Danziger Geheimnis - D.S. Becker - E-Book

Danziger Geheimnis E-Book

D.S. Becker

0,0

Beschreibung

„In dem Zimmer herrschte eine drückende Stille. Die drei Personen, die mit ihren Sorgen in den kleinen Raum geflüchtet waren, empfanden dieses Schweigen nur zu deutlich wie ein unbekanntes, näherschleichendes Unheil ... Mias Vater ist verschwunden. Doch sie will keine Polizei. Ihr Mann steht vor schweren Prüfungen ... Historischer Krimi vor dem Hintergrund des Danzigs der Vorkriegsepoche.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 112

Veröffentlichungsjahr: 2016

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Danziger Geheimnis  

1920er-Jahre-Krimi

D. S. Becker

idb

ISBN 9783961501311

1. Kapitel

            In das Arbeitszimmer des Ingenieurs Wieland flutete durch das breite Fenster der warme Junisonnenschein hinein und zeichnete auf dem glänzenden Fußboden und dem vor dem Schreibtisch liegenden Eisbärfell leuchtende, unregelmäßige Vierecke. Ein einzelner Strahl hatte sich auf das Haupt der jungen Frau verirrt, die zusammengekauert in einem der Sessel nahe dem Fenster saß. Dieser Strahl ließ die dunkelblonden Flechten ihres Haares im goldigen Glanze schimmern und bildete eine eigenartige Krone über Maria Wielands weißer Stirn.

            In dem Zimmer herrschte eine drückende Stille. Die drei Personen, die mit ihren Sorgen in den kleinen Raum geflüchtet waren, empfanden dieses Schweigen nur zu deutlich wie ein unbekanntes, näherschleichendes Unheil. Da erhob sich Karl Wieland mit ungeduldiger Bewegung und begann erregt auf und ab zu gehen. Sein von einem elegant gestutzten Vollbart umrahmtes, gutmütiges Gesicht war verdüstert, und wenn er zu seiner Gattin hinüberblickte, gruben sich die Falten auf seiner Stirn regelmäßig tiefer ein.

            Endlich blieb er vor ihr stehen und sagte halblaut, mit seltener Härte im Ton:

            »Ich werde trotz Deiner Bitten die Hilfe der Polizei in Anspruch nehmen. Denn so geht das nicht weiter. Ich, – wir alle, reiben uns bei diesen Sorgen auf. Irgend etwas muß geschehen!«

            Marie Wieland schwieg, und ihr Gatte schaute zu ihr herab und schüttelte dann wehmütig den Kopf.

            »Mia«, bat er wieder, »habe doch Vertrauen zu mir! Willst Du denn unser Glück durch einen unbegreiflichen Trotz zerstören! Siehst Du denn nicht ein, daß mich Dein Benehmen – mißtrauisch machen muß! – Mia, denke doch an die vier Jahre unserer bisher so selten harmonischen Ehe –«

            Ein wildes Schluchzen unterbrach ihn. Die junge Frau hatte die beringten Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte fassungslos, weinte, daß ihr schlanker Körper zuckte und bebte. – Der Ingenieur stand dabei, und ein tiefer Seufzer rang sich aus seinem bekümmerten Herzen los. Dann wandte er sich seiner Schwester zu, die mit trostlosen Augen am Kamin lehnte.

            »Begreifst Du das alles, Anna?« meinte er traurig. Und seine blonde Schwester warf nur einen vorwurfsvollen Blick auf die Weinende.

            Da richtete sich Maria auf. Mit zitternder Stimme klang’s in Tönen, die einen Stein hätten rühren können.

            »Karl – nur das nicht – Nur das nicht. Ich flehe Dich an: Geh’ nicht zur Polizei! Der Papa wird ja zurückkommen, schreiben – depeschieren. Mein Gott, was soll ich nur sagen, damit das eine nicht geschieht –« – Wieder das Wimmern der weinenden Frau, und dazu die durch den Teppich gedämpften Schritte des rastlos auf und ab gehenden Mannes. – Dann kam Anna Wieland langsam vom Kamin auf die Weinende zu und umfaßte sie liebevoll.

            »Es ist doch zu deinem Besten, Mia, – begreifst du denn das nicht! – Dein Vater ist’s, um den wir uns Sorgen machen, ihn wollen wir Dir doch wiedergeben, den wir alle lieb haben. Und jeder Tag, jede Stunde der Verzögerung vergrößert nur unsere Angst, kann dem Verschwundenen vielleicht auch Schaden bringen. Es muß ihm doch etwas Ernstliches zugestoßen sein, sonst hätte er uns nicht drei Tage ohne jede Nachricht gelassen.« Und in dem sie die Schwägerin fest an sich zog, bat sie weiter: »Mia, schenke doch wenigstens Karl Vertrauen! Du mußt doch irgendeinen Grund dafür haben, daß Du die Hilfe der Behörden so – so ängstlich von Dir weist! – Mia, sag’s doch wenigstens Deinem Mann allein, ich will mich ja nicht in Deine Geheimnisse eindrängen. Aber er, – was soll er nur von Dir denken –«

            »Quält mich doch nicht – Hab doch Erbarmen!« – Wie ein wilder Schrei klang’s durch das Zimmer. Maria Wieland war aufgesprungen und zu ihrem Mann hingeeilt. An seiner Brust weinte sie weiter. Und er strich ihr liebkosend über das volle Haar, flüsterte ihr leise, zärtlich etwas zu. Langsam beruhigte sie sich. Und der blonde Riese, der sie um Kopfeslänge überragte, führte sie jetzt behutsam zu dem Sessel zurück und sagte dann weich:

            »Auch ich will nicht weiter in Dich dringen. Aber so lasse ich die Dinge nicht fort gehen. Ich werde mich an Dreßler wenden. Er wird raten. – Oder willst du auch das nicht, Liebling?« – Sie nickte nur.

            »Ich treffe ihn jetzt um die Mittagszeit sicher zu Hause an. Ob er mich aber sehr freundlich empfangen wird?!« – Da sagte Anna Wieland in ihrer ruhigen, kühl überlegenen Weise:

            »Dreßler ist nicht der Mann, der es uns verargt, daß wir ihn in den letzten Tagen vernachlässigt, ihn auch nicht ins Vertrauen gezogen haben. Er, der gute Menschenkenner, hat uns ja schon gestern sehr deutlich gesagt, daß uns irgend etwas ängstigen müsse, daß wir anders seien als sonst. Wenn Du jetzt zu ihm hingehst, Karl, wird er Dich empfangen wie immer. Auch ich meine, daß er der einzige ist, der uns helfen kann.«

            Die junge Frau drückte wie in stummer Abbitte zärtlich die Hand ihres Mannes. Ermattet lag sie zusammengesunken in dem tiefen Sessel. Und jetzt, wo Karl Wieland in dem hellen Tageslicht ihr verweintes Gesicht sah, schrak er beinahe zusammen, so sehr hatten die Sorgen der letzten Tage die frische Farbe aus den sonst so liebreizenden Zügen verdrängt. Um die dunklen Augen lagerten tiefe Schatten, und ein ungesundes Grau um den schöngezeichneten Mund ließ die kaum Vierundzwanzigjährige um ein Jahrzehnt gealtert erscheinen. Da beugte er sich über sie und drückte einen leisen Kuß auf ihre Stirn.

            »Mut, Liebling! Dreßler ist ja auf allen Gebieten beschlagen, warum sollte er uns nicht auch in dieser Sache raten können!«

            Der Privatgelehrte Dr. phil. Hans Dreßler bewohnte seit zwei Jahren Haustor Nr. 16 die erste Etage. – Erste Etage klingt recht großartig. Wer aber die schmalen Häuser da unten am Ende der Dämme kennt, weiß, daß die meisten Wohnungen dort nur aus zwei, höchstens drei mittelgroßen Zimmern bestehen. Dreßlers erste Etage bestand aus Küche, Nebengelaß, Entree und zwei Zimmern, gehörte also zu der bescheidensten Sorte jener Behausungen. Trotzdem fühlte sich der Besitzer dieser Räume in ihnen mehr als wohl. Allerdings in der letzten Zeit, seitdem sein Verkehr mit Wieland immer reger geworden war, wollte es ihn bisweilen doch nicht mehr so ganz in seinem Junggesellenheim gefallen. Oft genug hatte er es sich in einsamen Stunden ausgemalt, wie anders seine Häuslichkeit aussehen könnte, wenn – ja, wenn die blonde Anna Wieland als Hausfrau darin schalten würde. – Bei dem Gedanken war’s aber vorläufig geblieben. Denn dem Doktor, der sich mit seinen sechsunddreißig Jahren schon uralt vorkam, dünkte es beinahe ein Verbrechen, der kaum zwanzigjährigen Schwester des Freundes seine Zuneigung irgendwie zu zeigen. So war er denn jetzt schon ein langes Jahr bei Wielands ein- und ausgegangen, ohne daß er in seinen Zukunftsträumen über das erwähnte »Würde« irgendwie hinausgekommen wäre. Und sicherlich mußte schon etwas Besonderes geschehen, um Hans Dreßler aus der Rolle des guten Freundes, die er nur gezwungen spielte, in die eines aufrichtigen Liebhabers hineinzuzwingen. –

            Des Doktors Studierzimmer lag nach der Straße zu und hatte zwei große Fenster, durch die dem Tageslicht freier Zutritt zu diesem mehr als merkwürdigen Raume gegeben war. Denn Dreßlers Studierzimmer war zugleich Laboratorium, Bibliothek und – Raritätenkabinett. Vor dem rechten Fenster stand ein langer Tisch, dessen einst weiße Platte jetzt von Säuren zerfressen und mit Brandflecken dicht bedeckt war. Auf diesem Tisch hatten Gestelle mit Gläsern und Flaschen in allen Größen und Formen ihren Platz neben blinkenden Destilierkolben und zwei großen Gaskochern. Die Gummischläuche der Gasleitung liefen darüber hin wie schmutziggraue Schlangen, und die freien Drahtenden der elektrischen Leitung lagen wie Schlingen zwischen diesem Durcheinander von Gläsern und sauber gehaltenen Apparaten, Mikroskopen, feinen Wagen und vielem anderen. Neben diesem Tische in einem mächtigen, rotgebeizten Schrank war Dreßlers Bibliothek untergebracht, besser gesagt diejenigen Bücher, die er notwendig brauchte. Denn der größere Teil seines papiernen Besitzes lagerte auf dem Boden in großen Kisten. In dem Schranke standen anscheinend in wirrem Durcheinander dünne Broschüren neben einer neuen Klassikerausgabe, dicke Lehrbücher der Chemie neben Büchern von dem Werte des »Seestern 1906«. Die andere Hälfte des Zimmers war sozusagen versuchsweise als Empfangszimmer herausstaffiert. An der Wand, dem Bücherschranke gegenüber, ragte ein Paneelsofa in die Luft, dessen Dimensionen sich in dem überfüllten Raum recht merkwürdig ausnahmen. Davor ein großer Tisch, bedeckt mit Zeitschriften und Zeichnungen, weiter zwei steiflehnige Sessel einer längst schlafengegangenen Mode. Und an den Wänden – ein Liebhaber exotischer Reiseerinnerungen hätte daran stundenlang besichtigen können! – auf Wandbrettern ausgestopfte Vögel, altchinesische Rüstungen, Waffen, Felle, Schlangenhäute, dazwischen hin und wieder ein grinsender Totenschädel neben einem in Spiritus aufbewahrten Präparat. Kurz und gut, weniger stilgerecht hätte selbst ein von keinerlei Kultur angekränkelter Hottentotte seine Hütte kaum herauszuputzen können. Und dabei lagerte über dem Ganzen dieser eigenartige Geruch, der uns in jeder Apotheke entgegenschlägt, dieses Gemisch von den Ausströmungen von Säuren, Arzneien, hier nur noch vermengt mit dem süßlichen Duft von Zigaretten, deren Stummel überall umhergestreut waren.

            Der Besitzer all dieser Herrlichkeiten war zurzeit nicht heimisch. Aber in dem Arbeitszimmer hantierte dafür ein anderes Wesen desto eifriger umher und versuchte auf der Hälfte »Empfangszimmer« etwas Ordnung herzustellen. Es war ein kleines, unscheinbares Weiblein mit faltigem, gelbem Gesicht, das jetzt gerade unter häufigem zornigen Knurren die Zigarettenasche von dem etwas fadenscheinigen Teppich fegte. Das Alter dieses dienstbaren Geistes festzustellen, wäre eine Aufgabe für einen großen Menschenkenner gewesen. Das Gesicht war das einer Sechzigjährigen, und dazu paßte auch der runde Rücken und der recht spärliche, in ein dünnes Zöpfchen geflochtene Haarwuchs. Doch an den sechzig Jahren wurde man sofort wieder irre, wenn man die flinken Bewegungen und das emsige Schaffen des Weibleins beobachtete. Mit großer Schnelligkeit gelang es ihr, der linken Zimmerseite ein einigermaßen würdiges Aussehen zu geben. Die Bücher und Zeitschriften wurden eiligst zusammengerafft und auf einen freien Stuhl am Fenster gelegt. So war wenigstens der Sofatisch frei. Dann wandelte sich der »Empfangssalon« in kürzester Zeit wie auf ein Zauberwort in ein Eßzimmer um: Den Sofatisch bedeckte ein schneeweißes Tischtuch, darauf lag ein Gedeck, standen Teller, eine Menage, eine angebrauchte Flasche Rotwein mit Glas, – alles zierlich verteilt und nett hergerichtet. Und während das Weiblein so mit Aufräumen beschäftigt war, mußte es recht häufig diese Arbeit unterbrechen und in die Küche eilen, wo ein junges Huhn, mit Speckscheiben belegt, lustig im Schmortopf brodelte.

            Als Dr. Dreßler pünktlich wie immer zwei Minuten vor eins in die Straße mit dem merkwürdigen Namen »Haustor« einbog, nachdem er sich auf einem längeren Spaziergang durch den Steffenspark und die Große Allee von den Anstrengungen der Vormittagsarbeit erholt hatte, sah er schon von weitem vor seinem Hause den Inhaber des Parterre-Ladens stehen. Als er sich jetzt näherte, kam ihm Jakob Wenzel eilfertig entgegengetrippelt und, sein schwarzes Samtkäppchen ziehend, sagte er vertraulich:

            »Morgen, Herr Doktor! – Jetzt hab’ ich sie!« Und dabei blinzelten seine kleinen pfiffigen Äuglein in eitel Triumph. – Dreßler hatte ihm die Hand geschüttelt und fragte sofort:

            »Wirklich?! – Dann zeigen Sie –« Da unterbrach er sich. In der Ferne schlug eine Turmuhr hallend eins. Der Doktor schüttelte bedauernd den Kopf.

            »Also nach Tisch komm’ ich sofort zu Ihnen herunter. Jetzt geht es nicht. Ich darf meine Kascha nicht warten lassen!« – Und Jakob Wenzel kurz zunickend, verschwand er schnell in der Haustür.

 2. Kapitel

            Zu Doktor Dreßlers etwas philisterhaften Gewohnheiten gehörte auch der tägliche Nachmittagsschlaf. Daß er heute, nachdem Kascha nur noch die traurigen Knochenreste des Brathuhnes hinausgetragen hatte, nicht sofort den in seinem Schlafzimmer stehenden Diwan aufsuchte, daran waren eigentlich Wielands schuld. Vormittags auf dem Spaziergang war er die Gedanken an die Familie seines Freundes nicht losgeworden. Gedanken, die sich um die seit Tagen im Wielandschen Hause deutlich bemerkbare allgemeine Verstimmung drehten. Und wenn er auch auf dem Heimwege dann an anderes dachte, an seine neuesten chemischen Versuche und an den Auftrag, den er Jakob Wenzel gegeben hatte, so drängte sich die Sorge um das Wohlergehen der ihm so nahestehenden Menschen doch immer wieder in den Kreis seiner Betrachtungen ein. Und dasselbe teilnehmende Interesse hielt auch Dreßler jetzt nach Tisch in seinem Arbeitszimmer fest.

            Er hatte es sich bequem gemacht, einen leichten Hausrock angezogen und die braunen Schnürschuhe mit leichten Morgenschuhen vertauscht. So ging er geräuschlos in dem mit so wenig Geschmack eingerichteten Raume auf und ab, qualmte dichte Wolken aus seiner Zigarette in die Luft und versuchte irgend eine Erklärung für diese merkwürdige Änderung in dem Verhalten seiner Bekannten herauszuklügeln – vergebens. Er fand auch nicht den geringsten Anhalt für irgend eine Vermutung. Schließlich warf er verdrossen den Zigarettenstummel in den nächsten Aschbecher und zündete mit einem Streichholz eine der auf dem Holztisch am Fenster stehenden offenen Gasflammen an. Aber selbst die Arbeit brachte ihm nicht die gewünschte Ablenkung. Denn während er jetzt ein Retortengläschen über der leise zischenden Flamme hin und her drehte und beobachtete, wie die grünen Kristalle langsam darin zerschmolzen, überlegte er nochmals die Vorfälle der letzten drei Tage. Man hatte ihm am Dienstag abend bei Wielands erzählt, daß der Vater der jungen Frau, Michael Durgassow, plötzlich nach Königsberg gereist sei, um einen Spezialisten seines Nierenleidens wegen zu konsultieren. Dieser Entschluß mußte dem alten Herrn doch sehr plötzlich gekommen sein, denn am Tage vorher hatte noch niemand von dieser Fahrt gesprochen. Und – eigentümlich, seit Dienstag, gerade seit Dienstag lagerte auch diese Verstimmung über dem Hause des Freundes. Zwar hatte man ihm gesagt, daß man sich lediglich um die Gesundheit des alten Herrn sorge. Aber er war ein zu feiner Beobachter, als daß ihm nicht Verschiedenes aufgefallen wäre, was ihn noch stutziger machen mußte. So besonders die verweinten Augen der beiden Damen und ihr ängstliches Bemühen, seinen teilnehmenden Fragen auszuweichen.