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Der beliebte Youtuber Robert "Bobcat" Valentin stirbt während der Aufzeichnung eines Videos. Die Umstände deuten darauf hin, dass das Computerspiel, das er gerade vorgeführt hat, die Tatwaffe. Hat der Entwickler ein tödliches Spiel programmiert? Hat ein alter Rachedämon wieder zugeschlagen? Oder ist der Mörder in der Community zu suchen? Alex Doyle hilft der "Zentralen Anlauf- und Koordinierungsstelle für trans- und metahumane Aktivitäten" bei der Ermittlung und blickt hinter die Kulissen. Nach "Lazarus" ist "Dämonenschwert" der 2. Fall für den Vampir Alex und die geheime Behörde namens "Zentrale".
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Dämonenschwert
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Die Zentrale
2. Fall
von Christian Otte
(unlektorierte 1. Auflage)
Impressum
Prolog
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Epilog
Teaser
Glossar und Personenregister
Danksagungen
Impressum
Text und Umschlag: © Christian OtteVerlag:
Christian Otte
Karl-Arnold-Str. 21
45966 Gladbeck
Herstellung:
epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Köpenicker Straße 154a,
10997 Berlin
https://christianotte2.wixsite.com/diezentrale
Instagram: @Alex.Conan.Doyle
Bereits erschienen:
Lazarus
ISBN: 9783746719313 (Taschenbuch)
ISBN: 978-3-7427-4123-3 (E-Book)
Prolog
„Ich denke, ich werde hier eine kleine Aufnahmepause machen. Um dieses Rätsel soll sich der Zukunfts-Bob kümmern. Ich danke euch fürs Einschalten und wir sehen uns in der nächsten Folge wieder."
Jonas Anders, Gründer und Geschäftsführer eines kleinen, unabhängigen Computerspieleherstellers namens „The Forge“ sah dem großen, bärtigen Mann dabei zu, wie dieser gerade sein tägliches Arbeitswerk beendete. Robert Valentin, im Internet besser bekannt als Bobcat, verdiente sein Geld mit der Veröffentlichung von Videos im Internet. Auf YouTube, dem bekanntesten Videoportal, veröffentlichte er täglich mehrere Clips, in denen er sich dabei filmte, wie er Videospiele spielte. Die Bezeichnung Let’s-Player, vom englischen „Let us play - lass uns spielen“, hatte sich für jemanden wie ihn durchgesetzt. Ein Trend, der sich in den letzten Jahren über die Welt verbreitet hatte. Die größten Let’s Player hatten eine stabile Fangemeinde von mehreren Millionen treuen Zuschauern, während erfolglose wenig bis kaum bekannt waren. Wollte man auf diese Weise Geld verdienen, musste man deutlich besser sein als die Konkurrenz, und gerade bei Let’s Plays war die Konkurrenz groß. Die vermeintlich einfache Möglichkeit mit etwas viel Geld zu verdienen, dass man zum Spaß machte, lockte viele Enthusiasten an, ließ aber auch viele zerbrochene Träume zurück. Die meisten bemerkten sehr bald, dass Geld mit spielen zu verdienen eben doch kein Kinderspiel war.
Der Kanal von Bobcat gehörte zu den größeren und erfolgreicheren in Deutschland. Das lag aber vor allem an der Zeit, Arbeit und Liebe zum Detail, die er in dieses Projekt steckte. Er nahm täglich mehrere Stunden Filmmaterial auf, übernahm teilweise selber den Schnitt, veröffentlichte jeden Tag mindestens ein, zu manchen Zeiten sogar drei Videos von unterschiedlichen Spielen, und sendete jedes Wochenende einen Livestream, der auf Zuschauerzahlen - oder Viewer, wie es neudeutsch hieß – kam, von denen einige regionale Fernsehsender nur träumen konnten.
Bobcats Erfolg basierte aber nicht zuletzt darauf, dass er sehr natürlich und bodenständig wirkte. Er ging auf seine Viewer ein, sowohl auf die geschriebenen Kommentare, als auch auf die per Chat gestellten Fragen im Livestream. Man hatte, wenn man ihn sah, den Eindruck, es mit einem charismatischen Sektenführer zu tun zu haben, der jedem seiner Jünger das Gefühl vermittelte, etwas Besonderes zu sein. Im Gegensatz zu einem Sektenführer bestand der Unterschied darin, dass Bobcat auch wirklich hinter dem stand, was er sagte. Er predigte kein Wasser und trank Wein, oder forderte Spenden von Gläubigen wie einige Fernsehprediger in den USA. Regelmäßig nutzte er diesen Einfluss auf sein Publikum für Spendenaufrufe für Opfer von Naturkatastrophen oder anderen wohltätigen Spendenaktionen. Innerhalb weniger Stunden kam dabei häufig mehr Geld zusammen, als wochenlange Sammlungen durch das Rote Kreuz. Doch trotz seines Einflusses auf eine große, werberelevante Gruppe hatte er keinen Werbevertrag, Sponsoring oder etwas anderes in der Art angenommen, außer zu wohltätigen Zwecken. Sein hart erarbeitetes Geld steckte er nicht in unnötigen Prunk. Er wohnte in seinem ehemaligen Elternhaus am Stadtrand von Berlin, aus dessen Keller er sendete. Wenn es etwas Negatives über Bobcat zu berichten gab, so hatte es noch niemand gefunden.
Deswegen war es so wichtig, dass Jonas heute hier war. Auch wenn Bobcat seinen Einfluss nie bewusst einsetzte um Produkte zu bewerben, so konnte seine geäußerte Meinung über Erfolg oder Misserfolg eines Spiels entscheiden. Das hatte Jonas bereits schmerzhaft erfahren. Das letzte Spiel aus dem Hause „The Forge“ war grandios gescheitert. Über ein Jahr hatte er Werbung geschaltet und bei Spielern Erwartungen und Vorfreude auf den vierten Teil der „Jack Bane“-Reihe geweckt. Die „Jack Bane“-Spiele waren eine sehr beliebte und für damalige Verhältnisse kommerziell erfolgreiche Spieltrilogie dessen letzter Teil 10 Jahre zuvor erschien. Die Entwicklerfirma wurde kurz danach aufgekauft, und die Produktion weiterer Titel der Reihe eingestellt. Über die Zeit hatte sich aber eine feste Fanbasis entwickelt, die im Internet immer wieder die Fortsetzung forderten. So hatte sich Jonas mit seinem kleinen Unternehmen die Rechte an der Reihe gesichert und die Herausforderung angenommen. Innovation und Entwicklung ist immer ein Risiko. Das Spiel hinter dem Spiel. Und er war auf einem guten Weg. Er hatte ein gutes Entwicklerteam, er hatte die richtige Marketing-Strategie und er konnte auf eine starke Nachfrage durch die Fans hoffen. Aber er brauchte Investoren um die Aufgabe zu bewältigen. Und das wurde ihm zum Verhängnis. Die Investoren drängten auf eine Veröffentlichung des Spiels pünktlich zum Weihnachtsgeschäft. Trotz Jonas' Protest. Letztendlich musste er sich aber dem Druck der Kapitalgeber beugen.
Das Ergebnis war verheerend. Angekündigte und heiß erwartete Elemente wurden nicht in das Spiel implementiert. Fehler in Grafik und Spielmechanik, sogenannte Bugs, wurden nicht rechtzeitig erkannt. Letzten Endes war es auch das Let's Play von Bobcat, das den Todesstoß für das Spiel bedeutete. Sowohl in Livestreams als auch in seinen Videos konnten sich seine Viewer davon überzeugen wie fehlerhaft das Spiel war. Kaum jemand kaufte das Spiel, und wer es doch tat, zerriss es danach in Foren und Kaufrezensionen. Das Spiel verkaufte sich so schlecht, dass es fast das Unternehmen in die Pleite getrieben hatte. Aber Jonas glaubte an das Projekt, an seine Entwickler und an die Fans. Und so startete er einen neuen Anlauf. Er suchte sich neue Investoren und steckte selber so viel Zeit und eigenes Geld in die Finanzierung, dass er sich bewusst war, dass von diesem Projekt nicht nur sein Unternehmen, sondern auch seine private Zukunft abhing. Wurde das Spiel kein Erfolg, würde er mehr Schulden haben als er in einem Leben abzahlen konnte. Aber er glaubte an das Spiel. Diesmal hatte er sich nicht hetzen lassen. Das Spiel war so geworden, wie er und nicht die Investoren es sich vorgestellt hatten. Ein neues Werbekonzept stand schon in den Startlöchern und einer der entscheidenden Punkte war, Let's Playern das Spiel vorab zu geben, damit diese das Interesse der Käufer wecken konnten. Deswegen stand er jetzt an der Tür zu Bobcats Studio und wartete darauf, dass er empfangen wurde.
Bobcat nahm die Kopfhörer ab und kam zu Jonas, den Arm zum Handschlag ausgestreckt. „Jonas. Schön, dass wir uns endlich persönlich begegnen. Nach all den Telefonaten und E-Mails ist es angebehm endlich mal das Gesicht dahinter zu sehen.“, begrüßte der Youtuber den Entwickler, mit einer Ausstrahlung, die mit dem Wort „charismatisch“ nur unzureichend beschrieben werden konnte. Jonas fühlte sich, als würde er einen alten Freund nach Jahren wiedersehen.
Bobcat rückte einen Stuhl zurecht, so dass sie beide vor den vier Monitoren Platz nehmen konnten, vor denen er immer saß, wenn er aufnahm. Sie sprachen gerade den Ablauf der Aufnahme durch als die Kellertür sich öffnete und die junge Frau, die einige Minuten zuvor Jonas ins Haus gelassen hatte, mit einem Tablett eintrat. Jonas kannte sie unter dem Namen Palamina, ein Pseudonym, zusammengesetzt aus den Worten Paladin und Pamina. Ein Paladin, eine beliebte Charakterklasse vieler Rollenspiele, ist darin ein heiliger Krieger. Pamina war eine Figur aus der Zauberflöte von Mozart. Palamina war ebenfalls eine Let's Playerin und gehörte zu dem, was man am besten als Bobcats Entourage bezeichnen konnte. Eine Gruppe aus Bobcats Freundeskreis, die jeweils tausende Fans und auch Erfolge auf Youtube hatten, aber nicht annähernd an Bobcat anknüpfen konnten. Bobcat war unbestritten das Zugpferd dieses Unternehmens.
Palamina stellte eine Flasche Wasser mit zwei Gläsern vor Jonas und setzte sich dann hinter einen Monitor, der auf einem Schreibtisch in der gegenüberliegenden Ecke stand. Im Anschluss an die Aufzeichnung des Spiels sollte es einen Livestream geben, bei dem Zuschauer durch Jonas ein paar Ausschnitte eingespielt bekommen würden und über den Chat Fragen stellen können. Da es immer wieder notwendig war, einzelne Nutzer des Chats zu verweisen, wegen beispielsweise Beleidigungen oder den Versuch Links zu posten, die zu Werbeseiten führten oder Computerviren installieren sollten, musste ein solcher Chat durch Moderatoren wie Palamina überwacht werden. Da es sich außerdem bei dem von Jonas vorgestellten Spiel um eines mit Unterstützung einer Virtual Reality Hardware handelte, brauchte Bobcat jemanden, der das System überwachte, während er die VR-Brille aufhatte und den Monitor nicht sehen konnte.
Palamina steckte ihre feuerroten Haare zu einem Dutt nach oben und setzte eine Brille mit dickem schwarzem Rahmen auf, so dass sie aussah, wie die Bibliothekarin, an die Jonas sich noch aus Kindheitstagen erinnerte. Sie ließ den Blick über die Anzeigen auf dem Monitor gleiten und nickte dann Bobcat zu.
„Alles klar?“, fragte der Bärtige und wartete auf Jonas Antwort.
„Von mir aus kann's losgehen.“
Bobcat klickte mit der Maus ein Icon auf dem Desktop an, einige der Fenster auf den Monitoren verschoben sich und auf dem Monitor rechts vom Hauptbildschirm tauchte das Bild der Webcam auf, die ihn und Jonas zeigte. Ein weiterer Klick und ein kleiner, roter Punkt zeigte blinkend an, dass die Aufnahme startete.
„Hallo und herzlich willkommen hier in unserem kleinen Luchsbau. Wir haben heute ein ganz besonderes LetsPlay, nämlich einen LetsPreview. Und dafür habe ich einen Gast. Ich begrüße Jonas Anders. Chef von 'The Forge'. Herzlich willkommen Jonas.“
„Danke. Ich freue mich hier zu sein.“ Etwas an Bobcats Art beruhigte ihn ungemein und so war trotz allem, was von dem heutigen Termin abhing Jonas' Nervosität mittlerweile komplett verflogen.
„So, ihr bringt in Kürze das Jack Bane Spiel raus.“
„Genau. Jack Bane und das Schwert von K’ aak’ Pak'al.“, bestätigte Jonas.
Bobcat nahm eine Verpackung des Spiels vom Tisch auf und hielt es gut sichtbar in die Kamera.
„Nun, muss man ja dazu sagen, dass ihr das letzte Spiel richtig verkackt habt.“, erklärte Bobcat.
„Das muss man nicht sagen, es stimmt aber. Wir haben Fehler gemacht, aber ich denke wir haben aus den Fehlern gelernt.“, gab Jonas mürrisch zu, konnte aber nicht länger als drei Sekunden in der Gegenwart des Let's-Players eine negative Stimmung halten.
Sie unterhielten sich noch eine viertel Stunde über die neuen Funktionen des Spiels, die Größe der Spielwelt und etliches weiteres, bis Bobcat schließlich meinte, es wäre Zeit, direkt ins Spiel einzusteigen.
„Ich habe das Spiel ja schon vor ein paar Tagen von dir bekommen und ich muss sagen, ich bin völlig begeistert. Die Steuerung ist sehr intuitiv, die Grafik der Hammer und die Welt riesig.“, schwärmte Bobcat. Jonas jubilierte innerlich.
„Und das Beste“, fuhr Bobcat fort, „ist die Möglichkeit mit dem VR-Set noch tiefer in das Spiel einzutauchen. Und das probieren wir jetzt auch gleich mal aus.“ Er deutete auf eine Art Helm, der die VR-Brille und Kopfhörer kombinierte. Jonas griff nach dem Helm, während Bobcat seinen eigenen aus einer Ablage auf der anderen Seite holte.
„Und, das haben wir auch nocht nicht erwähnt, man kann es im Co-op-Modus spielen.“, ergänzte Bobcat, während er sich den Helm aufsetzte und mit einer Kette um seinen Hals kämpfte, die sich irgendwo an dem Helm verhakt hatte. Palamina kam dazu und trennte die Kette von den Kabeln. Wie abgesprochen benutzte Jonas spezielle Codes, mit dem der Charakter an einer bestimmten Stelle der Handlung ins Spiel einsteigen konnte, für die er sonst etwas über eine Stunde hätte spielen müssen. Durch diesen Code konnte er als zweiter Spieler direkt an der Stelle einsteigen, an der er einige der wichtigen Funktionen des Spiels eindrucksvoll unter Beweis stellen konnte. In der endgültigen Version des Spiels war dieser Code nicht implementiert, sondern nur in den Versionen, die er vorab an die Let's-Player geschickt hatte, mit denen er das Spiel zusammen vorstellen wollte.
Sie spielten einige Minuten als sie im Spiel an eine Stelle kamen, an der ein Bosskampf ausgetragen werden musste. Bobcat hatte das Spiel und seine Grafik mittlerweile in den Himmel gelobt und zeigte sich überaus beeindruckt, von dem Realismus, der durch das VR-Set zum Spielerlebnis beitrug.
„Heilige Salzsäule. Was ist das?“, stieß er aus, als eine der Steinstatuen vor seinen Augen zum Leben erwachte. Der Spieler sah diese Szene aus einiger Distanz von einer erhöhten Plattform.
Die Statue erreichte die Mitte einer kreisrunden Arena und zog ein Schwert aus dem Boden, und steckte es sich in den steinernen Rücken, so dass es daraus herausragte, wie Excalibur aus dem Fels.
„Ist das das Schwert von K’ aak’ Pak'al?“, fragte Bobcat. Jonas nickte bis ihm einfiel, dass sie beide wegen der Helme nur das Spiel sehen konnten und ergänzte dann: „Ja, das ist es. Und die Statue, die da gerade zum Leben erwacht ist, ist der erste Boss: Tuunich k'ab. Bei unseren Entwicklern hatte er den Namen Tunichtgut.“
„Na dann, auf in den Kampf.“ Bobcat steuerte seinen Charakter auf die Steinstatue zu und begann auf den Gegner zu feuern.
„Das ist ein verdammt harter Hund.“, kommentierte Bobcat.
„Das soll er auch sein. Wenn es einfach ist, ist es ja kein Spaß.“, bestätigte Jonas.
Der Kampf zog sich einige Minuten hin. Im ersten Versuch starben beide Spielercharaktere, nachdem der Steinkoloss sie einige Male mit bloßen Händen getroffen hatte. Beim zweiten Versuch kamen sie schon weiter. Nachdem sie den Gegner auf siebzig Prozent Lebensenergie herunter geschossen hatten, zerbrach dessen Außenhülle und eine geisterhafte Erscheinung stieg daraus hervor. Die Gestalt griff nach dem Schwert, zog es aus dem Stein und wurde unsichtbar.
„Jetzt musst du aufpassen. Diese Phase ist tricky.“, ermahnte Jonas.
„Inwiefern?“, fragte Bobcat.
„Der Geist hat die Angewohnheit hinter einem Spieler aufzutauchen und ihn mit einem Schlag zu enthaupten.“; erklärte Jonas, „Du hörst ihn aber kommen, dann solltest du zur Seite rollen.“
Ein leises Flüstern näherte sich Bobcats Charakter von hinten. Mit einem Kick auf das Gamepad rollte die Figur zur Seite. Bobcat sah auf den kleinen Monitoren im Helm, wie der Geist das Schwert ins Leere schwang.
„Wow. Das war knapp.“, stieß Bobcat aus.
„Ich sagte ja, dass es tricky ist.“
Diesmal hörte Jonas das Flüstern und ließ seinen Charakter zur Seite rollen.
„Gibt es ein Muster, nach dem der Geist angreift?“, fragte Bobcat, darauf bedacht so gut wie möglich zu lauschen.
„Das werde ich doch nicht verraten.“, schmunzelte Jonas.
„Ihr solltet langsam zum Ende kommen.“, hörten die beiden Spieler Palamina. Ihre Stimme klang durch die Kopfhörer und unter dem Eindruck der virtuellen Realität seltsam weit entfernt und verzerrt.
„Nur noch fünf Minuten.“, quengelte der Let`s-Player gespielt.
„Ich denke, deine Zuschauer sollten auch noch ein bisschen was von dem Spaß haben.“, meinte Jonas.
„Ja, da hast du recht. Ich...“ Bobcat brachte den Satz nicht zu Ende. Der Geist war hinter seinem Charakter aufgetaucht und hatte ihn mit dem Schwert sauber enthauptet.
„Ja, das ist ein echter Jumpscare.“, lachte Jonas und nahm den Helm ab.
Bobcat saß unbeweglich neben ihm und rührte keinen Muskel.
„Ach komm. So schlimm ist das auch nicht.“, flachste Jonas.
Bobcat rührte sich immer noch nicht.
Jonas klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Und erstarrte.
Palamina schrie schrill auf. Wieder klang ihre Stimme weit entfernt, doch diesmal nicht, weil Jonas Kopfhörer aufgehabt hatte. Diesmal, weil sein Gehirn mit der Situation nicht klarkam, die er sah. Der Kopf des Mannes, mit dem er sich Sekunden vorher noch unterhalten hatte befand sich nicht mehr da, wo er sein sollte. Er war zusammen mit dem Helm zu Boden gefallen. Der Körper saß zusammengesunken in dem Stuhl, als wäre er eingeschlafen.
Jonas' starrte mit weit aufgerissenen Augen zu der Moderatorin, die hinter ihrem Monitor die Hände vor den Mund hielt, als wolle sie ihren Schrei mit den Fingern festhalten. Sein Blick wanderte wieder zu der kopflosen Gestalt neben sich. Dabei streifte er den Monitor, auf dem er sich selbst in einem kleinen Fenster der Webcam sah.
Was auch immer gerade geschehen war, die Kamera hatte alles mit angesehen.
1
„Lassen Sie ihn durch, der gehört zu mir.“, rief Kommissar Gruber und fuchtelte wild in der Luft herum. Der Mann, den er an der Absperrung sah, war sich nicht sicher, ob er in seine Richtung winkte oder seinen eingeschlafenen Arm durch unbeholfenes Schütteln aufwecken wollte. Der uniformierte Polizist hob das rot-weiß-gestreifte Flatterband für den Neuankömmling an und ließ ihn durch. Der Kommissar ergriff seine Hand und schüttelte sie. Gruber war das klischeehafte Abziehbild eines Fernsehkommissars: untersetzt, schütteres Haar, stark ausgeprägte Kinnpartie. Seine Kleidung sah alt, seine Schuhe abgewetzt aus und er trug einen Trenchcoat wie Columbo.
„Woher wussten Sie, dass ich an der Absperrung stehe?“, wollte der Mann wissen. Er ging in gemütlichem Schlendergang neben dem Kommissar her, der für alle zwei Schritte die der Mann tat, drei machen musste.
„Die Kollegin aus der Spurensicherung hat mich informiert, dass Sie da sind.“ Er griff in die Innentasche seines Mantels, zog ein Smartphone heraus und hielt es dem Mann hin. Das Bild zeigte ihn in exakt der Kleidung, die er gerade trug. Der Winkel aus dem das Foto aufgenommen worden war, ließ auf eine Überwachungskamera schließen. Der Kommissar fragte sich, wieso das BKA einen so jungen Mann schicken konnte, und wie viel Hilfe dieser würde bieten können. Und wieso schickten sie eigentlich jemanden auf Anfrage der Spurensicherung? Die Kollegin hatte etwas von Spezialermittler gesagt. Er konnte unmöglich so viel Erfahrung in der Ermittlungsarbeit haben wie Gruber. Allerdings hatte das BKA schon öfter ungewöhnliche Zeitgenossen als Spezialermittler vorbeigeschickt. Einmal war das dieser merkwürdig stille, riesige Kerl, der ständig an seiner Brille herumfummelte. Am Ende zählte das Ergebnis. Das Bild verblasste und verschwand. Sie betraten das Haus, das von außen nicht mehr oder weniger unscheinbar wirkte als die Häuser rechts und links. Eine typische Doppelhaushälfte, wie sie in dieser Straße zuhauf standen. Links führte die Straße zu den ersten Hochhäusern, am anderen Ende der Straße konnten sie in einiger Entfernung bereits das Fehlen der Bebauung und den Beginn des grünen Gürtels erkennen, der die Stadt umgab. Der Spezialermittler fand es faszinierend, wie einige Städte es schafften auch ohne Stadtmauern ihre Grenzen so klar zu definieren.
„Was liegt vor?“, fragte der Mann den Kommissar.
„Mord, vor laufenden Kameras, in HD“, umriss Gruber das Problem.
„Dann verstehe ich nicht, was ich hier mache. Wenn es Videoaufnahmen gibt, sollte es doch ein leichtes sein den Täter zu fassen“, gab der Mann verwundert zurück und betrachtete den Kommissar, wie sich dieser an einem uniformierten Kollegen vorbei durch den engen Hausflur schob.
„Das Problem ist“, schnaufte Gruber und stieg die steile Treppe zum Keller hinab, „dass der Täter die Tatwaffe ist.“
„Bitte?“ Der Mann blieb vor dem Treppenabgang stehen.
„Naja, das Opfer starb, weil ihm der Kopf abgetrennt wurde. Da brauche ich keinen Gerichtsmediziner um das zu wissen. Aber abgeschlagen wurde der der Kopf durch den Dämon Tunich Kebab mit dem Schwert von Kack Pascal.“
„Bitte?“ Der Mann hatte es gerade drei Stufen abwärts geschafft und blieb wieder stehen. Entweder war die Akustik in diesem Gang unter aller Sau, oder der Kommissar versuchte sich lustig über ihn zu machen.
„Der Dämon heißt Tuunich k'ab und das Schwert ist von K’ aak’ Pak‘al.“, korrigierte eine sanfte, aber bestimmte weibliche Stimme. Der Spezialermittler stieg weiter hinunter. Am Fuß der Treppe konnte er sehen, dass drei Räume an den Gang angrenzten. Der Durchgang, der am weitesten entfernt war, war offen. Keine Tür, kein Rahmen, nur ein rechteckiges Loch in der Wand. Der zweite Durchgang war ebenso schmucklos, aber mit einer weißen Plane abgehängt, die sich leicht im Luftzug bewegte. Der einzige Durchgang auf der linken Seite war eine offene Tür, durch die der Kommissar gerade getreten war und hinter der der Spezialermittler die Quelle der Stimme vermutete. Er betrat den Raum, in dem bis auf den Kommissar und ihn nur eine junge Frau anwesend war. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Hinter den Gläsern ihrer Brille glänzten zwei jadegrüne Augen. Am Revers ihres Blazers entdeckte der Mann die Antwort auf die Frage, wer ihn hierher bestellt hatte. Für den Kommissar war er ein Spezialermittler des BKA, doch gegenüber der jungen Frau brauchte er die Wahrheit nicht verbergen. Die Rune Ken -oder Kenaz- bedeutete Fackel oder Erleuchtung. Sie war eine der Erkennungsrunen, die die Eingeweihten benutzten um sich schnell und wortlos den Mitarbeitern der Zentrale zu erkennen zu geben. Die Zentrale war eine Behörde, die die Aktivitäten aller Vampire, Werwölfe und anderer Menschen mit besonderer Begabung überwachte und vor den normalen Menschen geheim hielt. Die Gesamtheit der Menschen mit besonderen Gaben nannte sich Yonin, was so viel wie „Andere“ bedeutete.
Der Mann selbst hatte einen Anstecker mit der Rune Anzur oder Ansuz, die Mund oder Botschaft bedeutete und war die Rune, mit denen sich die Ermittler der Zentrale gegenüber Eingeweihten zu erkennen gaben. Kenaz sah wie ein nach links gedrehtes Dach aus, Anzur war ein verzerrtes F. Es gab eine ganze Reihe von versteckten Gesten, Zeichen und Merkmalen, mit denen Yonin ihresgleichen erkannten. Vampire erkannten sich am Handschlag, Werwölfe am Geruch, Magiekundige erkannten sich an ihrer Aura, und so weiter. Darüber hinaus war es in den meisten Fällen nicht notwendig, dass sich Leute wie sie außerhalb ihrer eigenen Gattung zu erkennen gaben.
„Alex Doyle“, stellte sich der Mann aus der Zentrale vor und hielt ihr die Hand hin.
„Jennifer Mane.“ Sie ergriff seine Hand und sah ihm so tief in die Augen, als wolle sie etwas in seinem Hinterkopf untersuchen.
„Ich lasse sie beide dann mal hier machen.“, warf Gruber ein und machte sich daran die Treppenstufen wieder heraufzusteigen. Einige Sekunden später hörten sie eine Tür ins Schloss fallen.
„Freut mich dich kennen zu lernen. Bist du ein Vampir?“, fragte Jennifer, den Blick wieder auf den Monitor vor sich gerichtet.
„In gewissem Maße“, antwortete Alex, etwas unsicher, was genau er hier sollte.
Alex, eigentlich Alexander Conan Doyle, wohnte seit Anfang des letzten Semesters bei seinem Cousin Benjamin Rupp, kurz Ben. Die Tatsache allein war wenig beeindruckend. Beeindruckend war der Fakt, dass Ben durch das von ihm gegründeten Softwareunternehmen zu den 200 reichsten Deutschen gehörte und in einem Penthouse an der Spree, mitten in Berlin wohnte. Und das waren nur die öffentlich bekannten Fakten. Noch bedeutender waren die Tatsachen, die nur sehr wenigen Menschen bekannt waren. Ben war ein hohes Mitglied einer fast 2000 Jahre alten Geheimgesellschaft, dem Heron-Orden, deren oberste Ziele die Bewahrung des Wissens und der Schutz der Menschheit vor der Zerstörung durch ihre eigenen Erfindungen waren. Militärisch genutzte Entwicklungen, wie Feuerwaffen, Panzer, Sprengstoff, Giftgas und nicht zuletzt die Atombombe waren dank der Bemühungen des Ordens und seiner weltweit vertretenen Mitglieder mehrere Jahrhunderte später zum Einsatz gekommen. Nicht auszudenken, was eine Waffe wie eine Atombombe in den Händen der Kreuzzügler angerichtet hätte.
Alex war kein Mitglied des Heron-Ordens. Er war kein genialer Erfinder. Er war ein augenscheinlich durchschnittlicher Mann Anfang zwanzig, Student an der Technischen Universität Berlin, vom Aussehen her in die Richtung Surfer am Ende der Winterpause. Hätte er eine Kontaktanzeige geschaltet, hätte er als seine Hobbys -neben dem Lesen- Parcours und Kampfsport angegeben, auch wenn er seit seiner Herztransplantation beides offiziell nicht mehr trainiert hatte. Sein Herz war das, was ihn zu etwas Einzigartigem machte. Nicht im metaphorischen, aber im metaphysischen Sinn. Eine Kette statistisch nahezu unwahrscheinlicher Ereignisse hatte einen Motorradfahrer zum Vampir gemacht, der kurz darauf bei einem Verkehrsunfall starb und sein Herz als Organspende an Alex weitergab. Alex hatte danach gelernt, dass es mehr gab, als er und der Rest der Menschheit für möglich hielt. Zweimal war er bereits gestorben und zweimal war er wieder auferstanden.
Heute Morgen war er gerade vom Besuch bei seiner Mutter in seiner alten Heimat zurückgekehrt. Vor zwei Stunden hatte ihm Ben ein Smartphone in die Hand gedrückt.
„Was soll ich damit?“, fragte Alex erstaunt, „ich habe schon ein Handy.“
„Das hier ist besser.“, erwiderte Ben.
„Wozu brauche ich ein besseres? Meins reicht mir völlig.“, protestierte Alex.
„Das ist ein Handy für den Außeneinsatz. Standardausrüstung der Zentrale. Mit ein paar kleinen Updates von mir.“, erklärte Ben mit einem breiten Grinsen bei dem Wort „Updates“.
„Und nochmal meine Frage: Was soll ich damit? Ich arbeite nicht für die Zentrale.“
„Heute schon“, widersprach Ben.
„Wüsste ich nicht davon?“, hakte Alex nach.
„Vor einigen Stunden ist ein YouTuber während einer Aufzeichnung gestorben. Die Umstände sind mehr als merkwürdig. Da es aber keinen Hinweis auf Yonin bei dem Fall gibt, will die Zentrale noch keine offiziellen Ermittlungen einleiten.“
„Das hat immer noch nichts mit mir zu tun“, stellte Alex fest.
„Als Hauptverdächtiger gilt ein alter Freund von mir. Und da du, neben einer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe, im Moment auch als einziger Zugriff auf die meisten Funktionen von Daisy hast, dachte ich, du könntest dich da mal umschauen. Mir zuliebe.“
Daisy war ein künstliches Bewusstsein, das nahezu alle Funktionen der Zentrale steuerte. Ben war einer der Schöpfer dieses Systems. Durch eine Sicherheitsroutine, die nach einer Manipulation an dem System notwendig wurde, war nun Alex der einzige, auf den Daisy bedingungslos hörte, solange bis alle Spuren der Manipulation beseitigt waren.
Widerwillig nahm Alex das Handy entgegen.
„Das hier wirst du auch brauchen.“ Ben hielt ihm eine Schatulle mit dem Anstecker hin, der ihn als Ermittler zu erkennen gab.
„Was ist denn in gewissem Maße ein Vampir?“, fragte Jennifer, mit den Augen offenbar etwas auf dem Monitor lesend.
„Der Fachausdruck ist wohl Daphyr, aber Vampir ist in Ordnung.“, schilderte Alex, den Blick durch das Zimmer streifend.
Jennifer blickte auf.
„Du bist DER Daphyr?“, fragte sie, ganz offensichtlich positiv überrascht.
„Ähm, ich bin EIN Daphyr.“, antwortete Alex, eher verwirrt überrascht.
Sie sprang auf und betrachtete ihn intensiv.
„Oh, ich hab von dir gehört. Aber ich dachte, es wäre nur ein Mythos. Dann freut es mich noch mehr dich kennen zu lernen.“
Alex hatte schon mitbekommen, dass er eine Ausnahme war. Er wurde zum Yonin durch die Transplantation eines Vampirherzens und nicht, wie es üblich wäre, durch das Trinken von Vampirblut.
„Ähm, Danke?“ Diese offensichtliche und ehrliche Euphorie über seine Anwesenheit war Alex doch mehr als suspekt. Er hatte nicht gewusst, dass er sich unter den Yonin offenbar einen Ruf erworben hatte.
„Du bist der erste deiner Art. Daphyre waren bisher immer nur Theorie. Oh Mann, das ist so aufregend. Du könntest völlig neue Erkenntnisse über den Ursprung und das Wesen der Vampire liefern. Ich hab‘ gehört Ermittler Wolk hat schon alle möglichen Tests mit dir gemacht. Kann ich mir die Ergebnisse mal ansehen?“
Alex hob abwehrend die Hände. „Wow, ganz ruhig. Ich bin hier um mir den Tatort anzusehen. Nicht um über meinen Zustand zu diskutieren.“
„Oh, natürlich, Entschuldigung, Ich finde es halt nur so aufregend. Also womit willst du anfangen?“
„Wie wäre es, wenn du mir mal erzählst, was hier überhaupt passiert ist?“, schlug Alex vor.
„Das könnte ich, aber ich hab‘ was Besseres. Ich zeig‘ es dir. Sieh hier auf den Monitor“, gab Jennifer zurück.
Alex lehnte sich auf den Schreibtisch und sah ihr dabei über die Schulter. Während er sich auf den Monitor konzentrierte spürte er, wie sie ihn betrachtete. Er wich etwas zur Seite um ihr mehr Platz zu lassen. Er wollte nicht, dass sie sich unwohl fühlte, weil er zu nah an sie herangerückt war. Als er sie kurz an sah, trafen sich ihre Blicke, sie lächelte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er lächelte zurück und richtete seinen Blick wieder auf den Monitor, wo Jennifer ein Video abspielen ließ. Das Video zeigte zwei Männer mit Kästen vor ihren Augen, die sich über etwas unterhielten, was Alex nicht sehen konnte. An einer Stelle zuckte der Kopf des bärtigen Mannes. Im selben Augenblick wich sämtliche Spannung aus seinem Körper und der Partie seines Gesichts, die man unter der VR-Brille erkennen konnte. Alex sah auf. In der gegenüberliegenden Ecke des Raumes erkannte er das weiße Regal, dass auf dem Video zu sehen war.
„Nochmal bitte. Kannst du es langsamer laufen lassen?“, forderte er Jennifer auf.
Sie nickte, griff zur Maus und startete das Video noch einmal, diesmal mit einem Fünftel der normalen Geschwindigkeit. Langsamer ließ das Programm die Wiedergabe nicht zu. Der Ton klang dumpf und die Stimmen ungewöhnlich tief. Alex konzentrierte sich auf das Bild. Dann sah er auf das Regal, dann wieder auf den Monitor. An der Stelle, an der Bobcats Kopf zuckte kniff er die Augen zusammen und starrte etwas an, das er auf dem Monitor sah. Wieder sah er auf. Langsam trat er auf das Regal zu.
„Was hast du gesehen?“, fragte Jennifer.
„Hat man an dem Regal Blutspuren gefunden?“, fragte er, während er die einzelnen Fächer betrachtete.
Jennifer blätterte in einem kleinen Notizbuch, das sie neben sich auf dem Tisch liegen hatte.
„Ja, einen Tropfen zwischen den...“
„Hier“, stellte Alex fest und deutete auf einen Boden zwischen zwei Fächern, der sich etwa auf seiner Brusthöhe befand. Ein paar kaum sichtbare Tropfen Blut waren entlang der Regalkante eingetrocknet.
Alex betrachtete die kleinen Figuren in den Fächern, die aussahen, wie zum Leben erwachte Dotter, die gerade aus ihrer Eihülle flüchten wollten. Gelbe, unförmige Klöße mit Stummelärmchen und aufgemalten Gesichtern, mit Eierschalen als Windel.
In diesem Regalfach war etwa ein halbes Dutzend dieser Figuren. Alle in anderen Positionen.
„Was ist das?“, fragte Alex und deutete auf die Figuren.
„Das ist Gudetama. Sieht nach FanArt aus.“, erklärte Jennifer.
„Gudetama? FanArt?“, musste Alex nachfragen.
„Gudetama ist ein japanisches Maskottchen. Vergleichbar mit Hello Kitty, falls dir das was sagt. Es ist ein faules Ei. Also faul im Sinne von wenig aktiv, nicht im Sinne von verdorben. Und FanArt ist Kunst, meist Bilder oder Gebasteltes, das die Fans ihren Stars schicken.“, klärte Jennifer auf.
„Hmm.“, quittierte Alex. Er hatte es gehört und verstanden, nachvollziehen konnte er es noch nicht.
„Also, was hast du gesehen?“, fragte Jennifer neugierig.
„Interessanter ist, was ich nicht sehe“, erklärte Alex.
„Ah, es ist dir also nicht entgangen“, schmunzelte Jennifer.
„Ist schwer zu übersehen, wenn etwas so offensichtliches fehlt.“
Er sah sich suchend auf dem Boden um sich herum um.
„Wo ist das ganze Blut?“
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Alex hatte Schwierigkeiten sich auf den Beinen zu halten. Seine rechte Hand griff so fest er konnte die Haltestange, seinen rechten hatte er um Anna gelegt. Diese hielt sich ihrerseits mit dem Arm um Alex geschlungen an seinem Gürtel fest. Bei jeder Bewegung der U-Bahn musste er also ihre gemeinsame Schwerpunktverschiebung berücksichtigen und seine ganze Körperspannung einsetzen, damit sie nicht hin und her geschwenkt wurden. Annas Kopf ruhte so hoch auf seinem Brustkorb, dass er ihre Worte besser durch die Vibration ihrer beiden Schädelknochen, als durch die Luft hören konnte. Ihre andere Hand hielt einen Becher aus einem dieser Läden, die mit Kaffee unaussprechliche Verbrechen begingen. Der Wagon war zu voll um einen Sitzplatz zu finden, aber zu leer, als dass sie durch die anderen Fahrgäste an Ort und Stelle gehalten wurden. Er musste sich konzentrieren, um zu verstehen, was Anna ihm erzählt und sich nicht davon ablenken zu lassen, dass er bei jeder Bewegung des Wagons durch ihre und seine Kleidung hindurch die Reibung Ihres Körpers spürte.
„Wir sollten was essen.“, sagte Anna, das Thema über das sie bisher gesprochen hat abrupt beendend.
„Auf was hast du denn Hunger?“, fragte Alex, seine Füße in den Boden drückend um die Bewegung des Wagons zu kompensieren.
„Ich habe noch keinen richtigen Hunger, aber dein Magen knurrt.“, feixte sie.
Alex hatte gar nicht gemerkt, dass sein Magen bereits angefangen hatte zu knurren, alle Gedanken, die gerade nicht dem Versuch galten sich und seine Freundin nicht umfallen zu lassen, waren noch bei dem Fall des geköpften YouTubers.
„Worauf du Lust hast.“, sagte er schließlich in der Hoffnung, sie würde überlegen und ihm damit die Möglichkeit geben seine eigenen Gedanken zu ordnen, bevor er wieder in die Konversation einstieg.
Sie sah hoch auf den Netzplan, sah nach draußen, und sagte dann entschlossen. „Lass uns gleich aussteigen. Ich hätte Lust auf Nudelsuppe. Und wir sind gerade in der Nähe eines der besten Läden für Nudelsuppe der Stadt.“
Alex war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sein Magen wirklich geknurrt hatte oder ob ihr gerade eingefallen war, dass der Nudelsuppenladen in der Nähe war und sie einen Vorwand suchte, um dorthin zu gehen.
Einige Schritte von ihnen entfernt erhoben sich Stimmen über das allgemeine Geräusch der Bahn. Zwischen einem Mann mittleren Alters und zwei Frauen, von denen eine einen Hidschab trug und wohl schon etwas älter war, war es offenbar zum Streit gekommen.
„Nun lassen sie doch bitte meine Mutter sitzen“, forderte die jüngere der beiden, wobei man ihrer Stimme anhören konnte, dass sie sich zusammenreißen musste nicht laut loszubrüllen.
„Ich saß hier zuerst. Und ich hab‘ den ganzen Tag gearbeitet. Geht doch dahin, wo ihr herkommt.“ Der Mann fuchtelte wild gestikulierend mit einem Arm in der Luft herum und strich sich anschließend über den rasierten Schädel.
„Möchtest du noch?“, unterbrach Anna Alex Fokus auf das Geschehen und hielt ihm ihren Becher vor die Nase.
„Nein, danke“, lehnte Alex ab.
„Ist eh schon kalt.“ Anna verzog den Mund zu einer Schnute.
Alex sah wieder zu dem Mann und den beiden Frauen hinüber. Die Bahn fuhr gerade durch eine Kurve. Das Quietschen war zu laut um im Detail zu hören, was gesagt wurde. Die übrigen Bahninsassen schienen sich nicht für den Streit zu interessieren oder versuchten angestrengt nicht mit hineingezogen zu werden.
„... solltet ihr alle abgeschoben werden“, konnte Alex den Mann sagen hören.
Er wollte sich gerade von Anna losmachen um dem Typen die Leviten zu lesen, als Anna Ihren Griff um ihn löste, sich in die Mitte des Wagons stellte und laut und deutlich zu den Passagieren sprach, wie er es schon so häufig von Verkäufern für Straßenzeitungen oder Fahrkartenkontrolleuren erlebt hatte. Aber der französische Akzent war neu.
„Meine Damen und E'rren. Darf isch einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Mein Name ist Ember LaNuit. Isch bin Performancekunstlerin und isch darf sie zu meiner neuen Performance erzlisch begrüßen. Isch nenne es 'Pluie sur l'écume de l'humanité '.“
Während ihrer Ansprache war sie bis auf eine Armlänge an die Streitenden herangetreten. Alle anderen Unterhaltungen im Waggon sowie der Streit waren verstummt, da alle wie gebannt auf Anna starrten, während sie genüsslich den Deckel von ihrem Kaffeebecher entfernte. Dann begann sie „Why does it always rain on me“ zu singen, während sie dem Mann den kalten Kaffee über die Glatze goss.
Die Bahn kam mit der typischen Geräuschmelange aus Quietschen und dem Surren des herunter geregelten Elektromotors zum Stehen. Die Türen ließen ein kurzes Zischen hören, Alex zog den Türhebel und er und Anna stiegen aus, letztere unter dem Applaus der Mitfahrenden. Der Mann mit der nassen Glatze saß vor Überraschung wie paralysiert immer noch auf seinem Platz und starrte ungläubig Anna hinterher, als sich die Türen schlossen und die Bahn weiterfuhr.
Auf dem Bahnsteig gingen sie langsam Richtung Treppe. Alex nickte Anna anerkennend zu. Sie zwinkerte ihm zu und meinte: „Freiheit der Kunst.“
Alex legte stolz wieder seinen Arm um sie.
Mittlerweile war er sich sicher, dass Anna ihn bewusst, hier hin gelotst hatte. Ihr Orientierungssinn war sonst furchtbar, aber wenn es um Essen ging, war er unfehlbar und hier schien sie genau zu wissen, wo sie lang musste.
Auf einer Zwischenebene der U-Bahn-Station kam ihnen eine Frau mit Kinderwagen entgegen. Alex ging einige Schritte mit Anna weiter, bis im klar wurde, dass die Treppe, die sie gerade hochgegangen waren, ein massives Hindernis für die Frau sein würde. Er entwand sich Annas Umklammerung mit den Worten „Ich muss da mal gerade helfen“ und eilte zurück. Die Frau hatte den Kinderwagen bereits umgedreht und machte sich daran, ihn anzuheben um ihn die Treppe Stufe für Stufe herunter zu setzen.
„Kann ich ihnen helfen?“, fragte Alex in bewusst ruhigem Ton.
Die Frau bedankte sich mit einem Nicken und einem Lächeln und wartete, bis Alex in der Position war unter den Wagen zu greifen, um diesen gemeinsam die Treppe herunter zu tragen.
Alex ergriff den Rahmen des Kinderwagens und ging rückwärts die Treppen hinunter, während die Frau mit dem Griff in der Hand ihm einige Stufen höher folgte.
„Vielen Dank!“, sagte ihm die Frau mit dem Kinderwagen.
„Nichts zu danken.“, entgegnete Alex und machte sich daran, die Treppe wieder hinaufzusteigen. Auf einem Treppenabsatz sah er noch einmal zurück. Die Frau hatte sich auf eine Bank gesetzt, den Kinderwagen daneben gestellt. Ihren Oberkörper hatte sie ihrem Kind zugedreht und tastete in dem Bereich des Kinderwagens herum, an dem Alex den Kopf des Kindes vermutete. Dann blieb Alex stehen. Hatte er gerade wirklich gesehen, was er glaubte? Hatte ihn eine der Anzeigen, die den Fahrgästen Auskunft über die nächsten Züge geben sollte, gerade gebeten zurückzugehen? Er schloss die Augen, wartete eine Sekunde und sah noch einmal hin. Tatsächlich, statt der üblichen Anzeige „U6 Alt-Tegel in 1 Min“ stand dort „Komm zurück Alex“.
Alex trat wieder auf den Bahnsteig.
Die U-Bahn fuhr rumpelnd in die Station ein, die Frau erhob sich, löste die Bremse vom Kinderwagen und schob damit an Alex vorbei. Als sie etwa auf gleicher Höhe mit Alex stand stoppte sie plötzlich. „Er wird kommen. Sei bereit alles aufzugeben.“, sagte sie, mit einem unmenschlichen Unterton in der Stimme.
„Was?“, fragte Alex und sah gerade noch, wie ihre Augen weiß schimmerten, bevor die Frau blinzelte und ihre Augen wieder normal aussahen.