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Koethi Zan

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Beschreibung

Du denkst, du hast das Schlimmste überlebt. Doch das wahre Grauen beginnt jetzt – Danach. »In den ersten zweiunddreißig Monaten und elf Tagen unserer Gefangenschaft waren wir dort unten zu viert. Und dann nur noch drei. Es war still im Keller, und wir fragten uns, wer wohl als Nächstes dran sein würde.« Sarah Farber hat überlebt. Drei lange, grausame Jahre in einem Kellerverlies. Zehn Jahre ist das her, aber Sarah kann nicht vergessen – die Dunkelheit, die Kälte, die Verzweiflung, die Panik. Und sie weiß noch immer nicht, was damals mit ihrer besten Freundin Jennifer geschehen ist. Jetzt kann sie nicht länger vor ihrer Vergangenheit davonlaufen. Ihr Peiniger soll auf Bewährung freikommen, und sie ist die Einzige, die das verhindern kann. Aber nur, wenn sie sich dem Schlimmsten stellt, das sie sich vorstellen kann: der Wahrheit. Koethi Zans große Kunst ist es, das Grauen als Kino im Kopf erfahrbar zu machen: Sarahs Martyrium wird zum eigenen Martyrium, zu einer Qual, die das Vorstellbare übersteigt. Und plötzlich befindet man sich selbst in die dunkelsten Tiefen des Kellers … »›Danach‹ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite in seinen Bann gezogen. Absolut beeindruckend!« Chevy Stevens »Dieses Buch darf man nicht verpassen – Koethi Zans messerscharfer Thriller ist ein echter Page-Turner.« Lisa Gardner »›Danach‹ raubt einem sofort den Atem. Sagen Sie alle Verabredungen ab und denken Sie nicht einmal an Schlaf. Dieser Ausnahme-Thriller wird Sie nicht mehr loslassen.« Jeffery Deaver »Achtung, Suchtgefahr! Wer dieses geniale Debüt anfängt, muss es sofort zu Ende lesen.« Petra »So bedrückend wie mitreißend, so verstörend wie brillant« Kölner Stadt-Anzeiger »Fesselnd, trotzdem aus respektvoller Distanz, ohne lüsternen Voyeurismus, nähert sich die Autorin dem ergreifenden Schicksal Sarahs.« Krimi-Couch »Koethi Zan hat einen unglaublich fesselnden Thriller gelandet. Sogar Leser, die nicht unbedingt zu den begeisterten Krimilesern gehören, werden das Buch nicht aus der Hand legen. Die psychologischen Feinheiten sind raffiniert und überzeugend dargelegt.« Bookreporter »Gerade weil so vieles unausgesprochen bleibt und nur angedeutet wird, läuft bei der Lektüre das Kopfkino permanent mit. Das Grauen wird fühlbar und als Leser leidet man förmlich mit den gefangen gehaltenen Frauen mit. So sollte ein spannender Psychothriller geschrieben sein!« Krimikiosk

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Danach

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Verena Kilchling

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Inhalt

Für E. B. B., die immer [...]»Der Mensch ist schlimm. [...]123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839Über Koethi ZanDank

Für E. B. B., die immer glaubte

»Der Mensch ist schlimm. Letztlich erträgt er alles. Alles.« Petra von Kant

 

Rainer Werner Fassbinder Die bitteren Tränen der Petra von Kant

1

In den ersten zweiunddreißig Monaten und elf Tagen unserer Gefangenschaft waren wir dort unten zu viert. Und dann, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, waren wir nur noch drei. Obwohl Jennifer seit Monaten keinen Laut mehr von sich gegeben hatte, wurde es sehr still im Raum, als sie fort war. Noch lange saßen wir schweigend im Dunkeln und grübelten, wer von uns wohl als Nächstes in die Kiste musste.

 

Jennifer und ich hätten niemals in diesem Keller landen dürfen. Wir waren keine typischen Achtzehnjährigen, die sofort jede Vorsicht vergaßen, sobald sie in die Freiheit des Studentenlebens entlassen wurden. Im Gegenteil, wir nahmen diese Freiheit sehr ernst und überwachten sie so streng, dass sie kaum noch existierte. Denn wir wussten besser als jeder andere, was in der großen weiten Welt auf uns lauerte, und wir hatten nicht vor, leichte Beute zu werden.

Als Achtzehnjährige hatten wir bereits Jahre damit zugebracht, jede Gefahr, mit der wir jemals in Berührung kommen konnten, penibel und systematisch zu analysieren und zu dokumentieren: Lawinen, Krankheiten, Erdbeben, Autounfälle, Psychopathen, wilde Tiere – sämtliches Unheil, das uns vor der Haustür erwartete. Wir glaubten, unsere Paranoia würde uns beschützen, denn wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Mädchen, die sich derart gut mit Katastrophen und traumatischen Erfahrungen auskennen, eben diesen zum Opfer fallen?

Für uns gab es so etwas wie das Schicksal nicht. Schicksal war ein Wort, das man benutzte, wenn man unvorbereitet war, wenn man leichtsinnig wurde, wenn die Aufmerksamkeit nachließ. Schicksal war die Krücke der Schwachen.

Unsere immer mehr an Manie grenzende Vorsicht hatte sechs Jahre zuvor ihren Anfang genommen. Wir waren zwölf, und Jennifers Mutter hatte uns an einem kalten, aber sonnigen Januartag des Jahres 1991 mit dem Auto von der Schule abgeholt, genau wie an jedem anderen Wochentag. Ich erinnere mich nicht an den Unfall. Ich weiß nur noch, wie ich im gleichmäßigen, tröstenden Rhythmus des Herzfrequenzmonitors nach und nach zurück ins Licht fand. Noch Tage später fühlte ich mich bei jedem Aufwachen warm und vollkommen sicher, bis mir wieder einfiel, wo ich war. Stück für Stück holte die Zeit meine Gedanken ein, und mein Herz wurde immer schwerer.

Jennifer erzählte mir hinterher, dass sie sich noch lebhaft an den Zusammenstoß erinnern könne. Es waren typisch posttraumatische Bilder, die sie vor Augen hatte: unscharfe Traumsequenzen in Zeitlupe, Farben und Lichter, die einen wilden Strudel von operettenhafter Leuchtkraft bildeten. Uns wurde gesagt, wir hätten Glück gehabt, dass wir mit schweren Verletzungen davongekommen seien und uns nach der vage erinnerten Zeit auf der Intensivstation mit ihren Ärzten und Krankenschwestern, Nadeln und Schläuchen vier Monate lang auf der Rehastation erholen dürften, in einem kahlen Krankenhauszimmer, in dem ununterbrochen CNN aus dem Fernseher plärrte. Jennifers Mutter war dieses Glück nicht beschieden.

Wir lagen zusammen auf dem Zimmer, angeblich damit wir uns während der langen Genesungszeit gegenseitig Gesellschaft leisten konnten und damit ich, wie mir meine Mutter zuflüsterte, Jennifer durch ihre Trauer half. Aber ein weiterer Grund war wohl der, dass Jennifers Vater – der von ihrer Mutter in Scheidung lebte und sich bisweilen so betrank, dass wir ihm immer tunlichst aus dem Weg gegangen waren –, heilfroh war, als meine Eltern anboten, sich mit der Krankenwache abzuwechseln. Je besser es uns ging, desto öfter ließen uns meine Eltern allein. Damals fingen wir an, die Tagebücher zu schreiben – als Zeitvertreib, wie wir uns gegenseitig versicherten. Aber im tiefsten Inneren wussten wir beide, dass wir damit zumindest ansatzweise die Kontrolle über ein ungerechtes Universum zurückgewinnen wollten.

Das erste behelfsmäßige Tagebuch war ein Notizblock mit der Aufschrift Jones Memorial Hospital, der auf jedem Nachttisch im Krankenhaus auslag und den wohl nur wenige als unser Tagebuch erkannt hätten, hatten wir ihn doch schlicht mit einer Liste von Schreckensmeldungen vollgekritzelt, die wir im Fernsehen gesehen hatten. Im Laufe unseres Aufenthalts baten wir die Krankenschwestern noch um drei weitere Blöcke. Bestimmt dachten sie, wir würden uns die Zeit mit Tic Tac Toe oder Galgenmännchen vertreiben. Auf die Idee, den Fernsehsender zu wechseln, kam niemand.

Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, machten wir uns ernsthaft ans Tagebuchschreiben. In der Schulbibliothek fanden wir Almanache, medizinische Fachzeitschriften und sogar ein Buch mit Versicherungsstatistiken von 1987. Wir sammelten Daten, rechneten, dokumentierten, füllten Zeile für Zeile mit Beweisen für die menschliche Verwundbarkeit.

Anfangs waren die Tagebücher in acht einfache Kategorien unterteilt, aber mit zunehmendem Alter stellten wir entsetzt fest, wie viele Dinge es gab, die noch schlimmer waren als »Flugzeugabstürze«, »Haushaltsunfälle« und »Krebs«. Schweigend saßen wir auf der sonnigen Fensterbank meines Dachzimmers, bis Jennifer nach reiflicher Überlegung mit fettem schwarzem Edding neue Überschriften zu Papier brachte: »Menschenraub«, »Vergewaltigung«, »Mord«.

Unser großer Trost waren die Statistiken. Wissen ist Macht, dachten wir. Wir wussten, dass die Wahrscheinlichkeit, in einem Tornado zu sterben, eins zu zwei Millionen betrug, die eines tödlichen Flugzeugabsturzes eins zu 310000 und die, von einem auf die Erde fallenden Asteroiden getroffen zu werden, eins zu 500000. In unserer verzerrten Wahrnehmung verbesserte allein die Tatsache, dass wir diese endlosen Zahlenreihen kannten und auswendig aufsagen konnten, unsere Überlebenschancen. Magisches Denken lautete das Urteil der Therapeuten, nachdem ich eines Tages nach Hause gekommen war und alle siebzehn Tagebücher gestapelt auf dem Küchentisch vorgefunden hatte, neben meinen Eltern, die mit Tränen in den Augen auf mich warteten.

Inzwischen war ich sechzehn, und Jennifer war bei uns eingezogen, weil ihr Vater zum dritten Mal mit Alkohol am Steuer erwischt worden war und ins Gefängnis musste. Wir hatten beschlossen, dass Autofahren in unserem Alter zu gefährlich ist (den Führerschein machten wir erst eineinhalb Jahre später), und besuchten ihn daher mit dem Bus. Eigentlich hatte ich Jennifers Vater noch nie gemocht, und nun stellte sich heraus, dass es ihr genauso ging. Rückblickend verstehe ich nicht, warum wir ihn überhaupt besuchten, aber wir fuhren zuverlässig jeden ersten Samstag im Monat ins Gefängnis. Meistens sah er Jennifer nur an und weinte, aber manchmal versuchte er auch vergeblich, ihr etwas zu sagen. Jennifer verzog keine Miene und starrte ihn mit einem so ausdruckslosen Blick an, wie ich ihn nie wieder an ihr gesehen habe, nicht einmal später im Kellerverlies. Während die beiden sich anschwiegen, saß ich ein Stück entfernt und rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl herum. Ihr Vater war das einzige Thema, über das sie nie mit mir sprach – nicht ein einziges Wort –, und so hielt ich auf der Rückfahrt im Bus stumm ihre Hand und ließ sie in Ruhe.

Im letzten Sommer vor dem College erreichte unsere Paranoia ihren Höhepunkt. Bald würden wir mein Dachzimmer, das wir uns die letzten Jahre geteilt hatten, verlassen und unbekanntes Terrain betreten müssen: den Uni-Campus. Als Vorbereitung schrieben wir die Niemals-Liste und hängten sie an die Rückseite meiner Zimmertür. Jennifer litt unter Schlafstörungen und stand oft mitten in der Nacht auf, um neue Punkte auf die Liste zu schreiben: Niemals abends alleine in die Unibibliothek gehen, niemals weiter als sechs Parkplätze vom Zielort entfernt parken, niemals einem Fremden bei einer Reifenpanne helfen. Niemals, niemals, niemals.

Im Wohnheim wählten wir ein Zimmer in einem Flachbau, damit wir im Brandfall gefahrlos aus dem Fenster springen konnten. Wir studierten genauestens den Campusplan und reisten drei Tage früher an, um die Fußwege zwischen den einzelnen Gebäuden auf Beleuchtung, Sichtbarkeit und Nähe zu öffentlichen Einrichtungen zu prüfen. Wir packten gewissenhaft alle Schätze ein, die wir uns im Laufe der Jahre zu Weihnachten oder zum Geburtstag hatten schenken lassen: Mundschutz, antibakterielle Seife, Taschenlampen, Pfefferspray.

Im Wohnheim angekommen, holte Jennifer schon ihr Werkzeug hervor, bevor wir überhaupt die Koffer ausgepackt hatten. Sie bohrte Löcher in unseren Fensterrahmen, und ich schob dünne, aber bruchsichere Metallstäbe durchs Holz, damit man das Fenster auch bei eingeworfener Scheibe nicht von außen öffnen konnte. Wir besorgten uns bei der Campus-Aufsicht die Sondererlaubnis für ein zusätzliches Bolzenschloss an unserer Zimmertür. Neben dem Fenster bewahrten wir eine Strickleiter und zwei Zangen auf, damit wir die Metallstäbe wieder entfernen konnten, falls wir schnell flüchten mussten. Als krönenden Abschluss hängte Jennifer noch die Niemals-Liste an die Wand zwischen unseren Betten. Zufrieden begutachteten wir unser Werk.

Vielleicht hat die Welt am Ende eine perverse Art von Gerechtigkeit an uns geübt. Oder vielleicht war das Risiko, in dieser Welt zu leben, doch größer, als wir kalkuliert hatten. Auf jeden Fall hatten wir unsere Grenzen überschritten, indem wir so taten, als lebten wir ein normales Studentenleben. Also wirklich, dachte ich hinterher, wir wussten es doch eigentlich besser. Aber damals war die Versuchung, sich zu verhalten, wie die anderen es taten, einfach zu groß gewesen. Wir hatten ohne die jeweils andere Seminare besucht, selbst wenn sie an entgegengesetzten Enden des Campus stattfanden. Wir waren manchmal lange nach Einbruch der Dunkelheit in der Bibliothek geblieben und hatten mit neuen Freunden geplaudert. Wir waren sogar zu ein paar Campuspartys gegangen. Wie ganz gewöhnliche Studentinnen.

Nach nur zwei Monaten an der Uni hegte ich insgeheim tatsächlich die Hoffnung, dass wir anfangen könnten, wie normale Menschen zu leben. Ich glaubte, dass wir die Ängste und Sorgen unserer Jugend einfach beiseiteschieben und wie unser Kinderspielzeug in Kartons verpacken könnten. In ketzerischer Abkehr von allem, woran wir glaubten, erwachte in mir der Gedanke, dass unsere Kindheitsobsessionen vielleicht nur das waren: Obsessionen. Und dass wir jetzt endlich erwachsen wurden.

Glücklicherweise sprach ich diese halbgaren Überlegungen nie aus und handelte auch nicht danach. Nur so war ich während der dunklen Tage und Nächte in Gefangenschaft halbwegs in der Lage, sie mir zu verzeihen. Wir waren doch nur College-Mädchen, die getan hatten, was College-Mädchen eben tun! Außerdem waren wir unserem Protokoll bis zum bitteren Ende treu geblieben, wie ich mir später tröstend sagte. Fast mechanisch hatten wir unsere Schutzstrategien befolgt, mit militärischer Präzision und Konzentration, ein kontinuierlicher täglicher Sicherheitsdrill. Jede Unternehmung musste zunächst einen Dreipunktetest bestehen, fand nur nach genauen Regeln statt und setzte immer einen Plan B voraus. Wir waren auf der Hut. Wir waren mehr als vorsichtig.

Der Abend, an dem es passierte, bildete keine Ausnahme. Noch vor unserem Einzug ins Wohnheim hatten wir recherchiert, welcher Taxiservice die beste Unfallbilanz vorzuweisen hatte, und hatten dort ein Kundenkonto eröffnet. Wir ließen die Kosten direkt von unseren Kreditkarten abbuchen, für den Fall, dass uns je das Bargeld ausging oder uns das Portemonnaie gestohlen wurde. Schließlich war »Niemals irgendwo festsitzen« Punkt siebenunddreißig auf unserer Liste. Nach zwei Monaten erkannte der Typ in der Zentrale bereits unsere Stimmen. Wir mussten ihm nur eine Abholadresse nennen und wurden Minuten später sicher zurück in unsere Wohnheimfestung kutschiert.

An besagtem Abend besuchten wir eine Privatparty außerhalb des Campus – ein Novum für uns –, die gerade erst richtig in Schwung kam, als wir gegen Mitternacht beschlossen, dass wir unser Glück genug herausgefordert hatten. Wir riefen beim Taxiservice an, woraufhin in Rekordzeit eine etwas heruntergekommene schwarze Limousine erschien. Uns fiel nichts Außergewöhnliches auf, bis wir auf dem Rücksitz saßen und uns angeschnallt hatten. Das Auto roch komisch, aber ich tat es mit einem Schulterzucken als Ärgernis ab, das bei einem kleinen privaten Taxiunternehmen schon einmal vorkommen konnte. Nachdem wir ein paar Minuten gefahren waren, döste Jennifer ein, den Kopf an meine Schulter gelegt.

Diese Erinnerung, die letzte an unser früheres Leben, ist in meinem Gedächtnis als Moment vollkommenen Friedens gespeichert. Ich war mit mir im Reinen und freute mich auf das Leben, das echte Leben. Wir machten Fortschritte. Wir würden glücklich sein. Ich muss wohl ebenfalls eingenickt sein, denn als ich die Augen wieder aufmachte, saßen wir in völliger Dunkelheit auf dem Rücksitz. Das matte Leuchten der Sterne hatte die Lichter der Stadt ersetzt, und die schwarze Limousine raste auf einem leeren Highway dahin. Vor uns war nur undeutlich die Linie des Horizonts zu erkennen. Das hier war nicht der Weg nach Hause.

Panik stieg in mir auf, bis ich mich an Punkt sieben auf der Niemals-Liste erinnerte: »Niemals in Panik geraten«. Blitzschnell rekonstruierte ich den Tag und suchte vergeblich nach einem Fehler. Denn zu so etwas konnte es nur durch einen Fehler gekommen sein. Das war nicht unser »Schicksal«.

Plötzlich ging mir voller Bitterkeit auf, dass wir den grundlegendsten und elementarsten Fehler von allen gemacht hatten. Jede Mutter bringt ihrem Kind dieselbe einfache Regel bei, die auch eine der wichtigsten Regeln auf unserer Liste war: »Niemals zu einem Fremden ins Auto steigen«.

In unserer Selbstüberschätzung hatten wir geglaubt, dass wir diese Regel aufgrund unserer Logik, unserer Recherchen und unserer Vorsichtsmaßnahmen außer Kraft setzen könnten. Aber nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass wir Opfer unseres eigenen Regelbruchs geworden waren. Wir hatten uns wie naive Kinder verhalten. Denn es hatte unser Vorstellungsvermögen überstiegen, dass andere Menschen auch so berechnend handeln konnten wie wir. Wir hatten nicht einmal damit gerechnet, dass nicht blinde statistische Wahrscheinlichkeiten unser Feind waren, sondern echte Bösartigkeit.

In jener Nacht im Auto holte ich dreimal tief Luft und betrachtete für einen langen, traurigen Moment Jennifers friedliches Gesicht. Mir war klar: Sobald ich sie weckte, würde zum zweiten Mal in ihrem jungen Leben die Welt für sie zusammenbrechen. Voller Angst legte ich schließlich die Hand auf ihre Schulter und schüttelte sie sanft. Zunächst war ihr Blick noch verschwommen. Ich legte den Finger an die Lippen, während sie sich umsah und ihre Umgebung wahrzunehmen begann. Als sich die Erkenntnis und die Furcht auf ihrem Gesicht abzeichneten, entfuhr mir ein Wimmern, das ich unterdrückte, indem ich die Hand vor den Mund legte. Jennifer hatte schon zu viel erlebt und zu viel erleiden müssen. Sie konnte diese Sache unmöglich ohne mich durchstehen. Ich musste stark sein.

Keine von uns gab einen Laut von sich. Wir waren darauf trainiert, in Notsituationen unsere Impulse zu unterdrücken. Und das hier war eindeutig eine Notsituation.

Durch die dicke, durchscheinende Plastiktrennwand sahen wir nur sehr wenig von unserem Entführer: dunkelbraune Haare, schwarze Jacke, große Hände auf dem Lenkrad. Links am Nacken trug er eine kleine, teilweise vom Kragen verdeckte Tätowierung, die ich in der Dunkelheit nicht richtig erkennen konnte. Mir lief ein Schauder über den Rücken. Der Rückspiegel war so eingestellt, dass wir fast nichts von seinem Gesicht sehen konnten.

So lautlos wir konnten überprüften wir die Türgriffe. Die Autotüren waren zentralverriegelt. Auch die Fensterheber waren deaktiviert. Wir saßen in der Falle.

Jennifer beugte sich langsam vor und hob ihre Tasche vom Boden hoch. Während sie leise darin herumwühlte, hielt sie den Blick unverwandt auf mich gerichtet. Sie zog ihr Pfefferspray hervor. Ich schüttelte den Kopf, weil ich wusste, dass das Spray uns im engen, luftdichten Inneren des Wagens nichts nützte. Trotzdem fühlten wir uns sicherer damit. Ich kramte in meiner eigenen Tasche und zog eine identische Spraydose und ein kleines tragbares Alarmgerät mit Panic Button heraus. Uns blieb nichts anderes übrig als schweigend und starr vor Entsetzen abzuwarten, während unsere zitternden Hände die Pfeffersprays umklammerten und uns trotz der kühlen Oktoberluft der Schweiß auf der Stirn stand.

Auf der Suche nach einem Plan ließ ich den Blick durchs Innere der Limousine schweifen, und da bemerkte ich sie: In der Trennwand befanden sich auf meiner Seite kleine Belüftungsschlitze, und auch auf Jennifers Seite waren welche. Dort aber waren sie mit selbstgebastelten Ventilen aus Metall und Gummi verbunden, die wiederum an einen Schlauch angeschlossen waren, der im Fußraum der Fahrerkabine verschwand. Ich saß ganz still da und starrte auf die Lüftungsschlitze. In meinem Kopf drehte sich alles, und ich war zunächst unfähig, auch nur einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Dann verstand ich endlich.

»Er wird uns betäuben«, flüsterte ich Jennifer zu und blickte voller Bedauern auf das Pfefferspray in meiner Hand. Ich wusste, dass es nie zum Einsatz kommen würde. Fast zärtlich strich ich über die Spraydose und ließ sie dann auf den Boden fallen. Jennifer folgte meinem Blick und verstand sofort, was die Konstruktion an den Lüftungsschlitzen bedeutete: Es gab keine Hoffnung.

Er musste mich sprechen gehört haben, denn nur Sekunden später verriet uns ein leises Zischen, dass wir bald sehr schläfrig werden würden. Die Lüftungsschlitze auf meiner Seite schlossen sich. Jennifer und ich hielten uns fest an der Hand und umklammerten mit der anderen die Außenseiten der Kunstledersitze, während die Welt um uns herum versank.

Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem dunklen Keller, der mehr als drei Jahre lang mein Zuhause werden sollte. Langsam schüttelte ich meine Benommenheit ab und versuchte, in dem grauen Meer vor meinen Augen etwas zu erkennen. Als ich endlich Konturen wahrnahm, schloss ich sofort wieder fest die Augen, um die Panik zu bekämpfen, die mich zu überwältigen drohte. Ich wartete zehn, zwanzig, dreißig Sekunden und öffnete dann erneut die Augen, um an meinem Körper hinunterzublicken. Ich war nackt und mit dem Fußknöchel an die Wand gekettet. Ein eiskalter Schauder durchfuhr meinen ganzen Körper, und mir wurde übel.

Ich war nicht alleine. In dem Keller waren noch zwei weitere Mädchen, abgemagert und nackt, die neben mir an die Wand gekettet waren. Vor uns stand eine Kiste, eine einfache Transportkiste aus Holz, etwa eineinhalb Meter lang und einen guten Meter breit. Die Öffnung der Kiste war von mir weggedreht, daher wusste ich nicht, ob sie einen Deckel hatte. Über uns an der Decke baumelte eine trübe Glühbirne, die ein wenig hin- und herpendelte.

Jennifer war nirgendwo zu sehen.

2

Dreizehn Jahre später hätte jeder, der mich nicht kannte – und machen wir uns nichts vor: mich kannte niemand –, glauben können, dass ich das Traumleben einer jungen Singlefrau in New York führte. Er hätte glauben können, dass sich für mich doch noch alles zum Guten gewendet hatte. Ich hatte weitergemacht, war darüber hinweggekommen, hatte das Trauma überstanden. Meine frühe Vorliebe für statistische Wahrscheinlichkeiten hatte sich ausgezahlt, und ich hatte einen festen, wenn auch nicht besonders glamourösen Job als Versicherungsmathematikerin bei einer Lebensversicherung ergattert. Wie passend, dass ich jetzt für eine Firma arbeitete, die Wetten über Tod und Unglücksfälle abschloss. Außerdem konnte ich von zu Hause aus arbeiten. Der Himmel auf Erden.

Meine Eltern verstanden nicht, warum ich so schnell nach New York City ziehen musste, obwohl ich mich noch längst nicht vollständig erholt hatte und jede Menge Ängste mit mir herumschleppte. Sie verstanden nicht, dass ich mich sicherer fühlte, wenn zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschenmassen vor meiner Tür unterwegs waren. Ich erklärte ihnen, dass in einer Stadt, die niemals schläft, immer jemand da ist, der einen schreien hört. Noch grandioser aber fand ich – und auch das konnten meine Eltern nicht nachvollziehen –, dass es in New York Wohnhäuser mit Pförtnern gab. Dort wohnte ich also, in der Upper West Side von Manhattan, umgeben von Millionen von Menschen und dennoch unerreichbar, wenn ich nicht erreicht werden wollte.

War Besuch da, meldete sich Bob über die Sprechanlage, und wenn ich nicht dranging, wusste er, dass ich niemanden sehen wollte – egal um was es ging. Wenn ich Essen bestellt hatte, nahm er die Bestellung entgegen und brachte sie mir persönlich nach oben, weil ihm die verrückte junge Frau aus Wohnung 11G leidtat, aber auch, weil ich ihm an Feiertagen dreimal so viel Trinkgeld gab wie alle anderen. Wenn ich wollte, konnte ich Tag für Tag zu Hause bleiben, rund um die Uhr, und mir jede Mahlzeit liefern und jede Besorgung von einem Boten erledigen lassen. Ich besaß eine blitzschnelle Internetverbindung und Kabelfernsehen im Premiumpaket. Es gab nichts, was mich zwang, die Ungestörtheit meiner großzügigen, gut ausgestatteten Wohnung zu verlassen, die ich mit Hilfe meiner Eltern gekauft hatte.

Die ersten Jahre in Freiheit waren der pure Wahnsinn, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Aber fünf Sitzungen pro Woche bei Dr. Simmons, der Therapeutin, die uns zur Verfügung gestellt worden war, hatten es mir ermöglicht, mein Studium zu beenden, einen Job zu finden und einigermaßen zu funktionieren in der echten Welt. Aber je mehr Zeit ins Land ging, desto mehr stagnierte das Verhältnis zu meiner Seelenklempnerin, und ich musste feststellen, dass ich über einen gewissen Punkt nicht hinauskam.

Und dann legte ich den Rückwärtsgang ein. Zog mich langsam und kaum merklich zurück. Bis es mir allmählich immer schwerer fiel, vor die Tür zu gehen. Inmitten einer verrückten, ins Schleudern geratenen Welt, deren Bosheit ich jeden Tag mit Hilfe einer immer ausgeklügelteren Software in Zahlen fasste und die sich mir immer mehr einbrannte, zog ich es vor, in meinem sicheren Kokon zu bleiben.

Aber dann summte eines Tages die Sprechanlage, und Bob teilte mir mit, es sei keine Lieferung, sondern ein Mann aus Fleisch und Blut. Ich hätte ihn nicht herauflassen sollen, aber ich hatte das Gefühl, dass es das Mindeste war, was ich diesem Besucher schuldete. Und so begann alles.

»Caroline!«, rief Agent McCordy und klopfte an meine Tür, während ich zur Salzsäule erstarrt auf der anderen Seite stand. Ich hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, seit vor zwei Jahren der letzte Brief aus dem Gefängnis gekommen war. Ich war noch nicht bereit für einen weiteren.

Nach dem letzten Brief hatte ich angefangen, die Wohnung überhaupt nicht mehr zu verlassen. Allein die Tatsache, dass ich etwas angefasst hatte, was er angefasst hatte, etwas gelesen hatte, was er gedacht hatte, genügte, um mich zurück in einen Taumel aus Angst und Verzweiflung zu versetzen, den ich längst hinter mir gelassen zu haben glaubte. Dr. Simmons ging dazu über, regelmäßige Hausbesuche bei mir zu machen. Sie sagte es zwar nicht, aber ich wusste, dass ich im ersten Monat nach dem Brief wegen Selbstmordgefahr unter besonderer Beobachtung stand. Meine Mutter flog nach New York, mein Vater rief jeden Abend an. Ich wurde belagert. Und jetzt fing alles wieder von vorne an.

»Caroline, würden Sie bitte die Tür aufmachen?«

»Sarah«, verbesserte ich ihn und ärgerte mich darüber, dass er sich an die Regeln hielt und diesen anderen Namen benutzte.

»Entschuldigen Sie, ich meinte Sarah. Lassen Sie mich rein?«

»Haben Sie wieder einen Brief?«

»Ich muss über etwas Wichtigeres mit Ihnen sprechen, Car… Sarah. Ich weiß, dass Dr. Simmons Sie bereits auf diesen Moment vorbereitet hat. Sie hat gesagt, ich könnte vorbeikommen.«

»Ich möchte aber nicht darüber reden. Ich bin noch nicht so weit.« Ich zögerte, bevor ich mich in das Unvermeidliche fügte und zaghaft die drei Bolzenschlösser und das normale Türschloss entriegelte und langsam die Tür öffnete. Dort stand er und hielt mir seine aufgeklappte Polizeimarke hin. Er wusste, dass ich mich vergewissern wollte, ob alles seine Richtigkeit hatte. Ich nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis. Dann wurde ich ernst, verschränkte abwehrend die Arme und trat einen Schritt zurück. »Warum ich?«

Ich machte kehrt, und er folgte mir in die Wohnung, wo wir im Wohnzimmer Platz nahmen. Ich bot ihm nichts zu trinken an, weil ich Angst hatte, dass er sich zu wohl fühlen und zu lange bleiben könnte. Er sah sich um.

»Absolut makellos«, lobte er lächelnd. »Sie ändern sich nie, Sarah.« Er zog einen Notizblock und einen Kugelschreiber hervor und legte sie penibel im Neunziggradwinkel auf den Wohnzimmertisch.

»Sie auch nicht«, gab ich zurück und musste unwillkürlich wieder lächeln.

»Sie wissen genau warum«, sagte er langsam und kam damit auf meine Frage zurück. »Und Sie wissen auch, warum es jetzt sein muss. Der Zeitpunkt ist gekommen.«

»Wann?«

»In vier Monaten. Ich bin etwas früher gekommen, um Sie vorzubereiten. Wir können uns zusammen vorbereiten. Wir erarbeiten jeden einzelnen Schritt mit Ihnen. Sie sind nicht allein.«

»Und was ist mit Christine? Und Tracy?«

»Christine spricht weder mit uns noch mit ihrer Sozialarbeiterin. Sie blockt uns vehement ab. Sie hat einen Investmentbanker geheiratet, der weder ihre Vergangenheit noch ihren echten Namen kennt, und wohnt mit ihm und den beiden gemeinsamen Töchtern in der Park Avenue. Eine der Töchter besucht seit diesem Jahr die Episcopal School. Christine macht einen großen Bogen um das Thema.«

Ich hatte bereits eine ungefähre Vorstellung von Christines Leben gehabt, aber es war mir immer unglaublich erschienen, wie gründlich sie die ganze Erfahrung aus ihrem Leben verdrängt hatte, sie herausgeschnitten hatte wie ein Krebsgeschwür. Dabei hätte ich es wissen müssen, denn Christine war diejenige gewesen, die nach dem ganzen Pressewirbel um unsere Geschichte geänderte Identitäten vorgeschlagen hatte. Mit einem festen Ziel vor Augen war sie aus der Polizeiwache getreten, so als hätte sie nicht die letzten zwei Jahre gehungert und die letzten drei Jahre zusammengekrümmt und heulend in einer Ecke verbracht. Sie blickte nicht zurück. Verabschiedete sich nicht von mir und Tracy. Zerbrach nicht, gab sich nicht geschlagen, kapitulierte nicht vor den jahrelangen Demütigungen und Schmerzen. Sie marschierte einfach davon.

Danach erfuhren wir von Christine nur noch durch die Sozialarbeiterin, die für uns alle zuständig war und uns jedes Jahr zusammenzutrommeln versuchte, in der irrigen Annahme, wir könnten uns gegenseitig helfen, über alles hinwegzukommen. Christines Antwort lautete jedes Mal, dass sie bereits darüber hinweg sei. Und wir konnten bleiben, wo der Pfeffer wächst.

»Dann eben Tracy.«

»Tracy kommt, aber Sie verstehen sicher, dass Tracy alleine nicht reicht.«

»Warum nicht? Sie hat sich wieder gefangen, ist geistreich, eloquent. Man könnte sie sogar als Kleinunternehmerin bezeichnen. Ist das nicht seriös genug?«

Er lachte. »Tja, vermutlich ist sie tatsächlich so etwas wie ein produktives Mitglied unserer Gesellschaft, aber sie ist eben nicht die nette Gemüsehändlerin von nebenan. Eher die radikale feministische Aktivistin. Und da die Zeitschrift, die sie herausgibt, vor allem Gewalt gegen Frauen thematisiert, könnte es so aussehen, als wäre sie voreingenommen und als wollte sie ein Exempel statuieren.«

Er hielt inne und fuhr dann fort: »Natürlich ist sie eloquent. Nach all den Jahren, die sie an der Uni verbracht hat, ist das ja nicht weiter verwunderlich. Aber ich denke nicht, dass sie allein vor den Bewährungsausschuss treten sollte. Tracy könnte leicht in Angriffslaune geraten und beim Ausschuss nicht das nötige Mitgefühl erzeugen. Und dass ihr geschorener Kopf und ihre einundvierzig Tätowierungen die Sache nicht besser machen, brauche ich ja nicht zu erwähnen.«

»Woher …«

»Ich habe sie gefragt. Nachgezählt habe ich nicht.« Er machte eine Pause. »Carol…«

»SARAH.«

»Sarah, wann haben Sie diese Wohnung das letzte Mal verlassen?«

»Was meinen Sie?« Ich wandte mich von ihm ab und sah mich in der Wohnung um, als könnte es mir meine Schuldgefühle nehmen, dieses ganz in Weiß gehaltene Vorkriegsjuwel. Ein kleines, selbstgeschaffenes Paradies. »Ist doch schön hier. Warum sollte ich die Wohnung verlassen wollen?«

»Sie wissen genau, was ich meine. Wann waren Sie das letzte Mal draußen? Um irgendwohin zu gehen? Um spazieren zu gehen? Frische Luft zu schnappen? Sich zu bewegen?«

»Ich mache die Fenster auf. Manchmal. Und ich bewege mich. Sie wissen schon. Hier drinnen.« Ich blickte mich um. Trotz des herrlichen Frühlingswetters waren alle Fenster geschlossen und verriegelt.

»Weiß Dr. Simmons das?«

»Klar weiß sie das. Sie sagt, sie würde mich nie ›zu etwas zwingen, was meine Fähigkeiten übersteigt‹. Oder so. Keine Sorge: Dr. Simmons hat alles im Griff. Sie hat meine Nummer, beziehungsweise meine Nummern. Zwangsneurose, Platzangst, Angst vor Berührungen, posttraumatisches Belastungssyndrom. Sie behandelt mich immer noch dreimal die Woche. Ja, hier in dieser Wohnung. Sehen Sie mich nicht so an! Ich bin eine aufrechte Bürgerin mit einer festen Arbeit und einer hübschen Wohnung. Mir geht’s gut. Es könnte wesentlich schlimmer sein.«

Jim sah mich lange mitleidig an. Ich wich seinem Blick aus und schämte mich zum ersten Mal seit geraumer Zeit ein wenig. Als er schließlich das Wort ergriff, klang er sehr ernst.

»Sarah«, sagte er. »Es gibt tatsächlich einen neuen Brief.«

»Dann schicken Sie ihn mir«, sagte ich mit einer Heftigkeit, die uns beide überraschte.

»Dr. Simmons ist sich nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre. Sie war dagegen, dass ich Ihnen davon erzähle.«

»Es ist mein Brief. Er ist an mich adressiert, oder etwa nicht? Und deshalb müssen Sie ihn mir weiterleiten. Ist das nicht sogar gesetzlich vorgeschrieben?« Ich stand auf und fing an, im Zimmer auf- und abzugehen und auf dem Daumennagel herumzukauen.

»Der Brief ergibt aber keinen Sinn. Er schwafelt nur wieder wirres Zeug, hauptsächlich über seine Frau.«

»Ich weiß, dass der Brief keinen Sinn ergibt. Keiner seiner Briefe ergibt Sinn. Aber eines Tages macht er einen Fehler und hinterlässt einen Hinweis. Eines Tages verrät er mir, wo die Leiche ist. Vielleicht sagt er es nicht direkt, aber er wird etwas preisgeben, was mir verrät, wo ich suchen muss.«

»Und wie wollen Sie das mit der Suche anstellen? Sie verlassen doch noch nicht einmal die Wohnung! Und bei der Anhörung vor dem Bewährungsausschuss wollen Sie auch nicht aussagen.«

»Was für eine Durchgeknallte heiratet denn so einen Typen?«, ignorierte ich seinen Einwurf und beschleunigte meine Schritte. »Wer sind diese Frauen, die Briefe an Knackis schreiben? Sehnen sie sich insgeheim danach, angekettet, gefoltert und ermordet zu werden? Reizt sie das Spiel mit dem Feuer? Wollen sie einfach nur nahe genug an die Glut heran, um sich zu verbrennen?«

»Na ja, angeblich hat sie seinen Namen von ihrer Gemeinde. Die Kirche hat das Ganze angezettelt, als eine Art Mission der Barmherzigkeit. Er und sein Anwalt behaupten, es hätte funktioniert, und er hätte inzwischen zum Glauben gefunden.«

»Und? Halten Sie das auch nur ansatzweise für die Wahrheit?«

Er schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander.

»Seine Frau ist die Erste, die es bereut, wenn er rauskommt, da können Sie Gift drauf nehmen.« Ich ging wieder zum Sofa, setzte mich und stützte den Kopf in die Hände. Mit einem Seufzer fügte ich hinzu: »Ich kann nicht mal Mitleid für sie empfinden. Was für eine Idiotin!«

Unter normalen Umständen hätte Jim mir sicher eine Hand auf die Schulter oder vielleicht sogar den Arm um mich gelegt. Ganz normale, tröstende Handlungen. Aber er wusste es besser und blieb, wo er war.

»Hören Sie, Sarah: Sie glauben nicht, dass er plötzlich fromm geworden ist, und ich glaube es auch nicht. Aber was, wenn der Bewährungsausschuss es glaubt? Was, wenn dieser Kerl nur schlappe zehn Jahre dafür einsitzt, dass er euch gefangen gehalten und – wenn unser Verdacht stimmt – mindestens eine von euch umgebracht hat, vielleicht sogar noch weitere Mädchen? Zehn Jahre? Reicht Ihnen das? Ist das genug für das, was er getan hat?«

Ich drehte mich von ihm weg, damit er die Tränen nicht sah, die mir in die Augen schossen.

»Das Haus gehört immer noch ihm«, fuhr Jim fort. »Wenn er rauskommt, geht er schnurstracks dorthin zurück. In das Haus. In vier Monaten. Mit seiner Baptistenbraut im Schlepptau.« Jim rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum, beugte sich vor und änderte die Taktik: »Ihre beste Freundin, Sarah. Ihre beste Freundin. Tun Sie es für Jennifer.«

Plötzlich öffneten sich alle Schleusen. Weil ich nicht wollte, dass er mich weinen sah, stand ich auf und lief in die Küche hinüber, um mir ein Glas Wasser zu holen. Ich ließ den Wasserhahn eine volle Minute lang laufen, um mich wieder zu sammeln. Meine Hände schlossen sich so fest um den Rand des Spülbeckens, dass meine Fingerknöchel ganz weiß wurden. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, stand Jim auf und machte sich zum Gehen bereit. Langsam sammelte er seine Sachen zusammen und verstaute sie wieder in seiner Aktentasche.

»Es tut mir leid, wenn ich Sie so bedränge, Sarah. Dr. Simmons wird das gar nicht gefallen. Aber Sie müssen diese Opfererklärung über die Folgen der Tat einfach machen. Ohne Sie mache ich mir da wirklich Sorgen. Ich weiß, dass wir Sie damals beim Prozess im Stich gelassen haben. Ich habe Sie im Stich gelassen. Mir ist klar, dass die Anklage wegen Entführung zu dürftig war, aber letzten Endes hatten wir einfach nicht genügend Beweise für eine Mordanklage. Es gab keine Leiche, die DNA-Beweise waren … kontaminiert. Aber wir müssen dafür sorgen, dass er zumindest die Strafe für die Tat, die wir ihm nachweisen konnten, voll absitzt. Da dürfen wir kein Risiko eingehen.«

»Es war nicht Ihre Schuld, sondern die des Labors …«, setzte ich an.

»Mein Fall, meine Schuld. Und glauben Sie mir, diese Schuld verfolgt mich bis heute. Lassen Sie uns die Sache gemeinsam durchstehen und sie hinter uns bringen.«

Er hatte leicht reden. Ich war mir sicher, dass er genau das wollte: dass die ganze Misere endlich der Vergangenheit angehörte, sein Fehler, sein großer Karriereknick. Für mich lag der Fall ein bisschen komplizierter.

Er hielt mir seine Visitenkarte hin, aber ich winkte ab. Ich hatte seine Nummer.

»Wir können die Vorbereitungsgespräche auch gerne hier in der Wohnung machen. Wo immer Sie wollen. Wir brauchen Sie.«

»Und Tracy kommt auch zur Anhörung?«

»Ja, Tracy kommt auch, aber …« Er blickte verlegen zum Fenster.

»Aber sie hat es zur Bedingung gemacht, dass sie mich nicht sehen, nicht mit mir reden und nicht mit mir allein sein muss, stimmt’s?«

Jim zögerte. Er wollte nicht damit herausrücken, aber ich durchschaute ihn.

»Sie können es ruhig sagen, Jim. Ich weiß, dass sie mich hasst. Sagen Sie es einfach.«

»Ja, genau das war ihre Bedingung.«

»Okay. Nein, nicht nur ›okay‹, sondern ›okay, ich denke darüber nach‹.«

»Danke, Sarah.« Er nahm einen geöffneten Umschlag aus seinem Notizblock und legte ihn auf den Tisch. »Der Brief. Sie haben recht, er gehört Ihnen. Hier ist er. Aber bitte sprechen Sie mit Dr. Simmons, bevor Sie ihn lesen.«

Er machte sich auf den Weg zur Tür. Weil er genau wusste, dass er mir nicht die Hand schütteln durfte, winkte er nur kurz von der anderen Zimmerseite herüber, schloss leise die Tür hinter sich und wartete draußen, bis ich alle Schlösser wieder abgeschlossen hatte. Erst als er das letzte Klicken hörte, ging er davon. Er kannte mich gut.

3

Ich verbrachte drei Tage allein mit dem Brief in der Wohnung. Ich legte ihn in die Mitte des Esstischs, strich stundenlang um ihn herum und dachte nach. Mir war klar, dass ich ihn irgendwann lesen würde, natürlich würde ich ihn lesen. Denn das war die einzige Möglichkeit, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. Ich musste Jennifers Leiche finden. Das war das Mindeste, was ich für sie tun konnte, und für mich. Während ich auf den Brief starrte, allein mit meiner Angst, stellte ich mir vor, wie Jennifer mit ihren leeren Augen zu mir emporblickte und mich wortlos anflehte. Finde mich.

Zehn Jahre zuvor hatte das FBI seine besten Leute auf den Fall angesetzt. Diese Leute hatten ihn stundenlang verhört, aber er hatte ihnen nichts verraten. Das hätte ich ihnen vorher sagen können. Er war kalt und methodisch und fürchtete – wie ich genau wusste – keine der Strafen, die ihm in Aussicht gestellt wurden. Niemand konnte ihm etwas anhaben.

Dieser Mann hatte die Verwaltung der University of Oregon mehr als zwanzig Jahre lang zum Narren gehalten. In meinem Kopf hatte sich ein Bild von ihm festgesetzt, wie er am Rednerpult eine Vorlesung hielt, während seine eifrigen Studenten jedes Wort mitschrieben. Wie er ihre Bewunderung genossen haben musste! Ich sah förmlich vor mir, wie seine studentischen Hilfskräfte allein mit ihm in diesem stickigen kleinen Büro saßen, das ich mit dem Staatsanwalt besucht hatte. Als Christine verschwunden war, hatte niemand eine Verbindung zu ihm gesehen, obwohl sie eine seiner Lieblingsstudentinnen gewesen war. Der gute alte Professor Jack Derber, was für ein feiner Kerl er doch war, so ein wunderbarer, geistreicher Professor! Jack Derber, der sich ein schönes Leben aufgebaut hatte und sogar ein kleines Häuschen in den Bergen besaß, das ihm seine Adoptiveltern vermacht hatten. Niemand ahnte, dass das Häuschen einen so weiträumigen Keller hatte. Seine Eltern hatten diesen Keller zum Pökeln und Einmachen benutzt. Er nicht.

Ich riss mich von meinen Gedanken los. Ich war hier. In Sicherheit. In meiner Wohnung, wo ich am Esstisch saß und diesen Brief anstarrte. So lange, dass ich bereits die Knitterfalten des Papiers auswendig kannte, die Linie, entlang deren der Polizeilaborant den Brief mit einem scharfen Gegenstand geöffnet hatte. Die Schnittkante war makellos. Derber hätte das gefallen. Er wusste saubere Schnitte zu schätzen.

Mir war klar, dass der Inhalt bereits sorgfältig analysiert worden war, aber ich wusste auch, dass ich etwas finden würde, was nur ich verstand. Denn so tickte er: Er stellte immer eine persönliche Beziehung her, ging immer in die Tiefe. Er drang in die Gedanken der Menschen ein, kroch in sie hinein wie eine Giftschlange in ein Erdloch in der Wüste und rollte sich dort zurecht, bis er sich vollkommen zu Hause fühlte. Im Keller hatte uns die eigene körperliche Schwäche dazu gezwungen, unseren Peiniger als Retter anzusehen, und es ist schwer, einem Retter zu widerstehen, ihn wegzustoßen. Denn nachdem er einem, vielleicht für immer, alles genommen hatte, gewährte er als Einziger, was das Überleben sicherte: Essen, Wasser, Hygiene. Das kleinste Zeichen der Zuneigung. Ein kurzes, tröstendes Wort. Ein Kuss in der Dunkelheit.

Gefangenschaft verändert einen, zeigt einem, wie niedrig und animalisch der Mensch sein kann. Man tut absolut alles, um am Leben zu bleiben und ein bisschen weniger zu leiden als am Tag zuvor.

Und deshalb flößte mir der Brief so große Angst ein: weil er mich daran erinnerte, wie viel Macht Jack Derber über mich besessen hatte und letztendlich immer besitzen würde. Ich hatte Angst, weil der Umschlag Worte enthalten konnte, die mächtig genug waren, um mich wieder in den Keller zurückzuversetzen.

Aber ich wusste, dass ich Jennifer nicht noch einmal im Stich lassen durfte. Auf keinen Fall wollte ich mit dem Wissen ins Grab gehen, dass ihr Körper – wo auch immer er sie verscharrt hatte – tiefer und tiefer in die Erde hinabsank, allein und vergessen.

Ich konnte jetzt stark sein. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich jetzt nicht mehr hungerte, gefoltert wurde, nackt war, dass ich nicht mehr Licht und Luft und normalen Körperkontakt vermisste. Normalen Körperkontakt vielleicht schon, aber das hatte ich mir selbst zuzuschreiben.

Schließlich hatte ich Bob, den Pförtner, und eine ganze Stadt voller Retter, die tief unter meinem Fenster als schemenhafte Gestalten den Broadway entlangeilten und einkauften, lachten oder plauderten, nicht ahnend, dass sich elf Stockwerke über ihnen ein zehn Jahre altes Drama wiederholte. Ich gegen mich selbst, ein erbitterter Zweikampf.

Ich nahm den Umschlag in die Hand und zog vorsichtig einen Bogen dünnes Papier heraus. Der Stift war so heftig durchgedrückt worden, dass ich die Buchstaben auf der Rückseite spürte, wie Blindenschrift. Spitze Buchstaben. Nichts Geschwungenes, nichts Weiches.

Jennifer war kaum ein paar Tage aus dem Keller verschwunden gewesen, als er angefangen hatte, mich zu verhöhnen. Am Anfang hatte ich noch Hoffnung gehabt. Vielleicht war ihr die Flucht gelungen, und sie holte nun Hilfe? Stundenlang malte ich mir aus, wie sie sich losgerissen hatte, stellte mir vor, sie stünde in diesem Moment jenseits der Kellerwände, neben einer Einheit Polizisten, die mit gezogener Waffe das Haus umstellten. Mir war klar, wie unwahrscheinlich das war, hatte sie doch das letzte Mal, als er sie mit verhülltem Kopf und aneinandergeketteten Armen aus der Kiste gezerrt hatte, kaum noch die Kraft gehabt, die Treppe hinaufzukriechen. Aber ich konnte nicht aufhören zu hoffen.

Jack überließ mich zunächst meiner Phantasie, bis mir dämmerte, worin seine Strategie bestand. Er fing an, mir wissend zuzulächeln, wenn er herunterkam, um uns Essen oder Wasser zu bringen, so als teilte er mit mir ein Geheimnis. Außerdem gab er mir jeden Tag eine Extraration, wie um mich als Belohnung für irgendetwas wieder aufzupäppeln. Christine und Tracy begannen mich mit Argwohn zu betrachten. Sie klangen reserviert, wenn sie mit mir sprachen.

Zunächst ärgerte ich mich über diese neue Art der Folter, aber dann war sie der Ursprung einer Idee, die meine Rettung werden sollte.

Zwei Monate nachdem er mit meiner »Sonderbehandlung« begonnen hatte, teilte er mir mit, dass er sie getötet habe, eine Tat, die in seinem verzerrten Wertesystem vermutlich sogar als barmherzig durchging. Ich konnte die Leere, die in diesem Moment in meinem Inneren entstand, nicht fassen, wie ein schwarzer Vorhang senkte sie sich über das beleuchtete Bühnenbild unserer Kellerexistenz herab. Obwohl Jennifer seit über zwei Jahren kein Wort mehr gesagt und ich ihr Gesicht wegen der schwarzen Haube, die sie ständig tragen musste, seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, hatte ihre Anwesenheit doch meine tägliche Existenz bestimmt. Sie war da gewesen, stumm, wie eine Gottheit.

Wenn Tracy oben bei ihm war und Christine schlief, konnte ich ihr gefahrlos alles zuflüstern, was mir in den Sinn kam: Gebete, flehende Worte, Träumereien, Erinnerungen an unser früheres Leben. All diese Dinge schwebten durch die Dunkelheit zu ihr hinüber, zu meiner stummen Göttin in der Kiste. Vielleicht lag es daran, dass ihr Leiden so viel größer war als meines, jedenfalls gab sie mir eine Perspektive, die mich weiterkämpfen ließ, die mich am Leben hielt.

Er hatte seine helle Freude an dem Schmerz auf meinem Gesicht, als er mir von ihrem Tod erzählte. Vergeblich versuchte ich, ihn zu verbergen. Beinahe drei Jahre lang war es ihm gelungen, meine Liebe zu ihr in die regelmäßigen Strafen einzubinden, mit denen er mich bedachte. Wenn ich mich ausnahmsweise einmal gegen ihn zur Wehr setzte und selbst Schmerzen mich nicht zum Einlenken brachten, wusste er genau, dass er nur drohen musste, ihr noch mehr weh zu tun, als er es ohnehin schon tat. Vermutlich machte er mit ihr dasselbe, aber sicher wusste ich es nicht, weil Jennifer und ich nie wieder miteinander sprachen. Er hielt sie gefesselt und geknebelt in der Kiste. In der Anfangszeit im Keller bestand unsere einzige Kommunikation in einem primitiven Code, den sie an die Seitenwände ihrer Kiste klopfte. Nach wenigen Monaten hörte auch das Klopfen auf.

Natürlich endete mein Leid nicht mit Jennifers Tod, dafür sorgte er. Besonders gerne beschrieb er mir, wie er sie manchmal wieder ausgrub, um sie anzusehen. Sie sei so schön gewesen im Tod, dass er diese Schönheit noch einmal sehen wolle, selbst wenn das Graben Stunden in Anspruch nehme. Er liebte es, mir zu erzählen, dass er bei ihrer Ermordung aufgepasst habe, ihr hübsches Gesicht nicht zu beschädigen, das besser als jedes andere Gesicht den Schrecken und die Einsamkeit der Gefangenschaft zum Ausdruck gebracht habe. Wegen der einzigartigen Qualität ihrer Verwundbarkeit hatte er sie zu seinem Liebling auserkoren und sie für die Kiste ausgewählt.

Hier saß ich nun also und hielt den Brief in Händen. Berührte, was er berührt hatte. Las, was er geschrieben hatte. Ich breitete das Blatt Papier vor mir auf dem Tisch aus und wappnete mich, der Macht seiner Worte zu widerstehen.

Liebste Sarah,

ich wünschte, du könntest das Geheimnis genauso gut verstehen wie ich. Wenn du doch nur im Zimmer der Bücher diese wunderschöne Textpassage gelesen hättest, im Dunkeln ins geistige Auge gekritzelt.

An den Ufern des Sees, auf dem flachen, niedrigen Land am Ozean, lauert seit langem die Gefahr und wartet stumm, bevor sie zuschlägt. Wenn du doch nur so mutig sein könntest, dein Kostüm abzustreifen und mit mir ins heilige Meer zu gehen, wo es keine Schwäche gibt, kein Leid und kein Bedauern.

Sylvia kann dir helfen. Sie kann dir den Weg weisen. Sie hat in die Tiefen meines Herzens geblickt, und ich habe ihr die Landschaften und Aussichten meiner Vergangenheit gezeigt. Sie kennt sie alle und hat mir vergeben. Sie hat mir die Augen geöffnet und mich blind gemacht für das Böse. Sie ist ein Engel der Barmherzigkeit, dessen Kerze im Dunkeln brennt und mein Herz nicht mit Scham, sondern mit Erlösung füllt.

Bald – das spüre ich – werden wir wieder vereint sein. Ich werde dich holen, und gemeinsam werden wir durch das Tal des Todes gehen, unversehrt.

Wie die Apostel müssen wir lernen. Wir müssen zu Füßen des Herrn sitzen und lernen. Lausche einfach seinen Lehren, Sarah. Lies die Lehren, studiere sie.

Amor fati,

Jack

Ich las den Brief fünfmal hintereinander langsam durch und bemühte mich, schlau aus ihm zu werden. Klar war nur, dass er mich holen kommen würde, wenn sie ihn freiließen.

Aber in den Zeilen war auch etwas Neues zu spüren, eine Dringlichkeit, die ich in den anderen Briefen nicht bemerkt hatte. Dieses kranke Arschloch versuchte mir etwas mitzuteilen. Es sah ihm ähnlich, mich auf eine sinnlose, vergebliche Suche zu schicken, aber ich hatte nun mal keinen anderen Anhaltspunkt. Irgendetwas versteckte sich in diesem Brief. Ich musste nachdenken. Nur Nachdenken konnte mich retten.

4

Der erste Tag im Keller war vermutlich der schlimmste, auch wenn er nicht ein einziges Mal nach unten kam. Der erste Tag war meine Einführung in ein Leben der völligen Orientierungslosigkeit.

Der Keller sah genauso aus, wie ich mir ein Verlies vorgestellt hätte: kahl, düster, abweisend. Ich lag auf einer schmalen Matratze, die mit einem weißen, sauber wirkenden Laken bedeckt war. Tatsächlich war es sauberer als die Laken in unserem Wohnheimzimmer. Der Raum war groß, und die steile Holztreppe, die entlang der rechten Wand verlief, führte zu einer Stahltür. Schon bald sollte ich das Knarren der Stufen in- und auswendig kennen.

Unser Verlies hatte schmuddelige graue Wände, einen dunklen Steinboden und eine einzelne trübe Glühbirne, die über uns an einem Kabel baumelte. Die Kiste stand links von der Treppe.

Tracy, deren Namen ich später an diesem Tag erfuhr, lag neben mir und war an dieselbe Wand gegenüber der Kellertreppe gekettet. Sie wirkte zerbrechlich, als ich sie das erste Mal sah, zusammengekauert auf dem Boden. Doch das täuschte. Ihr herausgewachsener Pony war an den Spitzen schwarz – die Überreste des letzten Haarefärbens – und verdeckte ihr Gesicht ein wenig, das sie beim Schlafen angestrengt zusammenkniff.

Zwischen Tracy und der Wand zur Rechten zweigte ein enger Gang ab. Aus meiner Position konnte ich nicht sehen, wohin er führte, aber ich kam schnell dahinter, dass an seinem Ende ein funktionstüchtiges, aber spartanisches Bad mit Toilette und Waschbecken eingebaut worden war. Genauso schnell lernte ich, dass wir uns mit dieser minimalen Ausstattung makellos sauber zu halten hatten.

An der rechten Wand war etwa eineinhalb Meter von der Treppe entfernt Christine festgemacht. Sie lag auf der Seite, ob sie schlief oder nur döste, konnte ich nicht sagen. Ihr Körper war seltsam gespreizt, verrenkt, und ihr verfilztes blondes Haar lag zu einem Zopf gedreht über ihrer Schulter. Ihre feinen Gesichtszüge und die Art, wie sie dalag, ließen sie wie eine Porzellanpuppe aussehen, mit der jemand unachtsam gespielt und sie dann in die Ecke geworfen hatte.

Jede von uns war mit einer langen schweren Kette an der Wand befestigt – ob an Hand- oder Fußgelenk, das variierte –, und die etwa drei mal fünf Zentimeter großen Kettenglieder waren so rostig, dass sich der kupferrote Staub auf unserer Haut absetzte und beim Herumschleppen der Kette auf dem ganzen Körper Spuren hinterließ, die wie Kratzer aussahen. Die linke Wand war leer, aber ich sah einen kleinen Metallring daraus hervorragen – Platz für ein weiteres Mädchen, wenn er es wünschte.

Dass inzwischen Morgen war, wusste ich nur, weil durch ein zugenageltes Fenster – das einzige Fenster, das ich sehen konnte –, ein schmaler Lichtstreifen zu sickern schien. Ich hätte gerne geschrien, hatte aber zu viel Angst. Als Tracy und Christine endlich aufwachten, brachte ich immer noch kein Wort heraus. Ich stand offenbar unter Schock, aber selbst in meinem verwirrten Zustand war ich froh, nicht alleine zu sein.

Tracy rieb sich das Gesicht und blickte traurig zu mir hinüber, bevor sie ohne ein Wort zu Christine kroch und sie wachrüttelte. Christine drehte sich zur Wand, vergrub das Gesicht in den Händen und murmelte etwas vor sich hin.

»Christine, das neue Mädchen ist wach.« Tracy wandte sich mit einem schwachen Lächeln an mich. »Tut mir echt leid, dass du hier bei uns gelandet bist. Du siehst wirklich nett aus. Eine Schande. Das andere Mädchen – kennst du sie? Sie hat eine von uns vor etwas bewahrt, wovor wir große Angst haben. Und darüber freuen wir uns sehr, das gebe ich zu.«

»Wo ist sie?«, war alles, was ich flüsternd hervorbrachte, weil meine Stimme immer noch von Panik erstickt wurde.

Christine setzte sich auf, ihre klaren blauen Augen flatterten, als sie nervös zu der Kiste hinübersah. Ich folgte ihrem Blick und fing an zu weinen.

»Ihr müsst es mir sagen! Sagt es mir! Wo ist Jennifer? Ist sie etwa da drin?« Ich flüsterte immer noch, aus Angst vor dem, was oben jenseits der Stahltür lauerte.

Christine rollte sich wieder zur Wand. An ihren zuckenden Schultern sah ich, dass sie weinte. Das genügte, um mir die Tränen noch heftiger in die Augen zu treiben. Ich fragte mich, wie lange ich die Schluchzer, die in mir aufstiegen, würde unterdrücken können. Aber als sich Christine kurz darauf zu mir umdrehte, lächelte sie, während ihr gleichzeitig Tränen über die Wangen liefen. Erst da ging mir auf, dass sie nicht über meine und ihre aussichtslose Lage weinte. Sie weinte Tränen der Erleichterung.

Tracy zog an ihrer Kette, um noch näher an Christine heranzukommen, und legte die Kette dabei sorgfältig auf dem Boden zu einer kompakten Schlinge. Dann kniete sie sich neben Christine an die Wand, umarmte sie und beruhigte sie mit leiser Stimme.

»Ist ja schon gut«, murmelte sie zärtlich, so als sei Christine ihr Kind, das gerade böse gestürzt war.

Sie gab Christine einen Kuss auf die Wange und kam dann in meine Richtung, wobei sie abwechselnd an der Kette zog und sie neben sich zu einer ordentlichen Schlaufe legte, langsam und methodisch. Das Ganze glich einem verrenkten, avantgardistischen Tanz, und die Kettenglieder klirrten beinahe melodisch im Takt. Ziehen, hochheben, ablegen. Ziehen, hochheben, ablegen.

Ich wich unwillkürlich vor ihr zurück, während sie nah, sehr nah an mich herankam und sagte: »Ich fürchte, deine Freundin hat Pech gehabt. Aber du hast Glück. Verglichen mit ihr, meine ich.«

Ich fing noch heftiger an zu schluchzen und fragte mich, in was für eine kranke Welt ich hier geraten war. In der Hoffnung, dass alles nur ein Albtraum war, aus dem ich bald erwachen würde, kniff ich fest die Augen zu.

»Wo ist Jennifer? Wo ist meine Freundin?« Ich hatte endlich meine Stimme wiedergefunden und schrie nun regelrecht. »Jennifer, Jennifer, bist du da drin? Geht es dir gut?«

Tracy ignorierte mich einfach und fuhr fort: »Du hast Glück im Unglück, weil Christine und ich sehr erfahrene Kellerbewohnerinnen sind. Wir zeigen dir sozusagen, wo der Hammer hängt.« Sie lachte, als hätte sie einen Witz gemacht, und auch Christine gab Geräusche von sich, die wohl ein Lachen sein sollten. Mir lief ein Schauder über den Rücken. Ich wusste nicht, ob ich mehr Angst vor meinem Kidnapper oder vor diesen dürren, mutlosen Mädchen haben sollte, die hier am Ende der Welt mit mir festsaßen.

Ohne mich aus den Augen zu lassen, ging Tracy zur Treppe und zog dabei weiter die Kette hinter sich her. Ziehen, hochheben, ablegen. Am Fuß der untersten Stufe stand ein Karton, aus dem sie nun Sachen zu holen begann: Als Erstes zwei verschlissene, aber offenbar saubere grüne Krankenhauskittel. Sie warf Christine einen davon zu und wickelte sich den anderen um die Schultern. Dann griff sie in den Karton und zog einen dritten Kittel hervor.

»Ah, siehst du? Er hat bereits für dich vorgesorgt.« Sie warf ihn mir hin. Der Stoff war weich vom vielen Waschen und roch nach Waschmittel.

»Dein königliches Gewand«, erklärte sie theatralisch. »Und unsere Wochenration. Zum Glück bist du an einem Sonntagabend angekommen. Montage sind gute Tage für uns.«

Ich griff nach dem Kittel und zog ihn an, indem ich Tracys Beispiel folgte – die Öffnung nach vorne, aber fest um den Körper gewickelt. Tracy holte weitere Sachen aus dem Karton – Konserven, einen Laib Brot und einen Fünfliterkrug Wasser – und reihte alles ordentlich entlang der Wand auf.

Unterdessen kauerte ich auf meiner Matratze und klammerte mich an ihr fest wie ein kleines Mädchen an seiner Puppe, während ich auf die Kiste starrte und mich fragte, warum Jennifer nicht antwortete.

Tracy ignorierte meinen Zustand und redete weiter: »Unter der Woche überlässt er uns meistens uns selbst. Im Sommer und in den Semesterferien ist das anders – dann brechen harte Zeiten im Kellerland an. Ach ja: Die Wochen sind ohnehin sehr kurz. Vier Tage Freiheit – du merkst sicher, dass ich diesen Begriff sehr frei verwende –, gefolgt von drei Tagen Schmerzen und Leid. Du musst nämlich wissen – und jetzt halte dich fest –, dass unser Herr und Meister Psychologieprofessor an der University of Oregon ist, mit Betonung auf ›Psycho‹. Er gibt Seminare. Nimmt an Kongressen teil. Hat Sprechstunden mit Studenten. Außerdem gibt es Graduiertenfeiern und Elternbesuchstage und andere besondere Anlässe, die uns vor seiner Anwesenheit bewahren, so dass wir hier unten in Ruhe und Frieden leben können. Allerdings nur, wenn er genügend Essen und Wasser dalässt.«

»Woher weißt du das alles?«

»Von Christine natürlich.« Sie blickte zu Christine hinüber, die wieder eingeschlafen zu sein schien. Jedenfalls lag sie bewegungslos da, die Knie an die Brust gezogen, die Kette ordentlich neben sich zusammengelegt. »Christine war seine Lieblingsstudentin. Aber das ist schon über zwei Jahre her. Kann gut sein, dass er jetzt einen neuen Liebling hat, nicht wahr, Christine?« Christine öffnete ein Auge. Ihr Blick schoss zwischen Tracy und mir hin und her, während sie leise vor sich hinwimmerte.

Aber mir schrillten nur die Wörter zwei Jahre im Ohr.

»Er heißt Jack Derber.« Tracy sprach den Namen absichtlich laut aus, sah sich dann aber ängstlich im Raum um, als könnten die Wände zur Strafe nach ihr greifen.

»Und da wir dieses pikante kleine Detail kennen«, fuhr sie fort, »können wir sicher sein, dass er uns niemals, niemals rauslassen wird. Er will, dass wir hier verrecken, sobald er mit uns fertig ist. Christine und ich haben die Vermutung, dass das sein wird, wenn wir zu alt für seine Zwecke sind, oder vielleicht auch früher, wenn wir ihm Ärger machen. Und deshalb benehmen wir uns so gut wir können. Was sind wir für brave kleine Mädchen, nicht wahr, Christine? Schließlich kann er uns ziemlich leicht ersetzen.« Sie sah mich eindringlich an. »Wie du sehen kannst, hat er hier unten nur begrenzt Platz. Und es ist bestimmt nicht billig, uns alle durchzufüttern.«

Ich hatte Mühe, ihrem Gedankengang zu folgen. Sie wirkte plötzlich alles andere als wohlwollend. Als sich etwas in der Kiste bewegte, fuhren wir alle drei herum. Dann herrschte wieder Stille, und Tracy setzte ihre Ausführungen fort: »Ich habe hier unten eine kleine Strategie entwickelt und rate dir dringend, dasselbe zu tun. Christine hat sich diesbezüglich leider nicht besonders geschickt angestellt, und du wirst feststellen, dass sich das zu ihrem Nachteil ausgewirkt hat. Du musst körperlich und mental stark bleiben und so viel lernen, wie du kannst. Denn irgendwann geschieht vielleicht doch noch ein Wunder.«

Ein Wunder. Das Wort ließ mich zusammenzucken, weil es allem widersprach, woran ich glaubte.

Tracy entging meine Skepsis nicht. »Ich weiß schon, ein Wunder als einzige Hoffnung ist nicht gerade berauschend, aber ich habe gründlich nachgedacht und versichere dir, dass das alles ist, was wir haben. Wir können nichts weiter tun, als uns darauf vorzubereiten. Und deshalb lautet mein Motto: ›Iss, was du kriegst, schlaf, wenn du liegst, verbirg deine Gedanken vor ihm, und du siegst!‹« Sie lachte wieder über ihren eigenen traurigen Witz und sagte dann: »Dein wichtigster Körperteil ist momentan dein Gehirn. Wie du schnell feststellen wirst, ist die beliebteste – nicht die einzige, aber die beliebteste – Foltermethode unseres Feindes die psychologische Folter, dein Verstand muss also einwandfrei funktionieren. Du darfst ihn nicht in deine Gedanken lassen. Erzähl ihm niemals etwas über dein früheres Leben. Niemals.«

»Eine Niemals-Liste«, flüsterte ich. Es galt mehr mir selbst als ihr. »Und Jennifer? Was wird mit ihr passieren?« Ich war endlich in der Lage, die entscheidende Frage zu stellen, ohne hysterisch zu werden.

Beide wandten den Blick ab. Christine starrte zu Boden und flüsterte etwas, das ich nur mühsam verstand.

Es klang wie: »Vergiss sie, so schnell du kannst.«

5

Nachdem ich den Brief gelesen hatte, verbrachte ich weitere drei Tage allein in meiner Wohnung. Ich sagte meine Therapietermine ab und ging nicht ans Telefon. Dr. Simmons hinterließ drei Nachrichten, und Agent McCordy vier. Ich wusste, dass sie sich Sorgen machten, aber ich konnte ihnen unmöglich erklären, dass ich mich auf eine grundlegende Abkehr von meinem posttraumatischen Lebensstil vorbereitete, eine Abkehr, zu der ich selbst noch gar nicht bereit war.

Ich brachte nicht den Mut auf, Dr. Simmons zu sagen, dass sie nach zehn Jahren gemeinsamer therapeutischer Anstrengung – nach all den Tränen und all den Sitzungen, in denen ich nur ins Leere gestarrt hatte, während sie geduldig daneben saß, in denen wir uns im Kreis gedreht und die Ereignisse in meinem Leben durchwühlt hatten, in denen wir jede Erinnerung sondiert hatten bis auf die, an die ich mich noch immer nicht heranwagte, obwohl Dr. Simmons diese am liebsten ergründet hätte –, dass sie nach alldem nichts mehr für mich tun konnte. Wir waren in einer Sackgasse angelangt. Ich musste endlich etwas Echtes, etwas Greifbares tun.

Nach dem ersten Therapiejahr konnte ich die Umstände und Ereignisse meiner Gefangenschaft auswendig aufsagen. Mir kam es vor, als wären sie einer anderen Person passiert, hätten sich in einem anderen Universum ereignet. Ich betete eine Litanei schrecklicher Dinge herunter, um Dr. Simmons bei Laune zu halten, flocht neue Details ein, wann immer unsere Gespräche langweilig wurden, wann immer sie anfing, mehr von mir zu verlangen.