The Never Ending Christmas: New Adult Romantasy - Melissa Mai - E-Book

The Never Ending Christmas: New Adult Romantasy E-Book

Melissa Mai

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Beschreibung

Was würdest du tun, wenn die Weihnachtszeit nicht mehr endet? Zuckerstangen, Lakritze und Bonbons mit Motiv – umgeben von leckeren Süßigkeiten, wird Tova jeden Tag daran erinnert, dass sie nicht wie erhofft Karriere macht, sondern in einer kleinen Manufaktur in Stockholm Bonbons herstellt. Am 13. Dezember bricht sie frühzeitig von der Arbeit auf, um das Luciafest – das Fest der Lichter – zu feiern. Sie wird beinahe von einem Auto angefahren, doch ausgerechnet Milo, ihr ebenso arroganter wie attraktiver Nachbar, greift ein und rettet sie. Am nächsten Morgen bemerkt Tova, dass etwas nicht stimmt. Wieso wird überall erneut das Luciafest gefeiert? Unfreiwillig stürzt sie sich in das Abenteuer des immer wiederkehrenden Tages. Dabei bemerkt sie, dass Milo sich auffällig verhält. Was ist, wenn ausgerechnet er ihr helfen kann, aus der Zeitschleife zu entkommen? ⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀ Ein verrückter Weihnachtsroman im Herzen Stockholms ⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀ ____________________ Einzelband Neighbors to lovers • stuck together/ forced proximity Inspiriert von dem Film Groundhog Day (»Und täglich grüßt das Murmeltier«)

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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THE NEVER ENDING CHRISTMAS

MELISSA MAI

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Danksagung

Three Chances Till Christmas

Von Schneekugeln und Pariser Weihnachtsmuffeln

Über die Autorin

KAPITELEINS

Mein Arbeitstag konnte noch so anstrengend gewesen sein, sobald der Geruch gebrannter Mandeln in meine Nase drang, war dieser vergessen. Ich eilte über den Weihnachtsmarkt in Gamla Stan auf der Suche nach Jesper, während ich im Vorbeilaufen die Angebote bewunderte. Ein Stand verkaufte Glasschmuck, daneben gab es Keramikschüsseln und -tassen und dahinter breitete sich der himmlische Duft von Popcorn aus. Aber was wohl die Hütte mit Pfeilen und Wurfscheiben, bei der man Toblerone-Riegel gewinnen konnte, mit Weihnachten zu tun hatte?

Geflissentlich ignorierte ich die Hütte voller Süßigkeiten, weil sie mich an die Arbeit erinnerte. Und endlich fand ich Jesper. Er stand an einem rostrot lackierten, runden Tisch direkt vor einem farblich passenden Stand mit der Aufschrift »VARM GLÖGG«.

Der Kragen seines Blazers ragte unter seinem dicken Anorak hervor, das Haar versteckte er unter einer schlichten blauen Mütze. Er klammerte sich an sein Handy, tippte bestimmt noch eine letzte E-Mail.

Ich machte einen Bogen um ihn und schlich mich von hinten heran. Gerade als ich die Arme ausstreckte, um ihm die Augen zuzuhalten, verschwand der Boden unter meinen Füßen. Ich ruderte mit den Armen, kreischte auf, doch der Schneematsch hatte mein Schicksal bereits besiegelt. Mein Stiefel stieß polternd gegen den Tisch, mein Po doppelt so hart auf die Pflastersteine, deren minimale Schneeschicht nicht einmal versuchte, mich abzufedern.

»Autsch«, jammerte ich und schloss schmerzerfüllt die Augen. Einmal pro Saison landete ich auf dem Boden. Es war eine unfreiwillige Tradition, eine Abmachung zwischen dem Winter und mir. Dieses Jahr hatte ich immerhin bis zum zwölften Dezember durchgehalten.

»Tova! Herregud. Hast du dir weh getan?« Jesper steckte sein Handy weg und reichte mir eine behandschuhte Hand. Er trug dieses schicke Modell, bei dem man den Stoff an den Zeigefingern umstülpen konnte.

»Geht schon. Ich wollte dich überraschen.«

Ein Blick in seine dunkelbraunen Augen genügte, damit das Pochen an meinem Po verschwand. Jesper hielt mir die Hand hin, half mir auf und umarmte mich dann fest.

»Hej, übrigens.« Ich verzog die Lippen zu einem Lächeln, welches er sofort spiegelte. Sein warmer Atem strich über meine Haut und ich beugte mich zu einem Kuss vor. Sein frisches Parfum, eine Kombination aus Vetiver, Weihrauch und Zitrone, die eigentlich zu leicht für den Winter war, umhüllte mich vertraut, und ich schloss die Augen.

Jesper und ich waren nicht zusammen, aber ich genoss seine Gesellschaft. Er war der perfekte Gegenpol für mich oder zumindest jemand, der immer vom Glück umgeben war. Solche positiven Menschen brauchte das Leben und ich verbrachte gerne meine Zeit mit ihm. Irgendwann würde seine Gelassenheit auf mich abfärben.

»Veera und Henrik verspäten sich wohl. Soll ich uns schon mal zwei Glöggs holen?«, bot Jesper an und ich nickte. Kein Dezemberabend ohne skandinavischen Glühwein, der mit seinen herben Gewürzen und dezenten Zitrusnoten das Aroma der Saison in flüssiger Form verkörperte.

Jesper reihte sich in der Schlange am Glühweinstand ein, während ich unseren Tisch freihielt und Schnee von meiner Hose klopfte. Feucht, wie er war, drang er bereits durch den Stoff.

Wenn man genau hinschaute, schimmerten Sterne am Firmament. Die Luft war heute klar und hell und der Schnee blieb liegen. Nicht unbedingt so knautschig und fluffig wie erhofft, aber die weiße Weihnacht war garantiert. Jeder Moment, den man draußen verbrachte, wurde von einer gewissen Stille begleitet, die eine Schicht Schnee auf Bäumen, Büschen und Straßen mit sich brachte. Die Autos fuhren mit einem ganz bestimmten Klang über die Straßen und Schritte waren gedämpft. Es entschleunigte, selbst wenn man sich nicht bereit dafür fühlte: einfach diese knackig frische Luft, die Lichtdekorationen, wenn ich noch bei Dunkelheit zur Arbeit spazierte, dieses Heimelige.

»Guck mal, wen ich mitgebracht habe«, riss Jesper mich aus meinen Gedanken und ich blinzelte mehrmals, um meinen Weg zur Arbeit heute Morgen in den Hintergrund zu schieben.

Ich schaute auf und wurde direkt von einem modischen Kunstpelz erstickt, dessen Härchen sich in meine Nasenlöcher gruben. Veera. Sie drückte mich energisch an sich, nahm dann wieder Abstand und richtete ihr dunkelbraunes Haar. Henrik nickte verschmitzt und ersparte mir eine stürmische Begrüßung.

»Ich hoffe, ihr wart noch nicht ohne uns unterwegs?«, fragte Veera und sah sich um. Die einundvierzig Verkaufshütten waren jedes Jahr dieselben, genau wie die Angebote, reichend von Lichtdekorationen bis zu geräucherten Würsten, die teils von der Decke hingen.

»Als ob hier irgendetwas Neues auf dich warten würde«, spottete Henrik mit einem leicht norwegischen Akzent und griff nach seinem Glögg. Wir hatten ein Doppel-Date vereinbart, da wir ohnehin alle befreundet waren. Veera und ich kannten uns aus dem Studium, Henrik war ein Arbeitskollege von Jesper, und die beiden hatten uns einander vorgestellt. Und vielleicht würde das Ganze zwischen Jesper und mir langsam ernster werden. Ich verstand seine Zurückhaltung in der verrückten Datingwelt heutzutage, in der nichts Bedeutung haben musste, aber alles eine haben konnte. Allerdings gingen wir seit diesem Sommer miteinander aus!

»Vielleicht möchte Veera dieses Jahr eines dieser Rentiere aus Stroh kaufen und eure Wohnung damit schmücken«, schlug Jesper vor, woraufhin Henrik in sein Getränk prustete.

»Wir haben keinen Platz mehr. Weihnachtsdeko hin oder her.«

»Oh, dabei würden die so gut auf unsere Fensterbank neben die hölzernen Armleuchter passen.«

Sie stupsten einander an und tauschten tiefe Blicke aus. Süß, die beiden. Ich klammerte mich an meinen Glühwein, dessen würzige Aromen meinen Gaumen benetzten. Dieser war besonders lecker – nicht zu zuckrig, nicht zu bitter – und ließ eine angenehme Müdigkeit durch meinen Körper gleiten. Ich lächelte zu Jesper hoch, der mir zuzwinkerte. Sein Gesicht gefror, als Veera, an ihrem Getränk schlürfend, die einzige kritische Frage der Saison raushaute.

»Wie feiert ihr eigentlich Weihnachten?«

Ich verzog das Gesicht, blinzelte zu schnell. Voll ins Fettnäpfchen.

»Darüber haben wir noch nicht gesprochen«, wich Jesper aus, was sogar stimmte. Wir umschifften diese Frage, weil sie für Bindung stand – oder das Gegenteil davon. Ich wollte zusammen feiern, bei ihm war ich mir nicht so sicher. Unmerklich nahm er einen Schritt Abstand von mir, was ich auf das Gedränge schob. Vielleicht war jemand gegen ihn gestoßen. Bestimmt.

»Das Weihnachtsfest selbst ist doch gar nicht so wichtig. Also nicht mehr als die Wochen vorher. Advent, Lucia, Abende mit euch«, warf ich ein und blickte prüfend zu Jesper. Er lächelte noch immer besonnen und ignorierte meine Andeutungen. Mist.

»Dass du dieses Jahr nicht in Weihnachtsstimmung bist, wissen wir bereits.« Veera grinste in ihre Tasse und trank den letzten Schluck aus, ehe sie weitersprach. »Ich meine, zu Hause bei den Eltern und dann nicht flüchten können? Ist schon Hardcore.«

Das stimmte, obwohl ich daran gerade nicht gedacht hatte. Trotzdem versetzte es mir einen kleinen Stich, den ich mit hoch angehobenen Mundwinkeln weglächelte.

»Wisst ihr was? Wir sollten erstmal die Auslagen hier erkunden. Vielleicht entdecken wir ja doch noch etwas Neues«, schlug ich vor, um das Thema zu wechseln. Der Stortorget-Weihnachtsmarkt war nicht für seine Innovationen bekannt, sondern eher für seine Beständigkeit seit dem Mittelalter und den ikonischen Gebäuden, die die Weihnachtshütten umrahmten. Aber spielte das eine Rolle, wenn man sich mit Leckereien vollstopfen und von glitzrigen Dekorationen verzaubern lassen konnte?

Meine Freunde nickten und wir brachten unsere Tassen zurück zum Glögg-Stand. Henrik gesellte sich zu Jesper, um über einen Insider aus der Consulting-Branche zu lachen, Veera legte ihren Arm um mich. Ihre Winterjacke gab dabei ein quietschendes Geräusch von sich. Mein Stoffmantel hingegen war so still, wie ich sein wollte. »Tova! Denk nicht, dass ich den Themenwechsel nicht bemerkt hätte. Sprich ihn knallhart darauf an, Weihnachten ist zu selten, um es sich zu vermiesen. Okay?«

»Ja, ja«, grummelte ich und zog Veera zu einem Stand mit selbst gemachtem Senf, an dem ich null Interesse hatte, aber den ich jetzt auf einem Stück Hartkäse probieren würde.

Wir schlenderten an den Ständen entlang und ließen uns von der Menge treiben. Veera kaufte Deko-Figuren und ich machte mir eine gedankliche Notiz für ihren Geburtstag in anderthalb Wochen. Wir aßen Waffeln mit Schokosoße und Erdbeerkonfitüre und fanden uns nach zwei Runden am ersten Glögg-Stand wieder, wo wir einen zweiten Becher Glögg tranken.

»Okay, für uns wird es spät. Wir müssen morgen wieder früh raus«, erklärte Veera, woraufhin Henrik nickte. Sie hatten ihre Arme eingehakt, lehnten niedlich aneinander.

»Klar, dann sehen wir uns die Tage wieder.« Jesper nickte, fast schon zu hastig, als hätte er darauf gewartet, und wir verabschiedeten uns voneinander.

Ohne uns abzusprechen, steuerten Jesper und ich eine Seitenstraße an, die vom Stortorget-Platz wegführte, weg von den ikonischen, langen Hausfassaden, die in auffälligem Rot, Orange, Gelb und Grün gestrichen waren und auf jedes Touri-Foto gehörten.

Ich streckte die Hand nach ihm aus, gerade als Jesper seine in die Taschen seiner Winterjacke schob. Wir fanden einen gemeinsamen Rhythmus, bei dem unsere Jackenärmel leicht aneinander rieben, was unser Schweigen umso deutlicher machte, obwohl es nicht unangenehm war.

»Kommst du noch mit zu mir?«, fragte ich und hob leicht die Brauen.

»Mmh, mit deinen Eltern? Die sind bestimmt zu Hause.« Das war der Grund, warum ich ihn bisher nie eingeladen hatte, was ich so langsam ändern wollte.

»Dann eben zu dir«, sagte ich mit einem gewissen Groll in der Stimme. Er wusste doch, was ich meinte. Als ob ich noch nie bei ihm übernachtet hätte.

»Heute nicht. Meine Meetings morgen beginnen zu früh.«

Bitte? Seit wann war ihm das wichtig? Jesper war grandios in seinem Job, ohne ihm große Wichtigkeit zuzumessen. Genau das hatte mich an ihm angesprochen. Seine Einstellung war so absurd, dass ich mehr davon hatte hören wollen.

Mitten auf dem alten Viadukt Strömbron, das Gamla Stan mit Stockholms Zentrum verband, blieb ich stehen und drehte Jesper zu mir, sodass wir uns direkt anblickten. Das Haar, das unter der Mütze hervorschaute, war etwas zerzaust, seine Wangen schimmerten rötlich. Inzwischen ging sein Reißverschluss, den er mangels eines Schals hochgezogen hatte, bis zum Adamsapfel. Ob er ihn im Büro vergessen hatte?

»Ist alles okay zwischen uns, habe ich irgendetwas verpasst?«, fragte ich durch das laute Peitschen des Windes. Es rüttelte an meinen Nerven, obwohl der Ausblick auf das Wasser und Stockholms Inseln fantastisch war.

Ich steckte meine Hände in die Jackentaschen, damit sie nicht nutzlos zwischen uns hingen, nahm sie dann wieder heraus und verschränkte die Arme. Gerade fühlte sich keine Haltung richtig an.

Ich spürte Jespers versöhnliches Lächeln einfach nicht und fragte mich, ob ich überreagierte, weil ich davon ausgegangen war, dass der Abend in eine Nacht übergehen würde.

»Nein, ich wollte nur früher nach Hause. Weihnachtsmarktessen bekommt mir sowieso nie so und … mach dir keinen Kopf.«

»Okay«, hauchte ich als Antwort und ließ die Schultern hängen.

»Wir können uns am Wochenende sehen, Hauptsache, wir meiden diesen Trubel hier.« Er machte eine ausladende Bewegung in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

»Oh, vielleicht um Weihnachtseinkäufe zu erledigen?« Ich hüpfte auf und ab, klammerte mich an diese Ersatzidee. Eigentlich schob ich die Erledigungen aus Mangel an Ideen jedes Jahr vor mir her, gemeinsam würden sie mehr Spaß machen.

»Bist du verrückt? Das machen wir online. Gerne von meinem Bett aus.« Er verzog erst das Gesicht, zog mich dann mit einem süffisanten Lächeln an sich. Seine Stirn lag warm an meiner und die Luft stob in sichtbaren Wölkchen zwischen uns her. Er küsste mich zum Abschied. Kurz, kalt, sodass ich sein Gesicht umfasste, um das Ende des Abends etwas hinauszuzögern. Inzwischen schmeckte Jesper nach Glühwein und tausend Versprechungen, die er gar nicht gemacht hatte.

Mit einem unbeholfenen Winken ging er mehrere Schritte rückwärts und ließ mich stehen. Ich blickte ihm solange nach, bis er links abbog. Ein kleines Häufchen Schnee rieselte durch das Schließen eines Fensters von einem Überdach zu Boden und mein Blick blieb daran hängen. Warum wollte er jetzt weg? Wir waren uns immer einig gewesen, dass das Entdecken des Körpers des anderen mit das Spannendste an der Datingphase war, weil dies eine angehende Beziehung stärken oder brechen konnte. Und jetzt lehnte er einfach so ab? Dabei kribbelte es in meinem Bauch immer noch, wenn ich an das letzte Mal zurückdachte …

Leise schnaubend stiefelte ich zu mir nach Hause und kaufte auf dem Weg selbstgemachte Kekse von zwei Kindern am Straßenrand. Ihr Vater beobachtete sie mit Abstand und gab mir einen Daumen nach oben, als ich weiterging. Es waren Drömmar, kleine Vanillekekse mit einer ganzen Mandel in der Mitte, die mir den Heimweg versüßten.

KAPITELZWEI

Zu Hause angekommen verließ mich mit dem Zuschlagen der Eingangstür meine selige Ignoranz, und die geballte, nüchterne Wahrheit knallte auf mich ein: Ich wohnte wieder bei meinen Eltern. Das Treppenhaus roch nach Tannennadeln und einem bestimmten, spritzig riechenden Putzmittel, das ich auf ewig mit diesem Gebäude assoziieren würde.

Ach, verdammt. Hätte Jesper mich doch zu sich eingeladen!

Einige Jahre hatte ich eigenständig gewohnt, erst im Studentenwohnheim, dann in einer WG. Nach der Kündigung meiner ersten Arbeitsstelle nach dem Studium hatte es keinen Sinn mehr ergeben, weiterhin in Uppsala, eine Stunde nördlich von Stockholm, zu wohnen.

Also zog ich zurück zu den Eltern, statt Karriere zu machen. Wie oberpeinlich. Mamma und Pappa hatten nichts gesagt, aber wir zogen alle insgeheim die Konklusion, dass ich darin gescheitert war, wie meine Mutter Steuerberaterin zu werden. Zum Glück hatte ich mich nach dem Studium nicht direkt auf die Stelle bei ihr in der Firma beworben, sondern hatte etwas anderes gefunden. Sonst müsste sie jetzt garantiert Kommentare der Belegschaft ertragen. Ich hatte in den offenen Stellenanzeigen selbst gesehen, dass ich hoffnungslos unterqualifiziert war. Deswegen durchforstete ich sie nicht mehr.

Meine Stiefel klirrten laut auf den Fliesen und ich riss mir die Mütze vom Kopf. Mein Haar verteilte sich wild um meinen Kopf und ein Blick in den großen Flurspiegel neben den Briefkästen bestätigte erneut, warum ich sie heute Morgen nicht frisiert hatte. Ich hatte von Natur aus blondes Haar, das ich weiß färbte und jetzt einem eingeschneiten Vogelnest ähnelte. Wunderhübsch.

Ich ließ den Aufzug wortwörtlich links liegen und nahm die Treppen. Sofern ich keine schweren Einkäufe dabeihatte, tat ich dies immer und angesichts der Tatsache, dass im dritten Stock direkt über uns ein Seniorenpärchen wohnte, das sich ebenfalls am Treppengeländer entlang hangelte, würde ich daran nichts ändern. Meine Schritte waren fast so langsam wie ihre, genervt vom abrupten Ende des Abends, vielleicht auch, weil Henrik und Veera so ein bittersüßer Vergleich gewesen waren. Wenn meine Karriere im Eimer war, sollte wenigstens meine Beziehung nicht den Bach runtergehen. Ich schüttelte den Kopf und pfriemelte einen weiteren Drömmar-Keks aus der Kekstüte.

Die große Eingangstür wurde aufgerissen und ich drehte den Kopf, hoffte auf die nette Familie aus dem ersten Stock oder das junge Webdesign-Unternehmerpärchen uns gegenüber, doch es war natürlich jemand anderes.

Milo.

Eine Schrecksekunde lang starrte ich auf seinen vom Wind zerzausten dunkelblonden Man Bun, auf den riesigen Stapel Bücher in seinem Arm, die langen, unbehandschuhten Finger, die sich darum wanden. Dann wirbelte ich herum und stieg so leise wie möglich, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinauf. Milo wohnte im Stockwerk unter mir mit zwei Kumpeln in einer übelst lauten WG, und das seit Ewigkeiten: Sie hatten sowohl meinen Auszug zum Studium nach Uppsala als auch meinen Einzug dank meiner Kündigung diesen Sommer mitbekommen.

Ich hockte mich in meinem Stockwerk, an das Geländer gedrückt, zu Boden und betrachtete Milo, wie er die Treppenstufen nahm und vor seiner Haustür, mit dem Schlüssel kämpfend, vermutlich das Bedürfnis nach einer dritten Hand hegte. Wer ging heutzutage noch in reale Buchläden? Führten die überhaupt, was man suchte? Irgendwie ein amüsantes oldschool Hobby, das jedoch nicht über Milos unverschämten Charakter hinwegtäuschen konnte – immer pampig, unfreundlich und am besten hielt man Abstand von ihm. Ich wusste nicht einmal, warum er mich immer so herablassend ansah, und in diesem Sinne bevorzugte ich es, keine Gespräche mit ihm zu riskieren. Von Weitem sah er gut aus, hatte sanfte Gesichtszüge, umrahmt von einem kurzen Bart, eine gestählte Muskulatur – das hatte ich im Sommer bereits bewun… gesehen – aber innerlich? Gewöhnungsbedürftig. Ich schüttelte den Kopf, unterdrückte den Drang, nach einem weiteren Keks in die knisternde Tüte zu greifen.

Mann! Wie lange brauchte er eigentlich? Drinnen spielte laute Musik, sodass seine Mitbewohnenden ihm vermutlich nicht helfen würden.

Meine Zehen brannten, weil ich auf ihnen hockte, und ich war kurz davor, meine Balance zu verlieren.

Endlich trat Milo in seine beleuchtete Wohnung und ich richtete mich auf, streckte dabei den Rücken durch, bis er knackte. Ich hätte keine Ausrede gehabt, wenn er mein Beobachten bemerkt hätte. Mir über die Nase rubbelnd, öffnete ich die Haustür zu meinen Eltern. Sie hatten ihre Lieblingsserie auf Netflix am Fernseher eingeschaltet und ich wusste, dass sie eingekuschelt auf dem Sofa lagen, bevor ich meine Outdoorkleidung ausgezogen hatte.

Ich schüttete die restlichen Kekse in die Schale auf dem Esstisch. Daneben stand der Adventskranz mit zwei brennenden Kerzen. Zusammen mit den Kandelabern – den von Opa geerbten Armleuchtern – auf der Fensterbank, dem Licht des Lesesessels, den rot- und beigefarbenen Papiersternen sowie dem Schein der Dunstabzugshaube tauchte er die Wohnung in flackernde Gemütlichkeit. Meine Eltern dekorierten die ganze Wohnung, was sogar das Badezimmer mit einbezog, wo nun tannengrüne Handtücher hingen und eine große, mit Lichterketten und Baumkugeln gefüllte Vase neben der Badewanne stand.

Einen Weihnachtsbaum hatten sie ebenfalls gemeinsam ausgesucht, den wir morgen schmücken würden.

»Hej, ihr«, rief ich vom Essbereich ins Wohnzimmer, worauf beide den Kopf drehten. Mamma wirkte verschlafen, wofür Pappa sie später aufziehen würde.

»Hej, Schatz, wir haben für dich Fisch und Backkartoffeln übrig gelassen«, informierte mich mein Vater und deutete in die Küche, falls ich meine Portion Abendessen noch nicht entdeckt haben sollte. Da ich vierundzwanzig Jahre alt war, aß ich nicht immer mit. Dass für mich mitgekocht wurde, erschuf dennoch den Eindruck, als wäre ich zehn Jahre jünger. Verdammte Kündigung. War ich so schlecht gewesen?

»Ja, habe ich gesehen«, antwortete ich mit kratziger Stimme und strich nervös über meinen eng anliegenden Pullover. Ich wich den Blicken meiner Eltern aus und stellte ich mich hinter die Couch, um den flimmernden Bildschirm als Ausrede zu haben. Ich liebte meine Eltern, nur … was dachten sie wirklich von ihrer einzigen Tochter, die ihr Leben nicht auf die Kette bekam?

»Wie war dein Abend?« Meine Mutter löste sich aus der Umarmung meines Vaters und wischte sich ihr langes, glattes Haar aus dem Gesicht. Hatten eigentlich alle heute Abend jemanden zum Knuddeln außer mir?

»War schön. Viel Essen, beste Gesellschaft, nur zwischendurch stand ich im Rauch von Bratwürsten.«

»Hast du versucht, den herrlichen Geruch deiner Arbeitsstelle zu übertünchen?« Pappa lachte, ohne den Blick vom Fernseher zu heben, und schob sich ein Stück Nussschokolade in den Mund. Davon verputzte er jeden Abend eine halbe Tafel.

»Unterbewusst vielleicht. Was habt ihr gemacht?«

Ich realisierte, dass ich noch keine Sekunde der Serie wahrgenommen hatte, und lehnte mich gegen die Sofakante.

»Wir waren früh zu Hause, haben zusammen gekocht und ein bisschen für Freitag überlegt. Das Übliche. Bist du für das Fredagsmys hier?«, erkundigte sich meine Mutter mit übertrieben beiläufigem Tonfall.

Mein Magen grummelte, als ob ich Weihnachtsmarktessen ebenfalls nicht mehr vertrug, dabei hatte ich sonst einen starken Magen. Den halben Winter verbrachte ich auf verschiedenen Märkten und jetzt? Ich schob den Gedanken fort, dass es an etwas anderem lag, und dachte über Mammas Frage nach.

»Ich habe nichts vor. Kann sein, dass ich mich bei euch einklinke.«

Meine Mutter kniff die Augen zusammen und glättete ihre Stirnfalten, ehe sie fortfuhr. »Dann plane ich dich mit ein. Die Mädels von Design Divas gegenüber haben uns auf ein paar Tacos eingeladen und dieses neue Gesellschaftsspiel gekauft, das alle Preise gewonnen hat.«

Ich schmunzelte. In nur einem Satz hatte Mamma gefühlt alle schwedischen Stereotype verbraten: Taco-Freitag, Fredagsmys aka gemütliche Freitage und Gesellschaftsspiele. Laut einer Studie verbrachten achtundsiebzig Prozent von uns ihren Freitag auf die gleiche Art, wohingegen wir uns fragten, was der Rest der Welt anderes machte. Vor allem im Winter.

»Ich störe wirklich nicht?«, hakte ich nach und hatte das Gefühl, dass Mamma hoffte, ich hätte etwas anderes vor.

»Nein, aber fühle dich nicht verpflichtet, in Ordnung?« Sie streckte die Hand nach mir aus, rieb liebevoll über meinen Unterarm. »Habe ich eben neue Kekse in unserer heiligen Schale gehört?«

»Oh, definitiv! Augen zu, ich gebe dir einen.«

Meine Mutter tat wie geheißen und hielt gleichzeitig die flachen Hände in einer stillen Aufforderung vor den Körper, ihr die gesamte Schale zu geben.

»Achtung.« Vorsichtig schob ich ihr einen der Drömmar-Kekse in den Mund und platzierte die Schale auf ihren Handflächen.

Sie kaute geflissentlich, öffnete die Augen, ohne den Blick zu senken. »Sehr, sehr leckere Drömmar. Selbst gemacht, definitiv keine Backmischung. Kannst du öfter mitbringen.«

Ich war bereits auf dem Weg in mein Zimmer – lies: Kinderzimmer, dessen Teenie-Ära ich im Sommer hatte beseitigen müssen, um mich nicht noch verlorener zu fühlen,– und lachte auf. »Ich werde es versuchen. Teile sie dir vorsichtshalber etwas ein.«

Verständnislos drehten sich meine Eltern zu mir und schüttelten den Kopf. »Was sind wir? Etwa verantwortungsbewusst?«

Mein Lächeln verschwand, als ich mich auf mein Bett fallen ließ. Selbst das Waschmittel, nun nicht mehr selbst gekauft, machte meinen Missstand deutlich. Ich rollte auf den Rücken und starrte an die Decke. Es war dunkel im Zimmer, nur der hölzerne Kerzenständer in meinem Fenster leuchtete und warf lange Schatten in Form einer Winterlandschaft an die Wände.

Meine Eltern waren toll und jung geblieben. Dass ich so schnell einen Übergangsjob gefunden hatte, war prima und jeder Abend mit Jesper vertrieb temporär meine Zweifel. Trotzdem. Etwas fehlte. Meine Richtung, etwas, wofür ich aufstehen wollte. Im Japanischen nannten sie es Ikigai, etwas, wofür es sich zu leben lohnte. Ein Wort, das ich immer schön gefunden hatte und wofür ich gerne eines im Schwedischen hätte. Aber jetzt? Durch die Kündigung hatte ich mein Ikigai verloren, und jeder Abend, an dem die Weihnachtslichter um mich herum flackerten, machte mir deutlich, dass ich nicht wusste, wohin mit mir. Und das, während mir alle anderen bewiesen, dass sie sehr wohl eine Ahnung davon hatten: Henrik und Veera, die zusammen wohnten und Weihnachten feierten, Stinkstiefel Milo, der sich mit Büchern bis zum Frühling eingedeckt hatte, und meine Eltern, die so in ihrer Bubble lebten, dass man nur neidisch werden konnte, wenn man nicht selbst schon glücklich war.

Ich rieb mir die Augen und die juckende Kopfhaut. Ab Neujahr würde sich alles finden. Der Stellenmarkt würde boomen und ich erneut in die Buchhaltung einsteigen. Für die Lücke im Lebenslauf fand ich noch eine plausible Erklärung.

KAPITELDREI

Am nächsten Morgen rappelte ich mich als Letzte von allen aus dem Bett, was meinem neuen Job zu verdanken war. Meine Eltern saßen in Büros und nutzten ihre Gleitzeit, um früh anzufangen und Schluss zu machen, wohingegen ich mich an geregelte Öffnungszeiten halten musste. Zum Ausschlafen verpflichtet. Trotzdem fühlte es sich wegen der Dunkelheit draußen nicht ganz so an. Vor acht Uhr sollte man nicht einmal an Sonnenlicht denken. Ich warf einen Blick nach draußen, wo Schneeregen leise gegen die Fensterscheibe klopfte und die Sicht zum Himmel versperrte. Hoffentlich lichtete sich das noch. Der 13. Dezember war in Schweden symbolisch der Tag mit dem frühesten Sonnenuntergang. Mehrere Tage kloppten sich um das Tageslicht, aber für das Luciafest hatte man sich auf diesen Tag geeinigt. Ein Fest gegen die Dunkelheit, ein Fest, das bei diesem Schmuddelwetter stattfinden musste. Immerhin waren meine Zeiten als heilige Lucia vorbei, zuschauen wollte ich trotzdem. Am besten irgendwo überdacht.

Ich schwang mich unter die Dusche, schlüpfte in gemütliche Kleidung, frühstückte Müsli mit Joghurt, Mandarinen und Blaubeeren aus dem Gefrierfach und zog meine Stiefel vom Vortag an. Sie hatten leichte Salzspuren an den Sohlen, doch auf der Arbeit würde dies niemand sehen. Auf der Anrichte am Eingang lag eine neue Weihnachtskarte mit einer filigranen Skizze und der Aufschrift »God Jul«. Sie war von meinem Onkel Magnus, der uns auslachte, wie viel gemütlicher sein Winter in Kiruna, in Lappland, war, wo die Welt gefühlt stillstand. Er hatte rund zehn verschiedene Smileys auf die Karte gezeichnet, die Grinsen um Grinsen meine Laune verschlechterten. Mein Onkel war etwas verrückt und dementsprechend glücklich. Er hatte prophezeit, dass der Buchhaltungsjob nichts für mich sein würde, und jede Erinnerung an ihn, rieb es mir unter die Nase. Hoffentlich schneite er in Kiruna ein, sodass kein Flugzeug ihn für Weihnachten herfliegen konnte.

Ich pfefferte die Karte zurück auf die Kommode, wo sie zwischen Holz und Wand rutschte. Na prima. Mit einem Blick auf die Uhr auf meinem Handy ruckte ich das Möbelstück vor, zog die leicht zerknickte Karte hervor und stellte alles zurück an seinen Platz.

Etwas rabiater als nötig riss ich die Haustür auf und befreite mich vom Apartment meiner Eltern.

Ein leises Grollen wischte den Unmut sofort davon und ich linste über das Treppengeländer. Der kleine Terriermischling der Gustafssons saß auf deren Fußmatte und jammerte, um hineingelassen zu werden. Er schaffte es immer in den Hausflur und steckte dann fest, weil er vergaß, dass er über das Balkonfenster mit Katzenklappe entwischt war und ihn niemand auf dieser Seite erwartete.

»Jovi!«, rief ich und lenkte die Aufmerksamkeit des Hundes auf mich. Er reckte sofort den Hals und hob die Schnauze an. Sein Maul stand offen, was wie ein Lächeln aussah, aber vermutlich war er von dem Kratzen an der Tür einfach nur aus der Puste. Dabei hatte er sogar einen Teil des Adventskranzes an der Tür erwischt, der jetzt am Boden lag.

Ich flitzte zu Jovi, der seinen Namen einer Rockband der achtziger Jahre verdankte, und nahm immer zwei Stufen auf einmal hinab. In der WG direkt am Treppenabsatz ertönte ein gedämpftes, aber gerufenes »Bis heute Abend, Lucia wartet nicht«. Die Tür quietschte, doch die konnten mich mal. Jovi war mein Highlight des Tages, gefühlt jeden Morgen aufs Neue, und blickte mich mit so erwartungsvollen Augen an, dass sich der Rest der Welt hinten anstellen konnte.

Falsch gedacht.

Mit einer Fußspitze noch auf der vorletzten Treppenstufe, knallte ich in einen Nachbarn, der schneller als gedacht aus seiner Wohnung preschte. Die Tür schmetterte ins Schloss, wackelte dabei geräuschvoll in den Verankerungen.

»Autsch, fan!«, rief mein Nachbar und ruderte mit den Armen, während ich auf ihn krachte.

Es gab nichts, was ich noch tun konnte. Mir fehlte die Balance. Mich an ihn klammernd, stürzten wir zu Boden, gehüllt in eine himmlische Wolke eines holzig-würzigen Parfums, das bereits verriet, dass es mich nicht schlechter hätte treffen können. Na gut, bei den Senioren vielleicht, so prinzipiell.

Meine Knie krachten auf den Boden, mein Kopf flog hinterher, direkt gegen seinen.

Wir stöhnten synchron auf, hielten uns die Stirn. Mit einem wahnsinnigen Pochen rollte ich mich von meinem Opfer ab und auf den Rücken. Mein rechter Fuß lag noch immer halb auf der untersten Treppenstufe. Sternchen tanzten vor meinen Augen und ich schloss sie für einen Moment. Es war so glitzrig-weiß vor meinem inneren Sichtfeld, dass ich mir kurz Sorgen machte. War das noch normal? Zum Glück verschwand das seltsame Schimmern schnell wieder.

Jovi bellte einmal laut und flitzte zu uns. Ich hielt mir noch immer den Kopf, der trotz meiner Mütze schmerzte, als hätte ich es mit einer Kokosnuss aufgenommen.

»Pass auf, wo du umherspringst«, grummelte Milo und ich drehte den Kopf zu ihm.

»Ebenfalls. Ich war auf Mission, du auf der Flucht.«

Einzelne Strähnen umschmeichelten selbst in dieser Position sein Gesicht, der Rest war unter einer dunkelblauen Mütze versteckt. Seine dunklen Brauen waren zusammengefurcht und wir lagen so nahe beieinander, dass ich seine Augenfarbe ausmachen konnte: dunkelblau mit einem braunen Ring drumherum. Von Nahem war er sogar noch attraktiver und ich vergaß, wer von uns zuletzt etwas gesagt hatte. Er? Ich? Spielte es noch eine Rolle?

Sein Blick traf den meinen, rutschte auf meine Lippen ab, sodass ich die Luft anhielt. Prompt wurde die Sicht auf ihn von zwei Pfoten und einem gesprenkelten Bauch unterbrochen.

»Alter, Jovi. Mir geht’s gut«, zischte Milo und schirmte sein Gesicht mit den Händen ab. Das Schleckgeräusch verriet mir, dass Jovi auf seine Art versuchte zu helfen – oder über die Wendung der Ereignisse glücklich war. Er begann an etwas zu knuspern und ich rutschte vorsichtshalber zurück, bevor ich Jovis nächstes Leckerli wurde.

Milo lächelte Jovi an, der irgendetwas fraß, bis sein Blick auf mich fiel und sich der Zug um sein Kinn verhärtete. Sein Bart war frisch gestutzt, hatte trotzdem etwas Wildes und hob den Schwung seiner Lippen hervor.

»Ist was?«, fragte er barsch.

Ups. Ich sag’s immer wieder: Schöner Mann, aber was sich hinter seinen schimmernden Iriden verbirgt, kann man vernachlässigen.

»Nichts, du …« Ich brach den Satz ab. Beleidigungen halfen nicht gegen die Schamröte in meinen Wangen. Was ließ ich mich auch beim Starren erwischen? Mein Magen flatterte unangenehm und ich zog mich mithilfe des Treppengeländers hoch, um die Situation zu vergessen, oder eher, wie heftig mein Körper auf ihn reagierte: Herumflattern, ein Ziehen im Unterleib, der Verlust jeglicher kohärenter Gedanken. Wie peinlich.

Milo umfasste Jovi am Bauch und schwang sich mit ihm zusammen in eine sitzende Position. Die beiden führten eine Unterhaltung, die zu leise zum Zuhören war, wodurch ich mich dezent überflüssig fühlte. Ich brachte die Schleife in Ordnung, die Jovi vom Adventskranz gezogen hatte, und steckte sie wieder in das Gestrüpp. Genauso schön wie vorher. Milo rümpfte dabei die Nase, als hätte der Kranz ihm persönlich etwas getan.

Jovi sprintete zwischen meine Beine, drehte herum und blickte erwartungsvoll zu mir hoch, als wäre ich dabei, seine Wohnung zu betreten.

»Für einen Terrier bist du überraschend unpfiffig«, erzählte ich ihm und klingelte an der Tür. Jovi gab ein Schnauben von sich, als wollte er die Behauptung »Terrier« mit den Tierarten ergänzen, die er noch in sich trug. Unsinn, er mochte einfach meine Aufmerksamkeit.

Schritte hinter der Tür brachten das Parkett zum Knarren und wenig später wurde die Tür aufgerissen. Jovi flitzte durch das neue Paar Beine hindurch, wurde drinnen von einem kreischenden Kind empfangen. Der junge Vater der Familie blickte uns beide an, da Milo inzwischen direkt hinter mir stand, und hob die Mundwinkel. »Ist er schon wieder abgehauen? Ich nagele die Klappe dicht. Dann kann er nicht mehr mit dem Nachbarshund Starrwettbewerbe ausführen. Danke fürs Klingeln.«

Milo schnaubte so leise, dass nur ich es hörte. »Vielleicht sollten wir ihm eine Klingel auf Schnauzhöhe zu Weihnachten schenken.«

»Das wär’s! Aber wetten, er nervt uns dann damit?«

Wir verfielen in ein semi-angespanntes Lachen, das vor allem der pochenden Beule an meiner Stirn zu verschulden war, und unser Nachbar schloss die Tür wieder. Plötzlich war Milos Atmung zu laut und mir wieder klar, warum ich ihn mied. Er schob das Kinn vor und rollte auf den Hacken leicht zurück.

Mit einem leichten Kopfschütteln, als würde er mich missbilligen, drehte er herum und ging, nun langsamer, die Treppe hinab. Ich hielt mit ihm Schritt, bevor ich noch zu spät zur Arbeit kam. Wir sagten nichts mehr, weil es nichts zu bereden gab. Dafür hüllte mich sein Parfum umso mehr ein, als wollte es die Stille kompensieren, oder ein Band schaffen, wo keines hingehörte. Ob Milo mein Parfum wohl ebenfalls wahrnahm? Mich hatte es schon immer interessiert, wie ich auf Fremde wirkte. Nicht wegen deren Einschätzung, sondern um ein Gefühl dafür zu bekommen, was ich von mir selbst denken würde: niedliche Frisur, lange Wimpern in leicht eingesunkenen Augen, hohe Wangenknochen, aber der mattgraue Nagellack müsste mal nachlackiert werden? Das war mein Eindruck, hoffentlich sahen andere mehr als die optische Barriere.

Unsere Schritte hallten laut und asynchron im Flur und gaben mir das Gefühl, dass wir beide die Eingangstür fixierten, um so schnell wie möglich aus unserem versehentlich erschaffenen Vakuum zu flüchten, eines, in dem wir etwas zu bereden hatten, vielleicht über Weihnachten oder unsere liebsten Hobbys, wodurch ich umso mehr dieses unsichtbare Nichts greifen und kaputt machen wollte.

Milo öffnete die Tür und hielt sie mir sogar auf. Fast schon grimmig starrte er mich an, was seiner Schönheit keinen Abbruch tat. Ob ich ihm sagen konnte, dass sein mürrischer Gesichtsausdruck einen gegenteiligen Effekt hatte? Er runzelte die Stirn, als lese er meine Gedanken.

»Danke«, grummelte ich und senkte den Kopf zwischen meine Schultern, weil ich erneut gestarrt hatte.

Es war noch dunkel und der Schneefall leuchtete unter den Straßenlaternen. Einige feuchte Flocken trafen auf mein Gesicht und ich hielt auf dem oberen Treppenabsatz der drei Eingangsstufen inne.

»So ein Scheißwetter«, fluchte ich, obwohl ich vermutlich die Einzige mit dieser Meinung in diesem Land war. »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung«, war das Motto im Norden Europas. Trotzdem: Es war einfach zu matschig!

»Ist doch perfekt. Leichter Schneeregen, angenehme Luft, ergo: gemütliches Winterambiente, bei dem man alles draußen machen kann.«

»Mein Onkel in Kiruna meint immer, dass seine minus zwanzig Grad weniger unangenehm sind als unsere Temperaturen, weil die Luftfeuchtigkeit hier zum Kälteempfinden beiträgt.« Auch wenn es sich während eines Urlaubs bei ihm ganz anders angefühlt hatte. Bei Nulltemperaturen konnte ich schnell zu einem Auto flitzen oder den Papiermüll an den Tonnen kurz auseinanderreißen. Bei minus zwanzig Grad platzte mein Nagellack ab und meine Haut machte Anstalten, das Gleiche zu tun.

»Lässt du dir auch einreden, dass wir mieses Wetter haben? Sieh dich doch um!« Er riss die Hände in die Luft und hüpfte ganz ohne Vorsicht die Treppenstufen hinab. So als wäre es kein Balanceakt, sich nicht volle Möhre hinzulegen. Angesichts seiner Beinmuskulatur traute ich ihm eine gewisse Koordination eigentlich zu. Welchen Sport er wohl … nein! Irrelevant.

»Dann genieß den Schneeregen, ich will zur Arbeit.«

Das Tor hielt er mir ebenfalls auf, wo wir uns ohne ein weiteres Wort trennten. Ich zog die Mütze tiefer in den Nacken, damit mich dort keine Tropfen erschreckten, weil mein Haar zu kurz war, und marschierte los.

Kein Wunder, dass ich den Weg zur Arbeit immer so genoss. Er war eine Art Zwischenmoment, weder eine Rückkehr in die Kindheit noch gefangen in einem komischen Jetzt. Einfach mein Moment. Jeden Tag wich ich eine Straße ab, um etwas Ablenkung zu haben und mein Ding zu machen. Diesen Weg konnte mir niemand nehmen.

Zwei Stunden später schielte ich bereits zur Uhr und hoffte auf den Feierabend. Ich roch nach Zucker und künstlichen Aromen, die Luft war schwitzig, weil alle Kleidung trugen, deren Feuchtigkeit sich mit der Wärme im Sockerdröm vermischte, und der Strom an Besuchern wollte nicht abklingen. War auch Sinn der Sache.

»Sind die Zuckerstangen fast fertig?« Meine Chefin Agnes beugte sich über meine Schulter, wobei ihr langer Ohrring gegen mich schlenkerte. Sie war bereits neunundzwanzig und betonte manchmal, sich genauso alt zu fühlen wie ich und mit Mitte zwanzig aufgehört zu haben zu altern.

»Ja, das sind hier die letzten. Wieso?« Ich drehte den Kopf zu ihr, schaute direkt in ihre dunkelbraunen Augen, die sie heute mit einem lilafarbenem Lidstrich betonte.

»Ich habe die Zuckermasse für den Weihnachtsmann aufgekocht, aber allein traue ich mich nicht an den ran.«

Ungläubig riss ich den Mund auf und drückte eine Delle in die neuste Zuckerstange, die ich sofort ausrollte, um sie zu glätten. »Und da fragst du ausgerechnet mich? Ich kann nichts, außer diese Stangen hier.« Ich wedelte die lauwarme Zuckerstange vor Agnes’ Gesicht, worauf sie den Mund zu einem Lächeln verzog und das Piercing zwischen ihren Schneidezähnen aufblitzte. Eigentlich sollte sie mich rügen. Das Kind auf der anderen Seite der Glasscheibe machte garantiert eine schockierte Fratze.

»Dann zeige ich es dir jetzt.« Sie drückte ihren Ellenbogen kurz in meine Seite und ging wieder zu dem großen Kochtopf.

Wir arbeiteten in einer kleinen Bonbonmanufaktur mitten im Herzen Stockholms im Geschäftsviertel Norrmalm. Im Gegensatz zu anderen Süßigkeitengeschäften bestachen wir nicht durch »lösgodis«, wo man sich selbst Tüten mit gemischten Süßwaren zusammenstellte und nach Gewicht bezahlte, sondern zogen Besucher an, indem wir unsere Ware live herstellten. Harte Bonbons waren unser Herzstück, geformt zu Zuckerstangen, in geometrischen Formen, mit Lakritz, zu Schleifen gebogen und am schwierigsten herzustellen: Bonbons mit Motiv im Inneren. Die Motive entstanden, indem man zunächst wie mit Knete hantierend lange Zylinder und Dreiecke formte. Diese langen, eckigen oder runden Zuckerstäbe drückte man dann aneinander und wenn ein Motiv fertig war, zog man es in die Länge. Dadurch wurde es winzig und konnte in Scheiben gehackt werden. Einfach magisch. Ich arbeitete seit dem Sommer hier und verstand immer noch nicht, wie diese Motive entstanden. Höchstens Buchstaben formte ich eigenständig, aber ohne Agnes’ Hilfe wurden auch diese schief.

Besonders die Weihnachtszeit bedeutete Stress. Bereits um zehn Uhr morgens brauchte die Welt ihren Zuckerschock und riss die Plastikverpackungen der Zuckerstangen auf, um in die geringelte Form zu beißen oder daran zu lutschen.

Wir hatten Sichtfenster gegenüber der Werkbank aufgebaut, durch die wir jede Sekunde beobachtet wurden. Und das, während man das Bonbonformen noch lernte? Schwierig hoch zehn.

Ich formte die letzte Zuckerstange und legte sie zu den anderen, wo sie abkühlen und damit aushärten konnte. Heute waren wir zu dritt. Samu flitzte durch den Laden, um die Vorräte aufzufüllen und zweifellos auch, um die Weihnachtsmusik etwas lauter zu drehen. Die ersten Tage im Advent freute ich mich über das saisonale Radioprogramm, doch jetzt war ich kurz davor, mir Marshmallowmäuse in die Ohren zu stecken, um Rockin’ Around The Christmas Tree nicht mehr zu hören.

Nach einem Schluck Wasser stellte ich mich neben Agnes, die vor der erwärmten Arbeitsfläche stand. Sie hatte die kochend heiße, nach Pfefferminze duftende Zuckermasse auf die Oberfläche gegossen und hinderte sie durch Metallbalken daran, vom Tisch zu fließen. Mit Spachteln rührte sie Farbe in die Zuckermasse, die durch den Temperaturunterschied laut zischte.

Agnes deutete auf eine Skizze des Endergebnisses, die sie nur für meine fehlende Vorstellungskraft angefertigt hatte, und reichte mir die schwarze Farbe. »Guck, hier sind die Elemente, die wir in Schwarz formen. Schätze einfach mal ein, wie viel du einfärben willst.«

Keine Ahnung. Ich gewann da einfach kein Gefühl für. Nicht nur war ich zu unfähig für die Buchhaltung, obwohl ich das Zeug studiert hatte, es hatte sich herausgestellt, dass ich motorisch genauso unbegabt war. Dabei hätte man, wenn man die Hälfte seiner Kindheit auf Sportfeldern, im Wasser oder an Kletterwänden verbracht hatte, etwas anderes vermuten können.

Ich gab einen kleinen Klecks Farbe auf die gelblich-durchsichtige Zuckermasse und rührte ihn mit einem Spachtel ein.

»Wow«, rief ein Kind im Grundschulalter bei dem sprudelnden Zischen, wurde jedoch von einem Tobsuchtsanfall hinter sich unterbrochen.

»Ich will die große Zuckerstange!« Der Schrei ging durch Mark und Bein, sodass sogar Agnes zusammenzuckte. Ich schüttelte leicht den Kopf, was unsere Kundschaft hoffentlich nicht bemerkte. Jeden Tag dieses Gebrüll. Bonbons sollten glücklich machen und doch wurden hier täglich mehrere Diskussionen zwischen Kindern und Erziehungsberechtigten geführt.

»Die Große passt nicht in deine Hand. Nimm die Schöne hier«, empfahl die junge Frau sachlich, wofür ihr Kleines nicht aufnahmebereit war.

Anges seufzte. Geübt entfernte sie die Metallstangen und schnitt die flüssige Zuckermasse in vier Teile: rot, schwarz, weiß und gelblich-durchsichtig. Die Oberfläche des Zuckers war bereits abgekühlt und wirkte daher gehärtet, aber die Temperaturen darunter waren noch nicht homogen. Darunter flossen sie auseinander. Ich schnappte mir die schwarze Masse mitsamt des großzügigen, ungefärbten gelblichen Zuckerrandes und knetete los, um Farbe und Temperatur gleichmäßig zu verteilen. Das war notwendig, um mit dem Zucker arbeiten zu können. Die Metallplatte war erhitzt und je nach Arbeitsschritt passte Agnes die Temperatur an. Wenn die Platte zu heiß war, zerrann die Masse zu einem platten Etwas, war sie zu kalt, verhärtete der Zucker, bevor wir ein Motiv hatten.

»Ursäkta, kommen Sie doch kurz.« Agnes winkte die Mutter mit ihrem trotzig herumfuchtelnden Kind heran. Sie hatte die große gelbliche Masse der Handlichkeit halber halbiert und knetete diese. Jetzt, da sie die Aufmerksamkeit des wütenden Kindes hatte, drückte sie Blasen in den Zucker, die dank der Hitze größer und größer wurden. Dann zog Agnes an zwei Ecken der Masse, formte eine Art Spinnennetz – und zerschlug es. Ein Regen aus Zuckerschnee rieselte herab und brachte das Kind zum Schweigen.

Wenig später kaufte die Mutter zwei kleine Zuckerstangen sowie eine Tüte Kirsch-Bonbons. Streit gelöst.

Ich knetete die zweite Hälfte der gelblichen Masse grob durch, trug sie zum großen Metallhaken an der Wand und schwang sie drumherum. Kräftig zog ich die Masse in die Länge und warf sie wieder in einem Bogen an den Anker. Ein wenig klebte an meinen hitzebeständigen Handschuhen und ließ mich fluchen. Warum passierte dies immer nur mir? Agnes oder Samu hatten keine Probleme, obwohl wir mit den gleichen Zutaten arbeiteten.

Je häufiger ich die Masse zog und kleinste Luftblasen einarbeitete, desto größer und weißer wurde sie. Man wiederholte dies mit allen Farben, wodurch sie blasser wurden, aber der Geschmack intensiver wurde. Mehr Luftblasen bedeutete, dass mehr Geschmack an die Zunge drang.

Der ursprünglich gelblich-durchsichtige Zucker wurde der Hintergrund, die weiß gefärbte Masse blieb strahlender und würde Bart, Bommel und Band der Mütze formen. Die Mütze selbst war rot und die Gesichtszüge des Weihnachtsmannes schwarz.

»Hallå, du machst das gut.« Agnes lächelte mich motiviert an, während ich schwieg. Das Zuckerziehen war unglaublich anstrengend und jeden Tag das Gleiche. Eine handwerkliche Süßigkeitenmanufaktur klang nach einer Traumarbeitsstelle, aber in Wahrheit verbarg sich hinter der zuckrigen Beschreibung Eintönigkeit. Ich entwarf keine Motive und dachte mir keine Konzepte aus. Ich bestellte nicht von neuen Kooperationsfirmen und war auch nicht diejenige, die auf Instagram in die Kamera lächelte. Ich machte einfach das, was Agnes mir auftrug, und das nicht einmal besonders fingerfertig. Während wir arbeiteten, probierte Agnes mehrmals, mich über mein anstehendes Wochenende auszufragen. Ich hatte weder Pläne, noch gab ich ihr die Möglichkeit, etwas mit mir zu unternehmen. Dabei machte sie sogar Andeutungen, Zeit zu haben.

Als wir die Zuckermassen zu langen Zylindern formten, die magischerweise die Augen des Weihnachtsmannes ergeben würden, pressten blond gelockte Zwillinge, Bruder und Schwester, ihre Nasen gegen die Sichtscheiben und beobachteten jede unbeholfene Bewegung.

»Bisschen länger noch«, murmelte Agnes, damit ich dazulernte, doch der Kommentar brannte Tränen in meine Augen. Wie konnte ich sogar zu ungeschickt sein, um Zuckerzylinder zu formen?

Form um Form machten wir weiter, drückten sie aneinander und dank Agnes nahm das Motiv Gestalt an.

»Was bastelt ihr?«, rief das Mädchen und tippte neugierig gegen die beschmierte Scheibe.

»Ein Weihnachtsmanngesicht«, erklärte ich und drehte die Öffnung des bisher geformten Zuckerzylinders in ihre Richtung. »Seht ihr? Das ist das Gesicht mit der Knubbelnase, darüber die Weihnachtsmütze und ich mache gerade den Bommel.«

»Wow, wie machst du das?«, staunte die Schwester und riss ihre Augen noch weiter auf.

Indem man seine Gedanken ausschaltet und sich durchbeißt.

»Ein bisschen Übung und dann kann man das. Ist wie mit Knete.«

»Wow«, wiederholten sie dieses Mal synchron und zogen dabei das Wort in die Länge.

Der Weihnachtsmann wurde wunderschön. Danach formten wir ein simples »X-mas« und kissenförmige Lakritzbonbons ohne Motive, wofür wir eine Bonbonpresse hatten. Wegen des Luciafestes, dessen Melodie jetzt bereits durch die Straßen hallte, gingen uns heute vor allem die Cola-Sterne aus. Wir stellten die Sterne in Groß und Klein her. Das Motiv wurde geknetet und je nach Endprodukt – Mini-Bonbon oder am Stiel – in die Länge gezogen. Wir mussten unbedingt noch neue herstellen.

Doch der Arbeitstag … Es war gerade erst drei Uhr und ich war jetzt schon erschöpft. Ich warf einen Blick nach draußen, wo es weiterhin Schnee regnete, immerhin nur noch vereinzelt. Gestresste Passanten eilten mit Regenschirmen vorbei und die Sonne hatte sich ebenfalls bereits für heute verabschiedet. Straßenlaternen und Fensterdekorationen leuchteten auf, ohne mein Herz zu erreichen.

»Agnes?« Ich trat neben sie, während sie die neuste Fuhre Lakritzbonbons mit einer Schaufel eintütete.

»Ja, liebste Tova?« Sie trug noch immer ein Lächeln auf den Lippen und ihr schwarzer Dutt saß perfekt wie heute Morgen. »Brauchst du einen meiner Energieriegel oder direkt eine kleine Fika? Willst du Gesellschaft?«

Ich verzog das Gesicht. Eine Kaffeepause konnte mich heute nicht retten.

»Vielleicht …« Meine Worte drifteten weg. Ich starrte auf die voretikettierte Bonbontüte. Das Blut rauschte in meinen Ohren und machte jeden weiteren kohärenten Gedanken unmöglich.

»Kann ich heute ausnahmsweise früher gehen? Ich arbeite morgen auch extra schnell.« Meine Stimme klang schrill in meinen Ohren. Besorgt schob Agnes die Lippen vor, musterte mich. Ihre Finger spielten mit dem bronzenen Fuchs-Anhänger ihrer Kette.

»Du bist etwas durch den Wind heute, oder?«

»Ja, keine Ahnung. Ich habe meinem Nachbarn heute Morgen eine Kopfnuss gegeben, vielleicht liegt es daran.«

Agnes lachte auf. »Ich habe mich schon gewundert, was das für eine Beule über deiner Braue ist.« Sie ließ ihren aufmerksamen Blick durch die Manufaktur gleiten. Es gab Tage, an denen wir die Kasse nicht einmal besetzten, heute hielten sieben Besucher Samu an der Kasse gefangen. Er fuhr sich durch das lange braune Haar, das er hochgesteckt hatte und nahtlos in seinen Vollbart überging. Samu lächelte unentwegt, entblößte dabei eine Reihe weißer Zähne, wie ich es nie könnte.

»Na gut, ruh dich heute aus und komm morgen fitter zurück, nicht dass du anderen noch erzählst, ich wäre eine fiese Vorgesetzte.«

»Bist du nicht. Du bist die beste.«

Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln und ich war froh, dass sie mir nicht böse war.

KAPITELVIER

Ich hatte die hervorstehende Beule an meiner Stirn gar nicht erwähnen wollen, aber als ich sie beim Verlassen der Bonbonmanufaktur berührte und sie einen stechenden Blitz durch mein Gehirn jagte, entpuppte sie sich weniger als Ausrede und mehr wie ein Attentat meines Nachbarn. Meine Gedanken und Emotionen waren wirklich etwas konfus. Immerhin hatte ich den restlichen Nachmittag frei – begleitet von Schneeregen, einem grau verhangenen Himmel und einem warmen Dunst, der in der Einkaufsstraße vom Boden aus aufzusteigen schien.

Kinder in Luciakostümen spazierten an mir vorbei und erinnerten mich an unser jährliches Fest. Ich könnte zum Luciafest am Ericsson Globe gehen, wo das größte der Welt stattfand, aber ein kleines tat es auch. Jeder Kindergarten, jede Schule, jeder Verein hatte für heute eine in weiß gekleidete Lucia auserkoren. Sie trug einen Kranz mit Kerzen auf dem Kopf – mittlerweile elektrischen statt echten –, Sternjungen trugen spitze Hüte mit draufgeklebten Sternen und die kleinsten Kinder waren meist Pfefferkuchenmänner in niedlichen Kutten. Es gab einige Kontroversen, ob Jungen die Lucia darstellen durften oder Menschen mit nicht-weißer Haut, doch bei so einem Unfug verdrehte ich nur die Augen. Es ging um die Botschaft, Lucia war badass gewesen und da durfte sich jeder mit identifizieren.

Eine Weile ließ ich mich treiben, bis ich auf das Luciafest eines Restaurants mit einer größeren Terrasse stieß. Sie wirkte ausladender, da Tische und Stühle beiseitegeschoben waren und alle Türen geöffnet standen, wodurch der Innenbereich nahtlos in den Außenbereich überging. Geschmückte Tannenzweige bedeckten die Wände wie eine Tapete und gaben dem Restaurant eine gewisse Wald-Atmosphäre. Die Deckenbeleuchtung war bewusst ausgeschaltet, um die Kerzen in den Händen der Kinder heller leuchten zu lassen. Den Bannern nach zu urteilen, gehörten die Veranstalter dieses Luciaumzugs zu einem Ruderverein und ich gesellte mich aus Neugierde dazu. Die ausgewählte Lucia stand im freigeräumten Bereich vor den Sternjungen und Pfefferkuchenkindern. Jeder von ihnen hielt eine Kerze in der Hand, die im Gegensatz zu denen auf dem Kopf echt waren, sodass die Flammen trotz der schützenden Glaswände um die Terrasse herum leicht im Wind flackerten.

---ENDE DER LESEPROBE---