Dare Me - Melissa Mai - E-Book
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Melissa Mai

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Beschreibung

Traust du dich?
Als Harlow Bartley ihr Studium am gemütlichen White Mountain College beginnt, wünscht sie sich vor allem eines: so weit wie möglich Abstand von ihren Jugendsünden zu nehmen und sich eine erfolgsorientierte Zukunft aufzubauen. Doch dann spaziert noch vor ihrer ersten Vorlesung ein Student nackt in das College-Café und der Irrsinn der "Dares" nimmt seinen Lauf. 
Als Teil der "Dare Kings" fordert Remington den gesamten Campus zu den gewagtesten Mutproben heraus. Harlow weigert sich, mitzumachen, und geht dem mysteriösen Studenten so gut wie möglich aus dem Weg, aber Remington hat es ausgerechnet auf sie abgesehen. 
Bevor sie es realisiert, kommt sie dem gefährlichen Spiel und auch dem Dare King viel zu nah …

“Dare Me” ist der spannende Auftakt der Limits-of-Love-Dilogie voll Herzklopfen, Thrill und einem unerwarteten Finale. Eine New Adult College Romance mit Toxic Vibes.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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DARE ME

LIMITS OF LOVE

Buch 1

MELISSA MAI

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

_____________________

Texte: Melissa Mai

Cover: Zeilenfluss

Korrektorat: TE Language Services – Tanja Eggerth

Satz: Zeilenfluss

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

_____________________

ISBN: 978-3-96714-438-3

TRIGGERWARNUNG

Liebe Leser*innen,

Harlows und Remingtons Geschichte enthält

potenziell triggernde Inhalte.

Für den Fall, dass du sie brauchst,

findest du die Triggerthemen unter zeilenfluss.de/trigger,

da sie Spoiler für das ganze Buch enthalten.

1

HARLOW

Ein gemütlich-uriges Campuscafé, ein Pumpkin Spice Latte und die neue Mitbewohnerin – die perfekte Kombination für einen langweiligen Nachmittag nach der ersten Vorlesung. Ohne Zwischenfälle, ohne rausgeschmissen zu werden, ohne auf das nächste Mal zu hoffen.

Das sollte doch möglich sein?

Auf dem Weg durch das belebte Café zu den alten Ledersesseln, die Kathy ausgewählt hatte, sah ich mich um, aber entdeckte nichts Auffälliges. Mehrere Grüppchen lümmelten auf den zusammengewürfelten Sitzmöglichkeiten und quatschten laut über das begonnene Semester. Ich vernahm Gesprächsfetzen über Lieblingsdozierende, die zu kleinen Wohnheimzimmer und unseren, durch einen Wald eingeschlossenen, Campus. Niemand war auf Krawall gebürstet, aber so ganz konnte ich die Sorgen nicht aus meinem Hinterkopf verbannen.

»Huch!«, rief Kathy aus, die gerade tiefer in einen Sessel plumpste als angenommen. Sie rappelte sich wieder hoch, strich sich den dunkelroten Pony aus dem Gesicht, der bis knapp unter ihre Brauen reichte. »Von hier aus sehen wir alles – perfekt!«

Wir saßen mittig unter einer bronzefarbenen Lampe, die jede einzelne, von Studierenden geschaffene Macke beleuchtete und deutlich machte, wie alt dieses Café war. Sowohl die Theke als auch die gemütlichen Ecken waren von unserem Platz aus leicht zu erkennen. Auch wenn ich nicht verstand, wie Kathy sich auf etwas anderes als den leckeren Kaffeeduft konzentrieren konnte.

»Wenn du so an Menschen interessiert bist, hätte ich eher gedacht, dass du Psychologie studierst statt … Business war es, oder? Dein Vater hat sowas erzählt, als er den Mini-Kühlschrank reingerollt hat.«

Kathy verdrehte die Augen. Über meinen tollpatschigen Smalltalk-Versuch oder ihren Einzug?

»Ja genau, Business kombiniert mit Medien. Erinnere mich nicht daran. Bố war so laut. Bestimmt haben alle Freshmen das mitbekommen und denken, dass ich mich nicht von meinen Eltern lösen kann.«

Ich hatte es eigentlich eher süß gefunden, wie engagiert ihr Vater gewesen war, ein Stückchen Heimat in das sonst so karge Wohnheimzimmer zu bringen. Meine Eltern hingegen hätten sich aufgrund der längeren und komplizierten Anfahrt einen Tag frei nehmen müssen, und so hatte ich allein ausgepackt. Obwohl ich die Distanz zwischen dieser vergessenen Kleinstadt in North Hampshire und meinem Elternhaus bei Denver, Colorado bewusst gewählt hatte.

»Ach, das war der Einzugstag. Daran wird sich niemand erinnern«, beruhigte ich Kathy, die mehr den Raum observierte als mich. Dabei bestach das Campuscafé wirklich nicht durch seine Einrichtung. Alles war abgenutzt, nichts passte zusammen und eine laminierte Menükarte lag zwischen uns auf dem dunklen Holztisch. Hielt sie nach jemandem Bestimmten Ausschau?

»Hoffentlich«, murmelte sie schließlich. »Zeig mir mal, was das Café zu bieten hat.«

Wir beugten uns gemeinsam über die Karte, und Kathy lachte auf.

»Das ist ja alles an den Herbst angepasst. Alles mit Zimt, Kürbis, Ahornsirup oder Apfel. Schrecklich, solche Trends. Ich nehme einen Iced Americano und ein Tomaten-Sandwich. Und du? Dann bestelle ich schnell für uns am Tresen.«

Ich schluckte.

Wir hatten noch keine zehn Sätze miteinander gewechselt und es wurde immer deutlicher, dass Kathy und ich nicht zusammenpassten. Diese ganzen saisonalen Aromen waren genau das, was ich austesten wollte. So nichtige Herbst-Obsessionen, weil man keine anderen Sorgen hatte oder kreierte. Oder war ich einfach nicht auf dem neusten Stand mit dem, was man in unserem Alter machte? Kam mein simpler Wunsch, Herbstfotos mit Laubblättern in niedlichen Outfits schießen zu wollen, ein paar Jahre zu spät und ich würde niemanden finden, den so etwas interessierte? Wobei … das wäre nicht schlimm, solange ich einfach auf die netten Leute traf. Auf Studierende, die sich um ihre Noten kümmerten, aber die Freizeit nicht aus den Augen verloren. Die, die für einen da waren, wenn man Liebeskummer, Sorgen oder einfach einen schlechten Tag hatte.

»Harlow? Brauchst du noch einen Moment?«, riss Kathy mich gedanklich zurück ins Café. Sie zog die Brauen zusammen.

»Nein … ich glaube, ich nehme genau das, was du gerade verteufelt hast: einen Pumpkin Spice Latte und dazu die Cider Donuts.«

Kathy kicherte. »So eine bist du also.«

Mit dem Urteil hüpfte sie zum Tresen. Anscheinend wusste sie eher, wer ich war, als ich selbst.

Ich musterte sie und dieses strahlende Selbstbewusstsein, das sie umgab. Ihre gefärbten Haare gingen bis zum Dekolleté ihres Crop Tops. Ein schmaler Streifen ihrer Haut war am Bauch sichtbar und als die Eingangstür aufgerissen wurde, zog sie ihren flauschigen Cardigan enger um sich. Auch wenn sie über ihren Vater jammerte: Ich hatte gesehen, wie die beiden sich zum Abschied gedrückt hatten und er ihr alles Gute oder so gewünscht hatte. Untereinander sprachen sie vietnamesisch und ich hatte kein Wort verstanden, doch vom Tonfall musste es so etwas gewesen sein.

Besser als das ›Wir haben keine Energie mehr, Harlow. Streng dich bitte an‹, das meine Mutter mir am Flughafen zugemurmelt hatte. Leise, als hätte sie keine Kraft für mehr Volumen gehabt. Natürlich war ich nicht der leichteste Teenager gewesen, trotzdem übertrieb sie. Und das White Mountain College hatte ich bewusst gewählt, um meine Fehltritte hinter mir zu lassen. Es war weder berüchtigt noch sonderlich groß, eher eine unliebsame Notlösung in einem ruhigen Staat, der gefühlt mehr Apfelplantagen als Einwohner hatte. Die abgelegene Stadt hatte bestimmt seit hundert Jahren keine neuen Traditionen erfunden und war damit für junge Leute unattraktiv. Und dementsprechend perfekt. Niemand, der mich kannte, hatte dieses College gewählt. Da war ich mir sicher.

Trotzdem schadete es nicht, es erneut zu überprüfen.

Ich löste den Blick von Kathy und überflog die Umgebung erneut. Bloß eine neue Gruppe mit – wie ich vermutete – Dozierenden hatte sich in eine Sesselgarnitur gesetzt und tauschte sich über den vergangenen Sommer aus. Der Milchaufschäumer zischte laut und wurde nur übertönt von dem Mitarbeiter, der sich gerade einarbeiten ließ und laut fluchte, als Milchspritzer seine Haut trafen. Noch nichts war dekoriert, was mich leicht ernüchterte. Dieses gemütlich-sorglose Leben drängte sich weniger auf, als ich insgeheim hoffte.

Kathy kehrte mit einem gefüllten Tablett zurück und hielt mir ihr Handy hin. Die Venmo-App war darauf geöffnet, damit ich ihr meinen Anteil direkt überwies. Ich erledigte das schnell, nahm dann einen Schluck von meinem Heißgetränk. Süßer als erwartet, dennoch definitiv eines Neuanfangs würdig.

»Ich bekomme beim Zuschauen schon einen Zuckerschock. Ist das Motivation, die man braucht, um ein trockenes Studium wie du anzugehen?«

Überrascht schaute ich auf. So wenig, wie sie mir bisher zugehört hatte, hatte ich nicht erwartet, dass sie noch von meinem Major in Economics wusste. Es war nicht die spannendste Studienrichtung, im Gegenteil, aber die beste für mein Vorhaben, mich mit beruflich ambitiösen Menschen zu umgeben – statt mit Unfug-Motivierten. Auch wenn mich das Seminar in Calculus eben bereits an meine Grenzen gebracht hatte.

»Ich war mir noch nicht ganz sicher und Economics schien die sicherste Wahl«, redete ich mich heraus.

Etwas unsicher schob ich eine Haarsträhne hinter mein Ohr, wo sie sich prompt wieder löste. Trotz all der Ohrringe, wo sie sich früher, bevor ich radikal alles auf Kieferlänge abgeschnitten hatte, immer verheddert hatte. Mein kleiner Bruder hatte behauptet, ich sähe aus wie ein Junge, wenn ich ungeschminkt war, aber vielleicht war es auch einfach frisch und modern? Frisch gewaschen, wenn sie noch leicht strähnig fielen, liebte ich sie am meisten. Seit vier Monaten übte ich bereits, sie in diesem Wet Look zu stylen. Lieblich auszusehen und sie rund zu föhnen würde wohl eher zu meinem Streberstudium passen, aber diese unabhängig getroffene Entscheidung wollte ich nicht missen.

»O, das verstehe ich sogar. Meine Eltern haben dem Minor in Medien auch nur zugestimmt, weil ich versprochen habe, Business seriös anzugehen. Ich darf meinem Traum des Jobs in sozialen Medien nachgehen und während des Studiums rumprobieren. Das Backup brauche ich wohl und da führt kein Weg drum herum, wenn ich es nicht selbst finanzieren will.«

»Hast du damit schon angefangen?«, lenkte ich das Thema weg von Eltern oder Studium. Ich rieb die Hände an meiner Jeans ab, obwohl es keinen Grund für Nervosität gab. Aber ich konnte doch vor meiner ersten neuen Bekanntschaft nicht direkt langweilig sein? In den Vorlesungen hatte ich mich nicht getraut, Kommilitonen und Kommilitoninnen anzusprechen, und mit wem sollte ich sonst all die schönen Herbstaktivitäten unternehmen? Äpfel pflücken, Kürbisse schnitzen, unser Zimmer dekorieren, all sowas war zu zweit spaßiger.

»Zeig ich dir.«

Eine Spur zu überschwänglich rutschte Kathy zu mir in den Sessel, der sich prompt als zu klein herausstellte, sodass wir eher aufeinandersaßen. Ich griff nach einem Mini-Donut, der sofort meine Finger verklebte.

»Hier, schau. Ich habe je zwei Accounts auf Instagram und TikTok, für verschiedene Nischen. Einerseits gebe ich Marketing-Tipps und Coaching, damit andere wachsen, und andererseits teile ich Reiseeindrücke.« Sie scrollte durch ihre Accounts, wovon ich schnell nicht mehr erkannte als kohärente Farbschemata und Followerzahlen im fünfstelligen Bereich.

»Krass, wie hast du da noch Zeit zum Studieren?«

Kathy schnalzte, als wäre ich ein kleines Kind, das etwas verbockt hatte.

»Im Idealfall kann ich hiervon ganz schnell leben und muss mein Studium nur halb gar beenden. So einen 9-to-5-Job kann ich mir echt nicht vorstellen. Du?«

Ich zuckte mit den Schultern. Es war besser, wenn ich ihr nicht direkt aufband, dass das für mich eine Traumvorstellung war. Dann würde sie mich erst recht nicht kennenlernen wollen. »Das finde ich hoffentlich noch in den nächsten vier Jahren raus. Und falls ich es doof finde, auch, was ich alternativ machen kann.«

Kathy warf ihre Haare hinter sich, blieb bei mir im Sessel sitzen. »Das hoffe ich für dich. Das sind unsere besten Jahre und – o mein Gott, schau mal!«

Ich wollte gerade sagen, dass meine letzten Jahre, obwohl ich sie bereute, aus genau dem gleichen Grund zu den besten gehörten. Etwas Vergleichbares werde ich niemals erleben, doch das verkniff ich mir bei ihrer Aufregung und folgte ihrem Blick.

O wow.

Hätte ich noch ein Stück Donut im Mund, würde ich mich daran jetzt verschlucken.

Im ganzen Café war es still geworden. Selbst die Baristas unterbrachen ihre Arbeit und starrten auf den neuen Kunden. Der Student, der eben mit dem Milchaufschäumer gekämpft hatte, starrte sein Gegenüber an, wusste wie wir anderen nicht, wo er zuerst hinschauen sollte. In das knallrot angelaufene Gesicht des Kunden? Auf die Kreditkarte, die dieser noch vor dem ersten Wort neben das Kartenlesegerät hielt. Oder all die nackte Haut, die er entblößte, da er außer Schuhen und langen Socken nichts trug.

Kathy griff mit einer Hand nach meinem Unterarm, kniff zu, ohne sich dessen bewusst zu sein.

»Es beginnt«, zischte Kathy.

Was begann? Ich verstand nichts.

»Ähm, ich hätte gerne einen … einen Kaffee-to-go«, flüsterte der Kunde so leise, dass der Typ hinter der Theke auf die Pappbecher neben sich deutete, um sicherzugehen.

Warum stand hier ein nackter Kunde im Laden? Und wieso schmiss niemand ihn raus?

Mein Herz wummerte in meiner Brust. Dies war doch die Ankündigung einer Katastrophe, oder? Irgendwer würde ihn an den nackten Armen aus dem Café schleifen, und er … keine Ahnung was tun. Wieso zitterte er dann so? Seine Hände ruckten zu seinem Schritt, wo sich sein bestes Stück vor Schreck bestimmt gerade kleiner machte, als ihm lieb war. Dann verschränkte er die Arme und streckte das Kinn vor. Trotzdem wagte er es nicht, sich umzusehen, sondern beobachtete die neue Aushilfe, wie dieser das Kaffeesieb in der Maschine verankerte.

Sein Aufzug und seine Unsicherheit passten null zusammen. Es wäre obszön, sähe er nicht selbst so eingeschüchtert aus, womit er mich verwirrte. Mit dem vor Schreck angelaufenen Gesicht und den weißblonden Haaren, die den Kontrast noch verstärkten.

»Kathy, was geht hier vor?«, flüsterte ich, derweil sie noch immer meinen Arm umklammerte. Falls sie mich hörte, reagierte sie nicht. Sie grinste zum nackten Studenten, der weder sie noch irgendjemand anderen von uns wahrnahm. Es war ein richtiges Strahlen, als wäre es nicht völlig absurd, dass jemand unbekleidet an einem öffentlichen Ort stand, und das ohne Konsequenzen. Noch immer sprach niemand ein Wort. Es wurde höchstens leise gezischt und daraufhin wissend genickt.

»Das macht drei Dollar 50, bitte.«

Die Studierenden blickten einander nicht an, als der eine den Kaffee über den Tresen schob und der andere annahm und seine Kreditkarte gegen das Kartenlesegerät hielt.

»Danke, schönen Nachmittag noch«, verabschiedete sich der nackte Student mit hochrotem Kopf und hastigen Schritten. Die Blicke jedes einzelnen Anwesenden folgten ihm nach draußen, wie er zu einem Kumpel ging, der ihn filmte und dann die Hand zu einem High Five hochhielt. Kleidung hatte er nicht dabei.

Den Kaffee schmiss der Nackte in den nächsten Mülleimer und flitzte dann hinter ein Auto.

Wodurch das Leben im Café wieder aufgenommen wurde. Kathy griff über den Tisch nach ihrem Handy und tippte Nachrichten in einen Gruppenchat. Es wurde laut und chaotisch, alle tauschten sich aufgeregt über den Studenten aus. Sogar die Dozierenden neben uns. »Es wäre ja auch zu schön gewesen, zu hoffen, dass solche Aktionen in diesem Jahr nicht fortgesetzt werden.« Eine ältere Dozentin seufzte und rührte in ihrem dampfenden Glas, aus dem Minzstängel ragten.

»Findest du? Es kommt niemand zu Schaden und ist doch völlig harmlos.« Der junge Mann ihr gegenüber zuckte mit den Schultern.

»Ja, aber wie lange noch?«

Ich linste auf Kathys Display, da sie ja immer noch neben beziehungsweise auf mir saß. Genau in dem Moment schaltete sie den Bildschirm aus. Sie drehte sich unter Knarzen des Sessels zu mir, stemmte, so weit möglich, die Hände in die Hüften. »Hast du gerade ernsthaft gefragt, was das war?«

Ihr Tonfall machte deutlich, wie weltfremd meine Frage war. Vor lauter Aufregung war ihre Stimme geradezu schrill. Wohingegen ich einfach froh war, dass niemand die Polizei wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses gerufen hatte.

»Ja …« Ich zog das Wort in die Länge, war neugierig, mir bewusst, dass ich gerade Minuspunkte bei ihr sammelte. »Klärst du mich auf?«

Kathy streckte die flachen Hände aus. »Na logo!«

Sie rutschte wieder auf ihren eigenen Sessel und biss von ihrem Sandwich ab, brauchte Vorbereitung für die große Neuigkeit. Ich futterte in der Zeit meinen letzten Mini-Donut und spülte mein Kaffeegetränk hinterher, das nun gar nicht mehr süß schmeckte.

»Das war ein Dare, eine Mutprobe. Ich hatte so gehofft, dass sie dieses Jahr fortgeführt werden! Eine Freundin von der Highschool hat mir letztes Jahr ständig davon berichtet und ich war so neidisch, weil sie ein halbes Jahr älter ist als ich.« Ihre Augen wurden glasig vor Schwärmerei.

»Was für Dares?«

»Na ja, die, die man gestellt bekommt eben. Das weiß man vorher nicht.« Kathy biss erneut von ihrem Sandwich ab, wischte sich die Mayonnaise aus dem Mundwinkel, die dabei aus den Brothälften gequollen war.

»Und wieso macht man da mit? Das ist doch bescheuert.«

Vor allem konnte sich so etwas unfassbar hochschaukeln. Krass war schnell nicht mehr krass genug. Wenn ich etwas wusste, dann das.

»Weil man etwas dafür erhält. Etwas, was man selbst nicht ausschlagen kann. Es ist zu verlockend.«

Wie stumpfsinnig war das denn? »Und da willst du mitmachen?«

Ich leckte den Löffel meines Getränks ab, damit er mich beim Trinken nicht mehr pikste, und legte ihn den Kopf schüttelnd auf meine Untertasse. Von diesem Fiasko, das keinen Platz an einem Kleinstadt-College hatte, würde ich mich fernhalten.

»Na hoffentlich! Meine Freundin María meinte, das wäre letztes Jahr ihr Highlight gewesen und hätte das Collegeleben total aufgepeppt. Ich sehe da nur Vorteile. Außerdem sollen die Dare-Kings mega attraktiv sein. Lohnt sich also doppelt.«

Ich unterdrückte ein Augenrollen. Das war der Wahnsinn, den Studierende sich wünschten, sobald sie die Obhut ihrer Eltern verlassen hatten. Da konnte ich weder mithalten, noch wollte ich es. Meine wilden Jahre lagen hinter mir.

»Klingt, als wären das genau die Typen, von denen ich mich lieber fernhalten will.«

»Remington, Miles und Onyx.« Kathy seufzte voller Ehrfurcht und nahm einen seltsam verträumten Gesichtsausdruck an.

Drei Leute, die hoffentlich niemals herausfanden, dass ich an diesem College studierte.

2

HARLOW

Nachdem mich gestern Calculus eingeschüchtert hatte, fürchtete ich das Schlimmste von Prinzipien der Mikroökonomie. Der Name klang schon so kompliziert. Eingemummelt in einen dicken, flusenden Schal hatte ich mich im Campuscafé mit einem Apple Crisp Oatmeal macchiato bewaffnet und eilte zur Vorlesung. Es nieselte, der Himmel war grau verhangen, und ich hoffte, dass die Temperaturen damit sinken würden.

Da Wirtschaftsfächer für eine Vielzahl an Studienrichtungen wichtig waren, fand auch diese Vorlesung in einem der geräumigeren Säle statt. Die enorme Größe ließ mich am oberen Fußabsatz kurz innehalten.

Kommilitonen und Kommilitoninnen strömten in vom Regen quietschenden Schuhen an mir vorbei und rempelten mich versehentlich an. Es roch nass und nach jahrzehntealtem Kreidestaub, als ob dieser sich nie gelegt hätte. Etwas weniger enthusiastisch als so manch anderer setzte ich mich auf mittlerer Höhe nahe des Randes hin. Neben niemand Bestimmtes, und es dauerte keine zwei Minuten, bis sich eine Studentin mit Longbob mit einem Stapel Collegebüchern neben mich setzte. Leider mit einer Freundin im Schlepptau, wodurch ich nicht einmal ein ›Hi‹ hauchen konnte.

Auch von links wurde ich nach einem kurzen Nicken eingekesselt, was ich ignorierte, sobald der Dozent seine Vorlesung startete. Professor Kingston war jung und gehörte zu der akkuraten Sorte. Er hatte ein Hemd bis nach oben zugeknöpft, sauber glänzende Schuhe und betrachtete uns missbilligend, als erwartete er, dass die Hälfte von uns durchfallen würde.

»Guten Morgen und herzlich willkommen zu Prinzipien in der Mikroökonomie. Der Name der Vorlesung mag das Wort ›Mikro‹ beinhalten, aber seien Sie gewiss, dass dies die Basis für all Ihre Wirtschaftsfächer formen wird. Ohne Verständnis für die –«

Hinter uns knallte die Tür auf, krachte laut an die anliegende Wand und hinterließ vermutlich eine kleine Delle. Synchron drehten wir uns zu dem Lärm herum. Ein Raunen ging durch den Raum. Und ich war kurz davor einzustimmen.

Der Zuspätkommer hatte den Blick nach vorne gerichtet und marschierte mit einem Pappkarton gemächlich dorthin. Seine gesamte Kleidung war schwarz, von der an den Knien aufgerissenen Hose über den Pullover zu dem Mantel mit übergroßer Kapuze, die er sich ins Gesicht gezogen hatte. Seine Haare hatten den Friseurtermin vor fünf Wochen verpasst und drängten an den Seiten der Kapuze hervor, an seinen Armen und Fingern klimperten Armbänder und Ringe.

Er hatte etwas Unergründliches, mit seiner Kleidung und wie er uns samt des Dozierenden ignorierte.

»Sie sind?«, rief Professor Kingston.

»Remington Dawson. Lassen Sie sich von mir nicht stören.« Er murmelte so leise, dass ich seinen Namen erst durch das Geflüster anderer aufschnappte.

Ich hätte es wissen müssen. Wer sonst sollte er sein als einer der drei Mutprobenidioten? Man sah ihm den Unfug an.

Vorne angekommen zupfte Remington ein Blatt aus dem Karton, schwenkte es hin und her, damit es aufklappte, und pinnte es an die ungenutzte Tafel. Es war ein Flyer. Dann zwei, drei, bis er sechs magnetisch befestigt hatte. Immer das gleiche Motiv.

»Wie kann so ein verlottertes Aussehen bloß so attraktiv sein?« Eine Studentin in der Reihe vor mir seufzte und ihre Freundin nickte mit offen stehendem Mund. Ernsthaft? Man sah ja nicht einmal etwas von ihm! Nur zig Schichten Kleidung, wie als hätte man sie zu lange auf einen Stuhl gestapelt.

Genervt stöhnte ich auf, verdrehte die Augen. Nicht, dass das Seminar bisher spannend gewesen war, aber es erfüllte wenigstens einen Zweck.

»Was denken Sie eigentlich, was das hier wird?«, schimpfte Professor Kingston, nachdem er einen Flyer von der Tafel gerissen hatte. »Verlassen Sie augenblicklich meine Vorlesung und treiben Sie Ihren Unfug woanders.«

Die Augen von Professor Kingston verkrampften, er kniff sie zusammen, als würde er sich innerlich für einen verbalen Kampf wappnen, aber Remington erwiderte diese Intensität nicht. Im Gegenteil. Lustlos streifte sein Blick alle anwesenden Studierenden. Als wäre es ihm egal, dass er die Stunde unterbrochen hatte. Dass er alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen und Verehrer und Verehrerinnen gewonnen hatte. Alles unwichtig.

Statt zu antworten, zog er kleine Zettel aus dem Karton und reichte sie durch die Reihen. Mein Blick blieb an seinen Fingern hängen: schön, lang, mit aufgeschabten Knöcheln, deren Geschichte ich nicht wissen wollte.

Das Getuschel wurde lauter und die Miniaturausgaben des Flyers rasant umhergereicht. Einer landete vor mir.

Das Design wirkte um Welten professioneller als Remingtons Umherschleichen, aber vermutlich gehörten sie zusammen, die Ablehnung institutioneller Struktur und Erschaffung von chaotischen Spielen. Der Flyer war in dunklen Tönen gestaltet, wie ein tiefer See an einem Regentag, vielleicht wie der, der einen Kilometer vom Campus entfernt lag. Petrolblau, Waldgrün und dann ein Text in geschwungener Schrift in Weiß:

I DARE YOU

komm zu unserer Eröffnungsparty am Freitag

Meadows Drive 12

So viel Designverständnis hätte ich diesem Remington und seinen Leuten gar nicht zugetraut, aber durch diesen professionellen Eindruck wurde sogar ich neugierig. Ich spürte seine grollende Anwesenheit noch immer im Saal, schaute auf. Und hielt unbewusst die Luft an.

Remington blickte mich an. Mich. In dieser Masse an neugierigen Gesichtern. Obwohl ich vollkommen darin unterging. Weil er merkte, dass ich als Einzige bloß semi-überzeugt war?

Für einen Moment hielt er mich mit seinen grünbraunen Augen gefangen, brachte mein Herz dazu, schneller zu schlagen. In ihm regte sich nichts, während ich mich vor dem Moment fürchtete, in dem er losließ und etwas sagte. Doch dann zuckte Remington die Schultern und verließ den Raum.

Ohne auf Professor Kingston reagiert zu haben.

Ohne Erklärung, warum er die Flyer verteilte.

Ohne die Neugierde der Anwesenden auch nur im Ansatz zu befriedigen.

Der Dozent räusperte sich und erhob erneut die Stimme. Lauter als vorher, als versuchte er, die Störung mit seiner Präsenz in Vergessenheit geraten zu lassen. Eine dicke Ader pochte senkrecht an seiner Stirn und verschwand nach einigen Minuten, in denen er den Kurs einleitete.

Mich jedoch ließ der Nicht-Vorfall nicht los und ich spielte unbedacht mit den Ohrringen an meiner Ohrmuschel, bis eines zwickte. Nichts war passiert und trotzdem zirkulierten meine Gedanken um den Blickwechsel und warum ich dieses verdammte Chaos schon wieder anzog. Ich legte es doch wirklich nicht darauf an!

Den Flyer schob ich unter meinen Laptop, aber die dunkelblaue Unterkante schaute unter dem Gerät hervor. Immer wieder zog sie meine Aufmerksamkeit auf sich, wodurch ich den Faden verlor und Professor Kingston nach der ersten halben Stunde zwischendurch nicht folgen konnte.

Blöde Aktion. So perfekt fürs Collegeleben, wo alle sich austoben, entfalten und explorieren wollten, und Persönlichkeitsentwicklung mit Leichtsinnigkeit vertauschten. Hatte ich selbst so gemacht. Niemand glaubte jemand anderem die gewonnenen Weisheiten und musste durch diese dumme Phase hindurch.

Ich seufzte leise, zog den Flyer unter meinem Laptop hervor, da ich ja doch mit dem Tippen nicht mehr hinterherkam. Kathy würde diese Party lieben. Vermutlich hatte sie bereits einen Wisch in der Hand und schmückte ihre Zimmerhälfte damit. Wenn ich bis Freitag niemanden fand, mit dem ich abhängen konnte, würde ich allein in unserem Zimmer hocken, die Woche danach Gerüchte hören und mich ärgern, nicht dort gewesen zu sein. Hingehen wäre ein Gräuel, aber zuhause sitzen war auch keine Option. Ich wollte wirklich nicht. Doch dieses eine Mal, um Anschluss zu finden, würde ich überleben.

Kurzerhand fotografierte ich den Flyer ab und schickte ihn an Kathy.

Harlow:

Gehen wir hin?

Es war die einzige Möglichkeit, nicht direkt in der ersten Vorlesungswoche zu vereinsamen. Und das, obwohl ich inmitten von über hundert Studierenden saß. Trotzdem bereute ich beinahe sofort, die Nachricht abgeschickt zu haben. Würde ich dort Spaß haben? Nein. Würde ich zu irgendeinem Bier in einem klebrig roten Plastikbecher greifen, um nicht völlig nutzlos herumzustehen? Vermutlich.

Eine Antwort bekam ich keine fünf Minuten später.

Kathy:

Na logo! Meine Mädels und ich wollten sowieso hingehen.

Hmm. Das war nicht ganz so befriedigend wie erhofft. Eher so, als hätte ich mich versehentlich für etwas verpflichtet, ohne dass es nötig gewesen wäre.

Nach der Vorlesung hatte sich der Regen gelichtet und ich entschied, statt allein in der Mensa zu sitzen, mit einem Sandwich den Campus zu erkunden. Er war weitläufig, die einzelnen Gebäude getrennt von Bäumen und Büschen, und ein kleiner Irrgarten, da keiner der Wege geradlinig zum Ziel führte. Die Grenze zwischen Campus und Kleinstadt war undeutlich. Irgendwo bei den Wohnungen, die man ab dem Sophomore Year anmieten durfte. Einige der Gebäude wurden vom College selbst zur Verfügung gestellt, andere von Bewohnern und Bewohnerinnen der Stadt Northfield vermietet, was das Ende des Campus noch undeutlicher machte.

Ich lief zum Café, wich den Pfützen aus, die sich über alle Gehwege verteilten, und stellte mich in der langen Schlange an. Sie reichte bis zur Tür und der verlockende Geruch gerösteten Kaffeemehls und frisch gebackenen Brots strömte nach draußen. Lecker! Verhungern würde ich in diesem Kaff nicht. Das nahm mir zumindest eine meiner Sorgen. Von Mensaessen fürchtete man das Schlimmste und dieses Café rettete mich in jedem Fall. Und den fünf Leuten, die sich direkt hinter mir anstellten, nach zu urteilen, ging es einigen so.

»Du stehst hier auch ständig an, oder?«, meinte eine Stimme hinter mir, nachdem ich zu dem Studenten vor mir aufgeholt hatte.

Ertappt drehte ich mich herum, blickte in die dunklen Augen einer Studentin, die mir noch nie begegnet war. Also, anscheinend schon, aber ich hatte keine Erinnerung an sie.

»Und das ist dir wann genau aufgefallen?« Ich kniff die Augen zusammen, grinste dabei, was sie sofort spiegelte. Sie machte ein gespielt nachdenkliches Gesicht und legte einen Finger an die dunkelroten Lippen.

»Hmm, lass mich überlegen. Die letzten vier Male, die ich mir Energienachschub geholt habe, warst du ebenfalls in der Nähe«, erklärte sie. Dann wurden ihre Augen groß und sie streckte abwehrend die flachen Hände aus. »Nicht dass ich sonst so aufmerksam bin, aber du hast genau die Stiefel an, die ich mir letztens unbedingt kaufen wollte. Leider gab es sie nicht mehr in meiner Größe. Oder in Schwarz.«

Ich blickte an meinen Beinen hinab. Dunkelbraune Wildlederstiefel mit seidigen Schnürsenkeln, die mir bis zum Knie gingen und mich mehr wärmten, als dieser Septembertag es verlangte. Eine Strumpfhose hatte ich weggelassen, um das zu kompensieren.

»Damit redest du sie mir gerade madig. Ich sehe eigentlich bewusst nicht so auffällig aus wie du.«

Die Unbekannte war stark geschminkt mit ausdrucksvollen Augenbrauen, einem langen, dicken Lidstrich und den dunklen Lippen. Sie hatte schwarze Haare und einen Sidecut, wodurch ein silbernes Industrial Piercing am linken Ohr zur Geltung kam. Ich hatte mich nie getraut, mehr als meine Ohrmuscheln zu piercen, in denen immer kleine Kreolen mit verspielten Anhängern baumelten. Ihr Erscheinungsbild war taffer, leicht alternativ mit dem 90er-Jahre-Choker und den langen Ketten, und durch ihre hohen Stiefelabsätze musste ich den Kopf leicht in den Nacken legen.

»Dann solltest du nicht so tolle Schuhe tragen«, erwiderte sie mit einem Zwinkern. Welche Schuhgröße hast du?«

Ich lachte auf. »Nicht deine.«

Wir rutschten nach vorne auf und ich fand die Unbekannte so sympathisch, dass ich kurz davor war, ihr einen Kaffee auszugeben. Obwohl ich ihren Konsum nicht unterstützen sollte, wenn sie hier noch häufiger aufkreuzte als ich. Außerdem sah ich in ihrer Umhängetasche, an der Aufnäher befestigt waren, einen Energydrink.

Wir quatschten über unfassbar normale Dinge: die warmen Sonnenstrahlen, den Herbst als beste Saison, weil man alle möglichen Stiefel anziehen konnte, und die radikale Umstellung vom lockeren Highschoolleben zu komplexen Themen direkt in der ersten Vorlesung.

Mit unserem Mittagessen in der Hand verließen wir das Café und schlugen wie automatisch die gleiche Richtung ein. Der warme Pappbecher kribbelte angenehm an meinen Fingerkuppen.

»Ist das nicht normal, dass es mit Mitbewohnern nicht klickt? Ich könnte mit den wenigsten Menschen zusammenwohnen. Dann lieber drei Katzen, ein Wellensittich und zwei Meerschweinchen«, behauptete meine Mittagsbegleitung, nachdem ich die holprigen Gespräche zwischen meiner Mitbewohnerin und mir angedeutet hatte.

»Also geht es dir auch so?«

Sie lachte, verschluckte sich dabei an einem Bissen ihres Sandwiches und hielt kurz inne. »Na klar. Ich bin superschwierig, was das Zusammenwohnen angeht. Also mache dir keinen Kopf.«

Tat ich trotzdem. Normalerweise neigte ich nicht zu Perfektion, hatte es in den letzten Jahren verlernt, da ich so weit davon entfernt gewesen war, aber ich setzte hier alles auf eine Karte. Wenn ich erstmal einen Ruf weghatte, dass ich unsozial, komisch oder sonst was war, würde sich das in den nächsten vier Jahren nicht ändern, und ich steckte hier fest.

Wir schlenderten über eine mit Ahornbäumen gesäumte Allee neben einem Rasenfeld, wo sich einige Blätterspitzen bereits orange färbten.

»Ugh, die schon wieder. Hier spinnen doch echt alle«, unterbrach meine Begleitung die Suche nach Andeutungen des Herbsts, und ich richtete meinen Blick auf die Wiese vor uns. Sie war saftig grün und nass vom morgendlichen Regen. Obwohl alle ihr Schuhwerk einsauten, tummelten sich dort zig Studierende. Und …

Oh.

Was wohl nichtig war angesichts des Typen in einem hellblau schimmernden Bodysuit mit Federn an Ellenbogen, Knien und Kragen, sowie einer Federboa, die sich um seinen Körper schlängelte. Dazu trug er eine dunkelblaue Strickmütze und zwei Stück Pappe, befestigt mit Drahtkordeln und der Aufschrift: ›Frag mich nach deiner hässlichsten Eigenschaft‹.

Und ich war nicht die Einzige, die davon die Krise bekam? Verblüfft schaute ich zu meiner Bekanntschaft hoch.

»Sag das bitte noch mal und dann erzähl mir endlich, wie du heißt. Du darfst mir nicht verloren gehen.« Mein Blick ging zwischen ihr und dem verrückten Studenten hin und her, der mein Kontingent an Absurditäten für den ganzen Tag wieder füllte.

»Valentina Fernández. Und du?«

»Harlow Bartley. Ich habe das Gefühl, du bist die Erste, die nicht alles stehen und liegen lässt bei den Namen Remington und –«

»Onyx, wie das Pokémon, und Miles.«

»Welche Eltern nennen ihr Kind Onyx?«

»Pff. Hat er sich vermutlich selbst gegeben. Wohl für einen Imagewechsel, wobei er vergessen hat, seine Garderobe mit zu wechseln.«

Ich hatte keine Ahnung, worauf sie anspielte, aber es machte deutlich, dass sie ihm bereits begegnet war. »Ihr kennt euch?«

Sie schnaubte. »Ja, leider. Ich habe mich einer Lerngruppe angeschlossen, um einem Rückstand vorzubeugen. Und anscheinend ist er der Obernerd unserer Truppe.« Sie hatte eben ihr Mathematikstudium erwähnt. Ein Studiengang, in dem ich keine Rebellen erwartet hätte, aber vielleicht nur, weil die, die ich bisher kannte, nie still genug saßen, um Formeln zu erläutern oder anzuwenden. Mit dieser neuen Info wusste ich gar nicht, was ich von den drei Dare Kings halten sollte.

»Dann wirst du wenigstens so motiviert lernen, dass du ihm kaum begegnen musst. Eine bestandene Note ist dir sicher.« Ich stupste Valentina in die Seite und richtete meinen Blick dann auf das seltsame Geschehen vor uns.

Diese Mutprobe klang gar nicht mal so schlimm? Niemand hörte gerne freiwillig Beleidigungen und so musste man als Dare-Teilnehmender vermutlich nur mit wenigen Leuten sprechen.

Dachte ich zumindest. Mir wurde jedoch prompt von einer neugierigen Traube junger Leute das Gegenteil bewiesen, die den blau verpackten Typen umzingelten und beinahe anbrüllten, endlich beleidigt zu werden.

»Was für ein Ansturm!«

Erst wurde es chaotisch, alle forderten gleichzeitig seine Aufmerksamkeit, wodurch der Student in Blau kein einziges Wort hervorbrachte. Er stammelte unzusammenhängende Worte und zog die Schultern höher, je enger der Kreis um ihn wurde. Sollten wir einschreiten?

Ein Mädel mit rotem langen Haar gesellte sich dazu und brachte schließlich Ordnung. Sie gestikulierte wild um sich. Nach und nach stellten sich alle in eine Reihe. Die Rothaarige ganz vorne, wobei sie sich so drehte, dass ich ihr Gesicht erkannte: Es war Kathy.

Sie forderte den Studenten mit einer Handbewegung auf, beleidigt zu werden. Er schwieg für mindestens 30 Sekunden, dann räusperte er sich. »Deine Haare sind … äh, spröde und darum unschön?« So wie er die Stimme am Ende des Satzes hob, klang es eher wie eine Frage.

Kathy zuckte mit den Schultern und ging davon, nahm dabei einige Haarsträhnen zwischen die Finger und betrachtete sie.

»Warum lassen sich alle darauf ein?«, fragte ich und schüttelte den Kopf. Der Student klapperte mühselig die Reihe ab, gewann mit jeder Beleidigung ein klein wenig an Tempo.

»Die Beleidigten sind Schaulustige und der Typ in Blau erhält irgendwas dafür.«

»Kann ja nichts Großartiges sein, wenn man bedenkt, dass gestern jemand nackt im Café stand«, bewehrte ich, stopfte den Rest meines Sandwiches in den Mund und spülte einen Schluck Latte macchiato hinterher.

Doch Valentina schüttelte den Kopf und ihr Haar wehte in der Bewegung eine Wolke Kokosnuss zu mir. Sie wandte sich zum Gehen, und auch ich hatte genug gesehen. »So einfach ist das nicht. Die Herausforderungen sind auf einen persönlich zugeschnitten. Ich kenne den Typen da, er stand vor mir bei der Zimmervergabe an. Er bekommt kaum einen Ton raus, ist entweder wahnsinnig schüchtern oder kann einfach keine Kritik äußern. Für ihn ist dies hier die Hölle, auch wenn es für uns ein Leichtes wäre, irgendetwas Oberflächliches zu nehmen.«

»Mmh, ja. Ich würde irgendwas Unwichtiges nehmen, was jemand ändern kann. Einen ausgeleierten Pullover, einen herausgewachsenen Ansatz oder Reste vom Mittagessen zwischen den Zähnen. Das wäre Kritik, die keinen Schaden anrichtet.«

Valentina streckte kurz ihren Rücken durch, wobei dieser knackte. Wir fielen wieder in einen Gleichschritt, weg von dem bizarren Anblick. »Und genau deswegen würde man uns einen anderen Dare aufdrücken. Die sind schön individuell zugeschnitten.«

»Und woher haben diese Kings all das Wissen?«

»Tja, das weiß keiner so genau.«

Wir machten noch einen kleinen Bogen um die Wiese und beendeten dann unsere Runde. Beide hatten wir Seminare anstehen. Bevor wir uns trennten, tauschten wir Handynummern aus, jedoch nicht ohne, dass mir langsam mulmig wurde.

Diese Dares waren campusumgreifender, als ich gedacht hatte, und wenn sie an jeden angepasst wurden, brachte das noch unangenehme Konsequenzen mit sich. Und ich wollte nicht dabei sein, wenn die über alle hereinbrachen.

3

HARLOW

In meinem Zimmer vor meinem Kleiderschrank war ich noch voll Selbstbewusstsein. Ich zog ein Oberteil aus Rüschen und Netzstoff an und dazu einen knielangen Rock zu langen Strümpfen, die aus meinen Lieblingsstiefeln herausschauten.

Sogar meine dunkelbraunen Haare waren mir geglückt, sahen nicht fettig aus, sondern frisch gestylt. Ich musste mich nur ermahnen, nicht die ganze Zeit hindurchzustreichen. Das hatte mit langen Haaren funktioniert, jetzt nicht mehr. Meine hellbraunen Augen fielen in meinem Gesicht am schnellsten auf, sodass ich wie immer jegliche Lippenprodukte wegließ, um nicht von ihnen abzulenken. Zu viele Schichten Mascara und nachgezogene Augenbrauen waren alles, wozu ich für diese komische Party bereit war. Obwohl ich eine wunderschöne neue Lidschattenpalette gekauft hatte, die ich noch austesten wollte.

Kathy nahm mich mit, nachdem sie mich anerkennend von oben bis unten gemustert hatte.

»Damit passt du perfekt zur Party.« Sie trug ein Crop Top und eine High-waisted Jeans. Ihre Haare glänzten wie noch nie, gingen in langen Wellen bis zum Ausschnitt ihres Tops. Vermutlich hatte sie sich die Beleidigung des Dares doch zu Herzen genommen. Dabei war das nur ein dummes Spiel! Drei Typen, die abfeierten, dass alle nach ihrer Nase tanzten. War noch niemand auf die Idee gekommen, den Spieß umzudrehen? Sollte ihnen doch jemand mal eine Mutprobe stellen, in der sie sich unwohl fühlten!

Wir machten uns auf den Weg zur Party, bevor es Zeit dafür war. Zuspätkommen war normalerweise uncool. Doch statt vorzuglühen, um gut gelaunt in die Masse einzutauchen, standen wir um 20 Uhr vor der Wohnung von Kathys Freundinnen. Da sie bereits im Sophomore Year waren, hatten sie Zimmer in den weiter außerhalb gelegenen Häusern angemietet, und wir waren somit direkt auf halbem Weg zur Party.

Gelächter dröhnte lauter und lauter durch die Straßen. Häuser mit riesigen Gärten versteckten sich teils hinter Hecken und alten Bäumen und waren kaum zu erkennen. So voll wie die Straßen waren und alle unmissverständlich in die gleiche Richtung strömten, kamen wir augenscheinlich genau zur richtigen Zeit.

»Kathyyyy, ihr seht mega aus!«, quietschte eine zierliche Frau mit blondem Dutt und stark geschminkten Augen. Sie warf sich in die Arme ihrer Freundin und schloss mich direkt mit in ihre Umarmung ein. Hinter ihr erschien eine weitere Studentin auf dem oberen Treppenabsatz und stieg diese vorsichtig auf ihren Absatzschuhen hinab, hielt sich dabei am Geländer fest.

»Bevor ihr lacht: Ich weiß, dass es das falsche Schuhwerk ist, aber damit sehe ich garantiert alles heute Abend.« Alle vier schauten wir auf ihre mit Sternchen besetzten Bikerboots mit dem Mörderabsatz, die mich bereits beim Zuschauen ins Wanken brachten. Sobald sie den Asphaltboden erreicht hatte und zu uns zum Bürgersteig ging, stabilisierte sich ihr Gang, war geradezu elegant. Ihr dunkelbraunes, gewelltes Haar ging ihr bis zur Hüfte und schwang bei jedem Schritt mit.

»Ach, faule Ausreden. Wetten, mit den Dingern bist du genau auf Kusshöhe?«

Ich musste nicht raten, wen Kathys Freundin meinte. Bestimmt einen der drei Typen.

Sie zwinkerte uns zu. »Quatsch, das ist nur ein netter Nebeneffekt. Ich bin übrigens María«, ergänzte sie und gab mir einen Luftkuss.

»Und ich Sadie.« Die Frau mit dem Dutt winkte, obwohl wir nur einen Meter voneinander entfernt standen, rubbelte sich dann verlegen den kurz geschorenen Nacken.

»Freut mich! Und wer von euch hat Kathy so von den Dares vorgeschwärmt, sodass wir gar keine andere Wahl haben, als mitzugehen?«, foppte ich Kathy und stupste ihr mit dem Ellbogen in die Seite.

»Das war ich«, gestand María und spielte mit dem Reißverschluss ihrer Bomberjacke. »Aber ganz ehrlich? Wer nicht hingeht, ist selbst schuld. Du machst also alles richtig.«

Wir fielen in einen Gleichschritt, verschwendeten keine Sekunde und näherten uns der lauter werdenden Musik. Der Bass wummerte bis in unsere Herzen und musste die Anwohner schrecklich nerven. Oder waren wir der lustige Tratsch, wenn sich alle im kleinen Stadtcafé The Mapleist trafen?

Sadie erwähnte einen Dare, den sie gesehen hatte, bei dem eine Kommilitonin nur im Bademantel und mit Haarmaske zur Vorlesung erschienen war, und ich schaltete gedanklich ab. Diese Dares waren lächerlich und erinnerten mich an Highschoolscherze. Während die Mädels sich darüber austauschten, grübelte ich, ob ich irgendwo ein Fahrrad leihen könnte, um damit in das Stadtcafé zu radeln oder einen Markt zu besuchen. Einige Bewohner und Bewohnerinnen bauten garantiert etwas in ihrem Garten an und verkauften dies. Blumen, Gemüse, Obst und daraus leckeres Gebäck oder Getränke. Doch vielleicht waren das lediglich kulinarische Träumereien und ich völlig entfernt von der Realität, in der eine verschlafene Kleinstadt bloß versehentlich an ein unbekanntes College grenzte.

Das Erste, was mir von der Party ins Auge sprang, war ein roter Pappbecher, der hinter einer dichten Hecke durch die Luft flog und seinen Inhalt verteilte. Wir passierten das Gestrüpp bis zu einem metallenen Zaungitter, das unter dem Bogen dieser eingelassen war. Damit war der erste Eindruck des Gartens gepflegter als erwartet. Doch das würde sich ändern, fürchtete ich, als wir durch das quietschende Tor traten.

»O wow, ihr habt nicht zu viel versprochen.« Kathy riss die Augen auf und vermutlich tat ich es ihr gleich.

Ein mit rostroten Steinen gepflasterter Weg führte zur Mini-Villa. Die Außenfassade bestach durch eine fragwürdige Kombination aus schilfgrün, weiß und rot und vorne baute sich eine große Veranda mit weißen Korbsesseln auf. Das Rasenfeld war riesig. Voller angeheiterter Leute, einem metallenen Bierfass und einem gefällten, riesigen Baumstamm, der als Sitzgelegenheit diente. Dahinter war ein Student an einem kleinen Lagerfeuer kurz davor, seine lange Mähne anzukokeln. Der Rauchgeruch war sogar bei uns so intensiv, dass garantiert jemand etwas Falsches zwischen das Brennholz gelegt hatte.

Während Kathy und ich noch staunten, deuteten Sadie und María uns mit einer Handbewegung an, ihnen zu folgen. Zielstrebig umrundeten sie das Haus, grüßten hier und da Bekannte oder Freunde und griffen an einem Gartentisch nach Getränken.

»Was wollt ihr?«, rief Sadie über die Musik hinweg, während María bereits aus einem Eimer, der in einem vorherigen Leben ein Mörtelkübel gewesen war, Punsch schöpfte.

Eine Studentin, nur in einen Bikini gekleidet und mit nassem Haar, hielt ihr ihren Becher hin und verschwand, nachdem María ihn aufgefüllt hatte. Jetzt bildete ich mir auch ein, Geplätscher zu hören. Gab es hier etwa einen Pool?

Ich klammerte mich an den Becher, den María mir gab, und trank ab und an von dem Punsch, obwohl ich dem Getränk nicht traute. Alle um mich herum waren ausgelassen, grölten zur Musik, lachten und schlossen Bekanntschaften jeglicher Art, nur ich konnte eine gewisse Anspannung nicht abschütteln. Ich war umzingelt von Dare-Begeisterten und sah keinen einzigen Fleck Rasen ohne Schuhe. Um zu den Getränken, Toiletten oder weg von hier zu kommen, mussten alle sich Bahnen durch die Massen kämpfen. War ich hier wirklich die Einzige, die dem Ganzen skeptisch gegenüber war?

María lugte regelmäßig über alle Köpfe hinweg, ohne etwas zu erspähen. »Wo sind die Kings?«

Sadie zuckte mit den Achseln, besah mich dann mit einem Blick von der Seite. Sie nickte mir fragend zu. »Bist du deswegen so nervös?«

Ihr Tonfall war heiter, was wohl dem zweiten leeren Punsch zu danken war, doch ich kam mir ertappt vor. Meine Wangen wurden augenblicklich heiß. »Vielleicht. Diese Party ist riesig!« Ich erkannte niemanden vom Sehen her, obwohl ich mit zig Kommilitonen und Kommilitoninnen bereits in Vorlesungen gesessen hatte, und alle tuschelten über die Dares. Sie waren bekannt, bevor sich irgendwer offiziell angemeldet hatte. Oder wie auch immer das funktionierte. Durch Kathy würde ich es zweifelsohne herausfinden und dann das genaue Gegenteil machen.

»Das ist doch genau das Coole! Oder wartet, ist das negativ? Sind all die Leute hier meine Konkurrenten?«, fragte Kathy an ihre Freundinnen gewandt und blickte zu María hoch.

Diese schüttelte den Kopf. »Nein. Jeder kommt auf seine Kosten. Die drei sind da echt organisiert.«

Na prima. Ein Grund mehr, so schnell wie möglich hier abzuhauen. Ein bisschen mit Kathy feiern, unserer Freundschaft den richtigen Stups geben und dann weglaufen, ehe ich Bekanntschaft mit Remington, Onyx oder Miles machen musste. Auch wenn die Party eh zu groß war und ein Kennenlernen unrealistisch. Sie mögen letztes Jahr strukturiert gewesen sein, aber dieses Kaliber haben sie bestimmt nicht erwartet.

Ich folgte den Mädels, grüßte Leute, deren Namen ich sofort wieder vergaß, und hielt jedes Mal meinen noch halb vollen Becher hoch, wenn Sadie uns neue Bowle holen ging. Alle lachten und waren gut gelaunt, aber die flüchtigen Blicke machten deutlich, dass vor allem die Freshmen aufgeregt waren.

Eine Stimmungsveränderung ging durch die Menge und Gänsehaut krabbelte über meine Oberarme. Was passierte hier? Gespräche verstummten, einige zischten und der Typ, den ich nackt im Café gesehen hatte und der jetzt auf dem Baumstamm stand, reckte den Finger in den Himmel.

»O wow, schaut euch Remington an.« Seine Stimme war mehr ein Kreischen als gesprochene Wörter und keine Sekunde später stimmten andere in diese Ekstase ein. Jubelrufe brachen aus, die Remington anfeuerten.

Ich hob den Kopf, folgte dem Fingerzeig.

Anscheinend hatte ich falschgelegen: Die Typen führten ebenfalls Dares aus und scheuten sich vor nichts.

Remington stand barfuß auf dem Balkongeländer im ersten Stock, glitt mit seinem Blick über die Menschenmasse. Er würde doch nicht …? Ich meine, er war angezogen, in Jeans und Pullover, dessen Kapuze er sich übergestülpt hatte. In einer Hand hielt er irgendeine alkoholische Flasche, aus der er einige Schlucke nahm, bevor er sie einem Typen mit kurzen Dreads und Hornbrille in die Hand drückte. Bereits dabei geriet Remington ins Wanken, balancierte sich nur aus, indem er eine Hand auf der Schulter seines Kumpels ablegte. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, fürchtete das Schlimmste. Doch damit war ich wohl die Einzige. Remington streckte sich wieder in die Höhe und die Arme aus, brachte die Meute damit zum Kreischen.

»Spriiing!«, brüllte jemand und hundert Stimmen echoten das Wort zurück.

Das war doch irrsinnig! Zwischen dem Balkon und dem Pool lag noch Beton, samt einer Liege, auf der eine Studentin flanierte, die die Arme zu Remington hochriss. Nein, nein, nein. Hier lief was falsch. Gehörig falsch.

Neugierige Gäste schoben sich zwischen uns, traten mir dabei auf die Füße oder rochen beißend und teils nach durchzechten Nächten, die beendet werden sollten. Ich drängte mich näher an Kathy, die mich nicht beachtete.

Alle Muskeln spannten sich in mir an und ich konnte weder wegsehen noch weglaufen. Ich wollte keine Zeugin dieser betrunkenen Dummheit werden. Was war in Remingtons Leben falsch gelaufen?

Er fuchtelte rhythmisch mit den Armen, ermutigte die Menge, ihn lauter und lauter anzufeuern. Meine neuen Freundinnen stimmten gefühlt am lautesten mit ein in den Chor aus »Spring, Rem, spring! Spring, Rem, spring!«

Wie das pure Leben badete er in diesem Wahnsinn, und wenn ich nicht so verdammt nüchtern wäre, verstünde ich, warum die Meute das anzog: Selbstbewusstsein war sexy. Und Remington war die Inkarnation dieser Attitüde. Er grinste, genoss diese Aufmerksamkeit und richtete den Blick zum ersten Mal auf den Pool. Schwimmnudeln und eine Luftmatratze mit einem verloren gegangenen roten Pappbecher drauf glitten auf der Wasserfläche umher.

Der Typ neben Remington kam nicht auf die Idee, ihm zu helfen, sondern hob ein Megafon an. Natürlich hatte er eines. Warum wunderte es mich noch? Er streckte eine Hand mit drei ausgestreckten Fingern empor und brüllte in sein Megafon.

»Drei!«

»Zwei!«

»Eins!«

»Spriiing!«

Alle stimmten mit ein und Remington tat wie befohlen. Ging kurz in die Knie und stieß sich dann laut brüllend vom Geländer ab.

Ich riss meine Hände vor meine Augen, aus Angst, wo er aufprallen würde, konnte gleichzeitig nicht wegschauen. Was nichts änderte. Ich hatte keine Sicht auf den Pool und es war so laut, dass ich den beruhigenden Platscher ins Wasser nicht hörte. Mein Magen machte einen nervösen Hüpfer und die getrunkene Bowle drückte gegen meine Kehle. Dafür erklang Jubel, sobald Remingtons Dare geglückt war. Hoffte ich doch? Meine Freundinnen kreischten mir in die Ohren, bis ich kurz davor war, sie mir mit den Fingern abzudichten, aber auch ich reckte den Kopf. Traute dem Freudengeschrei nicht. Die angetrunkene Meute würde auch einen Aufprall auf dem Beton feiern.

Das Chaos formte sich zu einem weiteren Anfeuerungsruf: »Re-ming-ton!« Wieder und wieder. Lauter und lauter. Becher wurden rhythmisch in die Luft gestemmt und niemand achtete darauf, dass jedes Mal ein wenig Flüssigkeit herausschwappte.

Puh. Ich hatte diese Party völlig unterschätzt. So sehr ich die Freundschaft mit Kathy festigen wollte, das flaue Gefühl in meinem Magen brauchte ich nicht.

Ich trat einen Schritt zurück, rempelte María dabei an, die sich prompt an mir festhielt, um nicht auf ihren hohen Schuhen zu taumeln. In meinem Brustkorb zog sich alles zusammen und Erinnerungen an meine letzten zwei Jahre mit meinem Ex-Freund Brandon und unserem Freundeskreis wollten auf mich zurasen. Sie waren alle nicht hier, an diese Sicherheit musste ich mich festklammern. Aber was, wenn das gar keine Rolle spielte? Wenn hier etwas Ähnliches auf mich wartete?

Ich musste weg hier. Hilfesuchend sah ich zu Kathy, wusste nicht, wie ich es ihr erklären sollte, ohne ihr sofort meine ganze Jugend aufzubinden. Meine Highschoolzeit klang eh harmlos und naiv. Nie bekam ich sie so einschneidend rübergebracht, wie sie sich anfühlte und mich immer noch heimsuchte.

So wie hier. Die Typen stellten genauso gerne Dares, wie sie sie ausführten. Und das Kaliber war deutlich: Alles, was ich bisher mitbekommen hatte, war ein Aufwärmen, eine Art Vorglühen gewesen. Das ruhige Einläuten einer Saison, ehe es jetzt mit einem Knall losging.

Scheiße.

Das würde so viel schlimmer werden als vermutet. Ich hatte keinen Schimmer vom Ausmaß.

Und als würde ich die falschen Signale ans Universum senden, drängte alles Richtung Pool. María deutete an, dass sie etwas erkannt hatte, und zog Sadie hinter sich her. Kathy und ich folgten. Ich vernahm einzelne Platscher und war kein bisschen verwundert, als ich gegen eine Poolliege stolperte und von dort beinahe in das gefüllte Becken. Remingtons Mutprobe hatte das nasse Terrain freigegeben, und im Gegensatz zu der Studentin im Bikini kletterte niemand noch heraus. Und das in einer lauen Septembernacht. Der Wind fegte durch die Bäume, brachte meinen ersehnten Herbst. Von der Wärme der kitzelnden Sonnenstrahlen des Tages war in der Nacht nichts mehr zu erahnen.

Ich fröstelte. Ob aus Furcht oder Kälte konnte ich nicht sagen.

Sadie griff mich am Arm, zog mich mit, an dem Pool vorbei hinter das Haus, wo es mehr Luft zum Atmen gab. Warum der Rasen nass unter unseren Füßen schmatzte, wollte ich nicht wissen.

Puh. Von hier war es beinahe unmöglich, sich nach Hause zu kämpfen, aber wenigstens war es etwas ruhiger. Die Musik plärrte vorne, hier konnte man sich besser unterhalten.

»Das war der Wahnsinn!« Sadie klatschte in die Hände, während Marías Blick nervös zwischen uns umherglitt.

»Was ist los?«, fragte ich, war augenblicklich besorgt, was ich der Umgebung verschuldete. Vielleicht wollte María auch gehen, weil es ihr zu krass war?

Sie schwieg, presste die Lippen aufeinander, während ihr ganzer Körper sich anspannte.

»Hi, ihr zwei, wir kennen uns vom letzten Jahr, oder?«, fragte eine brummende Bariton-Stimme. Zwischen Kathy und mir tauchte der Typ mit den Dreads und dem dicken Brillengestell auf. Irgendwie drängte er sich schwankend zwischen uns, ohne schubsen zu müssen, und war trotzdem irgendwie zu nah. Seine weißen Zähne blitzten im Kontrast zu seiner Dunkelheit auf, als er lächelnd die Flasche ansetzte, die Remington ihm gegeben hatte. Sadies Finger zuckten, doch er bot ihr nichts an. Es war Wodka und damit ungenießbar, aber vielleicht wäre die Flasche ja so etwas wie eine Trophäe.

María quiekte etwas Unverständliches und verhedderte ihre Finger in ihrem langen Haar, sodass Sadie übernahm. »Stimmt! Wir haben uns letztes Jahr um die Beziehung von Sandra und Mitchell gekümmert.«

Gekümmert? Damit meinte sie, dass sie eine Trennung forciert haben, oder? Als ob bei Dares irgendetwas Positives passierte.

»Ich erinnere mich. Aber ihr zwei, ihr seid neu, oder? Ich bin Miles, falls ihr Computerwissenschaften studiert, sehen wir uns bestimmt häufiger.« Er hatte unzählige Sommersprossen auf der dunklen Haut und lange Wimpern umrahmten seine Augen. Verlegen spielte er an seinem silbernen Ohrring, was ich ihm nicht abkaufte.

»Leider nicht«, meinte Kathy und streckte ihm ihre Hand aus. »Ich bin übrigens Kathy und das ist meine Mitbewohnerin Harlow. Wie wäre es, wenn wir uns im Rahmen von Dares häufiger sehen?«

Wow, den Mut bewunderte ich. Die beiden schüttelten die Hände und ich streckte meine verlegen aus, als sie sich lösten. Wohl aber nicht genug, denn Miles ersparte mir den verkrampften Händedruck. »Was sagst du zu Remingtons Stunt?«

Die Frage stellte er mir und plötzlich richteten sich vier Augenpaare auf mich, machten mir bewusst, dass es nur eine richtige, aber viele falsche Antworten gab. Aber ich wollte keine Begeisterung heucheln. Das hatte ich die letzten Jahre über gemacht, voll Hoffnung auf Besserung, Liebe und Akzeptanz. Letzten Endes war ich hier gelandet, erneut beim Nullpunkt, da ich schlussendlich nur mir selbst etwas vorgemacht hatte.

Ich biss mir auf die Lippe, kam mir gefangen vor wie der kleine Finger, den María aus Nervosität nicht aus ihren langen Haaren befreit bekam. »Mutig und leichtsinnig. Ich versteh nicht ganz, was sein Anreiz war.«

»Aah, eine Kritikerin«, ertönte es hinter mir.

Ich verdrehte die Augen, musste mich nicht herumdrehen, um zu wissen, wer hinter mir stand. Remingtons Präsenz war spürbar. Sie brannte in meinem Rücken und nahm mich ein, obwohl ich mit vier Leuten zusammenstand, die interessanter waren.

Er trat hinter mich, nahe, viel zu nahe, doch ich hatte mich ja geweigert, mich einen Schritt zur Seite zu drehen. Auch so roch ich seinen Punschatem, als er sprach.

»Und der Anreiz ist doch klar: Irgendwer dachte, ich würde mich fürchten, was ich nicht tue. Ich habe keine Angst. Niemals.«

Täuschte ich mich oder hatte seine Stimme einen verruchten Klang angenommen? Ganz anders als in der Vorlesung, als er kaum ein Wort herausgebracht hatte. Dort war er zu erschöpft gewesen, jetzt vibrierte er. So sehr, dass ich zur Seite wich und mich zu ihm herumdrehte.

Seine Kleidung tropfte, klebte an ihm und sein Haar hing ihm feucht ins Gesicht. Der Anblick war irgendwie verboten intim, als hätte man ihn beim Duschen erwischt. O Mann. Wie kam ich auf so etwas? Wie ein begossener Pudel stand er vor mir!

Oder: So sollte er zumindest vor mir stehen.

Jedoch …

Er strahlte von innen. Seine Augen leuchteten und das verschmitzte Grinsen passte null zu dem deprimierten Typen, der vor ein paar Tagen durch den Vorlesungssaal geschlurft war. Wenn er mich nicht mit der gleichen Intensität fixierte, würde ich denken, dass ein anderer Mensch vor mir stand. Aber es war Remington. Klitschnass mit verstrubbeltem Haar und einer Energie, die vom Adrenalin herrühren musste. Anders erklärte sich mir dieser Stimmungswechsel nicht.

»Und wozu?«, fragte ich, bevor ich es mir verkneifen konnte. Sein Auftreten überrumpelte mich, eigentlich wollte ich keine Antwort.

Er trat zu uns in den Kreis. Ich wich automatisch zurück und stand damit einen halben Schritt zu weit außen vor. Dabei war sein Torkeln unpassend und gerade hätte er noch geplättet auf der Poolkante landen können. Vielleicht glühte er ja deswegen so auf.

»Du bist wirklich neu«, merkte Miles an und rückte seine Brille zurecht. Er trug ein Hemd unter seinem Hoodie, was mir vorher nicht aufgefallen war. Damit hatte er ein paar nerdige Vibes, die herrlich mit den Dares kontrastierten. Die fleißige Seite von ihm wäre mir sympathischer.

Ich verkniff mir ein ›ja, und?‹, das ich früher immer gegeben hätte, und verschränkte stattdessen die Arme.

Remington legte den Kopf schief. »Wie kommt es, dass ihr vier zusammen hier seid? Ihr seid schon etwas … unterschiedlich.« Spann der eigentlich? Da wechselte er das Thema und machte es sogar noch schlimmer. Wie ging das überhaupt?

María rollte verlegen eine lange Strähne ein, hatte keinen Becher zum Festhalten, während ich seit einer Stunde einen leeren umklammerte. »Harlow kennt die Dares einfach noch nicht.«

»Weißt du bereits, wann ihr mit den Dares für uns Freshmen loslegt?« Kathy bedachte mich mit einem strengen Blick, als ob ich ihr die Chance auf eine Mutprobe ruinierte. Mental schubste sie mich garantiert gerade in den Pool und verfluchte die Studienleitung, die uns zusammen in ein Zimmer gesteckt hatte. Ich auch. Wir passten wirklich nicht zusammen. Das stand jetzt fest.

»Das erfahrt ihr noch früh genug.« Miles grinste und wackelte dabei mit den Brauen. Zumindest bis Kathy den Blick abwendete. Augenblicklich fiel die übertriebene Freude aus seinem Gesicht und wich einem beinahe konzentrierten Ausdruck. Er leckte sich über die Lippen.

»Ja, denke auch. Wir kennen euch ja jetzt«, schob Remington hinterher und ein Feuer trat in seine Augen. Was zur Hölle war in seinem Leben falsch gelaufen, dass er durch eine potenziell tödliche Mutprobe flirty wurde? Das war doch nicht gesund!

Meine drei Bekanntschaften beteuerten ihre Begeisterung, während ich schwieg. Besser, wenn ich meine Klappe hielt. Ich durfte keine Energie mehr in vermeintliche Freunde stecken, wenn sie meine ohnehin fragile Integrität gefährdeten. Und Gleiches galt für alle anderen Anwesenden hier. Ich schaute mich um, sah mehrere kleine Grüppchen in verschiedenen Trunkenheitsstadien: lachend, johlend und vermutlich genauso unter Ekstase wie Remington durch die depperte Mutprobe. Selbst wenn dies gut gegangen war, ging das nicht ewig so weiter.

»Kommt ihr mit zum Lagerfeuer? Ich sollte wohl aufwärmen«, meinte Remington und deutete in die Richtung, aus der wir gekommen waren. So viele Leute, wie hier rumwuselten, würde irgendwer verbrennen. Doch vielleicht war ja auch das eine Herausforderung.

Wir setzten uns in Bewegung, Miles voraus, der sich einen Weg durch die Masse bahnte und hier und da ein High Five verteilte oder Leute umarmte. Remington blieb leider bei uns, redete mit María und zog ihr sogar ihre Haarsträhne zwischen den Fingern weg. Es war eine nervige Angewohnheit, die ich vorher ebenfalls gehabt hatte. Ein paar Wochen lang hatte ich noch an mein Schlüsselbein gegriffen, jedes Mal verwundert, nur Haut zu berühren.

Doch obwohl Remington mit María quatschte und ihr über den unebenen Boden half, fixierte er wieder und wieder mich. Ein Schauer rieselte mir den Rücken herunter und ich unterdrückte ein Schütteln. Wieso war er so verdammt intensiv? Spürte er, dass ich mich fürchtete und nicht nur abgeneigt war? Momente lang hielt ich seinen Blick fest, konnte mich nicht lösen. Erst, als ich gegen jemanden rempelte, löste sich das Band und ich wandte mich zu Kathy um.

»Hey, ich glaube, ich gehe besser nach Hause.«

»Dies ist nicht deine Party, oder?« Sie machte ein betretenes Gesicht, was mich überraschte, und schaute kurz zum Ausgang, der sich irgendwo hinter über hundert Studierenden versteckte.

»Ja, sorry. Ich dachte, ich könnte mich hier eingrooven, aber wohl doch nicht.«