Pageturner voller Hochspannung und Intrigen" (Romantic Times Book Reviews)! Rund um den beschaulichen Lake Schultz in Oregon häufen sich seltsame Vorfälle: Mehrere junge Frauen sterben bei tödlichen Unfällen, und auch der Baulöwe Greg Wren kommt ums Leben. Als dessen Witwe Andrea Wren die Firma übernimmt, erhält sie eine unheilvoll klingende Botschaft: "Kleine Vögel müssen fliegen". Aus Angst schaltet Andi den Privatdetektiv Luke Denton ein, der mit Hochdruck nach einer Spur sucht, während die Zahl der Leichen weiter zunimmt. Detective September Rafferty vom Laurelton Police Department steckt zur gleichen Zeit mitten in den Ermittlungen zu einem mysteriösen Knochenfund in einem Haus in der Nähe des Sees. Es ist fast zu spät, als sie die Zusammenhänge zwischen den Fällen erkennt und feststellen muss, dass sie, ohne es zu wissen, das "Spiel" eines perfiden Serienkillers mitspielt, der aller Welt seine Genialität beweisen will. Gelingt es ihr, das Mastermind zu besiegen? Es handelt sich bei "Dafür musst du sterben" wie auch beim Vorgänger "Dafür wirst du leiden" um die Fortsetzung der Thriller-Serie rund um die Detectives August und September Rafferty ("Nirgends wirst du sicher sein", "Niemals wirst du ihn vergessen" und "Niemand kannst du trauen") – von Fall zu Fall erweitert durch ein neues Ermittler-Duo.

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Seitenzahl: 571

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Nancy Bush

Dafür musst du sterben

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp

Knaur e-books

Über dieses Buch

Rund um den beschaulichen Lake Schultz in Oregon häufen sich seltsame Vorfälle: Mehrere junge Frauen sterben bei tödlichen Unfällen, und auch der Baulöwe Greg Wren kommt ums Leben. Als dessen Witwe Andrea Wren die Firma übernimmt, erhält sie eine unheilvoll klingende Botschaft: »Kleine Vögel müssen fliegen«. Aus Angst schaltet Andi den Privatdetektiv Luke Denton ein, der mit Hochdruck nach einer Spur sucht, während die Zahl der Leichen weiter zunimmt.

Detective September Rafferty vom Laurelton Police Department steckt zur gleichen Zeit mitten in den Ermittlungen zu einem mysteriösen Knochenfund in einem Haus in der Nähe des Sees. Es ist fast zu spät, als sie die Zusammenhänge zwischen den Fällen erkennt und feststellen muss, dass sie, ohne es zu wissen, das »Spiel« eines perfiden Serienkillers mitspielt, der aller Welt seine Genialität beweisen will …

Inhaltsübersicht

Teil IPrologKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunTeil IIKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnTeil IIIKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigTeil IVKapitel siebenundzwanzigEpilog
[home]

Teil I

Eröffnung

Prolog

Ich mag Spiele. Jede Art von Spielen. Kreuzworträtsel, Puzzle, Schach, Sudoku, Letramix, Kryptogramme, Brettspiele, Videospiele, Kartenspiele … Und ich bin gut darin. Verdammt gut. Auch bei Psychospielchen bin ich gut, es liegt mir, andere zu manipulieren. Täuschung, Lug und Trug sind für mich so selbstverständlich geworden wie das Atmen. Es gab Zeiten, in denen meine Gefühle die Oberhand gewannen und mich beinahe zu Fall brachten, aber inzwischen habe ich meinen Zorn, den Hass unter Kontrolle – meistens. Nach wie vor sind Emotionen der Treibstoff, der mein Lieblingsspiel befeuert: Mord. Töten ist für mich die Königspartie – es gibt nichts Vergleichbares. Der Rausch, den diese Partie mit sich bringt, ist besser als Sex.

Das erste Mal tötete ich, weil mir jemand gefährlich geworden war. Das zweite Mal tat ich es nur, um zu sehen, ob ich damit durchkommen würde. Ich kam damit durch, was mir ein Gefühl stratosphärischer Erhabenheit verlieh, als schwebte ich meilenweit über allen irdischen Dingen, oder sogar so weit, als lebte ich auf einem fernen Planeten. Unantastbar. Der König des Universums.

Irgendwann musste ich auf die Erde mit all ihrer Banalität zurückkehren – ein tiefer Fall mit harter Landung. Doch dann begann ich erneut zu planen, Spiele zu entwerfen, um mich zurück in die Stratosphäre zu katapultieren. Die Welt ist so grau und langweilig ohne Rätsel, überraschende Wendungen und Geheimnisse. Spannend ist es nur, wenn das Leben eines Menschen auf Messers Schneide steht.

Mein neuestes Spiel hat begonnen. Es geht dabei um Gewinn und Vergeltung, aber das darf niemand wissen. In den Spielablauf sind einige bewusste Irreführungen eingebaut, um die Cops in Schach zu halten, und es gibt ein paar unerwartete Züge, mit denen meine Opfer – oder sollte ich von Mitspielern sprechen? – nicht rechnen. Ich bin wirklich sehr, sehr gut. Immer wieder muss ich mich ermahnen, bescheiden zu bleiben, mich zurückzunehmen, aber das fällt mir schwer. Das Spiel ist nur dann verloren, wenn ich erwischt werde – und das darf nie passieren.

Es wird eine ganze Weile dauern, mein neues Spiel. Ich werde ein paar Züge durch geschickte Manipulation vorgeben, und es werden weitere Menschen sterben müssen, aber dadurch wird das Gewinnen umso süßer.

Der Eröffnungszug ist bereits getan.

Meine erste Spielfigur hieß Patsy.

Die nächste heißt Belinda …

 

Die Fähre pflügte durch die überraschend hohen grauen Wellen, zitternd spiegelten sich die Lichter auf der kabbeligen Wasseroberfläche des Puget Sound. Belinda Meadowlark saß mit einem Buch an einem Tisch auf dem Oberdeck, doch obwohl sie eine Passage inzwischen zum dritten Mal las, sah sie nicht die Buchstaben, sondern immer wieder Robs markantes Gesicht vor sich. Unfähig, sich zu konzentrieren, klappte sie das Buch zu. Es handelte von Liebe und Rache, und sie ging ohnehin davon aus, dass das Ende unbefriedigend sein würde. Sie liebte Happy Ends. Happy Ends bedeuteten ihr alles. Vielleicht, weil sie selbst so wenige erlebt hatte.

Doch das hatte sich schlagartig geändert, als sie Rob begegnet war. Er war hinreißend, witzig, charmant – nein, das reichte nicht: Er war einfach göttlich! Im April hatte er sie auf einen Drink in eine kleine Bar in Friday Harbor eingeladen – ein nettes Städtchen auf San Juan Island, Washington. Ihr wurde ganz heiß, und zwar an den unanständigsten Stellen, wenn sie nur daran dachte, wie er sie umworben hatte. Verlegen stellte sie fest, dass ihr die Röte in die Wangen stieg. Hastig sah sie sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand etwas bemerkte, und fächelte sich unauffällig mit der Hand Luft zu. Zum Glück waren heute Abend nur sehr wenige Passagiere unterwegs, und die meisten hielten sich auf dem unteren Deck auf.

Rob … Lächelnd rief sie sich in Erinnerung, wie er sie mit seinen glänzenden braunen Augen gemustert hatte. »Kenne ich Sie?«, hatte er neugierig gefragt und den Kopf auf eine so sexy Art und Weise zur Seite gelegt, dass sie ihn am liebsten gepackt und auf der Stelle vernascht hätte.

Natürlich kannte er sie nicht. Sie war keine Schönheit, und sie hätte dringend ein paar Pfund abnehmen müssen, er dagegen sah ausgesprochen gut aus und war durchtrainiert und schlank. An jenem Abend hatte er vor dem Hotel direkt neben dem Fähranleger gestanden. Trotz der frischen Temperaturen mit einem kurzärmeligen Hemd bekleidet, hatte er den Passagieren zugesehen, die von der letzten Fähre an Land gingen. Belinda, die in Friday Harbor lebte, hatte ihn sofort in die Touristenschublade gesteckt.

»Ich glaube nicht«, verneinte sie bedauernd.

Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Doch, wir sind uns schon einmal begegnet …«

»Daran würde ich mich erinnern«, widersprach sie, wünschte sich aber plötzlich sehnsüchtig, es wäre so. Er sah zum Anbeißen aus, und er duftete nach Old Spice und etwas Schwererem … Moschus?

Er schnippte mit den Fingern. »Belinda«, sagte er. »Mit Nachnamen heißen Sie … Wie war das gleich? Ein Vogelname …?«

Sie riss überrascht die Augen auf und schnappte nach Luft. »Meadowlark!«

»Eine Wiesenlerche!« Er grinste. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Sie wurden mir bei irgendeinem lokalen Event vorgestellt – ist aber sicher schon ein Jahr her, wenn nicht noch länger.«

Sie zerbrach sich den Kopf, doch es wollte ihr partout nicht einfallen, bei welcher Veranstaltung sie ihn kennengelernt haben könnte. »Vor ungefähr einem Jahr?«, hakte sie nach.

»Ja, das kommt hin.«

»Ich kann mich wirklich nicht erinnern, wo das gewesen sein soll«, murmelte sie skeptisch. »Vielleicht beim Muschelessen?« Die Besitzer eines der Restaurants in Hafennähe stammten von der Ostküste und richteten jedes Jahr ein traditionelles Muschelessen aus. Lachs stand ebenfalls auf der Speisekarte, ein Zugeständnis an den Nordwest-Pazifik, aber es war kein großes Ereignis, das Hunderte von Touristen anlockte, außerdem war sie nur ganz kurz da gewesen.

»Das könnte stimmen«, sagte er nach einem kurzen Augenblick des Nachdenkens. »Haben Sie schon etwas vor? Darf ich Sie auf einen Drink einladen?«

»Ich … ich muss erst nach Hause.«

»Aber Sie kommen zurück? Ich warte in der Bar dort drüben auf Sie.« Er nickte in Richtung eines kleinen Lokals, das den Namen Sand Bar trug. »Ich kenne hier sonst niemanden. Meine Kumpels sind alle schon abgereist, aber ich fahre erst morgen nach Hause.«

»Und wo ist Ihr Zuhause?«

»In Kalifornien. Ich komme aus L. A., verkaufe an der Westküste Sportartikel.«

Zutiefst verlegen dachte Belinda an die überflüssigen Pfunde, die sie unbedingt loswerden musste.

»Gehen Sie nach Hause, Belinda«, forderte Rob sie auf, »aber kommen Sie zurück. Was trinken Sie gern? Den Drink bestelle ich mir, während ich auf Sie warte.«

Für gewöhnlich trank sie keinen Alkohol, aber sie wollte nicht langweilig erscheinen, weshalb sie zögernd erwiderte: »Einen Cosmopolitan?«

»Perfekt.« Er lächelte erneut, dann drehte er sich um und strebte auf die Sand Bar zu. Am liebsten wäre sie ihm sofort gefolgt, aber sie zwang sich, zuerst einen Abstecher nach Hause zu unternehmen, wo sie voller Verzweiflung in den Spiegel starrte. Wie konnte er sich bloß für eine Frau wie sie interessieren? Das ergab doch keinen Sinn! Vermutlich versuchte er bloß, die Zeit bis morgen früh totzuschlagen, hatte sie von der Fähre kommen sehen und sich an sie erinnert. Obwohl – beim Muschelessen hatte man sie einander nicht vorgestellt, da war sie sich ganz sicher. Sie war kaum bei dem Restaurant am Hafen angekommen, als auch schon ihre Mutter angerufen und sie um Hilfe gebeten hatte, da Grandad im Pflegeheim wieder einmal einen Aufstand veranstaltete.

Ist doch völlig gleich, wo ihr euch kennengelernt habt, dachte sie, während sie sich in ihre beste Jeans quetschte und die violette Seidenbluse überstreifte, die ihre Brüste so vorteilhaft betonte und im gedämpften Licht des Lokals bestimmt sexy changieren würde. Obwohl es dort mitunter so dunkel war, dass man kaum die Hand vor Augen sah.

Eilig verließ sie das Haus und hastete zurück zur Sand Bar. Beinahe wäre sie auf den nassen Betonstufen, die zur Eingangstür führten, ausgerutscht. Ihre neuen Stiefel drückten, aber sie sahen wirklich gut aus.

Drinnen durchquerte sie den dunklen Raum in Richtung der noch dunkleren Bar, wo zum Glück ein rosa Neonschild in Form einer Krabbe für ein wenig Licht sorgte.

»Belinda!«, rief Rob.

Sie sah sich um und entdeckte ihn an einem Tisch im hinteren Teil des Raumes.

Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg zu ihm, im Stillen ihre ausladenden Hüften verfluchend, die die anderen Tische streiften. Als sie fast bei ihm war, stand er auf, kam ihr entgegen und ergriff ihren Arm, um sie zu einer schwarzen Kunstlederbank zu führen. Er setzte sich so dicht neben sie, dass sich ihre Oberschenkel berührten, dann stellte er sein Smartphone an und richtete die Taschenlampe auf ihren Drink.

»Da steht er.«

»Ja, es ist ziemlich dunkel hier drinnen«, sagte sie entschuldigend.

»Mir gefällt’s.« Seine Hand strich über ihren Unterarm, was ihre Nerven vibrieren ließ.

An den Rest des Abends konnte sie sich kaum erinnern, wusste nur noch, dass er sie nach Hause gefahren und sie vor der Tür zu ihrem schlichten Apartment zärtlich auf die Lippen geküsst hatte. Sie hatte ihm erzählt, dass sie als Lehrassistentin arbeitete, bis sie ihren Abschluss in der Tasche hatte; daran erinnerte sie sich. An mehr nicht. Und dass sie sich in seine Arme geworfen und ihm einen feuchten Kuss auf den Mund gedrückt hatte.

Wie peinlich!

Er hatte gelacht, sie an sich gedrückt und gesagt, er würde sich bei ihr melden.

Was sie ihm nicht abgekauft hatte. Sie hatte gedacht, es sei vorbei, sie würde nie wieder etwas von ihm hören, aber er hielt Wort und schickte ihr aus jeder Stadt, in der er seine Sportartikel vertrieb, eine SMS. Zwei Wochen nach jenem ersten gemeinsamen Abend kehrte er nach Friday Harbor zurück, und diesmal landete sie mit ihm im Schlafzimmer. Um ehrlich zu sein, hatte sie ihn förmlich dorthin gelotst, und er hatte sie so zärtlich geliebt, dass ihr die Tränen gekommen waren. Zum Glück hatte sie sie zurückdrängen können. An der Tür hatte er sie voller Leidenschaft geküsst.

»Wann kommst du wieder?«, fragte sie ihn und verzehrte sich bereits bei der Vorstellung, ihn eine Weile nicht zu sehen. Sie hätte sterben können ohne ihn. Einfach nur sterben.

»Nächsten Samstag. Nimm die letzte Fähre von Friday Harbor nach Orcas Island«, bat er sie.

»Die letzte Fähre? Ich könnte schon früher kommen«, sagte sie eifrig.

»Nein. Die letzte Fähre. Geh aufs Oberdeck. Ich habe etwas Besonderes für dich.«

Also saß sie hier, auf dem Oberdeck auf der letzten Fähre von Friday Harbor nach Orcas Island. Die Sonne war im Meer versunken, die Dämmerung ging langsam in Dunkelheit über, die Maschinen dröhnten einschläfernd auf dem fast leeren Boot. Sie konnte sich nicht auf ihr Buch konzentrieren, rechnete damit, dass jeden Moment etwas passierte, dass er auftauchte, aber bislang war nichts Außergewöhnliches geschehen.

Bzzz. Eine SMS ging ein. Belinda zuckte zusammen.

Ich sehe dich, kleiner Vogel.

Sie schaute hoch und blickte sich aufgeregt um. Er war hier? Wo?

Und dann entdeckte sie ihn, draußen auf dem Außendeck. Er spähte durchs Fenster zu ihr herein, lächelnd, eine Hand zum Gruß erhoben. Sie sprang auf, ließ das Buch auf dem Tisch liegen und rannte zur Schiebetür. Ein Schwall kalte Seeluft schlug ihr entgegen. Den Kopf gegen den peitschenden Wind gebeugt, bog sie um die Ecke, hinter der das Fenster lag.

»Wo steckst du?«, rief sie, die Worte gedämpft vom Sturm.

»Hier.«

Er schlang ihr von hinten die Arme um die Taille.

Sie lachte glücklich und versuchte, sich zu ihm umzudrehen, dann spürte sie, wie er sich an ihr rieb und gegen sie stieß.

»Ich will dich, kleiner Vogel. Gleich hier. Auf der Stelle.«

»Bist du verrückt?«, kicherte sie. »Man könnte uns erwischen!«

»Ach, es ist doch niemand da! Komm schon …«

Und dann stand sie plötzlich mit herabgelassener Jeans da, die Beine gespreizt, das nackte Hinterteil zu seinem Schritt gereckt. Er umfasste ihre Hüften und stieß in sie, pumpte hart und schnell in sie hinein, wieder und immer wieder. Es tat höllisch weh, und sie schrie leise auf vor Schmerz, auch wenn sie sich alle Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. Voller Furcht nach allen Richtungen blickend, ließ sie seine Attacke über sich ergehen und hoffte, dass niemand sie bemerken würde.

Sie war erleichtert, als es endlich vorbei war. »Gut, hm?«, keuchte er ihr ins Ohr und knetete mit einer Hand beinahe brutal ihre Brust.

»Ja, sehr«, murmelte sie und griff nach ihrer Jeans, die ihr auf die Knöchel gerutscht war. Plötzlich riss er sie hoch und wirbelte sie zu sich herum.

»Meine Hose«, wisperte sie und versuchte, sich zu bücken.

»Du brauchst sie nicht mehr.«

»Wie … wie meinst du das?«

»Kleine Vögel müssen fliegen.«

Und dann hob er sie mit zorniger Entschlossenheit hoch und warf sie über die Reling. Sie war so perplex, dass sie keinen Laut von sich gab. Die Wogen schlugen über ihrem Kopf zusammen. Sie schluckte Wasser, ruderte verzweifelt mit den Armen und versuchte, mit den Beinen zu treten, aber die Jeans hing immer noch um ihre Knöchel und verhinderte jede kraftvolle Bewegung. Als sie endlich wieder an die Oberfläche kam, war die Fähre in der Dunkelheit verschwunden. Das Tosen von Wind und Wellen verschluckte sämtliche Geräusche, zumal sie ohnehin nur ein ersticktes Gurgeln zustande brachte. Doch dann brach sich ihre Stimme Bahn, und sie schrie und schrie, bis das schwarze Wasser sie endgültig verschlang.

Kapitel eins

Andi schaute auf die Spitze ihrer schwarzen flachen Schuhe – das bequemste Paar, das sie für die Arbeit hatte. Der rechte Absatz war abgenutzt vom stundenlangen Gasgeben in ihrem Hyundai Tucson. Die Schuhe gehörten dringend geputzt, von allein fingen sie nämlich bestimmt nicht an zu glänzen.

Sie saß auf einem Stuhl mit glatt geschliffenen Armlehnen aus Eichenholz und einem blauen Polster, den Blick auf den grauen Industrieteppich geheftet, der den Boden des Empfangsbereichs bedeckte. Die Minuten verstrichen, begleitet von einem gedämpften Sausen in ihren Ohren. In diesem seltsamen Schwebezustand befand sie sich nun seit über drei Monaten, seit dem Tag, an dem Greg gestorben war. Freunde und Familie hatten ihr kondoliert, hatten tröstende Worte gemurmelt, die ihr Hoffnung spenden sollten, über den Tod ihres Mannes hinwegzukommen, und sie hatte sich bemüht, ihrer Freundlichkeit dankbar zu begegnen.

Und was ist, wenn du gar nichts empfindest? Was, wenn Gregs Untreue deine Gefühle für ihn längst abgetötet hat? Was, wenn deine Trauer von dem Schock über das Wissen einer anstehenden Veränderung herrührt und nicht von dem tatsächlichen Verlust deines Mannes?

Der einzige Mensch, dem sie ihre wahren Gefühle anvertraut hatte, war Dr. Knapp, ihre Therapeutin, die Frau, zu der Greg sie geschickt hatte, als sie in tiefen Depressionen steckte, und das war vor seinem Tod gewesen.

Dennoch hast du Greg einst geliebt.

Sie hob den Blick. Nach vier Jahren Ehe, drei fehlgeschlagenen In-vitro-Fertilisationen, einer hässlichen Affäre – seiner, nicht ihrer –, bei der Gregs Geliebte schwanger wurde – o ja, da hat es geklappt! –, fiel es ihr schwer, sich an ihre ursprüngliche Liebe zu erinnern.

Gedankenverloren sah sie sich im Wartezimmer um. Eine Frau Anfang zwanzig mit dunklem Jahr und dem abgespannten, abwesenden Blick der Hoffungslosen saß auf einem Stuhl gegenüber. Andi fragte sich, ob ihr wohl ein ähnliches Schicksal widerfahren war. Sie nahm an, dass sie selbst genauso ausgesehen hatte, als sie erfuhr, dass auch der letzte Versuch einer künstlichen Befruchtung gescheitert war. Oder als die Polizei ihr mitteilte, dass Gregs Lexus von der Straße, die um den Schultz Lake führte, abgekommen und im Wasser gelandet war. Im einen Moment noch trauerte sie um ihr Unvermögen, eine Familie gründen zu können, im nächsten war sie Witwe.

Gregs Geschwister Carter und Emma trauerten ebenfalls und brachten Andi tiefes Mitgefühl entgegen, bis sie erfuhren, dass diese sechsundsechzig Prozent von dem Familienunternehmen Wren Development, einer florierenden Baufirma, geerbt hatte, gegründet von Douglas Wren, Carters und Emmas Großvater. Carter und Emma hatten jeder lediglich siebzehneinhalb Prozent bekommen. Nach Gregs Tod war Andi also Haupteignerin der Baufirma, und den Geschwistern fiel der Umgang mit ihr entschieden schwerer, vor allem, seit sie sich aktiv in die Firmengeschäfte einmischte. Wiederholt hatten sich die beiden darüber beschwert, dass sie ständig »im Weg« stünde, vor allem Carter. Ihr abgeschlossenes Betriebswirtschaftsstudium zählte nicht. Sie wollten nicht, dass sie dabei war.

Die Tür öffnete sich, und eine Schwester in blauem Kittel sagte: »Mrs Wren? Dr. Ferante möchte Sie jetzt sprechen.«

Andi stand auf, legte sich den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter und folgte der Schwester durch die langen Gänge mit den glänzenden Linoleumböden. Die Kreppsohlen der Frau quietschten bei jedem Schritt. Andi hatte diesen Termin nicht ausmachen wollen, aber der graue Nebel mochte sich einfach nicht lichten, und die Last auf ihrer Brust brachte sie schier um. Ihre Therapeutin hatte ihr Tabletten verschrieben, doch als diese keinerlei Wirkung zeigten, setzte Andi sie schließlich ab.

Allerdings war sie so ausgelaugt, dass sie bei Dr. Ferante einen Termin zur Blutabnahme vereinbart hatte. Vielleicht würde das Ergebnis Aufschluss bringen.

Dr. Ferante war eine mittelalte Latina mit kurzem, lockigem schwarzem Haar, weißen Zähnen und forschem, patentem Auftreten. Andi setzte sich auf das knitterige Papier auf dem Untersuchungstisch und wartete auf Antworten.

Sie betrachtete die Frau, die zunächst Gregs Ärztin gewesen war, nachdem sich der alte Doktor, der die Familie lange Jahre betreute, zur Ruhe gesetzt hatte. Greg hatte anfangs nicht recht gewusst, was er von der Latina halten sollte, aber Andi spürte gleich, dass Dr. Ferante ein offener, ehrlicher Mensch war.

»Ich bin doch bald wiederhergestellt?«, fragte sie nun mit einem zaghaften Lächeln und spürte, wie sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengrube ausbreitete, als Dr. Ferante nicht gleich antwortete. O Gott. Sie hatte nicht gedacht, dass sie ernsthaft krank war!

»Sie sind schwanger.«

Andis Kinnlade sackte hinunter. »Wie bitte? Nein. Das kann nicht sein.«

»Ich habe den Test drei Mal gemacht.«

»Das ist unmöglich. Ganz und gar unmöglich.«

»Ich versichere Ihnen, dass Sie schwanger sind. Etwas länger als drei Monate.«

Andi starrte sie an. Sie konnte nicht atmen. Konnte nicht denken.

»Ich habe sogar nachgesehen, ob die Proben nicht mit denen einer anderen Patientin vertauscht wurden«, fuhr Dr. Ferante fort, »obwohl das ohnehin so gut wie ausgeschlossen ist. Das Labor arbeitet extrem sorgfältig und hat einen hervorragenden Ruf …«

»Ich fasse es nicht!«, fiel Andi der Ärztin ins Wort.

Die verschluckte den Rest ihres Satzes und nickte stattdessen. »Ich verstehe, dass dies für Sie überwältigend ist. Sie haben in letzter Zeit viel durchgemacht. Allerdings denke ich, dass die Schwangerschaft eine positive Neuigkeit ist, oder?«

»Aber die künstlichen Befruchtungsversuche sind allesamt fehlgeschlagen …«

»Sie sagten, es fehle Ihnen an Energie. Sie könnten sich nicht konzentrieren – da haben wir den Grund. Die Schwangerschaft und natürlich Ihre Trauer.« Die Ärztin hielt für einen Augenblick inne, dann fügte sie hinzu: »Rufen Sie Ihren Gynäkologen an und vereinbaren Sie einen Termin.«

Andi musste das Gehörte erst einmal verdauen. Völlig perplex stand sie auf und ließ sich von Dr. Ferante zur Tür bringen. Die Rädchen in ihrem Gehirn drehten sich mit rasender Geschwindigkeit. Etwas länger als drei Monate … Das Baby war selbstverständlich von Greg. Nach dem grauenvollen Zerwürfnis, das Mimi Quades Schwangerschaft mit sich brachte, hatten sie einen letzten Versuch unternommen, wieder zusammenzufinden. Greg hatte die Vaterschaft vehement bestritten, doch noch bevor er einen entsprechenden Test vornehmen lassen konnte, war er verunglückt. Nach seinem Tod hatte Andi keinen Kontakt mehr zu Mimi oder deren Bruder Scott gehabt.

Ihre Hände fühlten sich kalt an und taub, und sie starrte darauf, als gehörten sie gar nicht zu ihr. Wie ferngesteuert stieg sie in ihren Hyundai und blieb eine Weile lang reglos hinter dem Lenkrad sitzen, den Blick auf die Windschutzscheibe geheftet. Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und ging die Kontaktliste durch, bis sie auf die Nummer ihrer Gynäkologin, Dr. Schuster, stieß. Als die Sprechstundenhilfe den Hörer abnahm, sagte sie mit belegter Stimme: »Hier spricht Andrea Wren. Meine Hausärztin hat mir soeben mitgeteilt, dass ich schwanger bin, daher möchte ich einen Termin vereinbaren.«

»Das ist ja wunderbar!«, rief die Frau herzlich. Carrie. Sie hieß Carrie, fiel Andi ein.

»Es fällt mir etwas schwer, das zu glauben. Ich möchte mir einfach sicher sein.«

»Sind Sie zufällig in der Nähe? Jemand hat gerade einen Termin abgesagt, aber der ist jetzt gleich.«

»Ach du liebe Güte! Ich kann in fünfzehn Minuten da sein. Würde das passen?«

»Sicher«, erwiderte Carrie, dann fügte sie hinzu: »Fahren Sie vorsichtig.«

Andi machte sich vom Parkplatz des Ärztehauses aus auf den Weg zu den vertrauten Räumlichkeiten von Dr. Schusters Zentrum für Gynäkologie, Schwerpunkt In-vitro-Fertilisation, die auf der anderen Seite des Willamette River im Osten von Portland lagen. Sie schaffte die Fahrt in dreiundzwanzig Minuten, dann stellte sie zähneknirschend fest, dass sie einen Parkplatz suchen musste. Endlich sprang sie aus ihrem SUV, drückte auf die Fernbedienung und eilte auf die überdachte Treppe auf der Westseite des Gebäudes zu, da sie nicht auf den Aufzug warten wollte. Seit Gregs Tod war ihr nichts mehr so dringlich erschienen.

Als sie die Anmeldung betrat, waren ihre Wangen gerötet, ihr Herz schlug schnell. Sie schaute sich um und sah die Sprechstundenhilfe hinter dem geschwungenen Empfangstisch sitzen. Carrie war Mitte vierzig und trug ihr glattes braunes Haar, das dem von Andi ähnelte, im Nacken zusammengebunden. Andis Haare fielen schlaff auf ihre Schultern. Sie hatte sie heute früh gekämmt, aber viel Aufmerksamkeit hatte sie ihrer Frisur nicht geschenkt. Eine schnelle Dusche, Zähneputzen, Anziehen und höchstens ein bisschen Wimperntusche. Zu mehr reichte ihre Kraft nicht.

»Sie können gleich durchgehen.« Carrie kam hinter dem Empfang hervor und hielt ihr die Tür zu einem Gang auf. »Zweite Tür rechts.«

»Danke.«

Andi setzte sich auf den Untersuchungstisch. Auf einmal wurde ihr am ganzen Körper heiß, ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie spürte, dass sie sich gleich würde übergeben müssen. Es war, als habe ihr Kopf die Neuigkeit akzeptiert und nun an ihren Körper weitergeleitet. Sie wusste, wo sich die nächste Damentoilette befand, sprang auf und rannte zur Tür. Zu spät. Sie würgte bereits. Hektisch schnappte sie sich den nächsten Abfalleimer mit einer weißen Mülltüte darin und erbrach ihr Frühstück: Kaffee und einen Muffin.

Als sie schließlich meinte, sich auch noch des letzten Rests ihres Mageninhalts entledigt zu haben, zog sie ein paar Kleenex-Tücher aus der Schachtel auf dem Schreibtisch und wischte sich den Mund ab. Anschließend hielt sie die Lippen an den Wasserhahn des Edelstahlwaschbeckens und spülte sich den Mund aus. Schwanger, dachte sie wieder und konnte es immer noch nicht ganz fassen. Schwanger!

Ihre Augen blieben an dem Bild einer Frau im letzten Schwangerschaftsdrittel hängen. Auf der Zeichnung war die Lage des Fötus im weit vorgewölbten Mutterleib dargestellt. Zaghaft legte sie die Hand auf ihre bebende Mitte.

Ein paar Minuten später betrat Dr. Schuster den Untersuchungsraum, eine Frau in den Fünfzigern mit vollem, stahlgrauem Haar, das ihr bis knapp unters Kinn reichte. Die Frisur stand ihr. Dr. Schuster trug eine randlose Brille, durch die sie ihre Patientinnen mit durchdringenden hellblauen Augen musterte, als handele es sich um eine interessante Spezies in einem Becherglas. Wenngleich die Ärztin mit vollem Einsatz daran arbeitete, Schwangerschaften zu ermöglichen, war sie kein fürsorglicher, warmherziger Mensch.

»Ich habe mich in Ihren Mülleimer übergeben«, beichtete Andi.

»Kein Problem, wir kümmern uns darum. Sie sind also schwanger?«

»Meine Ärztin, Dr. Ferante, hat mir die Neuigkeit gerade überbracht, ja.«

»Aha.«

Dr. Schuster untersuchte Andi routiniert, dann nahm sie ihr erneut Blut ab, ohne dabei irgendwelche Kommentare abzugeben, und verließ den Untersuchungsraum. Es dauerte zehn Minuten, bis sie zurückkehrte, Andis Patientenakte gegen die Brust gedrückt. Ein ungewöhnlich weicher Ausdruck trat auf ihr Gesicht. »Ja, Sie sind tatsächlich schwanger.«

Wieder wurde es Andi heiß. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Greg ist seit drei Monaten tot.«

»Und genauso weit sind Sie.«

»Nach all der Zeit … nach all den Mühen …«, stammelte Andi und schluckte.

»Wenn der Stress vorbei ist, kommt so etwas mitunter vor.«

Das wusste Andi, doch sie hatte nie daran glauben wollen.

Dr. Schuster und sie sprachen darüber, was sie während der kommenden Monate beachten sollte – gesundes Essen, leichte körperliche Betätigung, viel Ruhe –, dann verabschiedete sich die Gynäkologin. An der Anmeldung rief Andi ihren Kalender auf dem Smartphone auf, um weitere Untersuchungstermine zu vereinbaren, dann verließ sie die Praxis, ging zu ihrem Wagen und fuhr nach Hause. Genauer gesagt zu dem Haus, das sie gerade eben verkauft hatte. Es kam ihr vor, als befinde sie sich in einem Traum. Sie fragte sich kurz, ob sie das Haus lieber hätte behalten sollen, aber jetzt war es ohnehin zu spät. Sie hatte eins der älteren Cottages am Schultz Lake erworben, an ebenjenem See, an dem Wren Development soeben mit seinem neuesten Bauvorhaben begonnen hatte: einer großen Hotelanlage im Nordosten, direkt am Wasser, komplett mit Nebengebäuden, Restaurant, Freizeitangeboten. Gestern Abend hatte ihr die Immobilienmaklerin die Schlüssel zu ihrem neuen Domizil überreicht. Das Haus, in dem sie mit Greg gewohnt hatte, hatte Andi verkauft, weil sie glaubte, dieser Teil ihres Lebens sei mit seinem Tod endgültig abgeschlossen.

Und nun war sie schwanger.

Andi setzte den Blinker und bog in die Auffahrt ein. Sie musste noch ein paar Dinge zusammenpacken, bevor nach dem Wochenende die neuen Mieter einziehen würden. Der Großteil ihrer Habseligkeiten war bereits verstaut – sie hatte sich gezwungen, Tag für Tag eine Kiste zu packen –, aber nun musste sie sich beeilen. Obwohl sie schwanger war, verspürte sie einen regelrechten Energieschub. Oder gerade weil sie wusste, dass sie schwanger war?

Schwanger!

Als sie aus ihrem SUV stieg, summte ihr Handy. Sie schaute aufs Display und stellte fest, dass sie eine SMS von ihrer besten Freundin Trini bekommen hatte.

Morgen im Fitnessclub?

Schon seit Ewigkeiten gingen Andi und Trini jeden Dienstag und Donnerstag zum Workout, nur in den letzten drei Monaten nicht. Doch nach Gregs Tod war Andi ohnehin so gut wie nirgendwohin gegangen. Jetzt schrieb sie entschlossen Worauf du dich verlassen kannst zurück. Das Handy summte erneut – Trini schickte Super! und einen grinsenden, winkenden Smiley.

Sollte sie Trini von dem Baby erzählen? Nein … Noch nicht. Dasselbe galt für Carter und Emma. Sie brauchte erst mal Zeit, um die Neuigkeit zu verdauen. Außerdem erschien sie ihr viel zu kostbar, um sie einfach so hinauszuposaunen. Zweifelsohne würden Carter und Emma entsetzt sein. In ihren Augen war Andi ein Eindringling, und nun war sie auch noch schwanger mit Gregs Kind! Sie konnte sich lebhaft ausmalen, wie die zwei hinter ihrem Rücken über sie herziehen würden und womöglich überlegten, ob sie juristische Schritten einleiten sollten, um ihre Firmenanteile zurückzubekommen … Ja, das würde zu ihnen passen.

Bei der Vorstellung, ihnen die Nachricht zu übermitteln, fing Andis Puls an zu flattern. Sie war Anfang des vierten Monats, noch war ihr äußerlich nichts anzusehen. Noch konnte sie sich Zeit lassen. Gregs Geschwister bemühten sich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie sich darüber echauffierten, dass sie sowohl Haupteignerin als auch kompetente Geschäftspartnerin war, aber Andi war klar, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte. Seit Gregs Tod waren diverse Probleme auf die Firma zugekommen, Probleme, die hauptsächlich aus dem mehr oder minder kalten Krieg resultierten, den Wren Development mit seinen Hauptkonkurrenten, den Carrera-Brüdern, führte. Allein aus dem Grund hatten sich Carter und Emma nicht auf Andis neue Stellung in der Firma konzentrieren können. Die Carreras versuchten, sich sämtliche Baugrundstücke rund um den Schultz Lake unter den Nagel zu reißen, und sie schreckten vor nichts zurück, um ihr Ziel zu erreichen. Sie hatten sogar versucht, mit fiesesten Mitteln und Tricks einen allgemeinen Baustopp zu erwirken, und das nur, um die Wrens mit ihrem geplanten Hotel auszubremsen. Greg, Carter und Emma waren mit dem Projekt betraut gewesen. Der erforderliche Behördenkram war eine Sache, eine ganz andere jedoch der Umgang mit den Carrera-Zwillingen Brian und Blake. Gregs überraschender Tod hatte Andi ins kalte Wasser geworfen, und das, wo sie vor lauter Schock ohnehin wie ferngesteuert durchs Leben ging.

Ihr emotionaler Zustand hatte Gregs Geschwistern erlaubt, die Firma während der vergangenen Wochen nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen, doch für heute hatte Andi ein Meeting mit den beiden auf der Baustelle einberufen. Trotz ihrer Taubheit, trotz des schier undurchdringlichen Nebels, der sie umgab, war ihr nicht entgangen, dass man sie bewusst außen vor ließ, und jetzt, da es ihr langsam besser ging, war sie fest entschlossen, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen und ihren Platz bei Wren Development einzunehmen.

Was für ein Weg, sich an die Oberfläche zurückzukämpfen! Sie würde ein Baby bekommen … einen Wren-Erben – einen kleinen Zaunkönig, wie Greg und sie zu Beginn ihrer Ehe oft gescherzt hatten. Andi hatte zunächst ihren Mädchennamen behalten wollen, da sie wusste, dass ein bekannter Name wie der der Wrens nicht immer von Vorteil war, aber sie war so verliebt in Greg gewesen, dass sie nachgegeben hatte. Und nun war sie ebenfalls ein Zaunkönig – Andrea Wren –, auch nach Gregs Tod.

Das Haus, das Greg nach der Hochzeit für sie gekauft hatte – er hatte sich nicht davon abbringen lassen, auch wenn es ihr eigentlich viel zu groß erschien –, war ein riesiger moderner Kasten, umgeben von anderen riesigen modernen Kästen. Andi hatte ihren Wagen in der Auffahrt abgestellt, neben dem großen Schild der Immobilienfirma Sirocco, auf dem ein rotes Banner mit der Aufschrift Verkauft prangte. Jetzt fehlte nur noch das Umzugsunternehmen, das ihre Möbel und die gepackten Kartons abholte. Sie konnte es kaum abwarten, am Wochenende endlich ihr Cottage zu beziehen. Heute war Mittwoch, es blieben ihr also noch ein paar Tage.

Andi drückte auf die Fernbedienung für die Garage und betrachtete den Stapel Kisten – nein, man konnte eher von einer Mauer sprechen. Obwohl ihr Auto nicht mehr hineinpasste, hatte sie einen schmalen Pfad zur Hintertür frei gelassen, durch die sie nun ihre elegante Küche mit der Edelstahlspüle und den dazu passenden Armaturen betrat. Die Oberflächen waren aus schwarzem Granit, die Schränke aus Glas und Chrom. Endlich würde sie keinen Edelstahlreiniger mehr brauchen, dachte sie. Ein ungeahntes Gefühl der Freiheit stieg in ihr auf. Ihr Cottage war gemütlich-rustikal – authentisch, keine vorgetäuschte »Deko-Urigkeit«. Nein, in ihrem Holzhaus konnte man noch die Mäuse in den Wänden rascheln hören.

Es würde jede Menge Arbeit auf sie zukommen, aber das machte ihr nichts aus.

Selbstverständlich hatten ihr alle geraten, erst einmal abzuwarten. Sein Heim zu verkaufen war schließlich keine Entscheidung, die man übers Knie brechen sollte, schon gar nicht, wenn man trauerte. Andi wusste nicht, wie sie den anderen erklären sollte, dass sie das Haus sowieso nie gemocht hatte, dass ihr Mann über ihren Kopf hinweg entschieden hatte in der ernsthaften Annahme, seine Wünsche seien auch ihre. Wenn sie nicht mitzog, fing er jedes Mal an zu streiten, bestand darauf, dass sie ihre eigene Meinung seiner unterordnete. Sie hatte gelernt, Auseinandersetzungen mit ihm aus dem Weg zu gehen, sich sorgfältig zu überlegen, für welche Belange sie sich auf die Matte wagen sollte. Wann immer dies der Fall war, verdrehte Greg die Augen und lächelte, als sei sie ein albernes Dummerchen. Er hob abwehrend die Hände, als stünde er unter Artilleriebeschuss, und sagte gedehnt: »Okay«, was bedeutete, dass er zwar nachgab, aber jetzt schon wusste, dass es ihr hinterher leidtäte. Sein Verhalten trieb sie mehr als einmal an den Rand des Wahnsinns, aber sie hatte nie ernsthaft über eine Scheidung nachgedacht, bis … nun, vielleicht bis Mimi in ihrer beider Leben trat. Andi begriff, dass Greg ihre Ehe für stärker hielt als sie, aber seine Wahrnehmung hatte sich schon immer drastisch von ihrer unterschieden. Doch sie ließ ihn in dem Glauben. Menschen waren nun mal verschieden, und wie die Franzosen schon sagten: Vive la différence!

Es hatte Momente gegeben, in denen Greg und sie einander auf Augenhöhe begegneten, meist wenn sie über die Firma und Carters und Emmas Beteiligung sprachen. Greg hielt die beiden für schlechte Geschäftsführer des profitablen Familienunternehmens, und Andi pflichtete ihm bei. Natürlich war sie stets davon ausgegangen, dass Greg die Firma weiterführen würde, nie im Leben hätte sie sich träumen lassen, plötzlich selbst die Zügel in der Hand zu halten.

Sie ging an weiteren Kartons vorbei in den mehr als großzügigen Eingangsbereich. Noch hatte sie keine Ahnung, wo sie all das Zeug in ihrem kleinen Cottage unterbringen sollte. Die Hälfte wanderte erst einmal in ein angemietetes Lager, bis sie entschieden hatte, ob sie es noch brauchte oder es verkaufen oder spenden würde.

Nachdenklich sah sie sich um, dann eilte sie die Treppe hinauf, um sich umzuziehen, da sie nicht zu spät zu ihrem Treffen mit Carter und Emma kommen wollte. Auf keinen Fall wollte sie erklären, warum es beim Arzt so lange gedauert hatte!

Sie zögerte, als sie an der Tür zu dem Raum stehen blieb, den sie als Kinderzimmer hatten einrichten wollen. Die Wände waren hellgelb, und eine alte Truhe aus Kiefernholz stand darin – ein Überbleibsel aus Gregs Kindheit –, die Andi weiß gestrichen hatte. Weiter waren sie mit ihren Plänen nicht gekommen. Andi hatte erst wissen wollen, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen zur Welt bringen würde, bevor sie das Zimmer weiter einrichtete.

Jetzt fragte sie sich, ob Mimi wohl das Geschlecht ihres Kindes kannte. Sie hatte sich bisher große Mühe gegeben, nicht an Gregs Geliebte und deren ungeborenes Kind zu denken. Ob es wirklich von Greg war?

Ungläubig den Kopf schüttelnd, ging sie weiter ins Schlafzimmer, das in verschiedenen Creme- und Grüntönen eingerichtet war, die schweren mediterranen Möbel hatte Greg ausgesucht. Er hätte sich niemals für ein Cottage wie ihres am Schultz Lake begeistern können, selbst wenn Wren Development dort eine neue Siedlung aus dem Boden gestampft hatte, die viele der Käufer bestimmt nicht nur in den Ferien oder am Wochenende bewohnten. In Gregs Welt lebte man nicht in Cottages.

Aber jetzt war Greg tot, und Andi steckte mitten in der heißen Bauphase der Hotelanlage. Wie bei den anderen Projekten wusste sie nur wenig darüber, war nicht in die Details eingeweiht.

Andi warf einen Blick in den Spiegel und musterte kritisch ihr Outfit – graue Hose mit Jackett über einer weißen Seidenbluse, was präsentabel genug war. Ja, ihre schwarzen Schuhe könnten mal wieder geputzt werden, das wusste sie, aber dazu war jetzt keine Zeit, außerdem hatte sie keine Ahnung, in welchem der Kartons die Schuhcreme verstaut war. Ganz gleich, ob geputzt oder nicht, konnten sie ohnehin nicht mit den mörderischen Zehn-Zentimeter-Absätzen mithalten, die die jungen Frauen im Büro trugen. Jill, die Rezeptionistin von Wren Development, sah stets aus, als würde sie jeden Augenblick umknicken und zu Boden gehen, wenn sie in ihren High Heels durch die Räume stöckelte. Andi war nie der Typ für superhohe Heels gewesen, und jetzt, da sie schwanger war, würde sie bestimmt nichts daran ändern. Nein, sie würde eher auf superbequem umschwenken, damit Emma so richtig etwas zu lästern hätte, sollte sie jemals nüchtern genug sein, es zu bemerken. Gregs Schwester hatte ein ernsthaftes Alkoholproblem, obwohl es niemand wagte, dies direkt anzusprechen.

Zehn Minuten später war Andi auf dem Weg zur Baustelle. Das Meeting war für elf Uhr dreißig angesetzt. Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett und stellte fest, dass es elf war. Noch eine halbe Stunde. Käme sie noch rechtzeitig, wenn sie einen kurzen Abstecher zum Cottage machen würde? Die Schlüssel lagen in ihrer Handtasche. Nun, sie würde sich etwas verspäten, aber da Carter und Emma sie sowieso nicht für voll nahmen …

Das Cottage lag am Ende einer kleinen Straße – wie die meisten Häuser auf der Westseite des Sees. Ein Teppich aus Tannenzweigen und -nadeln bedeckte den Asphalt, als sie von der Hauptstraße abbog. Die tief stehende Sonne blendete sie. Blinzelnd fuhr Andi unter einem Naturbogen aus Tannenästen hindurch in ihre Zufahrt – ein schöner grüner Rahmen für ihr neues Zuhause am Ufer des Sees. Schade, dass das Cottage so vernachlässigt war. Nun, sie würde sich darum kümmern müssen. Das moosbedeckte Dach stand als Erstes auf ihrer Reparaturliste, gefolgt von den verwitterten grauen Holzplanken, die dringend einen Anstrich benötigten. Die vordere Veranda hing leicht durch, genau wie das Vordach.

Andi hielt an, sprang aus dem Wagen und eilte die beiden Holzstufen hinauf, sorgfältig die lose Bodendiele meidend. Die Immobilie war ein Schnäppchen gewesen, und sie wusste, dass sie einiges investieren musste. Sie zog den Schlüssel aus der Handtasche, steckte ihn ins Schloss und stellte fest, dass die Tür aufsprang, noch bevor sie ihn gedreht hatte.

Wieso ist die Tür nicht verschlossen?

Andi runzelte die Stirn. Hatte die Maklerin vergessen abzusperren? Oder …

Sie prüfte das Bolzenschloss und stellte fest, dass es aus dem Türrahmen gebrochen war. Hm. Sie war sich ziemlich sicher, dass das beim letzten Besichtigungstermin noch nicht so gewesen war.

Ihr Magen schnürte sich zusammen. Hoffentlich hatten keine Vandalen in ihrem neuen Heim gewütet! Zögernd betrat sie die Diele und ging in den kombinierten Wohn-Ess-Bereich. Alles war unversehrt. Auch die Küche wirkte unverändert mit ihrem alten, verschrammten Linoleumfußboden und der abgestoßenen grauen Resopalarbeitsfläche. Die Schränke aus Kiefernholz mit den schwarzen, rustikalen Beschlägen sahen genauso armselig und abgenutzt aus wie beim letzten Mal. Von Vandalismus keine Spur.

Jetzt waren die Schlafzimmer an der Reihe. Andi eilte den kurzen Flur lang und öffnete die Tür zum ersten. Nichts, abgesehen von dem muffigen Geruch, der in Räumen hing, die man lange nicht benutzt hatte. Das uralte Bett mit der durchhängenden Matratze – ein Geschenk des früheren Besitzers – sah aus, als stünde es seit der letzten Eiszeit hier. Andi stieß die Tür zum angrenzenden Badezimmer auf – ebenfalls okay. Nun blieb nur noch das große Schlafzimmer, das sie beziehen wollte.

Andi öffnete die Tür – und unterdrückte einen Schrei, als ihr Blick auf den braunen Umschlag fiel, der auf der nackten Matratze des einstigen Ehebetts lag. ANDREA stand in Blockschrift darauf. Den hat bestimmt Edie, die Maklerin, für dich dorthin gelegt, versuchte sie sich einzureden, aber niemand nannte sie Andrea.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie mit unsicheren Schritten zum Bett ging und mit spitzen Fingern nach dem Umschlag griff. Mit einem mulmigen Gefühl schob sie den Zeigefinger unter die nicht zugeklebte Lasche und zog anschließend eine weiße Karte heraus. Weitere Buchstaben. Blockschrift.

KLEINE VÖGEL MÜSSEN FLIEGEN.

Verwirrt starrte sie darauf. Was sollte das? Ihre Finger lösten sich, die Karte flatterte zu Boden. Hastig bückte sie sich danach, aber es war nicht leicht, sie in den Umschlag zurückzustecken, ohne ihre eigenen Fingerabdrücke darauf zu verteilen. Ihr Mund war staubtrocken. Sie hatte keine Ahnung, was die Worte bedeuteten, aber sie klangen äußerst ominös. Ein Wortspiel mit ihrem Nachnamen – Wren, Zaunkönig –, aber was um alles auf der Welt wollte man ihr damit sagen?

Und wer hatte ihr diese Nachricht hinterlassen?

Sie spürte, wie sich eine dicke Gänsehaut auf ihren Armen bildete, drehte sich um und floh aus dem Cottage zu ihrem sicheren Wagen.

Kapitel zwei

Der erste Zug ist gemacht. Ich habe das Spiel eröffnet. Ich möchte, dass mein Gegner einen ersten Hinweis bekommt, eine leise Ahnung, einen Stups, damit er sich Gedanken macht, Sorgen, denn genau darum geht es bei diesem Spiel. Ich sehe mich in meinem speziellen Zimmer um, betrachte die Schachteln mit den Brettspielen meiner Jugend, die inzwischen verstaubt sind. Den vorsintflutlichen PC, vor dem ich einst stundenlang saß und Spiele spielte. Heute brauche ich nichts mehr davon. Heute brauche ich einen anderen Kick.

Ich träume, entwerfe Strategien und Spielabläufe. Mein Blick ist in die ferne Zukunft gerichtet.

Doch bis dahin gibt es noch viel zu tun.

 

Lautes Hämmern begrüßte Andi, als sie über den groben Kies der behelfsmäßigen Baustellenzufahrt holperte. Das Hauptgebäude war bereits drei Stockwerke hoch – ein Skelett aus Holz und Stahl. Später sollte das Ganze ein Schieferdach bekommen, und die Außenwände sollten mit Schindeln verkleidet werden, wie die Anlage im Crater Lake National Park, auch wenn dieses Hotel nicht ganz so groß angelegt war. Greg hatte eine Art Hommage an den Lodge-Stil der 1930er in Süd-Oregon im Sinn gehabt, und Andi war begeistert gewesen. Carter hatte die Idee weniger überzeugt, obwohl er am Ende zugestimmt hatte. Emma war es gleich, wie die Anlage aussah – sie interessierte nur der Profit, den diese letztendlich abwerfen würde.

Carter war schon da, stellte Andi fest. Bekleidet mit einem grünen Golfhemd und einer hellbraunen Baumwollhose, lehnte er an seinem glänzenden schwarzen BMW, die Knöchel lässig übereinandergeschlagen, das Gesicht ausdruckslos. Als er sie erblickte, setzte er wie immer ein Lächeln auf, doch Andi hatte den Eindruck, dass es ihm schwerfiel. Gregs jüngerer Bruder konnte ausgesprochen charmant sein, aber er war zu sehr von sich selbst und seinem guten Aussehen überzeugt, sodass der Zauber schnell verflog, was sich an der langen Reihe hübscher Freundinnen zeigte, die einander die Klinke in die Hand gaben. Ja, er war clever, und er hatte das Projekt nach Gregs Tod weiter vorangetrieben. Doch Andi war sich nicht sicher, wie Carter wirklich über das Hotel und die Gemeinde am See dachte. Seine Schwester konnte wohldurchdachte Statements abgeben, zumindest wenn sie nüchtern war und sich für eine Sache interessierte, was in letzter Zeit allerdings immer seltener der Fall war. Momentan war sie jedoch nirgendwo zu sehen.

»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Carter.

»Ganz gut, danke.«

Der braune Briefumschlag mit der weißen Karte darin war ihr noch frisch im Gedächtnis, und sie hätte sich gern jemandem anvertraut. Sie öffnete gerade den Mund, um genau das zu tun, als Carter wie nebenbei fragte: »Und? In letzter Zeit keine Blackouts mehr gehabt?«

Andi schluckte die Worte hinunter, die ihr auf der Zunge lagen. »Was meinst du?«

»Die Blackouts. Die dich seit Gregs Tod immer wieder ausknocken. Komm schon, das ist doch ein offenes Geheimnis.«

Ihr Herz fing schmerzhaft an zu hämmern. Sie räusperte sich, dann sagte sie, um eine feste Stimme bemüht: »Ich habe mitunter den Fokus verloren, allerdings war mir nicht klar, dass das ein solches Problem darstellt.«

»Du erinnerst dich nicht daran, dass du im Konferenzraum ohnmächtig geworden bist?«

»Carter!« Sie hätte beinahe gelacht, aber dann wurde ihr klar, dass er es ernst meinte.

»Andi, du warst ganze fünfzehn Minuten bewusstlos. Emma dachte, du seist betrunken, aber das hat nichts zu sagen – sie schließt ständig von sich auf andere.«

»Das waren doch keine fünfzehn Minuten«, protestierte Andi und dachte widerstrebend an den dichten Nebel, der sich im Konferenzraum immer enger um sie gelegt hatte, bis ihr schließlich schwarz vor Augen wurde. »Ich war dehydriert … Ich war … Ich war …« Schwanger.

»Siehst du, Andi. Genau das ist der Grund, warum du die Firma nicht so führen kannst, wie du es gern möchtest.«

»Ich will die Firma doch gar nicht führen! Wie kommst du denn darauf? Ich bin die Haupteignerin, und ja, ich möchte ein Teil dieses Unternehmens sein.«

»Es ist schon schwer genug mit Emma, und sie gehört zur Familie.«

Andi fühlte, wie ihr Gesicht zu glühen anfing. Carter übertrieb maßlos, aber vielleicht hätte sie Dr. Ferante oder Dr. Schuster von ihren Aussetzern erzählen sollen. Oder Dr. Knapp. Ihrer Psychiaterin. »Ich war beim Arzt.«

»Gut. Was hat er gesagt?«

»Sie hat mir bestätigt, dass alles in bester Ordnung ist.«

»Nichts Außergewöhnliches, was deine Blackouts erklären könnte?«

»Nein.« Das war eine faustdicke Lüge, aber Andi würde Carter bestimmt nicht die Wahrheit sagen. Nicht jetzt.

»Aha. Na, wenn deine heilige Seelenklempnerin das beurteilen kann … Ich finde, du solltest zur Abwechslung mal einen richtigen Arzt aufsuchen.«

»Dr. Knapp ist eine richtige Ärztin«, entgegnete Andi ruhig. »Aber bei ihr war ich gar nicht. Wo steckt eigentlich Emma?«, fragte sie und warf einen Blick Richtung Straße.

»Hast du auf der Hinfahrt zufällig einen Blick auf den Parkplatz vor dem Lacey’s geworfen?«

Das Lacey’s war eine rustikale Kneipe, etwa eine halbe Meile nördlich der neuen Hotelanlage. Mit seinen groben Holzstühlen und -tischen und einer Klientel, die gern und viel Jack Daniel’s trank, mit fettigen Pommes frites und einer altmodischen Jukebox mit Country-&-Western-Songs sowie einem kleinen Raucherbereich war das Lacey’s stets gut besucht.

»Ich bin aus der anderen Richtung gekommen, vom Cottage.« Mittlerweile hätte sie lieber Larven gefressen, als sich Carter wegen der Nachricht anzuvertrauen.

»Ach, das Cottage. Hast du es inzwischen gekauft?«

»Ich ziehe am Wochenende ein.«

»Und du bist wirklich sicher, dass alles ›in bester Ordnung‹ ist?«, hakte er noch einmal nach und musterte sie durchdringend.

»Bei mir ja, bei dir anscheinend nicht«, gab sie zurück. »Du scheinst ziemlich schlecht gelaunt zu sein.«

»Wow, das ist dir also aufgefallen … So, Spaß beiseite: Du kommst zu spät, Emma steckt Gott weiß wo, und ich habe heute Nachmittag ein Meeting mit Harlow Ransom.« Als Andi nicht sofort reagierte, fügte er hinzu: »Dem zuständigen Bezirksplaner, du erinnerst dich?«

»Ich weiß, wer Harlow Ransom ist.«

»Irgendwer muss ihn schließlich zur Vernunft bringen. Wenn es nach Ransom ginge, dürften wir die größeren Parzellen nicht unterteilen, und die Cottages am Nordufer blieben im Besitz der zahllosen illegalen Siedler, die sich dort herumtreiben. In meinen Augen sind die nichts anderes als Hausbesetzer!«

Er bezog sich auf eine Reihe von Holzhäusern, ganz ähnlich dem, das Andi gerade gekauft hatte. Wren Development hatte die kleinen Cottages mitsamt Grundstücken als Gesamtpaket erworben. Seit den 1940er-Jahren waren sie nicht mehr saniert worden – dass sie überhaupt noch standen, grenzte an ein Wunder. Die Carrera-Brüder hatten ein Angebot abgegeben, aber der störrische, über neunzigjährige Besitzer, ein gewisser Mr Allencore, hatte es abgelehnt und stattdessen an die Wrens verkauft, bevor er einem Herzinfarkt erlegen war.

»Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, was mit dem Grundstück geschieht«, wandte Andi ein.

»Ransom stand immer schon auf der Seite der Carreras«, knurrte Carter. »Das meine ich, Andi: Du hast keine Ahnung vom Geschäft. Aus vielerlei Gründen.«

»Kommt Emma noch, oder kommt sie nicht?«, fragte Andi, mühsam ihren Ärger unterdrückend.

Carter schüttelte den Kopf und strich sich ein unsichtbares Stäubchen von der Hose, dann stieß er sich vom Wagen ab und straffte die Schultern. »Sieht nicht so aus.«

»Fährst du nachher ins Büro?«

»Wahrscheinlich nicht. Ransom ist nicht der Einzige, mit dem ich mich heute treffen muss. Warum?«

»Nun, ich dachte, wir könnten uns vielleicht später mit Emma treffen, aber das klappt ja nun vermutlich nicht.«

»Fahr einfach nach Hause. Wir vertagen das Ganze hier auf übermorgen.«

»Okay.«

Beide schwiegen. Andi erwartete, dass Carter in seinen BMW steigen und davonpreschen würde, aber stattdessen zog er sein Smartphone aus der Tasche und tippte mit schmalen Lippen eine Nummer ein. Er ließ es ein paarmal klingeln, dann wischte er über den roten Button und murmelte: »Emma ist ›momentan nicht erreichbar‹.« Andi nahm an, dass er richtiggelegen hatte, das Lacey’s betreffend: Emmas Trinkerei lief tatsächlich aus dem Ruder.

»Wir sehen uns Freitag früh um zehn im Konferenzraum. Ich hoffe für Emma, dass sie sich zusammenreißt und ebenfalls erscheint.« Carter öffnete die Fahrertür und stieg ein, doch anstatt aufs Gas zu treten, lenkte er sein Baby vorsichtig die gekieste Zufahrt entlang, bis er auf die zweispurige Asphaltstraße gelangte, die um den Schultz Lake herumführte.

Andi blieb noch lange wie angewurzelt stehen. Carter ging ihr auf die Nerven, zumal er mit seinen Bemerkungen über ihre Blackouts einen wunden Punkt getroffen hatte. Sie dachte an die Medikamente, die die »heilige Seelenklempnerin« – Zitat Carter – ihr verschrieben hatte, Antidepressiva, die sie eine Zeit lang genommen und dann abgesetzt hatte. Vielleicht waren ihre Blackouts eine Nebenwirkung der Tabletten gewesen oder sogar der Auslöser dafür – allerdings hatte sich die Szene im Konferenzraum erst vor Kurzem abgespielt.

Sie nahm ihr Smartphone zur Hand und rief Dr. Knapp an, doch man teilte ihr mit, dass erst nächste Woche wieder ein Termin frei sei. Na schön. Am Wochenende war sie ohnehin mit dem Umzug beschäftigt. Aber nächste Woche würde sie mit der Psychiaterin über ihre Schwangerschaft reden, und sie würde auch die Nachricht in ihrem Cottage erwähnen.

Du musst dich an die Polizei wenden.

Und was sollte sie sagen? Jemand ist in mein Cottage eingebrochen und hat eine Karte für mich hinterlegt, auf der KLEINE VÖGEL MÜSSEN FLIEGENsteht? Die Cops würden das mit Sicherheit als groben Scherz abtun.

Aber wer sollte ihr solch einen Streich spielen?

Sie biss sich auf die Lippe, dann rief sie Edie von Immobilien Sirocco an, aber die Maklerin war außer Haus. »Hallo, hier spricht Andi Wren«, sprach Andi auf den Anrufbeantworter. »Vorhin habe ich festgestellt, dass die Tür zu meinem Cottage offen war. Es sieht so aus, als habe man das Schloss aufgebrochen. Ich kann mich nicht entsinnen, dass es vorher schon so war, aber vielleicht täusche ich mich. Wie dem auch sei: Jemand war im Haus und hat mir im Schlafzimmer eine Nachricht hinterlassen. Bitte rufen Sie mich zurück.«

Anschließend stieg sie in den Hyundai Tucson und fuhr über die engen Serpentinen zurück zu ihrem Haus in Laurelton. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, als sie an die Stelle gelangte, wo Greg von der Fahrbahn abgekommen war. Sein Lexus hatte die Kurve nicht geschafft, die Leitplanke durchbrochen und war über den Klippenrand hinaus in den See geschossen – ausgerechnet an der höchsten und gefährlichsten Stelle der gesamten Strecke. Die Leitplanke war längst ersetzt, doch Andi wusste genau, wo die Stelle war, an der Gregs Wagen in das grüne Wasser tief unten gestürzt war.

Zehn Minuten später kam sie am Lacey’s vorbei und warf einen Blick auf den Parkplatz, aber natürlich parkte Emmas Wagen nicht dort. Die urige Kneipe war kein Ort, wo Emma sich betrinken würde. Emma bevorzugte gehobenere Etablissements. Andi überlegt, ob sie kurz anhalten und einen Burger mit Pommes bestellen sollte – seit einigen Wochen hatte sie einen wahren Heißhunger darauf entwickelt, warum, war ihr jetzt klar –, aber dann bog sie von der Uferstraße auf den Sunset Highway und fuhr weiter zu einem Lokal in der Nähe von Wren Development, das sich schlicht und ergreifend Das Café nannte, wenngleich es sich eigentlich eher um ein Bistro handelte. Dort bestellte sie ein Sandwich mit Geflügelsalat und aß eine der beiden dicken Weizenbrotscheiben gleich vor Ort. Die andere nahm sie mit nach Hause, wo sie während der nächsten drei Stunden die letzten Umzugskartons füllte.

Den Rest des Nachmittags und den gesamten Abend verbrachte sie damit, in ihren unzähligen Babybüchern zu schmökern, die sie eigentlich endgültig weggepackt und nun wieder hervorgekramt hatte. Sie malte sich aus, das zweite Schlafzimmer im Cottage als Kinderzimmer einzurichten.

Gegen sechzehn Uhr schickte Edie Tindel eine SMS, in der sie Andi mitteilte, sie habe jemanden zum Cottage geschickt, der das Schloss überprüfen solle. Sie würde sich morgen früh melden. Mit spitzen Fingern zog Andi den braunen Umschlag aus ihrer Handtasche und verstaute ihn in ihrer Laptoptasche. Zum Abendbrot aß sie die zweite Hälfte des Sandwiches, dann packte sie den mageren Inhalt ihres Kühlschranks in eine Kiste: Ketchup, Senf, einen kleinen Becher Kochsahne und ein Glas Dilldressing. Den Rest sortierte sie aus, um ihn später zu entsorgen.

Als sie an jenem Abend im Bett lag, verdrängte sie die Grübeleien über die verstörende Nachricht und konzentrierte sich auf die Freude, die sie wegen ihrer Schwangerschaft empfand. Schon bald würde sie alles mit Dr. Knapp besprechen. Ihre Gedanken wanderten zu ihren Freunden und ihrer Familie, zu ihrem Bruder Jarrett und ihrer Mutter Diana, die in Boston an der Ostküste lebte, und anschließend zu ihrer besten Freundin Trini, mit der sie sich morgen treffen würde. Sie überlegte, ob sie ihnen von dem Baby erzählen sollte. Am liebsten hätte sie ihr Geheimnis für sich behalten, fürchtete, der Zauber wäre gebrochen, wenn sie es den anderen mitteilte.

Ohne zu einem Entschluss zu kommen, schlief sie schließlich ein.

 

Sie wurde von einem Spätsommersturm geweckt, schlug die Bettdecke zurück und tappte zum offenen Fenster. Ein Blitz zerriss die Dunkelheit, dann hörte sie Donnergrollen. Gewitter kamen in Oregon nur selten vor und waren ausgesprochen spannend. Fasziniert blieb sie am Fenster stehen und wartete auf einen weiteren Blitz.

Der Sturm erinnerte sie an einen Abend vor langer Zeit, als sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einem der Cottages am See Urlaub gemacht hatte. Jarrett hatte sie wach gerüttelt, damit sie das Gewitter mit ihm zusammen anschaute. Ihre Eltern, ein Glas Scotch in der Hand, saßen bereits auf der hinteren Veranda, die auf den See hinausging. Es war der Sommer gewesen, bevor ihre Eltern sich getrennt hatten, doch die Schönheit des Gewitters hatte sie die familiären Spannungen für einen Augenblick vergessen lassen.

Jarrett hatte auf das tiefschwarze Wasser gedeutet. »Wenn man jetzt draußen auf dem See wäre, würde man mit Sicherheit vom Blitz erschlagen.«

»Dann ist es ja gut, dass wir nicht draußen sind.« Die Worte ihres Vaters klangen leicht verschliffen.

»Stell dir mal vor, du hockst da in einem Boot, ganz allein.«

»Ich würde doch niemals bei solchem Wetter mit einem Boot rausfahren, schon gar nicht nachts«, hatte Andi ihrem Bruder entrüstet entgegengehalten.

»Natürlich nicht«, beschwichtigte Mom.

Jarrett ging über ihren Einwand hinweg. »Das wäre die perfekte Art und Weise, jemanden loszuwerden – niemand würde je etwas bemerken.«

»Allerdings ließe sich der Plan nur sehr selten umzusetzen, denn wann gibt es hier schon mal ein Gewitter?«, schaltete sich ihr Vater ein. »Wenn du jemanden umbringen möchtest, brauchst du schon bessere Ideen.«

»Jim«, warnte Mom.

»Ach komm schon, Diana. Wir reden doch bloß. Dein Beschützerinstinkt kennt wirklich keine Grenzen.« Und dann goss er den Rest seines Drinks auf den Holzboden. Der Scotch spritzte an Moms Hosenbein. Ohne sich zu entschuldigen stand er auf, stapfte ins Haus und ging zu Bett.

Andi schloss das Fenster und kehrte ebenfalls ins Bett zurück. Seltsam, wie klar ihr diese Erinnerung vor Augen stand, obwohl ihr Vater schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr Teil ihres Lebens war. Ihre Mutter hatte sich von ihm scheiden lassen, und vor fünf Jahren war Jim Sellers an Leberkrebs gestorben.

Nach der Scheidung waren Jarrett und Andi bei ihrer Mutter in Oregon geblieben, doch kaum gingen sie aufs College, lernte Diana einen Mann – Tom DeCarolis – kennen, den sie Andis Meinung nach viel zu schnell heiratete, und zog zu ihm nach Boston. Sie brachte zwei weitere Kinder zur Welt, schrieb ihren beiden Großen pflichtschuldig Weihnachtskarten und rief hin und wieder an. Diana Sellers DeCarolis war aus Andis und Jarretts Leben an der Westküste verschwunden und hatte ein neues Leben an der Ostküste begonnen. Jarrett war für eine Weile nach Kalifornien gezogen, hatte an verschiedenen Colleges studiert, doch dann war er vor ein paar Jahren nach Oregon zurückgekehrt und arbeitete nun als Geschäftsführer für einen erfolgreichen Gastronomen. Andi bekam ihn nicht oft zu Gesicht. Er hatte sie nach Gregs Tod angerufen, aber das Gespräch wirkte gestelzt, hauptsächlich, weil er mal mit Trini zusammen gewesen war – eine Beziehung, die mit einem großen Knall endete – und nun anscheinend nicht wusste, wie er mit seiner Schwester umgehen sollte, die nach wie vor mit seiner Ex befreundet war.

Andi starrte an die Decke, lauschte auf das ferne Donnergrollen und dachte mit einem mulmigen Gefühl daran, dass Jarrett als Jugendlicher des Öfteren ohnmächtig geworden war, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass das an seinem schwachen Kreislauf lag. Jarrett konnte keine Hitze vertragen. Ein überhitztes Zimmer ohne frische Luft genügte, allerdings war das nichts Ungewöhnliches. Trotzdem sollte sie ihn vielleicht einmal fragen, ob er diese Probleme immer noch hatte.

Sie lag eine ganze Weile wach, bevor sie endlich wieder eindämmerte.

Am nächsten Morgen erwachte sie mit einem unguten Gefühl, das ihr immer noch nachhing, als sie sich für den Fitnessclub fertig machte. Doch auf der Fahrt zum SportClub Laurelton schob sie ihre Sorgen entschlossen beiseite, und im Club ging sie als Erstes aufs Laufband. Dr. Schuster hatte ihr zu leichter sportlicher Betätigung geraten, und Andi, in schwarzer Jogginghose und dunkelgrauem Tanktop, war fest entschlossen, sich exakt an ihren Rat zu halten. Den Blick auf den großen Fernseher an der Wand geheftet, schritt sie in gleichmäßigem Tempo aus, ohne zu joggen. Ein Nachrichtensender lief, eine blonde Frau informierte mit ernstem Gesicht über die akute Brandgefahr, da es im August nur wenig geregnet hatte.

Kleine Schweißperlen bildeten sich auf Andis Stirn, doch sie hielt das Tempo und warf zwischendurch einen Blick auf ihre Vitalwerte. Ihr Pulsschlag war etwas erhöht, aber ihr Atem ging leicht, ganz anders als bei dem Mann zu ihrer Linken, der nach ihr gekommen war und nun mit voller Geschwindigkeit rannte, jeder Schritt begleitet von einem angestrengten Keuchen, das die Stimme der Nachrichtensprecherin übertönte.

Andis Gedanken wanderten zu ihrem neuen Cottage. Sie überlegte, welche der vielen Kartons sie in ihrem eigenen Wagen mitnehmen sollte. Das, was sie am dringendsten benötigte, um den Rest sollte sich das Umzugsunternehmen kümmern. Die meisten Sachen, die sie besaß, stammten von Greg; sie hatte weit weniger Habseligkeiten in die Ehe eingebracht als er und auch später kaum etwas dazugekauft.

Die blonde Nachrichtensprecherin übergab an einen ebenfalls ernst dreinblickenden dunkelhaarigen Reporter, der vor dem Gerichtsgebäude von Multnomah County in der Innenstadt von Portland stand. »… Anhörung von Ray Bolchoy ist für neun Uhr angesetzt. Ihm wird Falschaussage sowie die Fälschung von Beweismitteln vorgeworfen. Bolchoy wollte beweisen, dass die Zwillinge Blake und Brian Carrera illegale Mittel wie Nötigung einsetzten, um die Grundstücke rund um den Schultz Lake in ihren Besitz zu bringen.«

Andi blickte auf. Hoffentlich hörte der Kerl neben ihr bald auf, so laut zu keuchen, damit sie den Reporter besser verstehen konnte. Sie wusste, dass der Detective von der Mordkommission des Portland PD die Carrera-Brüder für diverse mysteriöse Todesfälle in der Gegend von Portland verantwortlich machte. Allerdings hatte sie nicht gewusst, dass die Anhörung heute stattfand. Sie fragte sich, ob der Staatsanwalt wohl genügend Beweise gesammelt hatte, um den Richter zu einer Anklage zu überreden. Ob Bolchoy tatsächlich eine falsche Aussage gemacht hatte, konnte sie nicht beurteilen, aber sie wusste, dass die Machenschaften der Carreras verdammt nah an die Grenzen der Legalität stießen … wenn sie nicht bereits kriminell waren.

Auf dem Bildschirm erschien ein Foto des grauhaarigen Ray Bolchoy mit einem wesentlich jüngeren, ausgesprochen gut aussehenden Mann, der Andi schon früher aufgefallen war. Bolchoys Expartner.

»… Lucas Denton«, sagte der Reporter gerade, »hat seine Karriere als Detective bei der Mordkommission an den Nagel gehängt, als Bolchoy auf unbestimmte Zeit vom Dienst beurlaubt wurde …«

Es folgte ein Clip, in dem Denton vor einem Büro in einem Einkaufszentrum mit einem anderen Reporter sprach. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift Denton Investigations. Eine Privatdetektei.

»Ich werde Rays Vorgehen wohl kaum mit den Medien diskutieren«, sagte Lucas Denton, der sichtlich genervt war, dass man ihn vor seinem Büro abgepasst hatte. »Ich weiß nur, dass mir die Entwicklung, die der Fall genommen hat, gar nicht behagt – deshalb habe ich gekündigt.«

»Sie halten Bolchoy also für unschuldig?«

»Niemand ist unschuldig. Mir zum Beispiel könnte man vorwerfen, ich wollte, dass die Carreras für ihre Verbrechen bezahlen.«

Der Reporter hielt das Mikrofon dicht an Dentons Mund, damit der sich nicht abwandte. »Hat Bolchoy Beweismittel gefälscht, ja oder nein?«

»Sie hören mir offenbar nicht zu. Ich diskutiere Rays Vorgehen nicht mit den Medien.«

»Die Leute behaupten, er sei schwer zu durchschauen, aber Sie als sein mehrjähriger Partner bei der Mordkommission standen ihm doch ziemlich nahe.«

»Wir hatten kein Verhältnis, wenn es das ist, was Sie wissen wollen«, bemerkte Denton trocken, schloss seine Detektei auf und verschwand.

Der Reporter schnitt ein Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen, was Andi zum Lachen brachte. Nun tauchte wieder der ernst dreinblickende Mann vor dem Gerichtsgebäude in Portland auf, der abschließend erklärte: »Lucas Denton, ehemaliger Detective der Mordkommission, gab aus Unmut über die Vorgehensweise gegen seinen ehemaligen Partner seine Dienstmarke ab und arbeitet nun als selbstständiger privater Ermittler. Ray Bolchoy wartet unterdessen auf seine Anhörung. Wird der Staatsanwalt genügend Beweise vorbringen, um ihn der Fälschung von Beweismitteln überführen zu können?«

Die blonde Nachrichtensprecherin übernahm. »Die Anhörung findet heute statt. Wir berichten – bleiben Sie dran.«