Damals war es Friedrich - Hans Peter Richter - E-Book

Damals war es Friedrich E-Book

Hans-Peter Richter

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Beschreibung

Freundschaft im Nationalsozialismus Zwei Jungen wachsen im selben Haus auf und gehen in dieselbe Schulklasse. Jeder wird als einziges Kind von verständnis- und liebevollen Eltern erzogen. Selbstverständlich werden sie Freunde und jeder ist in der Familie des anderen daheim.   Doch Friedrich Schneider ist Jude und allmählich wirft der Nationalsozialismus seine Schatten. Friedrichs Freund, der bis zuletzt an ihm hängt, kann ihm immer weniger zur Seite stehen, da er selbst den Zwängen seiner Zeit ausgeliefert ist. Langsam gleitet die Geschichte aus der heilen Kinderwelt in ein unfassbares Dunkel.

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Hans Peter Richter

Damals war es Friedrich

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Damals waren es die Juden …

Heute sind es dort die Schwarzen,

hier die Studenten …

Morgen werden es vielleicht die Weißen,

die Christen oder die Beamten sein …

Vorgeschichte

Irgendwer hatte ihn Polykarp getauft. Und diesen Namen behielt er, solange er unseren Vorgarten beherrschte.

Zu einer grünen Hose und einer roten Weste trug Polykarp eine blaue Zipfelmütze. Seine linke Hand steckte in der Hosentasche, mit der rechten umfasste er eine lange Pfeife. So stand er mitten auf dem Rasen und blickte über den Vorgarten wie jemand, der seinen Feierabend genießt.

Polykarp verließ seinen Platz nie. Wuchs das Gras zu hoch, verwehrte es ihm die Sicht auf die Dahlien am Gartenzaun, dann kroch die Frau des Hausbesitzers auf den Knien mit der Rasenschere über die kleine Wiese und schnitt die Halme bis auf Streichholzlänge ab.

Herrn Resch, den Hausbesitzer selber, sah man nur an hohen Feiertagen, wenn schönes Wetter war. Langsam schritt er bis zur Mitte seines Vorgartens. Seine Frau brachte ihm rasch einen Stuhl nach und schnaufend setzte er sich neben Polykarp, seinen Gartenzwerg. Genau eine Stunde blieb der dicke Herr Resch auf dem Stuhl sitzen. Er schaute auf die Straße und musterte die Vorübergehenden. Dann erhob er sich, umkreiste einmal Polykarp und begab sich prustend wieder in sein Haus. Bis zum nächsten Feiertag beobachtete er Polykarp, den Vorgarten und die Straße nur vom Fenster aus.

Herr Resch war nicht bloß Hausbesitzer. Als Vertreter für Badeanzüge hatte er angefangen. Mit den Jahren war ihm der Aufstieg zum Großhandelsvertreter gelungen. Nun ließ er andere für sich arbeiten. Er selbst saß am Fernsprecher und leitete seine Geschäfte von dort aus. Endlich durfte er herrschen – und er ließ es jeden spüren: Sein Haus war sein Herrschaftsbereich; Vertreter und Hausbewohner waren seine Untertanen.

Wir wohnten im ersten Stock. Oder nein, meine Eltern wohnten damals im ersten Stock. Mein Vater war arbeitslos und wollte schon die Wohnung bei Herrn Resch gegen eine kleinere eintauschen, als ich mich anmeldete.

Im Jahre 1925 hatten die meisten Deutschen keine Ersparnisse mehr, denn eben erst war die Geldentwertung überstanden. Bald eine lohnende Beschäftigung zu finden, dafür bestanden geringe Aussichten. Not und Arbeitslosigkeit nahmen überall zu.

So machten sich meine Eltern noch mehr Sorgen, als ich zur Welt kam: Auch ich wollte essen und musste angezogen werden.

Genau eine Woche nach meinem Geburtstag wurde Friedrich Schneider geboren. Schneiders wohnten im gleichen Haus, eine Treppe höher. Herr Schneider war Beamter bei der Post. Meine Eltern kannten ihn wenig. Er grüßte freundlich, wenn er morgens zu seiner Dienststelle ging, und er grüßte ebenso freundlich, wenn er abends nach Hause zurückkam; nur gelegentlich wechselte man einige Worte.

Frau Schneider, eine kleine dunkelhaarige Frau, sah man noch seltener. Sie kaufte ein oder putzte ihre Treppe und verschwand gleich darauf wieder in der Wohnung. Wem sie begegnete, den lächelte sie an, aber sie blieb nie auf der Straße stehen. Erst nachdem Friedrich und ich so kurz nacheinander anrückten, kamen unsere Eltern sich näher.

Reibekuchen

Mutter und ich saßen noch beim Frühstück, als Frau Schneider klingelte. Sie musste im Rathaus vorsprechen. Während dieser Zeit wollte sie Friedrich nicht allein in der Wohnung lassen und mitnehmen mochte sie ihn auch nicht. Sie fragte an, ob er zu uns kommen dürfe.

»Bringen Sie ihn nur«, sagte meine Mutter, »dann können die beiden hier miteinander spielen.«

Eine halbe Stunde später stand Friedrich in der Tür. Wir kannten uns, wir hatten schon miteinander gezankt, aber obgleich er nun schon vier Jahre über uns lebte, war Friedrich noch nie in unserer Wohnung zu Besuch gewesen.

Breitbeinig stellte ich mich vor das Zimmer, in dem meine Spielsachen lagen. Die Ermahnungen meiner Mutter halfen nichts; ich wich nicht von der Stelle. Feindselig betrachtete ich Friedrich: Ich wollte meine Spielsachen nicht mit ihm teilen.

Friedrich schaute mich an, dann hockte er sich mit dem Rücken gegen die Flurtür. Aus der Hosentasche zog er ein spannenlanges Aststückchen. »Mein Vater war im Schwarzwald«, sagte er, »von dort hat er mir die Flöte mitgebracht. Es ist eine Kuckucksflöte!« Friedrich setzte die Flöte an und blies einmal »Kuckuck«. Darauf nahm er sie wieder aus dem Mund und lachte mich an. Dann wiederholte er das Spiel.

Jedes Mal, wenn Friedrich sein »Kuckuck« blies, rückte ich einen Schritt näher, bis ich dicht vor ihm stand.

Friedrich lachte wieder und drückte mir die Kuckucksflöte in die Hand.

Zunächst verstand ich nichts. Stumm und dumm starrte ich Friedrich an. Dann begriff ich. Wortlos fasste ich ihn beim Rockärmel, zog ihn über den Flur und schob ihn durch die Tür bis zu meinen Spielsachen. »Du darfst damit spielen«, sagte ich. Nur meinen Bären rettete ich. Mit ihm verkroch ich mich in die Ecke neben meinem Bett. Dort begann ich »Kuckuck« zu blasen, immerfort »Kuckuck«.

Friedrich packte zuerst meinen Baukasten aus. Er versuchte alle Klötze zu einem Turm aufeinanderzusetzen. Aber der Turm stürzte immer wieder ein. Anfangs machte das noch Spaß, er lachte laut darüber; dann wurde er ärgerlich und begann mit den Holzwürfeln zu schimpfen; schließlich warf er selber alles um und suchte sich ein anderes Spielzeug. Er fand meinen Lastwagen. Nun stapelte er die Klötze auf die Ladefläche und den Anhänger. Mit dem voll beladenen Fahrzeug kurvte er durch das Zimmer.

Inzwischen hatte ich das »Kuckuck«-Rufen überbekommen. Vom ungewohnten Blasen tat der Unterkiefer mir weh. Ich legte die Flöte beiseite und holte die Eisenbahn aus dem Spielzeugschrank.

Friedrich reichte mir die Schienen an und ich setzte sie zusammen. Dann stellten wir die Wagen auf.

Friedrich durfte die Lokomotive aufziehen; denn ich hatte eine Lokomotive mit Uhrwerk.

Der Zug fuhr los.

Wenn er anhalten sollte, musste man auf dem Bauch hinterherrutschen und einen Hebel im Führerhaus umlegen. Aber meistens blieb der Zug von selber stehen, weil das Uhrwerk abgelaufen war. Zuerst spielten wir Güterzug, indem wir getrocknete Rosskastanien auf die Wagen legten. Dann zeigte ich Friedrich, wie man den Zug entgleisen lässt, und wir spielten Eisenbahnunglück.

Zuletzt wurden wir spielmüde. Auf dem Fußboden ausgestreckt guckten wir stumpfsinnig auf die Lampe. Rings um uns verstreut bedeckten Klötze, Schienen, Kastanien, Eisenbahnwagen, alte Lappen und Papierfetzen die ganze Fläche. Nur mein Bär saß aufrecht in der Ecke und überblickte das Durcheinander.

Da trat Mutter ein. Sie forderte uns auf, mit ihr Reibekuchen zu backen.

Reibekuchen gab es bei uns nur zu besonderen Anlässen. Sie waren Vaters Leibgericht. Wenn Mutter Reibekuchen machte, durften alle helfen. Sonst rieb Vater die Kartoffeln, ich hackte Zwiebeln, bis mir die Augen tränten.

Weil Vater nicht zu Hause war, stopfte ich diesmal die geschälten Kartoffeln in die Reibemaschine und Friedrich drehte. Mutter schnitt die Zwiebeln selber, weil sie fürchtete, wir würden uns mit dem Wiegemesser verletzen. Dafür streuten wir dann Mehl über den Brei und gaben eine Prise Salz zu. Wir waren ganz stolz auf unsere Leistung! Mutter setzte die Pfanne mit Öl auf die Flammen. Wir rückten nahe an den Herd, um besser sehen zu können. Das siedende Fett prasselte. Als der Kartoffelteig in die Pfanne fiel, zischte es auf. Qualm füllte die Küche. Es duftete. Mutter wendete den Fladen, damit auch die andere Seite backen konnte. Am Rande war der Reibekuchen dunkelbraun; gegen die Mitte wurde er heller braun; in der Mitte ging dann das Hellrotbraune in ein Graugrün über. Fertig!

Den ersten Reibekuchen erhielt Friedrich.

»Heiß!«, sagte Mutter.

Friedrich warf den Reibekuchen von einer Hand in die andere.

Ich schnappte ihm den frisch gebackenen weg.

Friedrich riss ihn wieder an sich.

Wir balgten.

Mutter schalt.

Das Öl in der Pfanne knallte.

Der Reibekuchen lag am Boden.

Dann einigten wir uns. Friedrich biss an der einen Seite, ich an der anderen. Auf diese Weise aßen wir schließlich alle Reibekuchen.

Es war ein Fest! Bis wir müde und satt neben dem Herd an der Wand lehnten.

»Und für Vater habt ihr keinen einzigen übrig gelassen«, sagte Mutter. »Schade!« Sie räumte die Pfanne fort. Dann betrachtete sie uns. »Ihr seht aus!«, meinte sie. »Ihr müsst in die Badewanne.« Was Mutter weiter sagte, ging in unserem Freudengebrüll unter.

Wir platschten, kreischten, gurgelten, schrien, plumpsten, spritzten und lachten in der Badewanne.

Mutter lief mit dem Putzlappen vom Kopfende zum Fußende und zurück, um das Wasser am Boden aufzuwischen.

Erst als von unten gegen die Decke geklopft wurde, beruhigten wir uns.

Diese Gelegenheit nutzte Mutter, um uns sauber zu waschen. Einmaliges Abseifen reichte nicht. Erst als wir zum dritten Mal aus dem Schaum gespült wurden, konnte man unsere richtige Farbe wieder erkennen.

Während ich noch in der Wanne plantschte, kümmerte Mutter sich um Friedrich. Als sie ihn abtrocknete, sagte sie lachend: »Na, Fritzchen! Du siehst aus wie ein kleiner Jude!«

Schnee

»Mutter!«, sagte ich, »es schneit so schön. Ich möchte hinaus!«

Mutter antwortete aus der Küche. »Das glaube ich dir. Aber erst kommt die Arbeit, mein Junge, dann gehen wir in den Schnee.«

Der Vorgarten war im Schnee begraben. Nur die Spitze von Polykarps blauer Zipfelmütze ragte aus der weißen Decke. Auf dem Plattenweg von der Haustür bis zum Gartentörchen glitzerte es noch unberührt.

Obwohl die Flocken ruhig und gleichmäßig weiterfielen, trat Frau Resch in den Vorgarten hinaus. Mit einer Schaufel schabte sie den Schnee von den Platten und warf ihn zur Seite, dorthin, wo die gestutzten Rosenstöcke standen. Sie räumte den ganzen Weg, indem sie den Schnee auf das Beet häufte, bis sich ein langer Hügel von der Haustür bis zum Gartentörchen erstreckte. Danach begab sie sich wieder in ihre Wohnung.

»Mutter«, rief ich, »Frau Resch hat den Schnee fortgeschaufelt!«

Mutter lachte. »Tröste dich! Es wird noch mehr, viel mehr fallen.«

Die Haustür schlug zu. Friedrich lief bis zum Törchen. Draußen sprang er mit beiden Füßen gleichzeitig in den Schnee. Behutsam machte er einen sehr großen Schritt, drehte sich um, bückte sich und betrachtete seine Sohlenabdrücke. Dann richtete er sich auf. Er legte den Kopf zurück, so weit er konnte, öffnete den Mund und ließ sich hineinschneien. Sogar die Zunge streckte er heraus, um damit Schneeflocken zu fangen. So stand er eine ganze Weile und schluckte Schnee. Dann guckte er wieder auf seine Spur. Dabei kam ihm anscheinend ein neuer Gedanke. Er begann eine Fährte in den Schnee zu stapfen. Weil beim Gehen der Schnee so herrlich aufstäubte, lief Friedrich schließlich mit schleifenden Füßen. Um ihn wirbelten Wolken von Flocken.

»Mutter«, fragte ich, »Friedrich spielt schon im Schnee. Dauert es noch lange?«

Mutter sagte: »Du musst warten lernen. Hab noch ein wenig Geduld.«

Ganz leise schloss Frau Schneider die Haustür. Als sie Friedrich vor dem Nachbarhaus entdeckte, schlich sie ihn von hinten an. Ehe er noch seine Mutter bemerkte, warf sie ihm mit beiden Händen Schnee über den Kopf.

Friedrich schrie auf und schüttelte sich. Er blickte sich um. Als aber seine Mutter ihm immer mehr Schnee entgegenschleuderte, duckte er sich lachend. Mit gespreizten Fingern schützte er sein Gesicht. Ein Satz! Er stand vor seiner Mutter. Den Kopf versteckte er unter ihrem Mantel und presste sich fest an sie, um dem Gestöber zu entfliehen.

Frau Schneider hockte sich hin. Lachend drückte sie Friedrich an sich und klopfte ihm den Schnee aus dem Mantel. Dann fasste sie ihn bei den Schultern und tanzte mit ihm im Schnee herum.

»Mutter«, bat ich, »auch Frau Schneider ist bei Friedrich im Schnee. Lass uns doch bitte hinuntergehen!«

Mutter seufzte. »Quäl mich doch nicht, Junge, ich beeile mich schon!«

Vom Bordstein aus schaute Frau Schneider nach links und rechts, ob die Straße frei wäre. Dann nahm sie einen kurzen Anlauf und schlitterte quer über die Fahrbahn. Das wiederholte sie drei- oder viermal, bis man die Schleifbahn erkennen konnte. Sie machte ein paar Schrittchen, hüpfte auf die Bahn, breitete die Arme aus und glitt sicher über den festen Schnee. Man konnte ihr deutlich ansehen, welche Freude es ihr machte. Als sie wieder einmal rutschte, schwankte sie, verlor das Gleichgewicht; die Füße sausten ihr davon. Plumps! Da saß sie schon im Schnee. Laut lachend blieb sie sitzen und erhob sich erst, als Friedrich sie hochziehen wollte. Auch Friedrich durfte schlittern. Aber er konnte es nicht so gut wie seine Mutter. Nach dem Anlauf setzte er die Füße nebeneinander statt hintereinander. Mit den Armen ruderte er in der Luft. Aber bevor er stürzte, fing seine Mutter ihn jedes Mal auf.

»Mutter«, bettelte ich, »Schneiders schlittern. Komm doch!«

Mutter antwortete unwillig: »Ich spüle zu Ende, bevor wir gehen. Die Schlitterbahn schmilzt nicht so rasch.«

Friedrich formte kleine Bälle aus dem sauberen Schnee. Er quetschte sie, so fest er konnte. Die fertigen Bälle stapelte er vor unserem Gartentörchen.

Auch Frau Schneider machte Schneebälle. Sie trug ihren Stapel auf dem gegenüberliegenden Gehsteig zusammen. Weil sie schneller arbeitete als Friedrich, half sie ihm.

Dann begannen die beiden eine Schneeballschlacht. Friedrich stand auf unserer Straßenseite; weil er nicht so weit werfen konnte, stellte seine Mutter sich mitten auf die Fahrbahn. Die Schneebälle flogen hin und her. Friedrich traf zuerst. Als seine Mutter sich nach neuen Geschossen bückte, zersprang Friedrichs Ball auf ihrem Rücken. Gleich darauf verriet aber auch ein weißer Fleck auf Friedrichs Bauch, wo der Schneeball seiner Mutter zerplatzt war. Friedrich und seine Mutter bekamen rote Gesichter vom Aufheben, vom Fortspringen, vom Werfen. Sie waren froh und ausgelassen. »Mutter«, sagte ich betrübt, »sie machen eine Schneeballschlacht. Ich möchte so gern dabei sein.«

Mutter tröstete: »Gleich bin ich fertig, mein Junge, dann gehen wir endlich.«

Friedrichs Mutter suchte eine Stelle, wo der Schnee hoch lag. Und wieder knetete sie einen Schneeball. Aber diesmal bettete sie ihn wieder in den Schnee zurück. Mit der Hand rollte sie ihn vorsichtig weiter, immer weiter durch den sauberen Schnee. Der kleine Ball wurde rasch dicker. Zwischendurch unterbrach Frau Schneider das Wälzen und klopfte den angepappten Schnee fest.

Anfangs stand Friedrich neben seiner Mutter. Er schaute neugierig zu. Dann plötzlich lief er davon. Auch er suchte einen Fleck mit frischem, unbetretenem Schnee. Dann begann er genau wie seine Mutter einen kleinen Ball zum großen Schneeklumpen zu wälzen.

Frau Schneider war als Erste fertig. Sie hatte den dicksten Ball. Mit aller Kraft rammte sie ihn vor unserem Haus auf dem Gehsteig fest. Um ihn oben abzuplatten, setzte sie sich sogar darauf. Dann nahm sie Friedrichs Ball. Sie hob ihn auf den ihren. Die Fugen zwischen beiden Bällen verkleisterte sie mit Schnee und tätschelte alles schön glatt und rund.

»Mutter«, schrie ich, »sie bauen einen Schneemann!«

Mutter beruhigte mich. »Ja, ja, ich komme schon!« Sie brachte meine dicken Winterschuhe und den Mantel. Während sie mir beim Anziehen half, schaute sie mit mir zum Fenster hinaus.

Frau Schneider und Friedrich rollten nun zwei Schneesäulen, die Arme für ihren Schneemann. Die fertigen Arme reichte Friedrich seiner Mutter; Frau Schneider klebte sie an den Brustkasten des Schneemanns. Das schien nicht leicht, denn die Arme wollten immer wieder abbrechen.

»Siehst du, es schneit noch immer«, sagte meine Mutter. Sie knotete mir meinen Wollschal um den Hals, kräftig zog sie mir die Pudelmütze über die Ohren. Zum ersten Mal durfte ich die neuen Fausthandschuhe mitnehmen, die Mutter mir gestrickt hatte. Mutter betrachtete mich von oben bis unten. »So«, nickte sie, »nun mache ich mich noch fertig, und dann? – Hinein in den Schnee!«

Während Friedrich eine Kugel für den Kopf des Schneemanns wälzte, kramte Frau Schneider in unserer Mülltonne. Sie fand einige Schlackenstücke, Kartoffelschalen und eine zerbrochene Bierflasche. Friedrich kullerte ihr den Kugelkopf vor die Füße. Sie raffte den großen Ball hoch und setzte ihn dem Schneemann als Kopf auf. Den Flaschenhals bohrte sie dem Schneemann wie eine Nase ins Gesicht, die Schlackenstücke drückte sie als Augen an; und aus den Kartoffelschalen formte sie Ohren, ulkige, braune Ohren.

Meine Mutter trat ausgehbereit hinter mich. »Ich bin fertig; wir können gehen.« Sie blickte auf die Straße. »Ein schöner Schneemann!«, meinte sie. »Ihm fehlt nur noch der Hut.«

Auch Frau Schneider war anscheinend noch nicht mit ihrem Schneemann zufrieden. Sie musterte ihn rundum. Dann schüttelte sie den Kopf, fingerte die Schlüssel aus der Tasche und kam ins Haus.

Friedrich besserte hier und dort am Schneemann, strich eine Seite glatt und stützte den rechten Arm. Dann schaute er zur Haustür. Langsam schlenderte er seiner Mutter entgegen.

Im Vorgarten sah er den Schneehügel zur Seite des Plattenwegs. Er stieg hinauf, sank ein und stampfte lächelnd durch den hohen Schnee zum Haus her.

Da hörten wir, wie unten ein Fenster aufgerissen wurde. Herr Resch brüllte, brüllte mit aller Kraft: »Willst du wohl meine Rosen in Frieden lassen, du Judenbengel, du!«

Meine Mutter wich einen Schritt zurück. »Komm«, sagte sie, »komm weg vom Fenster!«

Großvater

Mein Großvater, Mutters Vater, war Eisenbahner. Er reiste viel. Manchmal, wenn er durch unsere Stadt kam und die Fahrt unterbrechen konnte, besuchte er uns. Aber jedes Mal meldete er sich vorher durch eine Postkarte an.

Sobald Großvater seinen Besuch ankündigte, begann Mutter aufgeregt die Wohnung in Ordnung zu bringen. Sie putzte Staub, wo längst keiner mehr lag, und nahm das letzte Geld, um für Großvater Bohnenkaffee zu kaufen.

Mir schrubbte sie die Hände mit einer Wurzelbürste, bis sie mir so wehtaten, dass ich nichts mehr damit anfassen konnte. Die Scheitelhaare klebte sie mir mit Leitungswasser an, weil sie sonst wirr durcheinander standen.

So erwartete ich im Sonntagsanzug Großvater zur angegebenen Zeit hinter der Flurtür. Es klingelte, ich riss die Tür auf. Mit einer tiefen Verbeugung begrüßte ich ihn: »Guten Tag, lieber Großvater! Herzlich willkommen bei uns!«

Wortlos schritt Großvater an mir vorüber. Rasch ging er durch die Wohnung und schaute in alle Zimmer. Erst im Wohnzimmer machte er halt.

Wir durften ihm die Hand reichen. Von mir ließ er sich die Hände zeigen. Sie waren sauber. Dann musste ich mich umdrehen und nacheinander beide Füße heben. Großvater wollte wissen, ob der Steg zwischen Sohle und Absatz bei meinen Schuhen mit Schuhkrem geputzt war. Wir kannten diese Schrulle; deshalb fand er nichts zu beanstanden.

Danach nahm Großvater seinen, immer den gleichen Platz am Wohnzimmertisch ein. Er saß hoch aufgerichtet. Vater setzte sich ihm gegenüber; Mutter blieb hinter Großvaters Stuhl stehen, um keinen seiner Wünsche zu überhören.

Ich hockte schweigend in der Ecke, die rot gescheuerten Hände auf den sauber gewaschenen Knien. Sobald ich mich bewegte, traf mich Mutters Blick; sie legte den Finger auf die Lippen, um mich ans Schweigen zu erinnern.

Großvater redete wie immer auf Vater ein; er warf ihm vor, sich nicht genügend um Arbeit zu bemühen. Und Vater hörte sich das mit demütig gesenktem Kopf an, denn er wusste, wie das Gespräch endete. Es verlief immer in der gleichen Weise. Am Schluss sagte Großvater regelmäßig: »Wärst du zur Bahn gegangen wie ich, dann hättest du deine Familie nicht in solche Not gebracht!«

Vater nickte ergeben.

»Aber der Junge«, fügte Großvater hinzu, »der kommt zur Bahn. Dafür sorge ich. Der Junge soll eine sichere Zukunft und Anspruch auf eine Altersversorgung haben!«

Vater stimmte Großvater zu, er stimmte ihm in allem zu, denn Großvater unterstützte uns. Solange wir nichts als Vaters Arbeitslosenunterstützung hatten, schickte Großvater uns jeden Monat Geld. Der Betrag floss in die Haushaltskasse. Ohne diesen Zuschuss hätten wir noch öfter gehungert. Deswegen gab Vater meinem Großvater immer recht.

Plötzlich bumste es oben, dass die Lampe wackelte.

»Das war Friedrich!«, sagte ich vorlaut.

Großvater blickte mich streng an. Dann fragte er Vater: »Wer ist Friedrich?«

Bereitwillig erklärte Vater: »Über uns wohnt eine jüdische Familie, Schneiders. Der Junge heißt Friedrich. Die beiden sind gleich alt, sie sind befreundet.«

Großvater hüstelte. »Eine jüdische Familie?«

»Ja«, sagte Vater, »nette Leute!«