Dahab Geschichten aus Gold - Jana A. Czipin - E-Book

Dahab Geschichten aus Gold E-Book

Jana A. Czipin

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Beschreibung

Wer träumt ihn nicht manchmal, den Traum vom Aussteigen? Von einem sorgenfreien und einfachen Leben am Meer, unter Palmen und mit ewigem Sonnenschein? Wie aber ist so ein Leben ohne Sicherheitsnetz, ohne Pensionsabsicherung und Urlaubsanspruch, ohne Montagmorgenbitterkeit und Freitagabendenthusiasmus in Wirklichkeit? Das Buch "Dahab - Geschichten aus Gold" beantwortet diese Fragen, beschreibt aber auch das Leben von Ägyptern und Beduinen am Anfang des neuen Jahrtausends, als sich nach Jahrzehnten des Stillstandes mit dem Arabischen Frühling ein Funken Hoffnung auf Veränderung entzündet. In Dahab, einem ägyptischen Taucher- und Windsurferparadis am Sinai leben Ausländer aus fünf Kontinenten mit Ägypter und Beduinen zusammen, vermischen sich und bleiben für sich. Zwischen der biblischen Bergwüste und dem Roten Meer erfüllen sich ihre Schicksale in den Jahren vor der ägyptischen Revolution von 2011, und diese sind - egal ob Baby oder Rentnerin - immer außergewöhnlich.

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Seitenzahl: 445

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Praxisbuch Pranayama: Atemübungen für Yogis, Apnoe-Taucher und schwangere Frauen

BoD 2. Auflage 2014, ISBN-13: 978-3848202287

Ashtanga Yoga. Praxis, Theorie und Philosophie.

BoD 2. Auflage 2018, ISBN 978-3732263134

Zutiefst dankbar bin ich Werner Schandor

für seine unablässige Geduld, Unterstützung und

Aufmunterung.

Ich danke auch meinen Freunden

Andrea Ghoneim, Sabine Püskül und Peter Emch

für ihre fruchtbare Kritik und hilfreichen Anregungen.

Wer träumt ihn nicht manchmal, den Traum vom Aussteigen? Von einem sorgenfreien und einfachen Leben am Meer, unter Palmen und mit ewigem Sonnenschein? Wie aber ist so ein Leben ohne Sicherheitsnetz, ohne Pensionsabsicherung und Urlaubsanspruch, ohne Montagmorgenbitterkeit und Freitagabendenthusiasmus in Wirklichkeit?

Das Buch "Dahab - Geschichten aus Gold" beantwortet diese Fragen, beschreibt aber auch das Leben von Ägyptern und Beduinen am Anfang des neuen Jahrtausends, als sich nach Jahrzehnten des Stillstandes mit dem Arabischen Frühling ein Funken Hoffnung auf Veränderung entzündet.

In Dahab, einem ägyptischen Taucher- und Windsurferparadis am Sinai, leben Ausländer aus fünf Kontinenten mit Ägypter und Beduinen zusammen, vermischen sich und bleiben für sich. Zwischen der biblischen Bergwüste und dem Roten Meer erfüllen sich ihre Schicksale in den Jahren vor der ägyptischen Revolution von 2011, und diese sind - egal ob Baby oder Rentnerin - immer außergewöhnlich.

Jana A. Czipin ist Österreicherin, gerade noch vor der Mondlandung und Woodstock geboren und studierte Publizistik und Geschichte in Wien. Seit 1992 veröffentlicht sie sporadisch Texte auf Papier und im weltweiten Netz. Nach zahlreichen Reisen ließ sie sich im sonnigen Spanien in einer Stadt am Meer nieder und veröffentlichte zwei Bücher über Yoga (Ashtanga Yoga und Praxisbuch Pranayama). Dahab - Geschichten aus Gold - ist ihr erster Roman.

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Unter Wasser

Radiowellen

Mütterstile

Zweites Kapitel

Die andere Welt

Verloren

Das Spiel

Drittes Kapitel

Altersnarrheit

Am Fenster

Der Schneider

Viertes Kapitel

Die Party

Ein Herz für Hope

Der Strohhalm zuviel

Epilog

Dahab Tagebuch

Dahab - Karte

Dahab - Tauchplätze

Neuanfang

1. Unter Wasser

Als Nicole bis zu den Knien im Wasser der flachen Lagune stand, die Taucherbrille ihrer Tochter Jasmin in der Hand, um sie aufzusetzen, durchfuhr sie der Schock einer Erkenntnis. Die magisch im Sonnenlicht flirrende Wasseroberfläche blendete ihre Augen, sie hob den Blick zu der sandigen Anhöhe hinter der Lagune, über die eine jetzt asphaltierte Straße zur Südoase führte. Dort oben auf dieser Anhöhe hatte sie sich in Dahab verliebt und dort unten in der Südoase wäre sie vor neunzehn Jahren beinahe gestorben.

In diesem Moment, als sie gerade dabei gewesen war, sich die Brille über den Kopf zu streifen und mit einem kleinen Sprung unter Wasser zu tauchen, wurde ihr klar, dass es gar nicht so erschütternd war, nach dieser langer Zeit wieder in Dahab zu sein, sondern dass sie einfach so, ohne weiter darüber nachzudenken, ins Wasser hatte springen wollen, ganz so, wie sie es früher leidenschaftlich gern getan hatte. Aber seit dem Erlebnis damals in der Südoase war ihr das unmöglich gewesen. Allein der Gedanke den Kopf unter Wasser zu stecken, hatte ihr Herzrasen, Panik und Atemnot verursacht.

Seltsamerweise war sie jetzt ganz ruhig. Sie hatte es tun wollen und wollte es immer noch. Untertauchen, sich Fische ansehen, bizarre Korallenformationen bewundern, schwerelos im Wasser schweben, eins sein mit allem. Neunzehn Jahre lang war ihr niemals dieser Wunsch gekommen, aber die alte Magie Dahabs schien auf einmal wieder zu funktionieren. Sie konnte sich sogar an jenen zweiten Tauchgang erinnern, ohne das Gefühl zu bekommen, jemand habe ihr eine Plastiktüte um den Kopf geschlungen, und ihr ginge die Luft aus.

Damals an ihrem allerersten Morgen in Dahab, als sie nicht in einem schicken Viersterne-Hotel wohnte, sondern in einem kleinen Strohbungalow, und es keine asphaltierten Straßen gab, sondern Sand unter ihren Sandalen knirschte, war sie unter dem Rauschen von Palmenblättern hinunter an den Strand gegangen und hatte gedacht: Das ist das Paradies.

Nicole hatte in der unirdischen Stille des Ortes so gut geschlafen, dass sie beinahe zu schweben schien, obwohl ihre Gummisandalen über den Boden schleiften. Bei der Baracke der Tauchschule angekommen, die neben dem simplen Beduinencafe lag, stellte Nicole überrascht fest, dass der Verschlag noch herunter geklappt und mit einem altmodischen Vorhängeschloss gesichert war. Am Vortag hatte das Mädchen an der Rezeption gesagt, sie würden um neun Uhr zur Südoase fahren, um dort zwei Tauchgänge zu machen, deshalb solle sie gegen halb neun da sein. Nicole war nach deutscher Manier pünktlich gekommen, jetzt kontrollierte sie ihre Tauchuhr und erinnerte sich genau daran, dass sie wegen der Zeitverschiebung die Uhr schon gestern bei der Ankunft umgestellt hatte. Wo waren die Leute? Nicole sah sich suchend um. Nebenan im Beduinenrestaurant war nur ein Junge damit beschäftig, die Spuren der Party vom Vortag zu beseitigen. Ein paar Bierflaschen, halbleere Teetassen und schmutzige Teller standen auf den Tischen, und er räumte das Geschirr langsam schlurfend in die Küche. Er schien seine Tätigkeit im Halbschlaf auszuführen und schenkte Nicole keine Aufmerksamkeit. Sie ging die wenigen Schritte hinunter zum Strand und sah sich dort um: Die halb steinige, halb sandige Bucht, in der sie gestern schon schnorcheln gewesen waren, lag etwas weiter nördlich und endete bei einem kleinen Leuchtturm. Zu ihrer linken Seite erstreckte sich ein weitläufiger Palmenhain, in dem verstreut Baracken, Zelte und einige Steingebäude versteckt waren. Hinter ihr zog sich ein langes Stück Saumriff bis hinunter zu der großen Lagune. Auf einem flachen Stück Strand standen einige Baracken, von denen manche Restaurants waren, andere einfache Strohhütten oder Schuppen. Ihre Wände waren meistens nur aus Bambusmatten und mit Plastikplanen oder großen Decken windsicher gemacht, die Dächer waren entweder aus Palmenblättern oder aus Blech gefertigt. All diese Hütten wirkten wie aus Versatzstücken zusammengesetzt, ohne Plan roh zusammengezimmert. Nur die Polizeistation und die Tankstelle waren richtige Steinhäuser mit verschließbaren Holztüren und Glasfenstern.

Nicole ließ den Blick über das Meer schweifen und fühlte sich sofort leichter, obwohl sich hier nicht wie in Thailand der unendlichen Blick über das Wasser anbot. Stattdessen wurde der Golf von Aqaba auf der anderen Seite von den sandfarbenen Bergen Saudi Arabiens begrenzt. Als sie im Jahr davor in Thailand tauchen gewesen war, hatte sie die Kombination Dschungel-Meer nicht so fasziniert wie der Gegensatz von Wüste und Meer, der jetzt vor ihren Augen lag.

Zwar sah es hier unter Wasser nicht so toll aus wie in den tropischen Korallenriffe Thailands, aber das Riff hier entlang der Küste war voller Fische und anderer Meerestieren. Das Rote Meer und ganz besonders der Golf von Aqaba waren so schmal, dass die Wassertemperatur wärmer war als in anderen Meeren auf diesem Breitengrad, was das Korallenwachstum förderte. So hatte sie das im Reiseführer gelesen und jetzt wollte sie es mit eigenen Augen sehen.

Sie brannte darauf, endlich mit einer Tauchflasche auf dem Rücken eine Stunde unter Wasser abzuhängen, aber in Dahab lebten offensichtlich keine Frühaufsteher. In einiger Entfernung sah Nicole ein paar vermummte Gestalten am Strand liegen, die dort wohl ihren Rausch ausschliefen, aber außer einigen weißen Reihern und Möwen konnte sie keine waches Lebewesen entdecken. Am Abend zuvor hatte ihr jemand erzählt, man würde diesen Teil von Dahab Masbat nennen, was Schlafplatz bedeute. Jetzt wurde Nicole klar, wieso der Platz so genannt wurde. Sie hatte angenommen, sie würden sofort ihre Kisten mit der Taucherausrüstung packen, sie ins Auto verfrachten und losfahren. Jetzt zweifelte sie, ob das Ganze überhaupt zustande kam.

Nicole ging zurück zur Tauchschule, wo immer noch keiner zu sehen war. Unschlüssig blieb sie vor der Baracke stehen und wusste nicht, was sie tun sollte.

Zurück in den Bungalow gehen, wo Petra, ihre beste Freundin, mit der sie hier war, noch selig schlief? Oder besser mit Schnorchelbrille und Flossen, die sie ohnehin schon in der Hand hatte, wieder an den Strand gehen? Das wäre zumindest eine Abkühlung, denn es war schon recht warm, obwohl sie im Schatten der Palmen stand und ein leichter Wind wehte.

Während sie noch überlegte, kam dann doch Linda angeschlendert, eine junge Französin, die ihr gestern an der Rezeption Auskunft gegeben hatte. Ihre Augen waren klein und verschlafen, sie trug ein kurzes Hippiekleid, das mit großen, farbkräftigen Sonnenblumen bedruckt war, und die Plastiksandalen, wie sie hier fast jeder an den Füßen hatte. Ihr langes dunkelbraunes Haar war nur oberflächlich gekämmt, und sie kaute an einem Kaugummi.

„Ach“, sagte sie gedehnt, wie jemand, der noch nicht lange wach war, "du bist schon da."

"Du hast gesagt, wir fahren um neun!“ Nicole konnte den ungehaltenen Ton in ihrer Stimme nicht verhindern.

"Tja," grinste Linda, "hier in Ägypten ist Zeit ein dehnbarer Begriff. Ich sage den Leuten immer eine frühere Zeit, damit sie dann wenigstens rund um neun antanzen."

Tatsächlich trudelte jetzt allmählich einer nach dem anderen der Gruppe und ihr Tauchführer Said ein. Während die Leute langsam ihre Tauchanzüge, Trierjacken, Flossen und Tauchbrillen zusammensuchten und in Kisten packten, und dabei miteinander tratschten, saß Nicole gelangweilt bei einem Nescafe auf einer Bank, und versuchte, die Leute mental zur Eile anzutreiben. Sie selbst war in fünf Minuten mit ihrer Tauchkiste fertig gewesen, natürlich hatte sie mehr Erfahrung als die anderen Tauchgäste, aber sie war als Deutsche auch effizienter und immer gut organisiert. Es fiel ihr schwer, Trödelei zu akzeptieren und dabei gut gelaunt zu bleiben.

Viel zu langsam füllte sich die Ladefläche des alten weißen Pickups mit Tauchflaschen und vollgepackten Kisten. Einige der Gäste wollten auch noch einen Tee oder Kaffee trinken, den ihnen der verschlafene Beduinenjunge aus dem Restaurant nebenan auf einem silberfarbenen Tablett servierte. Endlich war alles fertig, die Tauchgäste stiegen hinten auf und setzten sich auf die Seitenwände der Ladefläche.

„Willst du bei mir vorne sitzen,“ fragte Said Nicole mit einem Augenzwinkern. „Da kannst du mir mehr von Thailand erzählen.“

„Ja, gern,“ sagte Nicole, mit einem Schlag wieder mit der Welt versöhnt.

Said war ein ausgesprochen schöner Mann, der eine römische Adlernase und schokoladenbraune Haut besaß, und in dessen dunklen Augen man wie in einem großen weichen Bett versinken konnte. Er hatte schon gestern mit ihr geflirtet, und sie war einer Fortsetzung nicht abgeneigt.

Es war eng auf der Vorderbank des Pickups und Nicoles Bein berührte Saids, sie lehnte sich sogar ein wenig Halt suchend gegen ihn, als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, und der Fahrer in halsbrecherischen Tempo über die unebenen Piste bretterte. Die Leute hinten auf der Ladefläche wurden kräftig durchgeschüttelt und hielten sich verzweifelt fest, während Nicole es ziemlich bequem hatte. Der Fahrer nahm die Geschwindigkeit auch dann kaum zurück, als die Schlaglöcher größer wurden, aber er kutschierte den Wagen gekonnt durch ausgewaschene Fahrrinnen und Sandverwehungen.

Said erzählte ihr gerade stolz, er sei einer der ersten Beduinen, die als Tauchführer arbeiteten, da erklomm der Pickup eine Anhöhe und ihnen eröffnete sich das Panorama über die riesige halbkreisförmige Lagune, die Berge und den Golf. Nicole blieb bei dem Anblick der Mund offen stehen. Das Wasser in der Lagune leuchtete türkis und das offene Meer dahinter war stahlblau. Auf ihrer rechten Seite türmten sich steil die blanken rotgelben Berge des Sinai auf. Der Gegensatz der Farben und das Fehlen jeder Art von frischem Pflanzengrün war bizarr und fantastisch. Hin und wieder standen vereinzelt ein paar Dattelpalmen herum, deren Blätter von einer gelben Staubschicht bedeckt waren. Sie zeugten davon, dass man auch in der Wüste überleben konnte, wenn man wusste, wo Wasser war.

Je weiter sie nach Süden kamen, umso näher rückten die Berge an den Strand heran, und desto schroffer richteten sie sich auf.

Die Landschaft war karg wie die Mondoberfläche, doch während Bilder vom Mond immer blassgrau waren, schillerten die Berghänge hier rot und gelb, es gab auch Gesteinseinschlüsse in zartrosa und dunkelbraunen Schattierungen. Nicole versuchte all die Farben zu benennen, die sich im Fels in wilden Zacken und Kurven hochwanden und hernieder stürzten, safrangelb und honiggelb, smaragdgrün und schiefergrün, altrosa und rostrot, und dann gab es auch schwarze Lavastreifen, die dem übrige Gestein Richtung und Kanten gaben. Kahle Landschaften wie diese wirkten normalerweise abweisend, doch jetzt, wo sie die Lagune jetzt hinter sich gelassen hatte, bildete die Stille und Erhabenheit der Berge einen starken Kontrast zu dem durch den Wind aufgeworfenen Meer, das weiter draußen mit weißen Rüschenkämmen besetzt war. Das Wasser über dem Saumriff ersetzte das fehlende Pflanzengrün mit einem Farbenspiel von marineblau bis opalfarben.

„Beeindruckend, nicht?" sagte Said, als er merkte, dass sie ihm nicht zuhörte.

"Surreal," sagte sie. Seine irritierten Augen machte ihr klar, dass er mit dem Wort nichts anfangen konnte, also sagte sie:

„Spektakulär.“

"Ja," lachte Said. "Es ist, als habe Gott hier seinen Farbtopf ausgeschüttet."

Sie lachte mit ihm und nahm für einen Moment die Sonnenbrille ab, damit er tief in ihre olivgrünen Augen schauen konnte. Er starrte ihr länger als nötig in die Augen, bis sie ihre Brille wieder auf die Nase schieben musste, weil das Sonnenlicht zu stark blendete. Stattdessen rollte sie eine Strähne ihres rotblonden Haares um den Finger und knabberte kokett daran.

Später würde sie gerne erzählen, dies sei der Moment gewesen, in dem sie sich verliebt hatte, in den Mann, in Dahab, in die Berge, in die Wüste: Sie würde sagen, es sei der Moment gewesen, der ihr ganzes weitere Leben bestimmt habe. Aber jetzt, als sie fast zwanzig Jahre später wieder hier war, im flachen Wasser stand und untertauchen wollte, wusste sie, das war nicht die ganze Wahrheit. Sicher, die Geschichte nahm in diesem Moment ihren Anfang, doch ausschlaggebend war schlussendlich der zweite Tauchgang gewesen.

Sie würde nie vergessen, wie sie kurze Zeit später aufgeräumt und fröhlich in der Südoase am Strand gestanden und ihre Ausrüstung für den ersten Tauchgang zusammengebaut hatte.

Endlich ging es los, und da hatte sie gedacht: Das könnte es sein. Das könnte mein Leben sein.

Sie dachte schon länger daran etwas radikal zu ändern, und das hier war eine Möglichkeit. Keine täglichen Staus und schlecht gelaunte Bürokollegen mehr, nicht mehr nur einmal im Jahr tauchen, sondern jeden Tag die Taucherausrüstung zusammenbauen. Jeden Tag schwerelos im Wasser hängen, die unglaubliche Unterwasserwelt bewundern und Abenteuer erleben, die von keinem Sciencefictionfilm übertrumpft werden konnten. Nicht einfach nur arbeiten, um Geld zu verdienen, sondern Spaß an der Arbeit haben, lebendig sein, glücklich.

Es war einfach so, dass sie unter Wasser an einen Ort gelangen konnte, wo sie sich zu Hause fühlte, wo Schweigen herrschte, und Ruhe, und sie endlich Gelassenheit fand.

Darum war der Moment, als sie ins Wasser watete, etwas, das ihr Blut automatisch mit Glückshormonen überflutete. Sobald sie den Kopf unter die Oberfläche tauchte und in die blaugrüne Welt blickte, war sie eins mit dem Universum, sogar wenn diese Unterwasserwelt wie hier nur aus einer langen Sandbank und ein paar Felsen bestand.

Es gab keinen Tauchpartner für Nicole und deswegen hatte Said vorgeschlagen, sie könnte doch allein das Schlusslicht bilden, während er die Gruppe führte. Jetzt signalisierte sie ihm mit einem Handzeichen, dass alles ok war, und er tauchte nach rechts ab, die Gruppe folgte. Nicole freute sich, dass sie nicht auf einen unerfahrenen Tauchpartner achten musste, sondern sich ganz auf Nacktschnecken und Garnelen konzentrieren konnte, die zu ihren Lieblingstieren gehörten und schwer zu finden waren. Sie konnte so langsam oder so schnell tauchen, wie sie wollte, denn Dank ihrer professionellen Flossen, die sie von zu Hause hierher mitgeschleppt hatte, konnte sie die Gruppe von Sonntagstauchern jederzeit einholen. Die meisten waren Tauchanfänger, es waren sogar zwei dabei, die erst ihren dritten Tauchgang im Rahmen des Anfängerkurses machten.

Darum hatte Said wohl diesen simplen Tauchplatz ausgesucht, aber Nicole hatte nichts dagegen, dass ihr erste Tauchgang nach fast einem Jahr wahrscheinlich ein wenig langweilig werden würde. Sie hatte noch eine ganze Woche, um aufregendere Orte wie das berühmte Blue Hole oder den Canyon zu betauchen. Für den Moment genügte das hier vollkommen.

Das Wasser war tatsächlich kristallklar, wie es der Reiseführer versprochen hatte. Der hohe Salzgehalt, der zweithöchste nach dem Toten Meer, machte die Sicht unter Wasser spektakulär, weil das Sonnenlicht hier bis auf hundert Meter vordringen konnte. Nicole staunte über die enorme Sichtweite von gut dreißig Metern. Das erlaubte ihr, noch weiter zurück zu bleiben, denn sie konnte die Gruppe leicht im Auge behalten.

Der Tauchgang ging einfach die Riffkante entlang und wieder zurück, wie Said bei der Einführung am Strand erklärt hatte.

Sie kamen an schönen, mit Weichkorallen bewachsenen Felsen vorbei und bewunderten einige große Tischkorallen, unter denen sich leider nichts Interessantes versteckte. Dann entdeckte Nicole einen ungewöhnlich großen Schwarm von Rotfeuerfischen, die normalerweise einzeln oder nur in kleinen Gruppen unterwegs waren. Die zwanzig bis vierzig Zentimeter großen Fische fielen durch breit gefächerte Brust- und Rückenflossen auf, die in langen, fast freistehenden und mit starkem Gift gefüllten Stacheln endeten. Das Gift war für Menschen zwar nicht tödlich, aber äußerst schmerzhaft, darum war es besser, diesen fliegenden Drachen nicht zu nahe zu kommen. Die meisten waren rötlich braun oder schwarz-weiß gestreift, die breiten Querstreifen dienten als exzellente Tarnung, weil sie die Körperlinien auflösten. Der ungewöhnlich große Schwarm von mehr als fünfzig Tieren schwebte wie eine Flotte bizarrer Raumschiffe vor einer Felswand und ließ sich von der nahen Brandung hin und her schaukeln. Nicole hatte diese Fischart schon in Thailand beobachtet, aber niemals in solcher Menge und Vielfalt. Sie hätte den Schwarm gerne länger zugesehen, doch sie musste hinter der Gruppe hereilen, die schon umgedreht hatte und wieder in Richtung Strand unterwegs war. Nicole kontrollierte ihre Konsole und sah, dass ihre Flasche noch halb voll war. Sie könnte noch gut eine halbe Stunde länger auf dieser flachen Tiefe tauchen, aber offensichtlich ging einigen der Anfängern schon die Luft aus.

Trotz des kurzen Tauchgangs stieg Nicole zufrieden mit sich und der Welt aus dem Wasser, legte wie die anderen ihre Tauchflasche mit der daran befestigen Tarierjacke auf die Ladefläche des Pickups und trottete noch im Neoprenanzug hinter der Gruppe her zu einem der beiden Beduinenrestraurants, die man im sicheren Abstand zum Wasser angelegt hatte. Wie in allen Restaurants in Dahab gab es dort keine Stühle, sondern nur bunte Flickenteppiche, schmale und dünne Matratzen zum Sitzen und darauf gestreuten Kissen, die um wadenhohe Tische aus roh zusammengezimmerten Holz angeordnet waren. Eine Holzkonstruktion stützte ein flaches Palmenblätterdach, und abgeholzte Baumstämme dienten als Rückenlehnen. Sie waren in viereckigen Sitznischen angeordnet, in denen es sich die Taucher gemütlich machen konnten. Hinten hinaus gab es eine gemauerte Küche und etwas abseits ein Abort mit Holzwänden, die einen vor neugierigen Blicken schützten. Es war ein simples Plumpsklo, was Nicole auf fast romantische Weise urig fand, obwohl es erbärmlich stank und von Fliegen belagert war.

Sie bestellte ein in dünnes Fladenbrot gewickeltes Thunfischsandwich, andere nahmen Huhn mit Tomaten und Salat. Mehr gab es auf der Speisekarte nicht. Dazu tranken sie stark gesüßten Schwarztee mit frischen Minzblättern, den Nicole ungemein lecker fand. Said machte ihr während des Essens dezente, aber doch charmante Komplimente über ihre Tauchfähigkeiten und ihr Aussehen. Nicole, immer noch high vom ersten Tauchgang, flirtete zurück, glücklich in diesem herrlichen Raum des Nicht-Seins zu schweben, in den sie nur auf Reisen oder unter Wasser gelangen konnte.

Das könnte es sein, dachte sie wieder. So könnte mein Leben jeden Tag aussehen. Das wahre Leben, ein echtes Leben, nicht die tote Hülle, als die sie sich zu Hause empfand.

Meist nahm sie sich die ihr zustehenden vier Wochen Urlaub am Stück, damit sie eine längere Reisen machen konnte, und jedes Mal starb auf der Heimreise ein Stück ihrer Seele. Jedes Mal, wenn sie nach Hause zurückkehrte, war ihr, als sperre man sie in ein Gefängnis. Schon seit mehr als sechs Jahren arbeitete sie in dem selben Job als Sekretärin bei einer Ingenieursfirma, wo jeder Tag gleich langweilig war, jede Woche, jedes Monat dasselbe passierte, und sie jetzt schon sagen konnte, was sie in sechs Monaten oder in einem Jahr tun würde, wenn sie weiterhin in der Sicherheit einer festen Anstellung blieb. Sie konnte dort ihren frühen geistigen Tod voraussehen und wollte so nicht weiterleben. Sie wollte nicht wissen, was der nächste Tag brachte, nicht wissen, wie ihr Leben in zehn Jahren aussah, sie wollte Überraschungen, die vom Himmel fielen, und Möglichkeiten, die sich in jedem Moment eröffnen konnten.

Wenn sie auf Reisen ging, geschah genau das. Dann öffnete sich eine Tür ins Wunderland, und für diese kostbar kurze Zeit lebte sie ohne Zukunft und Vergangenheit, lebte das Leben vollendet im Augenblick, vollgestopft mit Abenteuern und Aufregung. In diesen Kurzurlaub im Herbst, für den sie Zeitausgleich genommen hatte, war sie mit dem Vorsatz geflogen, eine Entscheidung zu treffen. Sollte sie tatsächlich ihre gute Arbeitsstelle aufgeben und den den Divemasterkurs machen, damit sie einen Beruf hatte, mit dem sie durch die Welt reisen konnte? Ein Leben ohne Sicherheitsnetz, ohne Pensionsabsicherung und Urlaubsanspruch, ohne Montagmorgenbitterkeit und Freitagabendenthusiasmus?

Trotz ihrer Angst vor dem Unbekannten war sie davon überzeugt, dass jedes andere Leben besser wäre, als jenes, das sie führte. Sie war schon siebenundzwanzig, wenn sie nicht jetzt etwas unternahm, wann dann? In ein paar Wochen könnte sie nach Dahab zurückkommen, in drei Monaten Divemasterin sein und später als Tauchlehrerin in der Karibik, in Australien oder Madagaskar arbeiten. Sie könnte jeden Tag unter Palmen sitzen, man würde sie dafür bezahlen, tauchen zu gehen, sie könnte es immer warm haben und in einen wolkenlosen Himmel blicken. Obwohl es Anfang November war, kletterte das Thermometer um die Mittagszeit auf fast dreißig Grad, während es zuhause in Hannover tagsüber kaum mehr als zwölf Grad hatte.

Voller glücklicher Ideen für ihre Zukunft machte Nicole sich für den zweiten Tauchgang bereit. Wieder quetschte sie sich in den jetzt nassen Tauchanzug, schraubte den Lungenautomat an eine volle Tauchflasche und legte den Bleigurt an. Während sie sich die Tarierweste mit dem schweren Gewicht der Stahlflasche gekonnte auf den Rücken schwang, scherzte sie mit Said und stapfte dann mit Flossen und Taucherbrille in den Händen und mit einem breiten Lächeln im Gesicht ins Wasser, um die andere Seite der Riffes zu erkunden.

In Momenten wie diesen war es gut, dass man nicht wusste, was die nächste Stunde brachte. Es war gut, dass man sich nicht ständig bewusst war, wie flüchtig Glück und Seratonine waren, sonst würde man verrückt werden. Es sollte der letzte Tauchgang ihres Lebens werden.

"Du kommst aber spät," knurrte ihre Freundin Petra, als Nicole am späten Nachmittag zurück in den Bungalow kam. Petra lag auf dem Bett, hatte beide Hände demonstrativ auf den Bauch gedrückt und sah sehr leidend aus.

"Ich habe den Tag auf der Toilette verbracht," informierte sie Nicole, die ihre Tasche in eine Ecke warf, dann da stand und nichts zu sagen wusste. Petra sah sie erwartungsvoll an, aber Nicole konnte sich nicht konzentrieren. Sie griff wieder nach ihrer Tasche, drehte sich um und ging hinaus, sie konnte keine Gesellschaft gebrauchen. Immer noch ohne klaren Gedanken im Kopf spazierte sie den schmalen Pfad zwischen den Palmen hinunter in Richtung Strand, denselben, den sie am Morgen noch so hoffnungsvoll gegangen war, und entdeckte eine Hängematte, die zwischen zwei schlanken Palmen gespannt war. Im Restaurant unten am Wasser aßen einige Leute schon zu Abend. Ein Beduine, der ein Kamel an einer Leine führte, trottete den Strand entlang. Die ersten Lampen wurden angezündet. Es roch nach gegrilltem Fisch, offenem Feuer und Sand. Sie nahm das alles wahr und konnte doch nichts empfinden. Sie wollte niemanden sehen, mit niemandem sprechen, sie konnte nicht einmal sich selbst erklären, was geschehen war. Nicole legte sich in die Hängematte, verschränkte die Arme hinter den Kopf und starrte hoch in die Palmenblätter, die zusammen mit der leichten Brise ein sanftes Konzert gaben. So blieb sie den Rest des Abends und die halbe Nacht liegen. Sie konnte einfach nicht aufstehen, sie war unendlich erschöpft von der Aufgabe des Überlebens, und die Knie waren immer noch so weich, dass sie zu keinem Schritt fähig gewesen wäre. Sie lag nur da, starrte die Umrisse der Palmenblätter über ihren Kopf an, hörte dem Wispern der Insekten und dem Murmeln der Menschen zu. Hin und wieder fuhr irgendwo im Hintergrund ein Wagen vorbei und erleuchtete ihre dunkle Ecke für einen Moment. Manchmal kam jemand auf dem Pfad vorbei, grüßte sie und ging dann seiner Wege. Aber Nicole konnte sich nicht auf die Gegenwart konzentrieren. Im Kopf ging sie immer wieder diesen zweiten Tauchgang durch, ohne dass sich das drückende Gefühl in ihrer Brust lösen ließ.

Auch beim zweiten Tauchgang war sie hinter der Gruppe geblieben, war etwas tiefer als die anderen auf fünfundzwanzig Meter gegangen, was bei der großartigen Sichtweite und ihrem niedrigen Luftverbrauch kein Problem gewesen war. Der Hang zum Strand hin stieg sanft an und war komplett mit Korallen zugewachsen. Es sah aus wie eine riesige grüne Wiese, nur war sie voller kleiner Höhlen und Nischen, in denen sich Fische, Muränen und Garnelen gut verstecken konnten. Nicole stellte sich ab und zu auf den Kopf, damit ihre Flossen keine der empfindlichen Korallen abbrechen konnten, und guckte unter Korallentafeln und Überhänge. Dann entdeckte sie in dem Labyrinth von Weich- und Hartkorallen eine Kopfschildschnecke, die im Roten Meer einzigartig war.

Nicole liebte Meeresnacktschnecken wegen ihrer bunten und bizarren Formen, und diese Art hatte sie noch nie gesehen. Es war eine kleine, samtschwarze Schnecke, deren langgezogener Körper mit einigen blitzblauen Punkten verziert war. Ihr Kopf war wie bei einem Hammerhai rechteckig ausgeformt und das Ende des Körpers lief in zwei ungleich langen Schwänzen aus.

Entzückt verfolgt Nicole den Weg der Schnecke und vergaß für eine kleine Weile alles andere um sich herum.

Als sie sich endlich wieder in die Horizontale begab, bemerkte sie, dass ihre Tauchgruppe verschwunden und auch sonst niemand zu sehen war. Sie machte sich keine Sorgen, die anderen konnte nicht weit sein, vielleicht waren sie nur hinter einem größeren Felsen verschwunden, der in all den Korallen nicht hervorstach. Nicole stieg etwas auf, um einen besseren Überblick zu bekommen, drehte sich suchend im Kreis herum, aber sie konnte weder Luftblasen noch bunte Flossen ausmachen. Immer noch war sie nicht beunruhigt, schließlich war sie eine erfahrene Taucherin, eher verspürte sie Ärger über sich selbst. Sie hatte die Grundregel, nie alleine zu tauchen, gebrochen und weder auf die Gruppe noch auf den Tauchführer geachtet. Said würde sauer sein, wenn sie später als die anderen aus dem Wasser kam oder ganz woanders auftauchte. An einem Saumriff kann man eigentlich nicht verloren gehen, dachte Nicole, man taucht an einer Seite entlang und kommt denselben Weg nur auf geringerer Tiefe wieder zurück. Aber jetzt musste sie zugeben, dass sie die Orientierung verloren hatte. Sie musste wohl oder übel den Hang entlang aufsteigen, dann in der Nähe des Strandes den Kopf aus dem Wasser stecken und nachsehen, wie weit sie vom Lagerplatz und den Restaurants entfernt war. Dann konnte sie dorthin tauchen oder schwimmen. Ganz einfach. Unangenehm, blöd, aber kein Problem.

Durch den Aufstieg entfernte sie sich ziemlich weit vom Riff und schwebte jetzt im offenen Wasser zwischen Boden und Oberfläche. Sie wollte gerade wieder näher an das Riff heran schwimmen, als sie plötzlich eine Kraft spürte, die sie vom Riff weg hinaus ins offene Meer zog. Hinaus und hinunter zog. Es ging rasend schnell abwärts, ihre Ohren schmerzen, obwohl sie ununterbrochen Druckausgleich machten. Nicole schlug kräftig mit den Flossen, aber das hatte keinerlei Effekt auf die Sogwirkung. Ihre tollen Flossen, mit denen sie in der Mittagspause noch angegeben hatte, waren zu weich, um bei der starken Strömung eine große Hilfe zu sein. Nach ein paar Sekunden Verwunderung wurde ihr klar, was sie nach unten zog: Eine Rissströmung! Die kamen unvermutet und waren immer stark.

"Unmöglich!", dachte Nicole, "doch nicht hier!", während es um sie herum dunkler wurde, und das Sonnenlicht hinter den Wassermassen verschwand. Nicole kämpfte darum, den Kopf oben zu behalten, schon waren Riff und Oberfläche verschwunden und das große, hungrige Maul des Meeres schluckte sie, so schnell, dass sie nicht einmal mehr ihre eigenen Luftblasen sehen konnte. Sie sah nur mehr graugrünes Nichts, oben und unten waren dasselbe, sie fand keinen Bezugspunkt mehr. Panisch griff Nicole nach ihrem Tiefenmesser, und versuchte zu erkennen, wie tief sie schon war, aber sie konnte keine Ziffern ausmachen, vor ihren Augen erschien alles doppelt und dreifach. Der Instinkt riet ihr, sofort an die Oberfläche zurückzukehren, zu Luft und Licht, ihre Hand fuhr zum Ventil der Tarierjacke. Wenn sie das drückte, füllte sich die Jacke mit Luft, und das würde sie nach oben schießen lassen wie einen Sektkorken. Ging der Aufstieg jedoch zu schnell vor sich, könnte sie das töten. Durch die Tauchgänge hatte sich Stickstoff in ihrem Gewebe angesammelt, der sich wie die Luft in ihrer Tarierjacke bei nachlassendem Wasserdruck genauso ausdehnen würde. Die dabei entstehenden Blasen konnten die Blutversorgung in den Lungen, im Herz oder auch im Gehirn blockieren, und selbst wenn sie das überlebte, könnte sie Lähmungen oder Gehirnschäden davontragen. Davor war sie in ihrem Rettungstauchkurs ausdrücklich gewarnt worden, und deswegen bezwang sie jetzt mit größter Willensanstrengung die instinktive Reaktion, auf der Stelle dem Druck und der zunehmenden Dunkelheit zu entkommen. Sie ließ nur soviel Luft in die Jacke, wie nötig war, um die Abwärtsbewegung zu stoppen und versuchte dann, seitlich wegzutauchten. Sie paddelte so kräftig wie möglich und versuchte trotzdem langsam und flach zu atmen, obwohl ihr Herz wie ein Hammer gegen ihre Rippen schlug. Es ging nach oben, langsam, aber doch. Wie sie es gelernt hatte, ließ sie stetig ein wenig Luft aus der Jacke, damit die sich ausdehnende Luft entweichen konnte, und die Tarierjacke sich nicht aufblähte wie ein Ballon und sie zu schnell nach oben zog. Es ging langsam, aber wenigstens wurde es wieder ein wenig heller. Sie hatte das Gefühl eine Kosmonautin im Weltall zu sein. Sie konzentriert sich mit aller Willenskraft darauf, nicht viel Luft zu verbrauchen und kontrolliert nach oben zu gelangen. Wie lange ging das jetzt schon, eine Minute, zehn? Sie hatte keine Ahnung, hielt den Blick fest nach oben in Richtung Lichtschein gerichtet, streckte wie Superman einen Arm nach oben aus, ballte die Hand zu einer Faust und kämpfte sich weiter schräg nach oben. Sie konnte nicht sagen, ob sie schnell oder langsam unterwegs war.

Die Strömung war immer noch spürbar, jetzt aber bedeutend schwächer. Nicole konzentrierte sich auf den Lichtpunkt, der die Sonne sein musste und langsam näher kam. Sie erlaubte sich nicht, sich erleichtert zu fühlen, denn sie wusste, es war noch nicht geschafft, es war machbar, aber noch nicht vorbei.

Sie musste die Kontrolle behalten, wieder sah sie auf ihrer Konsole, um Zeit, Tiefe und Sauerstoff zu überprüfen. Sie konnte die Anzeige wieder lesen und sah, dass sie auf fünfundzwanzig Meter war und noch dreißig Bar Luft hatte.

Das war sehr wenig, normalerweise beendete man einen Tauchgang mit fünfzig Bar, aber sie musste jetzt mit dem Wenigen auskommen. Nicole versuchte, noch flacher zu atmen, die Luft sehr langsam aus den Lungen zu lassen, und sich nicht zu sehr anzustrengen. Sie hatte den Aufstieg unter Kontrolle, hatte ihre Atmung unter Kontrolle, hatte sich unter Kontrolle.

Das allein rettete ihr an diesem Tag das Leben. Während sie auf diese Weise aufstieg, drehte sie sich langsam um sich selbst, um irgendeinen Anhaltspunkt zu finden. Aber da war nichts, gar nichts. The Big Blue nannte man das auf Englisch. Das große Blau war hier ein großes Graugrün, ohne oben und unten, ohne vorne oder hinten, ein Weltall aus Algen und Grill, es gab keine Kontur, keine Linie oder Form, an der sie sich hätte festhalten können. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie erst wenige Minuten so trieb, aber es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Es schien ihr, als schwebe sie schon seit unendlichen Zeiten im luftleeren Raum, und David Bowie begann in ihrem Kopf zu singen:

I'm sitting in a tin can,

far above the world.

Planet Earth is blue

and there is nothing I can do.

Damit sie nicht wie Major Tom einfach davon schwebte, kontrollierte sie wieder Tiefenmesser und Sauerstoff, sie hatte nur sich selbst als Bezugspunkt, fünfzehn Meter und zehn Bar.

Das war nicht genug Luft, um einen Sicherheitsstop einzulegen, sie musste jetzt den Aufstieg vollenden, bevor ihr die Luft ausging. Da sie nicht wusste, wie tief sie gewesen war, bestand immer noch die Gefahr, die Dekompressionskrankheit zu bekommen, aber sie katte keine Wahl.

Dann war die Luft zu Ende und sie durchbrach die Wasseroberfläche, riss sich den Lungenautomaten aus dem Mund und nahm glückselig einen tiefen Atemzug. Frische Luft, die nach Algen, Salz und Sand schmeckte. Hektisch zog sie die Taucherbrille vom Gesicht, vorschriftsmäßig nach unten, damit sie um den Hals hing und nicht verloren gehen konnte, sogar daran erinnerte sie sich. Sie nahm noch ein paar tiefe Atemzüge, Luft hatte noch nie so gut geschmeckt. Dann blies sie mit dem Mundstück die Tarierjacke auf, damit sie sich auf den Rücken legen und ausruhen konnte. Ein erbarmungslos blauer, strahlender Himmel sah auf sie herab, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Erst als sie wieder normal atmen konnte, ging sie in die Vertikale und sah sich um.

Die Küste war weit weg, aber erreichbar, so glaubte sie zumindest. Jetzt musste man sie nur noch finden. Sie warf die Arme hoch und begann zu schreien. Eine Welle hob sie hoch und sie konnte einige Figuren am Strand erkennen. Der Wagen, mit dem sie gekommen waren, glänzte in der Sonne. Warum bloß hatte sie ihre knallorange und aufblasbare Rettungsboye in ihrer Tauchkiste gelassen? Sie hatte nicht gedacht, das Ding hier bei einem Küstentauchgang zu benötigte. Man dachte nie an das Schlimmste. Glücklicherweise wurde sie nun von einem leichten Wind in Richtung Küste getrieben. Das half ihr, weiter in diese Richtung zu schwimmen. Immer wieder warf sie die Arme hoch und rief um Hilfe. Bitte, bitte, bemerkt mich, betete sie ununterbrochen. Sie fühlte keine Müdigkeit oder Verzweiflung, nur den brennenden Wunsch an Land zu kommen. Zu ihrem Glück trug der Wind auch ihre Stimme über das Meer. Endlich entdeckte die Tauchgruppe Nicole, die kleinen Gestalten am Strand winkten plötzlich aufgeregt in ihre Richtung. Nicole war sicher, dass es Said gewesen war, der sie zuerst entdeckt hatte. Erleichtert legte sie sich wieder auf den Rücken und ruhte sich etwas aus, jetzt etwas ruhiger, sie wusste, man würde sie retten. Langsam paddelte sie weiter in Richtung Land und fühlte allmählich, wie sich Erschöpfung in ihren Muskeln breit machte. Sie konnte immer noch nicht ganz begreifen, was passiert war, sie dachte nur daran, weiterzukommen und endlich festen Boden unter den Füßen zu spüren. Nach etwa einer halben Stunde war sie der Küste so nahe gekommen, dass Said mit zwei Männer der Gruppe ins Wasser sprang und zu ihr hinaus schwamm. Weil sie ziemlich weit nach Süden abgetrieben war, hatten sie mit dem Wagen ein Stück hinterher fahren müssen. Die Sonne war schon hinter den Bergen untergegangen, über Saudi Arabien zog die Abenddämmerung herauf.

Das letzte Stück zogen die Männer Nicole in Richtung Strand und hoben sie schlussendlich aus dem Wasser wie einen nassen Hund. Sie halfen ihr aus der Ausrüstung, Nicoles Hände zitterten so sehr, dass sie das nicht selbst tun konnte.

"Wie geht es dir? Alles ok?“, fragte ein jeder alle paar Minuten, und sie antwortete:

"Ja, ja, alles ok, ich bin ok, eine Rissströmmung, einfach unglaublich, zog mich einfach weg, zog mich runter, konnte nichts machen."

Sie war unendlich dankbar, als sie sich trockene Kleider anziehen konnte. Ihre Zähne klapperten, während sie immer wieder "danke, danke" murmelte und immer wieder von der Rissströmung redete. Said nahm sie in den Arm und beruhigte sie, indem er ihr über das Haar strich und „Alḥamdulillāh ist alles gut gegangen" sagte. Sie konnte kaum alleine gehen, er musste sie stützen und ihr helfen, auf den Vordersitz des Wagens zu klettern. Die ganze Rückfahrt über hielt er sie im Arm, wo sie vor Erschöpfung fast eingeschlafen wäre, und die bergige Landschaft wie in einem Traum an ihr vorbeizog. Erst als sie zurück in der Tauchschule waren, kam wieder Leben in sie. Sie versicherte allen, es gehe ihr gut, und um das auch zu beweisen, wusch sie ihr Tauchzeug selbst aus und hängt es auf, obwohl ihre Knie wackelig waren, und Said anbot, es für sie zu tun. Niemand machte ihr Vorwürfe, keiner sagte, es wäre ihr Fehler gewesen, aber mittlerweile war ihr die Angelegenheit so peinlich, dass sie am liebsten im Erdboden versunken wäre. Sie sagte die Tauchgänge für den nächsten Tag ab und erklärte, sie hätte einen Ruhetag nötig. Said begleitete sie zurück zu ihrem Bungalow und versprach, am nächsten Tag nach ihr zu sehen.

Petra lag mit Durchfall im Bett und sah verschwitzt und leidend aus, aber Nicole konnte kein Mitgefühl aufbringen.

Jetzt in der Hängematte lief das Erlebte immer und immer wieder wie ein Film in ihrem Kopf ab, und ihr wurde Stück für Stück klar, wie nahe sie dem Tod gekommen war, und zwar tatsächlich, nicht nur in Gedanken.

Auch den nächsten Tag lungerte sie fast den ganzen Tag in der Hängematte oder im Restaurant herum, versteckte sich hinter einem dicken Schmöker und sprach mit keinem mehr als das Nötigste. Sie hatte weiterhin keine Lust, Petra zu erzählen, was passiert war. Petra war seit Jahren ihre beste Freundin, hatte aber einen Hang zur Dramatik, und das konnte Nicole im Moment nicht gebrauchen. Petra, der es nach dem Darmvirus wieder besser ging, wollte etwas unternehmen und konnte nicht verstehen, warum Nicole plötzlich so abweisend und schlecht gelaunt war. Nur über Saids Besuch am späten Nachmittag freute sich Nicole.

"Na, wie geht es dir?“, fragte er besorgt.

"Ok," sagte sie betont fröhlich, „immer noch etwas erschöpft.

Ich weiß nicht, ob ich morgen schon tauchen will," fügte sie schnell dazu, um seiner Frage zuvor zu kommen.

"Bist du zu müde, um heute Abend was trinken zu gehen?“,

fragte Said mit einem sanften Augenaufschlag.

Nicole sah ihn verunsichert an, sagte dann aber zu, weil sie keine Lust hatte, den ganzen Abend in Petras saures Gesicht zu sehen.

Said brachte sie zu einer Party, die an der großen Lagune stattfand, wo einige mit Palmenblätter bedeckte Bambushütten standen. Ein paar Soldaten der UN-Schutztruppe waren da, außerdem junge Beduinen, viele Israelis, die Urlaub machten, und ein paar europäische Aussteiger. Ein großes Feuer brannte, und die meist jungen Leute tranken Bier und billigen Whisky.

Ein Israeli mit einer wunderschönen Stimme spielte Folksongs auf seiner Gitarre, und Nicole glaubt, in einem arabischen Woodstock gelandet zu sein. Die Joints gingen schneller herum als die Bierflaschen, schon bald lehnte sie an Saids Schulter, bei ihm fühlte sie sich sicher. An Einzelheiten konnte sie sich später nicht mehr erinnern, aber sie dachte gerne, dass sie in dieser magischen Nacht ihre Tochter gezeugt hatten und nicht in einer der folgenden Nächten. Am nächsten Morgen wachte sie in einer kleinen Bambushütte auf und das erste, das Said zu ihr sagte, war, sie sei so schön wie der Mond. Sie fand den Vergleich ein wenig albern, aber da war sie schon verliebt.

Während die Sonne aufging und weiches Licht durch die Ritzen der Bambuswände fiel, liebten sie sich leidenschaftlich, und Nicole konnte alles vergessen, worüber sie nicht nachdenken wollte. Said ging nur einmal weg, um kurze Zeit später mit einem Frühstück zurückzukommen. Vor der Hütte mit Blick auf das Meer aßen sie Fladenbrot mit Ziegenkäse und tranken schwarzen Tee. Der Strand vor ihnen glänzte, als hätte jemanden goldenen Glitter darauf verstreut.

Said deutete darauf und sagte:

„Die Ägypter sagen, deswegen heiße unser Dorf Dahab, auf ägyptisch bedeutet das Gold. Aber das stimmt gar nicht. Mein Großvater sagt, die Alten hätten diesen Ort Waquaat Thahaab genannt, das heißt „die Zeit verfliegt“. Die Israelis haben das auf Thahaab verkürzt und dann wurde Dahab daraus.“

Nicole lachte. Die weite Leere, der goldgelbe Sand, das extrem dunkle Blau und intensiv helle Grün des Meeres und Saids begeisterte Augen ließen sie glauben, dass es das war, was sie immer gesucht hatte. Sie war jetzt fest entschlossen, zu Hause alles hinzuschmeißen und so bald wie möglich nach Dahab zurück zu kommen, um hier zu leben. Tatsächlich vergingen die Tage in Dahab wie im Flug. Den Rest des Urlaubes verbrachte sie jede seiner freien Minuten mit Said. Er nahm sie in dem Jeep seines Onkels mit in die Wüste, zeigte ihr kleine, versteckte Oasen und faszinierende Höhlen. Sie war glücklich, einfach so aus der Welt verschwinden und nur mit ihm zusammen sein zu können. Alles war einfach perfekt, nur zum Tauchen hatte sie keine Lust, sie ging nicht einmal schwimmen oder schnorcheln.

"Im Moment nicht," sagte sie zu Said, und er sorgte dafür, dass man ihr tatsächlich einen Teil des schon bezahlten Geldes für die Tauchgänge zurückgab, die sie noch hatte machen wollen.

Mit Petra sprach sie kaum mehr ein Wort, sie schlief sowieso nicht mehr im gemeinsamen Bungalow. Die Rückfahrt zum Flughafen verbrachten die beiden Frauen in seltsamen Schweigen, und das stand im krasse Gegenteil zu der Stimmung auf der Herfahrt, die sie wie aufgeregt kichernde Teenager verbracht hatten.

Am ersten Arbeitstag presste Nicole ständig die Lippen zusammen, damit sie nicht laut schreiend davonlaufen musste.

Die Realität des Alltags war so schrecklich, dass sie sogar ihrem Vater Herbert von ihren Aussteigerplänen erzählte.

Überraschenderweise beschimpfte der sie nicht als dumm und leichtsinnig, sondern schlug stattdessen vor, sie solle zuerst einmal probeweise für ein paar Monate nach Dahab gehen.

"Nimm dir doch den Rest deines Urlaubs und vielleicht auch noch einen Monat unbezahlten Urlaub dazu und sieh dir an, wie es läuft. Eine tolle Woche ist nicht genug Zeit, um eine so weitreichenden Entscheidung zu treffen. Schmeiß jetzt nicht gleich alles hin, du könntest das bitter bereuen.“

Obwohl Nicole nichts lieber tun wollte, als sofort in den nächsten Flieger zu springen, dachte sie, es könnte nicht schaden, ein wenig vernünftig zu sein, und sie stimmte ihrem Vater zu. Ihr Nachgeben hing auch damit zusammen, dass sie von einer seltsamen Lethargie befallen war. Auf eigenartige Weise driftete sie in einer nebeligen Suppe, und Dahab erschien immer mehr wie ein Traum, der langsam in weiter Ferne zu verschwinden drohte. Zwar redete sie weiterhin davon und glaubte es auch selbst, bald aufzubrechen, aber sie buchte keinen Flug, kündigte nicht, bat nicht einmal um Sonderurlaub, sondern hoffte, der nahende Jahreswechsel würde sie von dieser Lähmung befreien. Sie schob ihre Entschlussunfähigkeit auf die fehlende Sonne, auf den frustrierenden Alltag und träumte davon, wie Dahab und Said sie mit einem Schlag gesund und lebendig machen könnten, wenn sie nur erst mal dort hinkam. Auch die wöchentlichen Telefongespräche mit Said entfachten in ihr keine feurige Entschlossenheit, das wunderbare Dahabgefühl von Leichtigkeit und Glück wollte einfach nicht zurückkommen. Es fiel ihr schwer, das Bild von der Strohhütte am Wüstenboden mit dem kleinkarierten Wohnzimmer ihres Vaters in Einklang bringen. Said war dort, sie war hier, dazwischen lagen Welten.

Als ihre Periode nicht kam, schob sie das zuerst auf die Reise und die Klimaveränderung, dann wurde ihr jeden Morgen übel, und sie ekelte sich plötzlich vor Milchprodukten. Acht Wochen nach ihrer Rückkehr rang sie sich trotz ihres schwummrigen Zustands zu einem Schwangerschaftstest durch, obwohl er unsinnig erschien, nahm sie doch seit Jahren die Pille. Als das kleine Fenster am Teststreifen tatsächlich zwei blaue Striche zeigte, was der Anleitung nach ein positives Ergebnis bedeutete, musste sie minutenlang darauf starren, bis ihr die Reichweite dieser Anzeige klar wurde. Sie wusste nicht, ob sie glücklich oder schockiert sein sollte, und hoffte immer noch, der Test könnte falsch sein, bis die Frauenärztin einige Tage später das Ergebnis bestätigte.

"Was möchten Sie jetzt tun?“, fragte die junge Ärztin vorsichtig. "Darf man gratulieren?"

"Ja," sagte Nicole, ohne darüber nachzudenken. Ja, sie wollte dieses Baby, diese Frucht ihrer romantischen Wüstenliebe, obwohl das nicht der Plan gewesen war. Aber sie konnte ja immer noch mit dem Kind nach Dahab ziehen, denn Said reagierte so enthusiastisch auf die Nachricht, Vater zu werden, dass sie das Gefühl bekam, die Schwangerschaft sei die Krönung ihrer Liebe, und alles würde wunderbar werden. Sie war nicht begeistert von seiner Idee, so schnell wie möglich zu heiraten, damit er nach Deutschland kommen konnte, wo sie auf keinen Fall bleiben wollte. Es war schwierig, Said das zu erklären.

"Wovon sollen wir denn leben, wenn das Kind da ist und du noch kein Geld verdienen kannst?“, fragte sie, irritiert von seiner Naivität. "Mein Vater kann keine drei Leute durchfüttern."

"Warum nicht?“, fragte Said erstaunt. "Ihr seid doch reich.

Meine Familie würde selbst das Wenige, das sie haben, mit uns teilen."

"Wir sind doch nicht reich," widersprach Nicole. "Wie kommst du darauf?

"Na, du warst doch auf der Universität. Nur reiche Leute können ihre Töchter auf die Universität schicken," erklärte Said.

Er wollte ihr nicht glauben, dass in Europa auch Kinder von kleinen Beamten an der Universität studieren konnten. Sie gerieten fast in Streit darüber, weil sie ihm kein Flugticket bezahlen wollte, damit er zu ihr kommen konnte.

„Wir haben ja noch Zeit, eine Lösung zu finden,“ sagte sie, „ich komme erst mal nach Dahab und dann sehen wir weiter.“

Jetzt hatte sie Energie genug, um einen Flug zu buchen, und im fünften Monat schwanger flog sie zurück nach Ägypten und plante, zwei Monate zu bleiben. Diesmal jedoch war alles anders.

Sie konnte ihr magisches Dahab nicht wieder finden, obwohl alles genauso aussah wie vorher. Vielleicht lag es daran, dass sie weder Alkohol trinken noch Haschisch rauchen konnte. Die Realität war schlichtweg ernüchternd.

Said war sehr verliebt, stolz auf Nicoles wachsenden Bauch, doch der Schmutz, die Ziegen, die Kakerlaken und seine Familie, die ständig um sie herum waren, war etwas, das Nicole nur mit Mühe ertragen konnte. Saids Eltern Sahel und Basma waren nette Leute, aber sie sprachen kein Englisch und die Unterhaltungen mit ihnen beschränkten sich auf Handzeichen. Es gab kein fließendes Wasser, nur einen Brunnen, und das Essen bestand aus eintönigem Reis und Fisch oder manchmal Hähnchen. Es störte sie jetzt, dass Said ständig Joints rauchte und Freunde mitbrachte, die die ganze Nacht vor der Hütte saßen, Tee tranken, redeten und kifften. Sehr bald stritt sie mit Said um Geld, darum, wo sie leben sollten und darüber, wo das Baby zur Welt kommen sollte.

Said wollte, dass das Kind im Haus seiner Familie geboren wurde, es würde das erste Enkelkind sein. Er erklärte, wenn sie die Geburt in Kairo auf der Botschaft registrieren würden, könnten sie dort auch gleich heiraten und ein Visum für ihn beantragen.

Aber Nicole erschien das immer absurder und ihr graute vor der Idee, das Kind in Dahab zu bekommen, wo es nicht einmal einen Arzt gab.

"Die Frauen meiner Familie haben seit Jahrhunderten Kinder ohne Arzt auf die Welt gebracht," sagte Said hochfahrend in einer dieser Auseinandersetzungen.

"Und wie viele sind dabei gestorben?“, frage Nicola aufgebracht.

"Du hast keinen Respekt vor meiner Familie," schnauzte Said sie an und lief davon, bevor sie noch etwas erwidern konnte.

Nicole konnte sich nicht erklären, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, lernte aber, den Mund zu halten, wenn er in dieser aggressiven Stimmung war. Manchmal sah er aus, als wolle er sie schlagen und täte es nur nicht, weil sie schwanger war.

Mit der Zeit wurde ihr klar, dass Said irgendwie manischdepressiv sein musste und sein Gemütszustand von einer Sekunde zur anderen kippen konnten. Manchmal war es, als würde sich Clark Kent in Hulk verwandeln und dann alles kaputt machen, was sich ihm in den Weg stellte. Die Idee, er könnte mit ihr zurück nach Deutschland fliegen, verursachte ihr mittlerweile Bauchschmerzen, und sie war froh, dass er sich kein Flugticket leisten konnte. Sie log ihm vor, sie hätte auch nicht genug, um ihm den Flug zu bezahlen, was ihn sehr wütend machte. Dann sprach er wieder vom Reichtum ihres Vaters und beanstandete dessen mangelnde Unterstützung. Es blieb ihm auch unverständlich, warum sie sich so gegen eine Heirat spreizte, die sei doch das einzig Richtige in dieser Situation.

Aber sie wollte dieses Richtige nicht tun. Schon nach einem Monat buchte sie ihren Rückflug um, und diesmal war sie froh, Dahab verlassen zu können und im Taxi nach Sharm el Sheik zu sitzen. Sie hatte Atembeschwerden und Panikgefühle, die sich ein wenig legten, als sie zu Hause ankam. Was hatte sie sich nur gedacht? Wie naiv war sie gewesen zu denken, in Dahab ein Kind aufziehen zu können. Aber im siebten Monat war es zu spät, ihre Meinung über das Kind zu ändern. Kurz überlegte sie, es zur Adaption freizugeben, aber dann bot ihr Vater nicht nur finanzielle, sondern auch tatkräftige Unterstützung an, und Nicole behielt das Kind. Jasmin kam an einem milden Frühsommermorgen ohne große Komplikationen zu Welt, und der stolze Großvater hielt die ganze Zeit Nicoles Hand. Said klang am Telefon ein wenig enttäuscht, als sie ihm sagte, dass sie eine Tochter hatten. In den ersten Jahren, als Jasmin noch klein war, flog Nicole noch zweimal nach Dahab, immer in der Hoffnung, etwas von ihrem traumhaften Dahab wiederzufinden - und auch weil sie ihrer Tochter den Vater nicht vorenthalten wollte. Doch jedesmal fuhr sie mit dem Gefühl weg, einer Falle entkommen zu sein. Said, aber auch die anderen Leute in Dahab kamen ihr von Mal zu Mal seltsamer vor. Die lebten total abgehoben in einer anderen Welt, in die sie als Mutter keinen Zutritt mehr hatte.

Dahabianer waren immer high vom Haschisch oder vom Tauchen oder von beidem und hatten kein Bedürfnis, von Problemen wie einem Kindergartenplatz und Steuererklärungen zu hören.

Der letzte Besuch war nicht als solcher geplant. Als Jasmin älter wurde, konnte sich Nicole einfach nicht mehr dazu überwinden, erneut einen Flug zu buchen. Sie fand immer neue Ausflüchte, zu wenig Geld, zu wenig Zeit, Ägypten sei zu heiß im Sommer, ihr wurde keinen Urlaub genehmigt. Die Telefongespräche mit Said wurden immer schwieriger, er schrie sie an, drohte, konnte aber gegen ihre Entscheidung, nicht mehr auf Besuch zu kommen, nichts machen. Schließlich nahm sie die Anrufe nicht mehr an, weil jedes Gespräch sie nur mehr deprimierte.

Nicoles Welt bestand jetzt aus das Kind füttern und sauber machen, genug Schlaf bekommen, genug Geld verdienen und eine gute Mutter sein. Auf eine unerwartete Art fand sie dieses Leben befriedigend, und als alleinerziehende Mutter hatte sie sowieso keine Zeit zum Nachdenken oder Traurigsein.

Stattdessen bereicherte das Kind ihr Leben auf ganz besondere Weise, und Nicole versöhnte sich mit dem Gedanken, nie viel von der großen Welt gesehen zu haben.

Sie liebte dieses hilflose kleine Wesen, das Saids dunklen Haare und Augen geerbt hatte, wie sie noch nie etwas in ihrem Leben geliebt hatte. Nachdem sich ihr Leben zwischen Routine und Hingabe an die Bedürfnisse des Kindes einpendelt hatte, vermisste Nicole nichts, im Gegenteil, sie hatte sogar das Gefühl, erwachsen geworden zu sein.

Es war schön zu sehen, wie es ihrem Vater als einzigen alten Mann nichts ausmachte, am Kinderspielplatz zu sitzen und auf seine Enkelin aufzupassen. Auf seltsame Art und Weise brachte das Baby Nicole ihrem Vater näher. Sie lebten in seinem Haus, bis er viel zu jung an Krebs starb. Da war Jasmin neun, und sie betrauerte den Verlust ihres geliebten Opas eine lange Weile.

Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters lernte Nicole Willy kennen, der auch eine kleine Tochter hatte und dessen Frau bei einem Unfall umgekommen war. Es war keine wilde Romanze, aber sie fand in ihm einen netten, verlässlichen Partner, die Mädchen wurden Schwestern, und von da an bezeichnete sich Nicole als rundherum glücklich. Die Jahre verliefen gemächlich, sogar Jasmins Pubertät ging ohne großes Drama vorbei, bis es – sechs Monate lag das jetzt zurück – zu einem schrecklichen Streit zwischen Jasmin und Nicole gekommen war. Ihre fast erwachsene Tochter hatte nicht nur dieselben dunklen Locken wie ihr Vater, sondern auch dessen Temperament, und sie bestand auf einmal darauf, ihn kennenlernen zu wollen.

"Ich habe ein Recht darauf zu wissen, wer er ist," rief sie aufgebracht bei dieser Auseinandersetzung. "Ich kann mich nicht an ihn erinnern, ich war zu klein. Ich will sehen, wie er lebt, ich will diesen Teil meiner Familie kennenlernen. Er ist auch ein Teil von mir. Vielleicht habe ich sogar Halbgeschwister. Ich werde dort hinfahren, und zwar noch dieses Jahr!"

"Du fährst da auf keinen Fall alleine hin," schrie Nicole ungewohnt laut zurück und verkrampfte die Hände an der Kante des Tisches, an dem sie eben noch friedlich Kaffee getrunken hatten. Sie saßen in ihrer biederen weiß-blauen Küche in einem 70er-Jahre-Bau am Stadtrand von Hannover, und Nicole konnte sich Jasmin einfach nicht in einem Strohbungalow oder unverputzten Betonhaus am Sinai vorstellen. Gerade noch hatten sie über den Schulabschluss gesprochen, und diskutiert, ob Jasmin sich eine Auszeit für eine längere Reise nehmen sollte, bevor sie auf die Universität ging.

Grundsätzlich befürwortete Nicole diese Idee, aber sie hatte an Australien oder die USA gedacht und sicher nicht an Ägypten!

"Das ist kein Land, das man als Frau so einfach alleine bereist, vor allem, wenn man so jung ist wie du!"

"Du bist altmodisch! Und eine Heuchlerin," gab Jasmin fauchend zurück. "Du warst kaum älter als ich, als du durch die Welt gezogen bist, und das war vor fast zwanzig Jahren. Wie kannst du mir das verbieten wollen?“

"Ich bin durch Europa gereist und war in Südostasien. Damals war das alles noch viel sicherer.“

"Pffff," machte Jasmin verächtlich.

"Ich erlaube auf keinen Fall, dass du allein nach Ägypten gehst," sagte Nicole bestimmt.

"Dann komm doch mit," sagte Jasmin und schoss eine blanke Herausforderung aus den großen dunklen Augen ab.

Mitkommen. Nach Dahab. Was für eine verrückte Idee!

Nicole hatte einige Jahre nach Jasmins Geburt gehört, Said habe geheiratet und sei Vater einiger Kinder geworden. Jasmin hatte immer bedauert, ein Einzelkind zu sein und hatte die Bereicherung durch die Stiefschwester begrüßt, doch Nicole hatte ihr nie von den ägyptischen Halbgeschwistern erzählt. Sie hatte Angst, sie könnte ihre Tochter an diese fremdartigen Welt verlieren. Natürlich war das Blödsinn, aber mit den Jahren hatte Nicole eine Abneigung gegen arabische Länder und den Islam entwickelt. Ihre früher so offen zur Schau getragene Toleranz war nur eine dünne Lackschicht gewesen, die mit den Jahren und der Medienberichterstattung nach dem 11.

September 2001 abgeblättert war.

Aus diesem Grund sagte sie entschieden: "Nein!"