Danilo-Fender-Thriller-Sammelband: Nach dem Gefängnis, Der Mann gegenüber - Danilo Fender - E-Book

Danilo-Fender-Thriller-Sammelband: Nach dem Gefängnis, Der Mann gegenüber E-Book

Danilo Fender

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Beschreibung

***ZWEI WENDUNGS- UND TWISTREICHE PSYCHOTHRILLER IN EINEM SAMMELBAND***
Buch 1: Nach dem Gefängnis
»Diese Suche ist sehr spannend. Viele überraschende Wendungen und ein Schluss der einen sprachlos macht.«Eine Leserin

Victor Marsch war schon als Kind ein Schläger. Ist es da verwunderlich, dass er die Eltern seiner Freundin mit einer Axt ermordet hat? – Eine Nachbarin –

Victor Marsch ist nicht länger der gutaussehende, junge Mann von vor 20 Jahren. Seine Nase, mehrfach gebrochen, ist schief und sein Gesicht vom Leben gezeichnet. Nur seine Augen passen nicht zum Rest. Sie blicken mit der scheinbar unbedarften Naivität eines Kindes in die Welt.

Vor 20 Jahren ermordete Victor die Eltern seiner Freundin Alice ...

Ein absolut fesselnder Psychothriller voller überraschender Wendungen. Perfekt für Fans von Laura Elliot, K. L Slater und Nicole Trope.

"Nach dem Gefängnis" ist eine Neuauflage von "Ahnungslos schuldig".
Buch 2: Der Mann gegenüber
Er versuchte die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben. Bilder von einer Serie von Verbrechen, für die der Täter ein Leben lang hätte bezahlen sollen. Und doch war er wieder auf freiem Fuß.

Hitzkopf Hunter Bell wollte immer alles richtig machen – und lag doch oft genug daneben. Sein Jähzorn, seine Unruhe und die Wut aufs Leben vermasselten seine Karriere als Polizist. Seitdem hält er sich als Privatdetektiv über Wasser und hat für sich und seine Frau eine bescheidene Existenz aufgebaut. Doch dann ziehen neue Nachbarn in das Haus gegenüber ...

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nach dem Gefängnis
Teil 1
Teil 2
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Teil 3
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50
Epilog
Der Mann gegenüber
Personenverzeichnis
Prolog
Teil 1
Teil 2
1
2
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4
Teil 3
1
2
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8
Teil 4
1
2
3
4
5
6
Teil 5
1
2
3
4
Teil 6
1
2
3
4
5
6
7
Epilog

Danilo Fender

Nach dem Gefängnis und Der Mann gegenüber

Über das Buch:

 

Nach dem Gefängnis

 

Victor Marsch war schon als Kind ein Schläger. Ist es da verwunderlich, dass er die Eltern seiner Freundin mit einer Axt ermordet hat? – Eine Nachbarin –

 

Victor Marsch ist nicht länger der gutaussehende, junge Mann von vor 20 Jahren. Seine Nase, mehrfach gebrochen, ist schief und sein Gesicht vom Leben gezeichnet. Nur seine Augen passen nicht zum Rest. Sie blicken mit der scheinbar unbedarften Naivität eines Kindes in die Welt.

 

Vor 20 Jahren ermordete Victor die Eltern seiner Freundin Alice und entführte sie. Bei der Flucht vor der Polizei kam es zu einem Unfall, der ihm sein Gedächtnis kostete. Jetzt ist der Tag seiner Freilassung gekommen und er kehrt zurück nach Rosenfeld, dem kleinen Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Seine Mutter ist die Einzige, die ihn in all den Jahren regelmäßig besucht hat, aber über jene Nacht verlieren sie nie ein Wort. Victor sehnt sich nach Frieden, doch seine Rückkehr lockt nicht nur aufdringliche Paparazzi an, sondern weckt zudem den Zorn vieler Bewohner.

 

Und noch während Victor darum kämpft, nach dem Gefängnis einen Weg zurück in die Gesellschaft zu finden, wird eine Person aus seinem Bekanntenkreis ermordet aufgefunden. Ist Victor vor 20 Jahren zurecht wegen Doppelmordes verurteilt worden? Oder treibt der wahre Täter noch immer in Rosenfeld sein Unwesen?

 

 

Der Mann gegenüber

 

Hitzkopf Hunter Bell wollte immer alles richtig machen – und lag doch oft genug daneben. Sein Jähzorn, seine Unruhe und die Wut aufs Leben vermasselten seine Karriere als Polizist. Seitdem hält er sich als Privatdetektiv über Wasser und hat für sich und seine Frau eine bescheidene Existenz aufgebaut. Doch dann ziehen neue Nachbarn in das Haus gegenüber. Darunter ein sehr gefährlicher Mann, an den Hunter sich noch gut erinnert.

 

Floyd Tipps ist groß, schwer und ein brutaler Frauenmörder. Hunter war es vor Jahren gelungen, ihn hinter Gitter zu bringen. Das Gericht verurteile Tipps zu einer lebenslangen Haft. Doch nun ist er unerwartet wieder auf freien Fuß und zieht ausgerechnet in Hunters Nähe. Denn Floyd hat einen Plan.

 

Hunter weiß, dass er kämpfen muss, wenn er sein altes Leben behalten will. Doch wie es scheint, hat Floyd einige Eisen im Feuer, auf die der Detektiv nicht vorbereitet ist. Denn schon bald steht Hunter selbst als Mörder unter Verdacht.

 

 

 

Der Autor:

 

 

Danilo Fender lässt am liebsten seine Bücher für ihn sprechen. Die haben viel mehr zu sagen und sind um einiges spannender als ein Autor, der abseits seines Schriftstellerdaseins ein eher beschauliches Familienleben führt. Vielleicht macht das seine Romane umso authentischer. Denn wie jeder Krimi-Leser weiß, lauern hinter der Fassade der Bürgerlichkeit oft die schlimmsten Albträume. Sagen Sie also nicht, Sie wären nicht gewarnt worden!

Danilo Fender

Nach dem Gefängnis und Der Mann gegenüber

 

Psychothriller-Sammelband

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die

Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

März © 2025 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

[email protected]

Ansprechpartner: Thomas Seidk

 

Lektorat: Dr. Alexandra Sept – https://stift-und-papier.webnode.page/

Korrektorat: Heidemarie Rabe

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur

mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

https://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 116547787

 

 

Danilo Fender

Nach dem Gefängnis

 

Psychothriller

 

 

Teil 1

 

Rosenfeld 1951

 

Liesl hatte keine Ahnung, wie spät es war, als sie erwachte. Durch ihre verklebten Wimpern sah sie die Sonne durch die Zweige blitzen und nahm daher an, dass es bereits Vormittag war. In den Ästen hüpfte ein kleiner Vogel hin und her, der sie mit seinen klickenden Lauten überhaupt erst geweckt hatte. Tsi-tsi-tsi, tsi-tsi-tsi.

War das eine Blaumeise? Liesl wollte auch gern dieser Vogel sein. Einfach davonfliegen können. So wie es der Vogel jetzt tat. Ohne Vorwarnung breitete er seine kleinen Flügel aus und flatterte tiefer in den Wald hinein. Liesl folgte ihm mit den Augen, bis er verschwunden war. Dann richtete sie sich schwerfällig auf. Als sie sich letzte Nacht dieses Bett auf dem Waldboden gesucht hatte, schien es all ihren bescheidenen Bedürfnissen zu entsprechen: Es bot Schutz vor dem Regen, war weich durch den Untergrund aus Moos und alten Blättern und lag gut versteckt zwischen den Wurzeln der mächtigen Eiche. Nun aber spürte sie jeden Knochen im Leib und fühlte sich, als hätte sie auf dem Kellerboden im Heim geschlafen. Sie öffnete ihre strohblonden Haare, schüttelte die langen Zöpfe aus und flocht sie wieder neu. Diese verdammten Haare hatten ihr von jeher Scherereien bereitet. Früher im Heim, als sie dem Leiter so gut gefielen, dass er sie oft in sein Büro gerufen hatte, um sie zu betrachten. Und nun, weil sie ständig verfilzt und voller Krümel waren. Wachsam schaute sie sich um. Sie konnte nicht sagen, wo sie war. Gestern war sie den ganzen Tag gelaufen, so wie auch schon den Tag davor. Einfach der Nase nach in Richtung Westen. Sie wollte über die innerdeutsche Grenze und dann ein Schiff nach Amerika nehmen. Da, wo ihre Eltern sein sollten. Das zumindest hatte ihr Hannes Schmidbauer erzählt, nachdem er einen heimlichen Blick in das Aufnahmeregister der Einrichtung geworfen hatte. Eigentlich, um etwas über seine eigene Herkunft zu erfahren. Hannes war ein Jahr älter als sie und lebte ebenfalls im Heim.

»Bei dir steht, dass deine Eltern verzogen sind«, hatte er Liesl verraten und sie gab ihm dafür einen Apfel. »Wahrscheinlich nach Amerika.«

Liesl wollte das gern glauben. Viele Deutsche waren vor dem Krieg nach Amerika geflohen, weil ihnen das Klima im Land zu heiß wurde. Lange Zeit hatte Liesl gewartet und gehofft, dass ihre Eltern sie eines Tages nachholten.

Was aber nie geschah.

Deshalb wollte sie sich nun mit ihren stolzen vierzehn Jahren selbst auf die Suche machen. Ob sie im Heim schon gemerkt hatten, dass sie fehlte? Sicher. Wahrscheinlich suchten sie bereits überall nach ihr. Aber das war Liesl egal. Überall war es besser als dort. Selbst sterben war besser.

Ihr Magen knurrte und sie schaute sich nach etwas Essbarem um. Seit ihrer Flucht hatte sie sich vorrangig von Beeren und Pilzen ernährt, was gestern zu schlimmem Durchfall geführt hatte. Wahrscheinlich wegen der Pilze. Heute etwas Festes in den Magen zu bekommen, wäre daher nicht schlecht.

Sie schlich sich bis an den Waldrand und blickte auf das vor ihr liegende Feld. Wie ein weiter heller Teppich breitete es sich aus, so friedlich und einnehmend, dass Liesl ganz warm ums Herz wurde. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht hatte sie das Gefühl, dass wirklich alles gut werden könnte. Dass es Hoffnung in der Welt gab. Der Himmel war strahlend blau, und über den schmalen Grasstreifen zwischen Wald und Feld tanzten weiße Schmetterlinge, die sie mit ihren anmutigen Bewegungen aus dem Wald zu locken schienen.

Doch Liesl zögerte noch immer.

Am Horizont entdeckte sie die Dächer einiger Häuser. Wahrscheinlich war da das nächste Dorf. Ob sie da etwas zu essen bekommen könnte? Über das Feld rumpelte ein Traktor, der einen Düngerstreuer hinter sich herzog. Vielleicht könnte sie auch den Bauern nach einem Stück Brot fragen. Inzwischen sollte sie weit genug vom Heim entfernt sein, als dass er von ihrer Flucht gehört haben könnte. So nahm sie ihren Mut zusammen und verließ das schützende Dickicht.

Im Führerhaus des Traktors saß ein Junge, den Liesl nicht viel älter schätzte als sie selbst. Vielleicht sechzehn oder siebzehn. Als er sie erblickte, stellte er den Motor ab und kam aufgebracht zu ihr heruntergeklettert.

»Willst du, dass ich dich über den Haufen fahre, oder was?«, schimpfte er. Er war groß und dünn, trug grobe Arbeitskleidung und eine zu große Schiebermütze auf dem Kopf. Er hatte ein ernstes, aber freundliches Gesicht.

Liesl nahm ihren ganzen Mut zusammen und setzte alles auf eine Karte. »Entschuldige bitte. Hast du vielleicht etwas zu essen für mich?«

Kurze Zeit später saßen sie zusammen unter einer Buche mit weiten ausladenden Ästen und teilten sich das Frühstück des Jungen aus einer Blechdose.

»Wie ist dein Name?«, fragte er und schob sich die Mütze aus der Stirn. Inzwischen war die Sonne höher geklettert und es wurde wärmer.

»Liesbeth«, antwortete sie zögerlich und kaute auf ihrem Käsebrot herum. »Eigentlich Elisabeth.«

Er lächelte und Liesl sah, dass ihm unten ein Zahn fehlte. »Ich heiße Albrecht. Wo kommst du her?«

»Das möchte ich nicht sagen.«

Er schnalzte wissend mit der Zunge. »Du bist ausgerissen, oder?«

»Und wenn schon.«

Er grinste und zeigte auf eine große Narbe an ihrem rechten Handgelenk. »Was ist das?«

»Gar nichts.«

»Wolltest du dich umbringen?«

»Vielleicht.«

»Warum?«

»Ich will nicht darüber reden.«

»Ganz schön feige.«

Liesl glaubte sich zu verhören. Was wusste dieser Junge schon von ihrem Leben? Davon, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hatte. Was ein Mädchen ertragen musste, wenn es weder Mutter noch Vater oder sonst einen Schutz auf der Welt hatte.

Der Junge schien ihre Gedanken zu erraten und musterte sie aufmerksam. Er grinste nun nicht mehr. Vielmehr schien er über sie nachzudenken. Für einige Momente kehrte Stille zwischen den beiden ein. Schließlich sagte er: »Ich wette, du bist viel stärker, als du denkst.«

Liesl schüttelte den Kopf und registrierte erstaunt, wie ihre Augen feucht wurden. Da sie doch gedacht hatte, dass sie keine Tränen mehr hatte.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es eben.« Jetzt lächelte er wieder mit seiner Zahnlücke. »Und ich kann es dir sogar beweisen.«

»Ach ja? Wie denn?«

»Musst nur mit zu mir nach Hause zu kommen.«

»Und dann?«

»Dann zeige ich dir etwas.«

»Was denn?«

»Komm mit und du erfährst es.«

»Wer weiß, was du dann mit mir machen willst.«

Albrecht sah sie so gekränkt an, dass sich Liesl ihrer Bemerkung schämte.

»Traust du mir etwa nicht?«

Liesl starrte betreten zu Boden. »Doch, natürlich. Entschuldige bitte.«

Albrecht sprang auf. »Na, dann lass uns gehen.« Er reichte ihr seine Hand. »Zu Hause gibt es auch noch mehr zu essen für dich.«

Liesl nickte und ergriff seine Hand, mit der er ihr aufhalf. Sie fühlte sich trocken und schwielig, aber stark und angenehm an. So als könnte sie ein Mädchen für immer beschützen. Liesl konnte nicht sagen, was von dem Jungen ausging, aber er flößte ihr Vertrauen ein. Nein, er führte mit Sicherheit nichts Böses im Schilde. So wie all die anderen Männer, die sie in ihrem bisherigen Leben kennengelernt hatte. Dieser hier war gut, das spürte sie.

Sie folgte ihm über das Feld und nahm sich fest vor, ihren Weg fortzusetzen, nachdem sie sich den Bauch vollgeschlagen hatte.

Die Sonne stand inzwischen ganz oben am Himmel und die Blaumeisen hatten sich in den Wald geflüchtet, um der Hitze zu entkommen.

Elisabeth Reichenbach wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie niemals in Amerika ankommen sollte. Dass sich hier auf diesem Feld nahe dem Wald ihre Spur verlieren würde. Erst über siebzig Jahre später würde man ihre Überreste finden.

Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Teil 2

 

1

 

Grelle Lichter flammten auf und verschwanden wieder in der Dunkelheit. Regentropfen peitschten über die Windschutzscheibe und funkelten wild durcheinander wie versprengte Diamanten. Ein roter Schatten draußen, verschwommen und tanzend. Später behaupteten die Medien, es sei ein betrunkener Jugendlicher gewesen, der um diese Zeit überhaupt nicht mehr hätte auf der Straße sein sollen. Aber er war nun mal da. Es ging alles so schnell. Reifen quietschten und die Welt begann sich zu drehen. Victor hörte Schreie, die am Ende nur noch heiser klangen. Wer rief da? Alice? Er selbst? Der Junge, den sie auf die Motorhaube nahmen und mit sich durch die Luft schleuderten?

Und dann das Blut. Es schmeckte metallisch und süß, war überall. Victor kannte den Geschmack von Blut. Er hatte es unzählige Male gekostet. Sein eigenes und das Blut seiner Gegner, wenn es ihm entgegengespritzt kam, nachdem er ihnen einen gut platzierten Tritt versetzt hatte.

Es war rot wie die Lippen von Alice, hinter denen sich die perfekten weißen Zähne verbargen. Victor würde sie nie vergessen. Diesen Mund, mit dem sie so allerhand anstellen konnte. Wie gern würde Victor ihn noch mal spüren. Auch wenn dieser Mund am Ende nur noch Gift gespritzt und Behauptungen ausgespien hatte, die sich gegen ihn richteten. Die ihn überhaupt erst in diese Lage und diese verdammte Zelle gebracht hatten.

Es waren Szenen aus einem anderen, einem früheren Leben. Und doch stahlen sich die Erinnerungen bis heute in seine Träume. Zwar kamen sie seltener, aber sie waren immer noch da.

Victor schlug die Augen auf.

Fahles Dämmerlicht fiel durch das vergitterte Fenster. Die Möbelstücke um ihn herum nahmen zaghaft Konturen an, erwachten nacheinander zum Leben. Das Waschbecken, der schmale Tisch mit dem unbequemen Stuhl. Das kleine Regal neben dem Kalender, an dem er die Tage bis zu seiner Entlassung abgestrichen hatte.

Heute war es endlich so weit.

Heute endete sein zweiter Lebensabschnitt und der dritte begann. Die alles entscheidende Phase. Nun würde alles gut werden. Er war bereit dafür. Hoffte er zumindest.

Im Baum vor seinem Fenster begann eine Elster zu schäckern. Victor wusste, dass Elstern in manchen Gegenden als Unglücksvögel, als Todesboten galten. Aber nicht hier, nicht für ihn. Für ihn bedeuteten die Laute des Vogels die Verheißung von Freiheit. Er war bereit.

2

 

Aus dem Archiv des Märkischen Kuriers, Ausgabe Waldstein:

Mutmaßlicher Doppelmörder nach Unfall gefasst

Die Flucht des mutmaßlichen Doppelmörders von Rosenfeld, Victor M., endete gestern Morgen gegen 02:30 Uhr auf der Landstraße in Richtung Berlin kurz vor einer Baustelle. Bei dichtem Regen war der BMW des Flüchtenden nach dem Zusammenstoß mit einem Fußgänger von der Fahrbahn abgekommen und nach mehreren Überschlägen auf einem Feld liegen geblieben. Mit im Auto saß die Freundin von Victor M., die Tochter des ermordeten Ehepaares und mutmaßliches Entführungsopfer. Alle drei Unfallbeteiligten wurden schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt und in ein Krankenhaus gebracht. Über Stunden hatte die Polizei versucht, den Flüchtenden zu fassen, nachdem Victor M. die Eltern seiner Freundin brutal mit einer Axt hingerichtet haben soll. Über das Motiv herrscht weiterhin Unklarheit. Der Fall hat nicht nur in Rosenfeld, sondern in ganz Deutschland für Entsetzen gesorgt. Nun scheint der Albtraum endlich vorbei. rb (weitere Einzelheiten im Innenteil)

 

Victor betrachtete sich zum letzten Mal in dem kleinen angelaufenen Spiegel über dem winzigen Waschbecken. Beinahe zwanzig Jahre hatte ihm dieser nichts anderes gezeigt als das eigene Abbild und dabei jede Veränderung, jedes Fältchen, die ersten grauen Haare wie eine willkommene Abwechslung im tristen Gefängnisalltag erscheinen lassen. Über all die Jahre gehörte Victors Gesicht nur diesem Spiegel. Jetzt sollte er es der Welt da draußen präsentieren und versuchte deshalb, es mit fremden Augen zu betrachten.

Früher, vor zwanzig Jahren, hatte er damit jede Frau rumbekommen. Einmal beim Osterfeuer waren sich wegen ihm sogar zwei Mädchen in die Haare geraten. Victor hatte es lustig gefunden und darüber gelacht.

Heute würden ihn die meisten wohl kaum wiedererkennen. Er hatte schon immer ein ausgeprägtes Kinn gehabt. Wie gemacht für einen Kampfsportler, eine gut sichtbare Zielscheibe für einen Treffer. Seine Nase war früher gerade gewesen. Doch schon vor seiner Haft war sie einmal gebrochen. Im Gefängnis hatte er das bei Auseinandersetzungen mit anderen Häftlingen noch zweimal geschafft und beim letzten Mal hatte er sie einfach selbst gerichtet. Jetzt war sie schief. In die Stirn hatten sich die ersten Denkerfurchen eingegraben. Einzig seine Augen hatten sich nicht verändert, waren immer noch groß und blau und blickten mit der scheinbar unbedarften Naivität eines Kindes in die Welt. Sie passten nicht mehr zum vom Leben gezeichneten Rest des Gesichtes. Einem Gesicht, das im Laufe der Jahre Schläge und Hiebe abbekommen hatte. Doch er konnte es nicht ändern. Statt jugendlicher Attraktivität zeichnete ihn nun eine »Charakter-Fresse« aus, wie es einer der Mitgefangenen mal ausgedrückt hatte. Victor wusste bis heute nicht, ob das als Kompliment gemeint war oder nicht. Er wusste vieles nicht, obwohl er versucht hatte, die Jahre hinter Gittern zu nutzen und etwas aus sich zu machen, seine Zeit nicht völlig nutzlos verstreichen zu lassen. Gefängnis-Gärtner war er geworden. Hatte Kartoffeln, Tomaten und Bohnen angebaut. Zum einen, weil er dabei ständig an der frischen Luft war. Zum anderen, weil ihm von Anfang an schwante, dass er eines Tages im Geschäft seiner Eltern mit anpacken müsste.

Auf jeden Fall würde er draußen zu einem vernünftigen Friseur gehen, dachte er jetzt und fuhr sich durch die immer noch dichten braunen Haare. Endlich hatte er etwas gefunden, worauf er sich freuen konnte. Alice hatte es früher geliebt, durch seine Haare zu wuscheln und ihm manchmal zum Spaß einen kleinen Zopf gedreht. Der Gefängnisfriseur hatte für derlei Sentimentalitäten keinen Sinn gehabt. Die Haare waren entweder lang und mussten abgeschnitten werden. Oder sie waren kurz. Nichts dazwischen.

Als Sandro, sein Bewährungshelfer, ihn abholte, warf er einen letzten Blick in sein einstiges Zuhause (welcher Pechvogel würde wohl die nächsten zwanzig Jahre in dieser Zelle verbringen müssen?) und folgte ihm dann.

Als beide den Gang, der Victor die letzten Jahre in den Essensaal, die Gefängniswerkstatt und den angrenzenden Hofgarten gebracht hatte, entlangschritten, fühlte er sich nicht anders als jemand, der zu seiner Hinrichtung geführt wurde. Eine Tür fiel zu, eine neue hatte sich noch nicht geöffnet. Zwei Welten, keine davon seine.

Als hätte er seine Gedanken erraten, fragte Sandro:

»Alles klar, Kumpel? Wie fühlst du dich?«

»Elend«, antwortete Victor wahrheitsgemäß. Er hatte den Eindruck, dass sogar seine Stimme hohl und blechern klang. Dabei hatte er sich so gefreut, ewig auf diesen Tag hingefiebert. Wahrscheinlich würde Sandro ihn jetzt für einen Feigling halten, jenes Weichei, als das Victor sich tief im Inneren selbst sah. Doch stattdessen entgegnete der Sozialarbeiter:

»Das ist ganz normal, kein Grund zur Sorge. Geht vorbei.«

Woher willst du das wissen, dachte Victor, schwieg aber.

»Bist du sicher, dass du unbedingt zu deinen Eltern zurückwillst?«, vergewisserte sich Sandro, während sie über den Gefängnishof liefen. Zwei der dort arbeitenden Häftlinge winkten zum Abschied. Victor winkte zurück. Ausgerechnet jetzt wäre er gern hiergeblieben. Er fühlte sich wie ein Vogeljunges, das aus dem warmen Nest gestoßen wurde und beneidete plötzlich seine ehemaligen Mitstreiter, die bleiben durften. Er hatte wirkliche Angst vor der Welt da draußen. Wie würden die Menschen ihn empfangen? Würde er sich mit ihnen arrangieren? Zurück in die Gesellschaft finden? Immerhin hatte diese sich während der vergangenen zwanzig Jahre weiterentwickelt, während die Welt hier drinnen gleichgeblieben war. Dennoch:

»Wo soll ich sonst hin?«

Ja, wo sollte er sonst hin?

Sandro zuckte mit den Schultern, während er Victor die Tür zu einem Zwischentrakt aufhielt.

»Wohin auch immer du willst. Es ist jetzt dein Leben. Du entscheidest.«

Genau davor hatte Victor Angst. Nachdem ihm beinahe zwanzig Jahre jede Entscheidung abgenommen worden war, fiel es ihm schwer, auf einmal selbst zu bestimmen, nachzudenken über die Konsequenzen, seine Zukunft. Es war wie neu Laufen lernen.

»Ich bin weiter für dich da«, erinnerte Sandro.

Victor nickte. »Ich weiß. Aber du hast schon genug für mich getan.«

»Nur keine falsche Bescheidenheit. Das ist mein Job.«

»Trotzdem danke.«

»Immer gern.«

Im Empfangsbereich mussten beide Männer die Entlassungspapiere unterschreiben, bevor sich die all die Jahre zuvor verschlossene Eingangstür der Anstalt für Victor öffnete. Unzählige Male hatte er sich diesen Moment ausgemalt, ihn sich in seinen Tag- und Nachtträumen vorgestellt. Und nun, da es endlich so weit war, brachte er es fast nicht fertig, über die Schwelle zu treten. Da war sie, die Freiheit. Sie empfing ihn standesgemäß mit gleißenden Sonnenstrahlen, um ihm vorzugaukeln, die ganze Welt würde an diesem Augenblick teilnehmen.

»Überlege es dir«, sagte Sandro ein letztes Mal und schlug ihm aufmunternd auf die Schulter.

Victor lächelte matt.

»Danke, aber ich habe meine Entscheidung getroffen.«

Die Männer umarmten einander zum Abschied und Victor schlich langsam zu dem Auto auf der anderen Straßenseite, in dem seine Mutter auf ihn wartete.

In einem anderen Auto zuckte ein kurzer Blitz auf. Jemand hatte ein Foto gemacht. Victor versuchte, es zu ignorieren und stieg ein.

 

3

 

Vielleicht lag es an seinem Alter, vielleicht an den Jahren, die zwischenzeitlich vergangen waren. Vielleicht auch daran, dass er inzwischen so etwas wie eine Fachkompetenz besaß, was Pflanzen betraf – jedenfalls fiel Victor an diesem Tag zum ersten Mal auf, wie bezaubernd Rosenfeld eigentlich war. Rosenfeld, das Dorf seiner Kindheit und Jugend. Überall blühte und spross es in üppiger Pracht. Allein diese Farben! Das intensive Rot der Äpfel, das leuchtende Grün der Birnen an den Bäumen. Die großen Sonnenblumen, die sich fast drei Meter hoch in den Himmel reckten, als wollten sie diesen berühren. Der Wein an den Spalieren. Victor konnte sich nicht erinnern, dies alles früher bemerkt zu haben. Vermutlich hatte er einfach nie darauf geachtet. Nun aber fiel es ihm auf. Die gepflegten Vorgärten, die überquellenden Beete, die akkurat geschnittenen Hecken. Hier eine sprudelnde Vogeltränke, dort ein liebevoll gestalteter Briefkasten. Die Rosenfelder kümmerten sich um ihr Dorf, daran bestand kein Zweifel. Selbst die Rasenkanten an der Straße wirkten ordentlich gestutzt. Sie erinnerten Victor an die Sauberkeit im Gefängnis. Nur dass es hier anheimelnder wirkte. Wie ein kleines Paradies, aus dem er sich vor vielen Jahren selbst vertrieben hatte.

Er war so ein Idiot gewesen.

Beiläufig wischte er sich über die Augen, schnell und unbemerkt, wie er hoffte. Seine Mutter, die konzentriert, wenngleich routiniert durch das Dorf fuhr, schaute kurz zu ihm rüber, verzichtete aber auf einen Kommentar. Victor war ihr dankbar dafür.

Sie hatten bisher wenig miteinander geredet. Dabei gab es so viel, über das sie sprechen sollten.

Seine Mutter hatte ihn oft im Gefängnis besucht, beinahe jede zweite Woche. Obwohl sie dafür fast zwei Stunden fahren musste. Am Anfang war es schwer gewesen. Jedes Wort barg die Gefahr einer Tretmine und konnte einen Streit vom Zaun brechen. Etwas, was keiner von ihnen wollte. Erst mit der Zeit wurde es besser, entspannter. Nachdem seine Mutter merkte, dass es Victor nichts ausmachte, hatte sie zögerlich begonnen, über Ereignisse im Dorf zu berichten. Einfache alltägliche Dinge. Dass die Ernten gut oder schlecht ausfielen. Dass der Baum an der großen Zufahrtsstraße umgestürzt war. Dass der Sohn des Elektrikers Hauschke das Geschäft seines Vaters übernahm. Dass sie und Victors Vater überlegten, den kleinen Lebensmittelladen in einen Bio-Hofladen umzuwandeln.

»Wir denken, es ist die richtige Zeit dafür.«

Nur über die wichtigen Dinge sprachen sie nie. Über die alles entscheidende Nacht. Über alles, was davor und danach passiert war.

Und auch jetzt würden sie es nicht tun.

»Ist schön hier«, murmelte Victor, als sie von der Dorfstraße auf den Dorfplatz bogen. Die Mutter lächelte scheu. Sie wirkte nervös. Der alte Brunnen mit dem wasserspeienden Engel stand noch immer hier, natürlich, wo auch sonst. Das Hotel Rosenfelder Hof mit seinen acht Zimmern ebenfalls. Davor waren Leute. Sie lehnten an Autos mit auswärtigen Kennzeichen. Als sie Victor und seine Mutter im Auto sahen, richteten sie sich auf. Einer zeigte mit dem Finger auf sie. Die Mutter bremste und schien für einen Moment unschlüssig, was sie tun sollte. Dann fuhr sie kurzerhand nach links ab, in die enge Vogelgasse hinein. Keiner verfolgte sie.

»Diese Aasgeier«, murmelte die Mutter dennoch.

Victor fühlte sich schuldig. Schuldig gegenüber seinen Eltern und überhaupt allen Dorfbewohnern, die mit dieser Situation umgehen mussten. Diese Leute waren seinetwegen hier. Es waren Reporter. Wie Flöhe im Fell eines Hundes hatten sie sich damals an ihn geheftet und würden auch in den kommenden Tagen die Nachbarn belästigen. Würden warten, dass wieder etwas passierte. Ohne dass seine Mutter es sehen konnte, ballte er die Hände zwischen seinen Knien zu Fäusten. Doch da konnten sie lange warten. Es würde nichts passieren. Dessen war er sich sicher. Das hatte er sich fest vorgenommen.

 

4

 

Dirk Zimmermann gehörte zu jenen Reportern vor dem Rosenfelder Hof. Keiner von ihnen hatte ernsthaft geglaubt, Victor Marsch würde in diesem Hotel absteigen. Da aber Christopher Marsch, der Vater von Victor, jedem Journalisten auf dem Parkplatz seines Hofladens mit einer Anzeige gedroht hatte, blieb der angereisten Presse-Meute nichts weiter übrig, als auf dem zentralen Dorfplatz zu warten. Dirk fand es hier ohnehin schöner. Zumindest gab es an dieser Stelle etwas Leben – eine Bäckerei und ein angrenzendes kleines Café -, während eine Straße weiter schon deprimierende Trostlosigkeit herrschte. Dirk Zimmermann konnte dem Landleben nichts abgewinnen. Er war ein Stadtmensch. Auch wenn er nicht weit von hier, in Waldstein, zu dessen Kreis Rosenfeld gehörte, geboren war. Der Ort hatte zwar auch nur zwanzigtausend Einwohner. Verglichen mit Rosenfeld und seinen knapp 130 Einwohnern war das aber eine ganze Menge. Es gab allein acht große Supermärkte, während in Rosenfeld nur dieser Hofladen stand. Es gab nicht mal eine Kneipe. Das kulturelle Epizentrum war eine alte Telefonzelle, umgebaut zu einem Bücherschrank, in der die Leute ihre ausgelesenen Exemplare zur freien Verfügung stellten. Die medizinische Betreuung der Einwohner erfolgte über eine mobile Arztpraxis, die jeden Mittwoch für drei Stunden im Ort hielt.

Dass Dirk heute trotzdem hier war, verdankte er der Rückkehr von Victor Marsch.

Damals, als die Morde stattfanden, war Dirk noch Volontär beim Märkischen Kurier gewesen und in dieser Funktion rechte Hand von Ralf Bossi. Jenem legendären Reporter, der für den Kurier über den Fall Marsch berichtet hatte. Ralf war nun seit drei Jahren tot. Er war bei einem Badeunfall ertrunken, weshalb es nun Dirk oblag, über die Rückkehr des Mörders von einst zu berichten. So zumindest sah Dirk es selbst, er hatte damals alles mitbekommen und somit beste Voraussetzungen. So hatte er es seinem Chef eingeflüstert.

Es war seine letzte Chance. Inzwischen war Dirk Mitte vierzig und es gab nicht viel, was er in seinem bisherigen Leben erreicht hatte. Einst war er den beengten Verhältnissen Waldsteins mit großen Plänen entflohen. Er wollte ein berühmter Journalist werden, der in Hamburg, München oder Berlin für internationale Magazine arbeitete. Stattdessen hatte es ihn nach seinem Germanistik-Studium zurück in die Heimat verschlagen. Waldstein war der einzige Ort, wo man ihn haben wollte. Nein, geschenkt hatte Dirk das Leben selten etwas. Das war schon in seiner Kindheit so gewesen, als er sich unscheinbar und ohne viele Freunde mehr schlecht als recht durchgemogelt hatte. Einzige Auffälligkeit damals war neben seiner Körpergröße sein langer Hals, der ihm den zweifelhaften Spitznamen Gurkenhals eingebracht hatte. Noch heute zogen sich seine Eingeweide zusammen, wenn er an diese Demütigung zurückdachte. Als er dann das geschriebene Wort für sich entdeckte, glaubte er einen Ausweg aus der Bedeutungslosigkeit gefunden zu haben und ergatterte nach seinem Studium den Volontärposten beim Kurier. Damit endete seine Glückssträhne aber schon und seither führte Dirk ein beständiges Schattendasein in der Redaktion. Etwas Aufregendes gab es so gut wie nie zu berichten und wenn doch mal was passierte, stürzten sich die Kollegen genauso wie Dirk drauf. Und gewannen zumeist.

Nicht aber heute.

Nicht im Fall Marsch. Hier hatte Dirk sich durchgesetzt. Er war damals an der Sache beteiligt und würde es auch diesmal sein. Er würde die große Titel-Story über den Fall schreiben, die damals seinen Kollegen ins Rampenlicht brachte.

So lehnte er nun an der Treppe zum Hotel und wartete mit den Kollegen auf die Rückkehr des Mörders von damals. Er war sicher, dass etwas passieren würde, wenn Victor Marsch zurück ins Dorf kam. Es musste so sein. Menschen änderten sich nicht. Gerade hier auf dem Land, wo verkrustete Strukturen und starre Ansichten herrschten, die, hatten sie sich einmal etabliert, nur schwer aufzubrechen oder abzutun waren. Die Dorfbewohner würden Marsch niemals vergessen lassen, was er getan hatte. Da konnte er sich noch so sehr abstrampeln. Er hatte sein Brandzeichen für den Rest seines Lebens, würde immer der Mörder sein.

Unschlüssig blinzelte Dirk rüber zu den anderen Reportern, von denen er bisher mit noch keinem gesprochen hatte. Sie wirkten gelangweilt. Er straffte den Rücken und stand auf. Ja, er würde die Sache in die Hand nehmen.

Betont lässig schlenderte er zum Berichterstatter einer überregionalen Tageszeitung.

»Hast du vielleicht eine Zigarette für mich?«

Der Kollege, ein junger Mann mit zurückgegelten Haaren, schaute Dirk für einen Moment irritiert an und schüttelte dann den Kopf.

»Nein, Mann, tut mir leid. Nichtraucher!«

Dirk nickte verstehend und wanderte weiter.

Nichtraucher, na klar! Hatte Dirk ihn nicht erst vor einer halben Stunde mit einer Kippe in der Hand stehen sehen?

 

5

 

Victor schaute auf den Teller mit der dampfenden Rinderroulade und atmete ihren vertrauten Duft ein. Sie roch köstlich, nach Kindheit. Nach unbeschwerten Tagen. Genau wie die goldgelben Kartoffeln vom eigenen Feld und das frische Rotkraut. Gierig machte er sich darüber her.

Seine Mutter beobachtete ihn lächelnd.

»Schmeckt’s?«, fragte sie unnötigerweise, während Victor das Essen in sich reinschaufelte.

Er nickte mit vollem Mund. Natürlich schmeckte es. Nicht umsonst hatte er sich diese Mahlzeit gewünscht, als die Mutter vor ein paar Wochen fragte, was sie bei seiner Rückkehr kochen sollte. Damals hatte er sich wie ein zum Tode Verurteilter gefühlt, der nach seiner Henkersmahlzeit gefragt wurde. Nun setzte sich in ihm die Gewissheit durch, dass seine Situation wohl doch etwas besser war.

»Das ist das beste Essen seit einer Ewigkeit«, bekannte er, nachdem er fertig gekaut hatte. Das Lächeln der Mutter wurde breiter.

»Darauf möchte ich wetten«, murmelte Victors Vater spöttisch, der mit am Tisch saß. Er begann ebenfalls zu essen. Victor schielte kurz zu ihm rüber, sagte aber nichts. Der kurze Moment des Friedens, den er verspürt hatte, seit sie ins Dorf gekommen waren, löste sich in Luft auf. Seine Mutter hatte es geschafft, ihm während der Fahrt seine Ängste und Bedenken zu nehmen, davor, was ihn daheim erwarten könnte. Wie man ihn aufnehmen würde. Wie die Nachbarn reagieren. Sie hatte ihm das Gefühl gegeben, dass sich alles irgendwie fügen würde. Ohne viel zu reden.

Dies machte sein Vater nun mit seiner puren Anwesenheit zunichte.

Auch er redete nicht viel. Zumindest heute nicht. Doch sein Schweigen hatte weder etwas Beruhigendes noch Tröstendes. Im Gegenteil – es wirkte aufgestaut und aggressiv und war in seiner Stille fast bedrohlich. Victor spürte es und zog intuitiv den Kopf ein. Er wollte keinen Streit, sondern Ruhe. Nach all den Jahren im Gefängnis sehnte er sich nur nach Frieden.

Natürlich wusste er, woher der Unmut des Vaters rührte. Das Verhältnis zwischen ihnen war beinahe zeitlebens belastet, Victor für seinen Vater eine lebende Enttäuschung. Nicht erst seit der Schande, die er über die Familie gebracht hatte.

Auch vorher schon gab es unschöne Szenen zwischen ihnen. Vielleicht hätte Victor einiges davon verhindern können. Wenn er nur etwas umgänglicher, entgegenkommender oder einsichtiger gewesen wäre. Aber manchmal musste man im Leben Entscheidungen treffen, die man für richtig hielt. Selbst wenn andere sie nicht teilten. Selbst wenn sie sich dadurch verletzt fühlten. So hatte Victor das früher gesehen und so sah er es noch heute.

Auch sein Vater war älter geworden. Tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Der kurze Bart und die Haare waren heller, fast weiß. Die Geheimratsecken hatten sich vergrößert. Trotzdem war sein Vater immer noch schlank und sehnig, wirkten seine Bewegungen straff und geschmeidig. Wahrscheinlich trainierte er weiter jeden Tag. Ob er noch unterrichtete, wusste Victor nicht. Wahrscheinlich nicht. Insgesamt wusste er nur wenig über seinen Vater. In den letzten zwanzig Jahren hatten sie einander nur selten gesehen und noch viel seltener miteinander geredet.

Als der Vater nun seine Mahlzeit beendet hatte, stand er wortlos auf und verließ den Tisch. Sofort schien es in der Küche wärmer zu werden. Selbst die Mutter wirkte gelöster.

»Ich freue mich, dass du wieder da bist«, begann sie und legte Victor eine Hand auf seine. Er drückte sie sanft.

»Und ich freue mich, wieder hier zu sein.«

»Willkommen zurück, mein Junge.«

»Danke, Mama.«

 

Den Nachmittag verbrachte Victor damit, sich einen ersten Eindruck von seinem neuen, alten Zuhause zu verschaffen. Den Lebensmittelladen, den seine Eltern betrieben hatten, solange Victor zurückdenken konnte, in dem er praktisch aufgewachsen war, gab es nicht mehr. Stattdessen stand da nun ein Hofladen, der, soweit es Victor auf den ersten Blick beurteilen konnte, gut zu laufen schien. Er befand sich in der alten Scheune, die jahrelang seinem Vater – und später auch Victor – als Trainingsraum gedient hatte. Damals hatten sie alles daran gesetzt, den Stall-Muff aus den Räumen zu bekommen, die Wände geweißt und den Boden erneuert. Nun war all dies wieder rückgängig gemacht worden. Der Laden wirkte wie die Scheune, die er mal war, nur größer, geräumiger und heller. Überall standen große Regale. Es roch nach Stroh und Erde. Von den gebeizten Holzwänden hingen diverse Gartengeräte. Alte Küchengeräte verbreiteten nostalgischen Charme. An der Decke baumelte ein ausrangiertes Wagenrad, von dem Lichtstrahler eine warme Atmosphäre in den Verkaufsraum schickten und die Ware optimal ausleuchteten. Es gab Kartoffeln vom eigenen Feld, Milch von einer benachbarten Molkerei, hauseigenen Honig, Marmeladen, Eier, eingemachte Wurst und Fleisch, das seine Eltern von den Schlachtereien der Umgebung bezogen. Sogar zwei kleine Tische, an die man sich setzen und den selbst gebackenen Kuchen seiner Mutter genießen konnte, standen auf dem mit holprigem Kopfsteinpflaster ausgelegten Innenhof, der vollständig von den Ställen und Scheunen des Anwesens eingerahmt wurde.

Victor vermutete, dass seine Mutter noch immer den Großteil des Geschäfts allein führte. Sie war in Rosenfeld geboren und aufgewachsen und der Lebensmittelladen zuvor hatte ihren Eltern, Victors Großeltern, gehört. Sein Vater war erst später hinzugekommen. Auch er hatte von Anfang an mitgeholfen, obwohl sein Herz weder für die Landwirtschaft noch den Kaufmannsberuf schlug. Stattdessen galt seine Liebe von jeher dem Sport, genauer gesagt, dem Kampfsport, den er lange sogar unterrichtet hatte. Und zwar genau hier, wo Victor jetzt stand. An der Stelle, wo die Kisten mit den gelben und roten Zwiebeln standen, lagen früher die Matten, über die sich die Schüler warfen, wenn sie sich aufwärmten.

Victor hätte gern gewusst, was aus diesen Schülern geworden war, wagte aber nicht, seinen Vater danach zu fragen. Doch je länger er über den Hof streunte, desto bewusster wurde ihm, dass sich in den vergangenen zwanzig Jahren nicht nur die Welt da draußen, sondern auch die Welt seiner Eltern verändert hatte. Sie hatte sich weitergedreht, ohne Victor. Für einen Moment fühlte er sich um die verlorene Zeit betrogen.

Als er sich eben auf eine Bank, die an der Schuppenwand stand, setzen wollte und die Ruhe und das Gefühl der Freiheit genießen wollte, rollte ein kleiner Lieferwagen auf den Hof. Ein alter Mann im blauen Kittel stieg aus und öffnete umständlich die Ladeklappe, wobei er sich suchend umsah. Victor lief ihm zögerlich entgegen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Der Mann hielt inne, wartete, bis Victor heran war, und stützte dann die Hände in die Hüften.

»Eigentlich wollte ich zu deinen Eltern.«

Misstrauisch beäugte er Victor.

»Du bist also tatsächlich zurückgekommen«, murmelte er. »Hätte nicht gedacht, dass ich dich noch mal wiedersehen würde, mein Junge.«

Victor kramte in seinen Erinnerungen.

»Herr Bartz?«

Kaum noch Haare auf dem Kopf, immer noch hager und eine große, vom Alkohol gerötete Nase – aber das war eindeutig Alice’ ehemaliger Nachbar. Ob er wohl immer noch dort wohnte, neben dem Schauplatz des einstigen Verbrechens? Victor hätte ihn gern danach gefragt. Doch der Mann schien nicht an einem Gespräch mit ihm interessiert zu sein. Im Gegenteil, es lag etwas Feindseliges in seinem Blick, ebenso wie in seiner Stimme.

»Dass du dich ausgerechnet hier noch mal blicken lässt – alle Achtung!«

Der Nachbar schüttelte missbilligend den Kopf und machte sich daran, mehrere Kisten mit Pflaumen abzuladen. Offenbar war er einer der Zulieferer seiner Mutter.

Victor atmete kurz durch.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen.«

»Nein, danke, das schaffe ich schon allein.«

Das stimmte zwar, aber Victor sah, dass es den alten Mann doch einige Anstrengung kostete, die mehrere Kilo schweren Kisten von der Ladefläche zu hieven. Kein Wunder, er musste mindestens siebzig sein, wenn nicht älter.

Entschlossen packte Victor mit an.

»Seien Sie nicht albern. Es geht doch viel schneller zu zweit.«

Er wollte Herrn Bartz die Kiste abnehmen und streifte mit seinen Fingerspitzen dabei versehentlich dessen Handrücken. Der Mann zuckte zurück, als hätte er sich verbrüht.

»Fass mich nicht an!«, fauchte er, riss die Kiste zur Seite und schleppte sie schnaufend ins Innere der Scheune. Kopfschüttelnd schnappte sich Victor eine zweite Kiste von der Ladefläche und wollte sie ebenfalls reintragen. Doch er war kaum zwei Meter gelaufen, als der Mann ihm mit finsterem Blick aus der Scheune entgegengeeilt kam. Er stellte sich vor Victor und versuchte, ihm die Kiste abzunehmen.

»Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Du sollst weder mich noch meine Sachen anfassen! Ich will mit dir nichts zu tun haben.«

Victor versuchte ruhig zu bleiben, merkte aber, wie die Wut in ihm aufzusteigen begann. Er hielt die Kiste weiter umklammert.

»Ich bringe sie in den Laden«, sagte er mit fester Stimme.

»Das wirst du nicht«, beharrte der Nachbar und versuchte, sie ihm wegzunehmen. Die Pflaumen darin hüpften ob des Hin und Her wild durcheinander.

»Machen Sie sich nicht lächerlich.«

»Nenn mich nicht lächerlich. Was willst du überhaupt hier? Es war viel besser ohne dich!«

Victor ließ die Kiste ohne Vorwarnung los.

Der Nachbar, der nicht damit gerechnet hatte, stolperte nach hinten und riss die Hände nach oben. Die Kiste glitt ihm aus den Händen und sauste zu Boden. Munter kullerten die Pflaumen über das Kopfsteinpflaster des Hofes, der plötzlich wie eine blaugesprenkelte Fallobstwiese aussah. Herr Bartz sah sich schnaufend um, blies dann empört die Backen auf und stapfte an Victor vorbei zu seinem Auto.

»Dafür wird deine Mutter bezahlen«, rief er, kletterte ins Führerhaus und verließ den Hof mit quietschenden Reifen. Die verbliebenen Kisten mit den Pflaumen rutschten fröhlich über die noch immer offenstehende Ladefläche, bis der Wagen hinter der Hofeinfahrt verschwunden war.

Victor blieb inmitten der heruntergefallenen Ladung Obst stehen und sah sich um. Ein Teil davon war jetzt Matsch.

Seine Mutter, die das Geschehen von der Küche aus verfolgt hatte, seufzte leise in sich hinein. Sein Vater hatte die Szene ebenfalls von seiner Werkstatt aus beobachtet. Als sie vorbei war, schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Victor starrte derweil auf die zum Teil breitgetretenen Pflaumen und hatte eine Vision. Eine Erinnerung war kurz aufgeleuchtet, flüchtig wie eine Sternschnuppe am Nachthimmel, und genauso schnell wieder verschwunden.

 

Pflaumen. Breitgetreten, zermatscht.

Victor lief übers Feld und versuchte, sich zu konzentrieren. Mehrmals fasste er sich an den Kopf, als könne er die Gedanken, die eben darin aufgeblitzt waren, festhalten. Sie waren noch irgendwo da drin, dessen war er sicher. All die Jahre hatten sie sich versteckt, in irgendeiner dunklen Ecke gekauert. Und nun, bei diesem Anblick, hatten sie sich erstmals gezeigt für einen kurzen Augenblick.

Zu kurz für Victor, um das Bild ganz zu erfassen. Aber da war etwas.

Er hatte die durcheinanderkullernden Früchte gesehen und sich an Pflaumen erinnert, die ebenso wild verstreut und zermatscht auf dem Boden lagen. Und da war auch Blut gewesen. Viel Blut und ein wild pumpendes Herz.

Sein Herz. Damals wie heute.

Immer weiter lief er querfeldein, war schon lang vom Weg abgekommen und massierte sich dabei angestrengt die Schläfen, als könne er dadurch die Erinnerung herauspressen. Und schließlich stieß er einen verzweifelten Schrei aus, in dem nicht nur die Wut über die fehlende Erinnerung, sondern über die ganze verfahrene Situation, die sich sein Leben nannte, mitschwang.

Ein Schwarm Spatzen, der daraufhin aus einer Schilfgruppe emporstieg, holte ihn in die Realität zurück.

Er schaute sich um und erblickte die alte Windmühle. So weit war er also gelaufen. Bis zum alten Weiher, seinem Lieblingsplatz von früher, wo er einst Wasserflöhe zum Angeln gefangen hatte.

Seine Füße hatten ihn von ganz allein hergetragen nach all den Jahren. So weit funktionierte sein Erinnerungsvermögen also immerhin noch.

Vielleicht war doch noch nicht alles verloren.

 

6

 

Es war nicht so, dass Dirk Zimmermann sich selbst als Versager betrachtete. Es war vielmehr so, dass das Leben ihm bisher wenig Chancen eingeräumt hatte. So sah er das. Doch er war ein geduldiger Mensch und konnte warten. Sein Tag würde kommen und er war nicht mehr weit, dessen war er sicher.

Während die anderen Kollegen auf dem Dorfplatz zunehmend unruhig wurden, weil nichts Spannendes passierte, sich sogar vereinzelt bereits verabschiedeten, saß Dirk in seinem Wagen und wartete. Zwischendurch recherchierte er noch einmal die Ereignisse von damals. Vor seiner Abfahrt nach Rosenfeld hatte er sämtliche den Fall betreffenden Unterlagen, derer er habhaft werden konnte, zusammengetragen und Kopien davon auf seinen Laptop gezogen. Bei einigen Dokumenten wusste er bis heute nicht, wie sein damaliger Vorgesetzter Ralf Bossi an sie herangekommen war. Bei anderen wusste er es genau, denn Dirk war es gewesen, der sie ihm besorgt hatte. Dabei waren beide Journalisten nicht immer vorschriftsmäßig zu Werke gegangen. Doch wenn man in diesem Beruf etwas erreichen wollte, war das auch nicht immer möglich. So zumindest lautete Bossis Credo, und Dirk hatte es seither mehr oder weniger erfolgreich beherzigt.

Nachdem er sich einen Überblick über die Dateien verschafft hatte, schlug er als Erstes die Bilder von einst auf. Es waren die Original-Fotos der Polizei aus einem internen Bericht – und sie offenbarten grausige Details.

Auf der ersten Abbildung war eine Axt zu sehen, deren Blatt und Griff besudelt mit dunkelrotem, fast schwarzem Blut waren. Der Boden drumherum war ebenfalls voller Blut. Angeordnet in abstrakten Mustern - Streifen, Klecksen, Spritzern - schien es fast wie das Kunstwerk eines exzentrischen Malers. Vereinzelte Haare, die sich beim Kampf vom Kopf der Frau gelöst haben mussten, hatten sich um den Stiel der Axt gewickelt und klebten daran wie lange dünne Spulwürmer. Stellenweise war das Blut bereits geronnen und hatte unförmige Klumpen inmitten der Lachen und Rinnsale gebildet. Vielleicht waren es aber auch kleine Stücke Fleisch, die die Axt aus den Körpern gerissen hatte, als der Mörder sie herauszog. Das Schild mit der Nummer eins, das der Fotograf an den Rand des Bildes postiert hatte, um die Beweismittel später sortieren zu können, wirkte wie ein Fremdkörper.

Bild Nummer zwei zeigte einen abgetrennten Finger, der dem männlichen Mordopfer gehört hatte. Auf ihn musste der Mörder besonders brutal eingeschlagen haben (vielleicht hatte er sich auch besonders hartnäckig gewehrt), denn neben der tödlichen Verletzung in der Brust, hatte ihm der Mörder die Axt tief in die Schulter und den linken Unterarm getrieben. Letzterer war dabei fast bis zur Hälfte abgetrennt worden. Diese grausame Szene zeigte Foto Nummer drei. Es musste ein grauenvoller Tod gewesen sein. Dirk mochte sich gar nicht vorstellen, welche Qualen das Opfer in den letzten Minuten seines Lebens erlitten haben musste. Wie ein tollwütiges Tier musste der Mörder auf den Mann eingeschlagen haben, immer und immer wieder.

Im Gegensatz dazu war das weibliche Opfer fast glimpflich davongekommen. Ihr hatte der Mörder die Axt lediglich von hinten zwischen die Schulterblätter getrieben. Zwar gab es hier am Ende ebenfalls mehrere Hiebe. Aber laut Polizeibericht hatte die Frau von den letzten tödlichen Schlägen nicht mehr viel mitbekommen, da sie zu diesem Zeitpunkt bereits bewusstlos gewesen war.

Der schriftliche Polizeibericht lag Dirk ebenfalls vor. Er überflog ihn zum wiederholten Male.

Datum: 13. September. Uhrzeit: 21:06 Uhr. Tatort: Weidenweg, Rosenfeld, Haus der Familie Helmer. Einsatzbericht des zuständigen Beamten Michael Schäpt: »Als mein Kollege und ich den Tatort erreichten, stand die Haustür weit offen. Im Flur und mehreren Zimmern des unteren Stockwerkes brannte Licht. Der Garderobenständer war umgeworfen, eine Jacke lag am Boden. Auf der Schwelle zum Wohnzimmer lagen frische Pflaumen. Im Wohnzimmer, welches sich ebenfalls im unteren Stockwerk befindet, entdeckten wir zwei Leichen (w/m), beide auf dem Boden liegend. Augenscheinlich handelte es sich dabei um das Besitzer-Paar des Hauses. Beide Opfer waren eindeutig durch Fremdeinwirkung zu Tode gekommen. Das Tötungswerkzeug, eine Axt, lag noch am Tatort in unmittelbarer Nähe des männlichen Opfers. Mehrere Möbel waren umgestoßen, der Tisch und ein Teil der Schrankwand demoliert. Auf dem Teppich befanden sich mehrere große Blutflecken. Die Toten wurden noch vor Ort von einem Nachbarn (Hendrik Bartz) als Ehepaar Sandra und Roland Helmer identifiziert. Herr Bartz war es auch, der die Beamten informiert hatte. Er sagte weiter aus, dass sich ein Bekannter der Tochter (Alice Helmer) namens Victor Marsch kurz vor dem Eintreffen der Polizei gemeinsam mit dem Mädchen im Auto ihres Vaters, einem schwarzen BMW, vom Tatort entfernt hatte. Beide hätten dabei heftigen Streit gehabt. Worum es dabei ging, konnte der Zeuge nicht sagen. Abschließende Beobachtung: Während seiner Aussagen stand Herr Bartz unter mäßigem Alkoholeinfluss.«

Dirk blätterte weiter.

Als Nächstes kam der Obduktionsbericht des Gerichtsmediziners, der noch einmal bestätigte, dass das Ehepaar durch die Axthiebe zu Tode gekommen war. Danach folgte der erste Artikel von Bossi:

»Grausamer Doppelmord in Rosenfeld/mutmaßlicher Täter mit Geisel auf der Flucht«.

Bei der Durchsicht des Artikels merkte Dirk Zimmermann, wie sehr sich die Welt der Nachrichten in den letzten Jahren weiterentwickelt hatte. Während es heute selbst einem kleinen Lokalblatt wie dem Märkischen Kurier möglich war, fortlaufende Aktualisierungen seiner Beiträge auf der Homepage und gängigen Social Media-Plattformen online zu stellen, steckte diese Technik damals noch am Anfang. Bossi war auf die jeweils am kommenden Tag erscheinende Print-Ausgabe angewiesen gewesen. So berichtete er am Morgen nach den Verbrechen in einem eilig nach Redaktionsschluss eingereichten Beitrag über den Mord und konnte erst einen weiteren Tag später ausführlich darüber schreiben. Da war der Täter allerdings schon lange gefasst und der Text des Waldsteiner Reporters las sich wie eine Nachlese auf die Berichterstattungen der TV-Sender vom Vorabend. Ein Umstand, der Ralf Bossi damals sehr geärgert hatte. Dank seiner Nähe zu den Einheimischen konnte er ihnen Dinge entlocken, welche den von weither angereisten Reportern verborgen geblieben waren. Umso intensiver hatte er sich deshalb in die Hintergründe des Falles gegraben, mit den Menschen vor Ort gesprochen und über das Gerichtsverfahren berichtet. Was wiederum dazu führte, dass Kollegen ihn und seine Rechercheergebnisse immer häufiger in ihren eigenen Beiträgen zitierten. Man konnte sagen, dass der Märkische Kurier in jenem Herbst vor zwanzig Jahren eines der meistzitierten Blätter im Land war. Dank Ralf Bossi und seines Assistenten Dirk Zimmermann. Ralf Bossi war danach vielen Kollegen der Branche ein Begriff. Dirk Zimmermann jedoch blieb unsichtbar. Bis heute.

Hab Geduld, mahnte Dirk sich und las weiter.

Der Schuldige war damals schnell gefasst.

Zwar behauptete Victor Marsch bis zum Schluss, sich nicht an die Taten erinnern zu können. Aber die Beweislast war so erdrückend, dass weder er selbst noch der Richter sie ignorieren konnte. Seine Fingerabdrücke waren auf der Tatwaffe klar erkennbar, ebenso wie die Abdrücke seiner Schuhe am Tatort. Er war damals seit einem knappen Jahr mit der Tochter des ermordeten Ehepaares zusammen und es gab Unmengen von Zeugen, die bestätigten, dass die beiden eine Art toxische Beziehung führten, aus der sie auch in der Öffentlichkeit keinen Hehl machten. Zudem war Marsch ein bekannter Raufbold, der immer wieder durch Randale und Prügeleien auffiel. Bei einer Maifeier sollte er einem Kontrahenten sogar die Schulter ausgekugelt haben. Das war allerdings nur ein Gerücht. Der Geschädigte selbst gab damals an, mit dem Motorrad gestürzt zu sein. Aber enthielt nicht jedes Gerücht auch ein Körnchen Wahrheit?

Außerdem, wenn Marsch tatsächlich unschuldig war, warum war er dann mit seiner Freundin vom Tatort geflüchtet? Entführt haben sollte er sie. Das zumindest behauptete Alice Helmer selbst, als sie aufgegriffen wurden. Genauso wie sie aussagte, Victor nach dem Mord allein im Haus ihrer Eltern ertappt zu haben. Vor Gericht war sie als Hauptbelastungszeugin aufgetreten. Sie hatte ein bemerkenswertes Erinnerungsvermögen und war die perfekte Zeugin für jeden Staatsanwalt. Dennoch hatte sie Glück, dass sich die Anklage nicht allein auf ihre Aussage stützen musste. Denn für sich genommen war ihre Glaubwürdigkeit lausig. Nicht dass sie keine einnehmende Persönlichkeit gewesen wäre. Ganz im Gegenteil. Alice Helmer war sicher der Jackpot auf jedem Dorffest gewesen. Eine blonde Schönheit mit grünen Augen, die so lasziv unter den schweren Wimpern hervorschauten, dass sie jeden Mann um den Verstand brachten. Dazu ein Körper, der einen schwindeln ließ. Kurz gesagt, Alice Helmer war eine Frau, bei der Dirk Zimmermann damals nicht den Hauch einer Chance gehabt hätte.

Doch auch Engel sind nur Menschen und innerhalb kürzester Zeit entlarvte der Rechtsanwalt, den die Eltern von Victor Marsch engagiert hatten, Alice Helmer als notorische Lügnerin. So behauptete sie mehrfach, dass Victor ihr erster Freund gewesen sei, was mehrere Bekannte aus dem Umfeld verneinten. Ebenso wie sie verneinten, dass offenkundige Streitereien zwischen dem Paar stets von Victor ausgegangen wären. Es war wohl eher so gewesen, dass Wortgefechte in der Regel von Alice losgetreten wurden. Überhaupt lag sie mit den meisten Menschen in ihrer Umgebung im Dauerstreit. Noch dazu trank sie, hatte die Schule vorzeitig abgebrochen und ihren Eltern Geld von deren Konto geklaut. Doch auch ohne ihre Aussage war die Beweislast gegen ihren Ex-Freund groß genug, um ihn ins Gefängnis zu bringen.

Das Urteil: Lebenslänglich, mit frühester Entlassung nach fünfzehn Jahren. Dass es am Ende zwanzig Jahre wurden, hatte damit zu tun, dass Victor Marsch im Gefängnis in mehrere Schlägereien verwickelt war. Einmal wurde einem Mithäftling dabei die rechte Kniescheibe zertrümmert sowie das Fußgelenk und mehrere Zehen gebrochen. Inwieweit Marsch tatsächlich an diesen Verletzungen beteiligt war, hatte Dirk noch nicht herausfinden können. Aber es bestätigte seine Meinung, dass sich Menschen nicht änderten. Erst recht nicht, wenn sie einen Mord begangen hatten. Wer so etwas tat, bei dem gehörte Gewalt zum Alltag.

Nun klappte Dirk den Laptop zu und dachte nach. Der Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es bereits später Nachmittag war. Von den Kollegen vor dem Hotel war nichts mehr zu sehen. Er vermutete, dass die TV-Teams ein paar Dorfbewohner befragt hatten, was sie von der Rückkehr ihres berüchtigten Nachbarn hielten. Die Zeitungs- und Netzreporter würden ein kurzes Update zur Stimmung im Ort bringen. Das war es dann auch.

Nur Dirk war noch hier. Und hatte seinen Spielplatz nun ganz für sich allein.

Doch wie sollte er überhaupt vorgehen? An die Eltern von Victor Marsch würde er nicht rankommen, an den Mann selbst erst recht nicht. Vielleicht ebenfalls die Nachbarn befragen? Möglicherweise waren sie froh, sich ein paar mehr Dinge von der Seele reden zu können als das, was in eine kurze Umfrage passte.

Wie hatte Bossi damals gemeint: Man muss nur lange genug in einem Wespennest herumstochern, dann kämen die Biester schon von allein heraus.

Dirk musste also nur noch einen passenden Stock finden.

 

7

 

In der ersten Nacht zu Hause schlief Victor wenig, was mehrere Gründe hatte. Zum einen war es ein komisches Gefühl, wieder im Bett von damals zu liegen. Im selben Bett wie mit achtzehn Jahren. Aber es kam ihm nun viel weicher vor. Es roch sogar noch wie damals, auch wenn es seine Mutter natürlich frisch bezogen hatte. Alles hier roch noch wie damals. Sein Zimmer schien der einzige Raum auf dem gesamten Gelände zu sein, das die vergangenen Jahre unverändert überstanden hatte. Selbst die Poster an der Wand waren noch dieselben, was sowohl lustig als auch deprimierend war. Lustig der alten Zeiten wegen, deprimierend, weil diese letzten unbeschwerten Tage so lange zurücklagen.

Doch nicht nur das hielt Victor wach.

Während er das Mondlicht durch das geöffnete Fenster betrachtete und es sonderbar fand, keine Gitter mehr zu sehen, die ihn hier drinnen hielten, durchforstete er seine Erinnerungen. Wanderte auf verschlungenen Pfaden durch sein Bewusstsein und versuchte, zu jener Nacht zurückzukehren, die sein Leben für immer verändert und ihn damit auch aus diesem Zimmer vertrieben hatte.

Vielleicht hatte er die Eltern von Alice tatsächlich umgebracht. Der Gedanke war nicht abwegig. Er hatte sie nie leiden können und sie ihn auch nicht. Die Mutter war eine verblühte Xanthippe, die der Welt die Schuld daran gab, ihre besten Jahre in diesem traurigen Ort verschwendet zu haben. Der Vater war nicht viel besser. Zwar mit einem Rest Lebenslust versehen, aber verbraucht von den Kämpfen mit seiner zänkischen und verbitterten Frau. Außerdem haderte er damit, dass seine Tochter erwachsen wurde und andere neue Männer seinen angestammten Platz in ihrem Leben einnahmen. Das hatte ihm Alice mal erzählt. Nun erinnerte Victor sich dunkel und schemenhaft daran. Ebenso, wie Alice immer schnell nach draußen kam, wenn er sie mit seinem Motorrad abholte. An konkrete Streitereien mit ihren Eltern erinnerte er sich dagegen nicht. Nicht an ein einziges Mal, wo er mit ihnen eine ernsthafte Debatte geführt hätte. Dafür mühten sie sich viel zu sehr, ihn zu ignorieren. Warum also hatte er sie dann umgebracht? War es am Ende vielleicht gerade diese Ignoranz, die ihn zu seiner Tat getrieben hatte?

Aber warum erinnerte er sich nicht daran?

Gegen Mitternacht stand er auf und lief hinaus in den Garten. Nicht weil er musste, sondern weil er durfte. Weil ihn niemand daran hinderte. Er setzte sich in einen alten Korbstuhl und sah hinaus in die Nacht. Um ihn herum war alles dunkel. Lediglich die weißen Dolden der Schafgarben auf der Wiese reflektierten schwach das Mondlicht und wirkten wie verlorene Schaumkronen auf einem schwarzen Ozean. Die Frösche im Teich waren verstummt. Draußen auf dem Feld zirpten ein paar Grillen. Noch eine Nacht zuvor hatte Victor in einer abgeriegelten Zelle verbracht. Hätte er versucht zu fliehen, wäre wahrscheinlich auf ihn geschossen worden. Und nun war er frei, konnte tun und lassen, was er wollte. Das System hatte ihn von einem Tag auf den anderen wieder aufgenommen und beschlossen, dass er nicht mehr gefährlich war. Noch gut erinnerte er sich an die ersten Nächte hinter Gittern. An das Alleinsein, die Geräusche aus den anderen Zellen, das Jaulen und Winseln. An die Enge und das Gefühl, dass die Wände um ihn herum näherkamen. An das erstickende Gefühl, sich nicht bewegen zu können. Damals glaubte er, das alles keine Woche überleben zu können. Am Ende waren es zwanzig Jahre geworden. Schon seltsam, woran sich ein Mensch alles gewöhnen konnte.

Und nun? Was sollte er mit seinem verbleibenden Leben anfangen? Da weitermachen, wo er damals aufgehört hatte? Oder neu beginnen? Er konnte sich nicht mehr erinnern, ob er mal einen Plan für sein Leben gehabt hatte. Irgendwelche Träume oder Ziele. Er wusste nur, dass ihm nun ein Neustart bevorstand. Ob er den allerdings hier in Rosenfeld schaffte, war fraglich. Wo er immerhin ein Dach über dem Kopf, ein Auskommen und Menschen hatte, die ihn unterstützten. Die ihn trotz all der Probleme, die er ihnen bereitet hatte, vielleicht immer noch liebten.

In seinem Kopf wallten die Eindrücke des Tages auf. Die Ankunft im Ort. Die gepflegten Vorgärten. Die hohen Sonnenblumen. Das selbst gebastelte Vogelhaus. Dagegen stand die Pressemeute auf dem Dorfplatz, sein Vater und Herr Bartz. Sie alle würden es ihm nicht leicht machen. Doch wenn er sie überzeugen konnte, dass er sich geändert hatte, würden sie ihm vielleicht verzeihen und einen Neuanfang gewähren. Die Rosenfelder waren keine schlechten Menschen. Sie hatten nur etwas Furchtbares erlebt. Und das leider nicht zum ersten Mal. Vor etwa vierzig Jahre war hier schon einmal ein Mensch auf rätselhafte Weise zu Tode gekommen. Eine junge Frau, deren Leiche in den Wäldern gefunden wurde. Ihr Mörder wurde nie gefasst.

Victor wusste, dass er diese Tat zumindest nicht begangen haben konnte. Ebenso wenig, wie er für all die anderen Frauen, die im Laufe der Zeit in den Wäldern um Rosenfeld verschwunden sein sollten, verantwortlich war. Aber das war sowieso bloß dummes Gerede. Jeder im Ort wusste das.

Er stand auf und atmete tief die klare Nachtluft ein, während er einen Entschluss fasste. In den nächsten Tagen würde er jene Menschen aufsuchen, denen er damals unrecht getan hatte und sich bei ihnen entschuldigen. Menschen, die direkt oder indirekt von seiner Tat betroffen waren. Dazu gehörten Nachbarn, die von der Presse und der Polizei belästigt wurden, ehemalige Freunde, die vor Gericht aussagen mussten, und selbst der ehemalige Schuster, dessen Geschäft in jener Zeit einbrach, weil die Menschen sich um alles Mögliche kümmerten, bloß nicht mehr um ihre Schuhe. Nur so konnte er die Vergangenheit hinter sich lassen. Schon morgen würde er damit beginnen. Es war der beste Weg, mit der Sache abzuschließen.

Zufrieden mit seiner Entscheidung lief er ins Haus zurück.

Im dunklen Flur stand eine Gestalt. Als Victor näherkam, erkannte er seine Mutter.

»Ist alles in Ordnung?«, flüsterte sie besorgt.

Victor nickte und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Alles bestens. Geh schlafen.«

Damit stieg er die Stiegen hoch zu seinem Zimmer. Auch er würde nun endlich schlafen können.

 

8

 

Dirk Zimmermann stand am Grab und ließ den Blick schweifen. Hier lagen sie also, die Eltern vom Alice Helmer. Durch die hohen Eichen am Rande des Friedhofs fiel funkelnd das Sonnenlicht herab und verlieh dem Gräbermeer etwas luftig Verspieltes, das gar nicht so recht zu diesem Ort passte. Ein wogendes Feld aus gelben Sprenkeln, eine trügerische Idylle. Es waren kaum andere Menschen da. Nur ein paar Reihen weiter harkte eine alte Frau um ein anderes Grab herum, während ihr kleiner Hund im Gras saß und Dirk nicht aus den Augen ließ. Ebenso wenig wie seine Besitzerin, die immer wieder argwöhnisch zu ihm rüber schielte. Als Fremder fiel man hier schnell auf.

»Tragisch, was den beiden passiert ist, oder?«, rief Dirk aufs Geratewohl rüber.

Die alte Frau, die nur auf dieses Zeichen gewartet zu haben schien, unterbrach ihre Arbeit und richtete sich schwerfällig auf. »Da haben Sie leider recht.«

»Kannten Sie die beiden?«

Wie erhofft, kam sie nun herüber getrippelt und stellte sich neben Dirk auf. Trotz ihrer Skepsis schien sie in Plauderlaune, das erkannte er sofort. Einsame ältere Damen waren häufig eine gute Informationsquelle. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können.

»Natürlich, was denken Sie denn? Jeder im Ort kannte sie. So viele sind wir hier ja nicht.«

Dirk schätzte sie auf Ende sechzig, vielleicht etwas älter. Obwohl sie Arbeitshandschuhe trug und der Saum ihres Rockes etwas schmutzig war, saß ihre Frisur tadellos. Die flinken Augen blickten durch ein goldenes Brillengestell, und sie konnte offenbar noch immer ohne Gehstock laufen.

»Wie waren sie so, die beiden?«

Die Frau überlegte kurz, als müsse sie tief in ihren Erinnerungen kramen.

»Recht nette Leute«, entgegnete sie schließlich vorsichtig. So als müsse sie sich über ihr Verhältnis zu den Opfern erst klar werden. »Haben zumindest immer freundlich gegrüßt. Im Gegensatz zu ihrer Tochter, die hat den Mund nie aufbekommen.«

»Das heißt, Sie kannten die Tochter auch?«

»Jeder hier kannte sie. Sie war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Vielleicht sogar noch ein bisschen hübscher. Und noch eingebildeter.«

»War die Mutter auch eingebildet?«

»Leider ja. Obwohl man über Tote ja nicht schlecht reden soll. Aber schon in der Grundschule hat sie auf die anderen Mädchen herabgesehen und sich für was Besseres gehalten. Dabei war sie nicht mal besonders klug. Ist sogar einmal sitzen geblieben.«

»Woher wissen Sie das? Gingen Sie auf dieselbe Schule?«

»Wir alle hier gingen auf dieselbe Schule. Wenn auch natürlich nicht in dieselbe Klasse. Sandra, die Mutter, war etwas jünger als ich. Aber so was weiß man eben, wenn man hier wohnt.«

»Verstehe. Und ihr Mann?«

Wieder überlegte die Frau. »Was soll man über ihn sagen? Er war eher unscheinbar.«

»Wie hat er dann seine Frau bekommen, wenn sie so hübsch war?«

»Mit seinem Geld. Fragen Sie mich nicht, woher es kam. Er stammte ja ursprünglich nicht von hier. Er hatte es einfach, und irgendwann hatte er auch sie.«

Dirk speicherte all diese Informationen in seinem Kopf ab.

»Sie wissen ganz schön Bescheid, oder?«, lobte er lächelnd.

Die Frau errötete ertappt.

»Wenn man sein ganzes Leben hier verbringt, weiß man vielleicht nicht viel über die Welt da draußen. Was aber hier im Ort abgeht, weiß man genau.«

»Können Sie mir mehr über die Tochter erzählen?«

Für einen Moment schien die Frau unschlüssig, ob sie weiterreden sollte. Dirk konnte es ihr ansehen, wie sie mit sich rang – schweigen oder dem Drang, alles rauszulassen, nachzugeben.

»Da gibt es nicht viel«, räumte sie schließlich ein. »Sie war ein kleines arrogantes Flittchen. Hat sich eben für was Besseres gehalten. Die Jungs haben ihr die Tür eingerannt. Wie bei der Mutter früher.«

»Hatte die Tochter nicht einen festen Freund?«, hakte Dirk nach.

»Ganz recht. Diesen Kerl, der dann ihre Eltern getötet hat.«

»Kannten Sie ihn auch?«