Darius der Große verdient mehr - Adib Khorram - E-Book

Darius der Große verdient mehr E-Book

Adib Khorram

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Beschreibung

Darius scheint das große Los gezogen zu haben: Er ist mit seinem ersten Freund Landon zusammen, spielt in der Fußballmannschaft und hat einen Praktikumsplatz in seinem Lieblingsteeladen. Seit seiner Reise in den Iran versteht er sich auch mit seinem Vater viel besser und sein bester Freund Sohrab ist jederzeit über Skype erreichbar. Darius hat seinen Platz gefunden und sein Leben ist okay. Doch ist »okay« alles, was er vom Leben erwarten darf? Vielleicht gibt es noch mehr … Der zweite Band der Darius-der-Große-Serie macht Mut, das eigene Leben immer wieder neu zu entwerfen und sich zu fragen: Bin ich glücklich?

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Seitenzahl: 381

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ADIB KHORRAM

DARIUS DER GROSSEVERDIENT MEHR

ADIB KHORRAM

DARIUS DER GROSSEVERDIENT MEHR

LAGO

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2021

© 2021 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 bei Dial Books, einem Imprint von Penguin Young Readers Group, einer Abteilung von Penguin Random House LLC unter dem Titel Darius the Great Deserves Better. © 2020 by Adib Khorram. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Julia Mielewski

Redaktion: Matthias Teiting

Umschlaggestaltung: Manuela Amode, dem Original nachempfunden

Umschlagabbildung: Adams Carvalho

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-95761-200-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-280-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-281-5

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für meine Freunde.Dafür, dass sie mich immer motivieren weiterzumachen.

INHALT

DIE SCHÖPFUNGSGESCHICHTE

NULL KOMMA SECHS ACHT SEKUNDEN

DER GROSSE NAGUS

DER GUTE TISCH

HEISSGETRÄNKE-KAPSELEXTRAKTIONSGERÄT

DAS ERSCHÜTTERNDSTE GERÄUSCH IM UNIVERSUM

NUR EINE FLOSKEL

ÄSTHETIK DES SCHWARZEN HEMDS

DIE TAXONOMIE DES FRÜHSTÜCKS

LOLLY

KATASTROPHALER WARPKERNBRUCH

TEUTONISCHE PÜNKTLICHKEIT

EISERNE GÖTTIN DER BARMHERZIGKEIT

ZERBROCHENE MÖBEL

GESCHMOLZENE GOLDKLUMPEN

BIG RED ROBE

FRÜHSTÜCK ZUM ABENDESSEN

SPIEGELUNIVERSUM

KOTAK MIKHAY

SPONGEBOB SCHWAMMKOPF

FAMILIENANGELEGENHEITEN

FURCHTBAR NULLACHTFÜNFZEHN

STRUKTURELLE INTEGRITÄT

TEUFLISCHES BOHNEN-KONGLOMERAT

DIE BALLSPORT-VERSCHWÖRUNG

MÜDE ALTE QUEERS

PLASMALEITUNG

VERTIKAL BEGABTE MENSCHEN

ÜBER ZEIT UND RAUM HINWEG

EIN ÜBERANGEBOT AN ESSEN

DER INBEGRIFF DER PERSISCHEN PROFESSION

MIKRO-ILLUSIONEN

DER BESUCH

ELEKTROMAGNETISCHE STRAHLUNG

ZWEITE AUFGÜSSE

IM GOLDENEN LICHT

VOLLES PROGRAMM PERSISCHE MUTTER

DIE VORHAUTFIEDEL

ANGEMESSEN MELANCHOLISCH

TAG DER SEELISCHEN GESUNDHEIT

MITTELFELDSTRATEGIE

EINE STÜTZE

PENILE DEMÜTIGUNGEN

DER NULLMERIDIAN

EINE NEUE ZUKUNFT

GRAVITONENDICHTE

ALLES AN DIR

ANMERKUNG DES AUTORS

WEBSEITEN

DANKSAGUNG

DIE SCHÖPFUNGSGESCHICHTE

Der erste Schnitt ist immer der schwierigste.

»Bist du bereit?«

Ich sah Mikaela im Spiegel in die Augen.

»Jep.«

Die Haarschneidemaschine erwachte summend zum Leben und brummte an meinem Ohr, während sie die Zähne durch die Haare an meinem Hinterkopf schob. Die Locken fielen zu Boden und kitzelten mich im Nacken.

Es war Tradition beim Chapel Hill Highschool Männerfußballteam (Go Chargers!), sich vor dem ersten Spiel der Saison die Haare schneiden zu lassen. Das sollte den Gemeinschaftsgeist des Teams stärken.

Ich musste allerdings an dem Sonntag, als alle anderen ihre neuen Haarschnitte bekamen, bei Rose City Teas sein, wo ich ein Praktikum machte. Ich hatte deshalb einen separaten Termin ausgemacht.

Es war mein erster Haarschnitt seit zwei Jahren.

»Wie hoch soll ich dir den Nacken ausrasieren?«, fragte Mikaela, als sie sich meinen Ohren näherte.

Landon hatte mir Mikaela empfohlen. Sie war wunderschön mit ihrer braunen Haut, den makellosen Flechtzöpfen und dem strahlendsten Lächeln, das ich je gesehen hatte.

Ich zuckte mit den Schultern, aber ich war mir nicht sicher, ob sie das unter dem Plastikumhang sehen konnte. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Was meinst du, was am besten aussehen würde?«

Sie schaltete die Haarschneidemaschine aus und sah mich für einen Moment im Spiegel an. »Bei dir könnte man wahrscheinlich höher schneiden. Um diese schönen Locken am Oberkopf zur Geltung zu bringen.«

»Okay.«

Ich entspannte mich und ließ sie meinen Kopf hin und her drehen, während sie erst mit der Haarschneidemaschine und dann mit einer Schere arbeitete. Als sie fertig war, brachte mich Mikaela zur Haarwaschstation. Ich schätze, die war nicht für große Leute gemacht: Ich musste meinen Hintern an die vordere Kante des Sessels schieben, damit mein Kopf auf der Höhe des Waschbeckens war. Sie wusch meine Haare und massierte meine Kopfhaut (was so ziemlich das Schönste war, was ich je gefühlt hatte), entfernte all die juckenden Haare, und dann brachte sie mich zurück zum Stuhl für das Finish.

»Benutzt du Stylingprodukte?”

Ich schüttelte den Kopf.

Sie zog an einer meiner Locken – sie hatte an den oberen Haaren fast nichts gemacht, hatte sie nur etwas gestutzt – und drehte sie um ihren Finger.

»Landon hat erzählt, du bist … Inder?«

»Iraner. Zur Hälfte.«

»Sorry.« Sie ließ die Locke fallen. »Du glücklicher Junge.«

Meine Wangen erwärmten sich.

»Danke.«

Mikaela drückte etwas, das nach Kokosnuss roch, in ihre Hände und massierte es in meine Haare. Es machte sie etwas glänzender, aber sie blieben weich. Sie nahm eine letzte Locke von ganz vorn und zog sie in Richtung meiner Stirn, wo sie wie ein kleines Fragezeichen herabbaumelte.

»Fertig.«

Ich betrachtete mich im Spiegel. Statt meines üblichen unordentlichen Heiligenscheins hatte ich einen riesigen Haufen Locken auf dem Kopf, aber an den Seiten und am Hinterkopf ging das superkurze schwarze Haar direkt in meine Kopfhaut über.

Die Seiten meines Kopfes hatte ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.

Ich hatte noch nie bemerkt, wie sehr meine Ohren abstanden.

»Es sieht super aus«, sagte ich, obwohl ich etwas besorgt war wegen der Ohren. »Wirklich.«

»Ja, auf jeden Fall«, sagte Mikaela. »Dann lass uns mal deine Rechnung fertigmachen.«

Landon wartete vorn auf mich. Als er mich sah, breitete sich ein großes, leicht albernes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

»Wow.«

Ich lächelte und schaute nach unten, um den Klettverschluss meines Portemonnaies zu öffnen.

»Gefällt es dir?«

»Das tut es.«

Landons Hand berührte meine, und ich hob meinen Daumen, um sie einzufangen. Er verschränkte unsere Finger miteinander und führte mich aus der Glasschiebetür.

Es war einer dieser perfekten Herbsttage in Portland, an denen es warm genug war, dass man keinen Pulli tragen musste, aber kühl genug, dass es angenehm war, wenn man einen trug.

(Ich hatte meinen Kapuzenpulli an.)

»Ist Mikaela nicht die Beste?«

»Jep.« Ich drückte mein Ohr mit meiner linken Hand flach an den Kopf. »Mir war nicht bewusst, dass ich so riesige Ferengi-Ohren habe.«

»Deine Ohren sind süß.« Er hielt mich fest und stellte sich auf die Zehenspitzen, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. »Aber was ist ein Ferengi?«

Als Landon mich das erste Mal küsste, hatten wir Rose Citys am Abend zugesperrt und anschließend bei Northwest Dumplings gegessen, und ich war nervös, weil ich noch nie jemanden geküsst hatte. Außerdem hingen wir zu der Zeit bloß miteinander rum. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn zu küssen, weshalb ich die extrem unglückliche Entscheidung getroffen hatte, zu viele Zwiebeln zu essen.

Als Landon sich mir entgegenlehnte, dachte ich, ich hätte vielleicht etwas zwischen den Zähnen. Ich hatte niemals gedacht, jemand wie er würde jemanden wie mich küssen wollen.

Aber dann nahm er meine Hand. Und er sagte: »Hey. Kann ich dich küssen?«

Und ich war ein bisschen überrascht und erstaunt, weil ich Landon wirklich mochte, und ich wirklich gern wollte, dass er mich küsste.

Ich wollte meinen ersten Kuss mit Landon Edwards erleben.

Seine Lippen waren warm und weich, und er ließ sie einen Augenblick auf meinen liegen. Dann machte ich den Fehler zu seufzen, womit ich eine üble Zwiebelwolke in seinen Mund blies.

Er unterbrach den Kuss und kicherte.

Zuerst bekam ich Panik – ich dachte, ich hätte alles vermasselt –, aber er lächelte mich an. Er drückte meine Hand und sagte: »Das war gut. Trotz der Zwiebeln. Können wir das noch mal machen?«

Also taten wir das, und das Küssen wurde sogar noch besser, als wir begannen, unsere Zungen zu benutzen.

Mein Lieblingsmoment war, als Landon mich anschließend ansah und sagte: »Du bist schön, weißt du das?«

Niemals zuvor hatte mich jemand schön genannt.

»Du bist auch schön.«

Seitdem traf ich bessere Essensentscheidungen. Und hatte immer Minztabletten in meiner Umhängetasche.

»Beeil dich, die Straßenbahn kommt jeden Augenblick.«

Aber dann, als wir um die Ecke bogen, blieb mir fast das Herz stehen.

Chip Cusumano und Trent Bolger liefen die Straße hinunter, rempelten sich gegenseitig an und lachten über irgendetwas.

Cyprian Cusumano war der merkwürdigste Typ, den ich kannte. Früher war er irgendwie gemein zu mir gewesen, aber seit dem Ende der zehnten Klasse hatte er sich verändert und war netter geworden.

Eigentlich waren wir sogar Freunde geworden.

Ich meine, es half, dass wir beide im Herrenteam der Chapel Hill Highschool spielten (Go Chargers!). Für uns beide war es das erste Jahr im Team – Chip hatte im Herbst noch Football gespielt –, aber wir hatten es beide geschafft, einen Platz in der Schulmannschaft zu bekommen.

Trent Bolger wiederum war der fieseste Typ, den ich kannte. Er hackte seit der Grundschule auf mir herum.

Und trotzdem, aus irgendeinem merkwürdigen Grund – irgendeiner mittelalterlichen Logik, die sich jeglicher Erklärung entzog – waren Chip und Trent beste Freunde.

Landon musste bemerkt haben, wie sich meine Schultern versteiften, denn seine Schritte kamen aus dem Rhythmus. Genau in diesem Moment sah Chip von seinem Handy auf.

Er sah von mir zu Landon, dann auf unsere miteinander verwobenen Hände und dann wieder zurück zu mir.

Chip wusste, dass ich schwul war – das ganze Team wusste es, seitdem ich es ihnen bei einem unserer Teambuilding-Treffen erzählt hatte, als das Training im Sommer wieder begonnen hatte –, aber ich war ziemlich sicher, dass Trent es nicht gewusst hatte.

Genau genommen konnte ich sicher davon ausgehen, dass Trent es nicht gewusst hatte, denn als er mich und Landon sah, sah er aus, als ob plötzlich Weihnachten wäre.

»Kennst du diese Typen?«, fragte Landon.

»Jep. Aus der Schule. Ich spiele Fußball mit dem Größeren.«

Chip war über den Sommer mindestens zweieinhalb Zentimeter gewachsen. Er war jetzt fast so groß wie ich, und ich war im Sommer auf einen Meter neunzig hochgeschossen.

Ich hoffte ein bisschen, dass ich irgendwann noch eins dreiundneunzig erreichen würde.

»Hey, Darius.« Chip grinste mich an. Cyprian Cusumano war einer von diesen Typen, die immer zu grinsen schienen. Er trug schwarze Adidas-Jogginghosen – die gleichen wie ich, mit den weißen Streifen an den Seiten und an den Waden enger werdenden Hosenbeinen – und ein einfaches weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt.

»Hey, Chip.«

»Schöne Frisur.«

»Danke. Du auch.«

Chip hatte immer eine gute Frisur. Er war ein Level-acht-Influencer an der Chapel Hill Highschool: Was für einen Haarschnitt er auch trug, ungefähr die Hälfte der Jungen in unserer Klasse liefen irgendwann mit einer Variation davon herum. Da er aktuell den Standard-Fußballteam-Fade trug – am Oberkopf länger, an den Seiten ausrasiert –, war ich mir nicht sicher, was die anderen tun würden.

»Oh. Chip, das ist mein –«

Die Sache war die, dass Landon und ich noch nicht darüber gesprochen hatten, ob wir offiziell zusammen waren. Auch wenn es sich so anfühlte, als ob wir es wären.

Wie fragte man einen Typ, ob man offiziell zusammen war?

»Das ist Landon. Landon, Chip. Und das ist Trent.«

Trent hielt sich etwas im Hintergrund und spielte mit seinem Handy herum. Er trug einen purpurfarbenen Trainingspullover, auf dem in großen Buchstaben ›CHHS-Football-Schulmannschaft‹ stand – er hatte es dieses Jahr endlich ins Schulteam geschafft – und schwarzen Sportshorts.

Chip grinste immer noch, aber er musterte Landon von oben bis unten. Fast so, als würde er ihn beurteilen. »Schön, dich kennenzulernen.« Er streckte seine Faust aus.

Landon blinzelte eine Sekunde, dann stieß er Chips Faust mit seiner an.

Es war der unbehaglichste Fistbump der Schöpfungsgeschichte.

»Na gut«, quietschte ich. Ich räusperte mich. »Wir müssen zur Straßenbahn. Wir sehen uns?«

Chip gab auch mir einen Fistbump. »Jep. Wir sehen uns.«

Ich trat einen Schritt zur Seite, damit er und Trent an uns vorbeigehen konnten und verstärkte meinen Griff um Landons Hand.

»Man sieht sich, Dairy Queen«, sagte Trent.

Großartig.

NULL KOMMA SECHS ACHT SEKUNDEN

Rose City Teas lag im nordwestlichen Teil der Stadt, ein paar Haltestellen mit der Straßenbahn von Mikaelas Salon entfernt. Es war ein Backsteingebäude, das an einer Seite mit Efeu bewachsen war, mit einem kleinen Holzschild über der Tür. Vor der großen Fensterfront waren die Rollos halb heruntergelassen, um die Nachmittagssonne abzufangen. Regale mit Teedosen säumten eine Wand, und die Verkostungstheke gegenüber war brechend voll mit Nachmittagskunden.

Rose City Teas war ein wahrgewordener Traum.

Landons Dad winkte von der Tür zum Verkostungsraum, wischte seine Hände an dem Handtuch ab, das er immer über seiner Schulter trug, und kam zu uns, um uns zu begrüßen.

Er drückte Landons Schulter – er und Landon hatten sich noch nie vor mir umarmt, was ich irgendwie komisch fand –, und dann drückte er auch meine.

»Hey, Sohn. Schick siehst du aus, Darius. Wie geht’s dir?«

»Danke, Mister E. Mir geht’s gut. Und Ihnen?«

»Zwei plus, eins minus«, sagte er mit einem Zwinkern.

Elliott Edwards hatte die gleichen grauen Augen wie sein Sohn. Und das gleiche kastanienbraune Haar, auch wenn seine dicken Augenbrauen und sein gepflegter Bart eher ins Bräunliche gingen. Und ich konnte es nicht sicher sagen, aber ich nahm an, dass er unter seinem Bart die gleichen Wangenknochen hatte wie Landon.

Landon Edwards hatte Hollywood-Wangenknochen. Sie waren kantig und wunderschön, und es sah immer so aus, als wenn er leicht errötete. Nur ein winziges bisschen.

»Ich dachte, du gehst heute Abend zu Darius?«

»Das mache ich auch«, sagte Landon.

Wir hielten uns immer noch an den Händen.

Ich mochte es sehr, Landons Hand zu halten.

»Wir waren in der Nähe. Wollten nur mal vorbeischauen.«

»Also, perfektes Timing, würde ich sagen. Kommt, probiert das mal. Polli, kommst du kurz allein zurecht?«

Polli war eine der Geschäftsführerinnen bei Rose City. Sie war eine ältere weiße Dame – wahrscheinlich etwa im Alter meiner Großmütter –, die immer nur schwarz trug, abgesehen von ihren Halstüchern, die knallig bunt waren, und ihrer Brille, die aus riesigen neongelben Vierecken bestand.

Sie wirkte wie eine Person, die eine Richterin in irgend so einer Realityshow hätte sein können. Oder der ein Antiquariat gehörte, in dem sie esoterisches Wissen katalogisierte und vermittelte, während sie Espressi aus winzigen Tassen schlürfte.

Polli winkte uns zu und sprach weiter mit einem Kunden über die Vorteile von regionalem Honig.

Mister Edwards führte uns in den Verkostungsraum, einem kleinen Zimmer, das durch eine Milchglaswand mit dem Rose-City-Logo darauf vom Hauptraum abgetrennt war. Der Tisch war mit einer Reihe an Gaiwanen gedeckt, die mit feuchten, hellgrünen Blättern gefüllt waren, und davor standen Probiertassen voll mit dampfender smaragdgrüner Flüssigkeit.

»Hier.« Er reichte uns je einen Keramiklöffel. Ich ließ Landon den Vortritt, der seinen Löffel in jede Tasse tauchte, eine nach der anderen, und den Tee schlürfte. Er hatte ein kräftiges, grasiges Grün.

»Oh, wow«, sagte ich, als ich den Dritten probierte, der diese Explosion von etwas – vielleicht Fruchtigem? – im Abgang hatte.

Mister Edwards’ Augenbrauen tanzten. »Nicht wahr? Irgendwelche Vermutungen?«

»Hm.« Ich probierte Nummer vier, aber Nummer drei war definitiv am besten. »Gyokuro?«

Gyokuro war ein grüner Tee aus Japan, berühmt dafür, dass er drei Wochen lang beschattet wurde, bevor man ihn pflückte, was seinen Geschmack süßer und weicher machte.

»Nahe dran. Es ist ein Kabusecha.«

»Was ist das?«

»Er ähnelt dem Gyokuro, bekommt aber nur eine Woche Schatten.«

»Oh.«

Ich nahm noch einen weiteren Schluck von Nummer drei.

»Der ist großartig.«

Mister Edwards lächelte. »Ich dachte mir, dass du ihn mögen würdest.«

»Werden Sie ihn einkaufen?«

Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Zu teuer, als dass es sich lohnen würde.«

»Oh.«

Eines der Dinge, die ich durch mein Praktikum bei Rose City gelernt hatte, war, dass die besten Tees manchmal nicht die geeignetsten fürs Geschäft waren.

Ich schätze, dass ich das verstand.

»Möchtest du den Rest haben?« Er griff nach einer Papiertüte, die mit japanischen Schriftzeichen bedeckt war.

»Sind Sie sicher?«

»Absolut.«

»Danke!«

»Alles klar«, sagte Landon. »Wir machen uns besser auf den Weg. Du holst mich um neun ab?«

»Na klar. Viel Spaß. Trefft vernünftige Entscheidungen. Passt auf euch auf.«

»Nun werd nicht komisch.«

Mister Edwards lachte nur, als Landon mich hinausführte.

Dads Auto war weg, als ich den Code in die Garagentür eintippte.

Ich band meine schwarzen Sambas auf und stellte sie ins Schuhregal, während die Tür hinter uns ins Schloss fiel.

Landon streifte seine Schuhe ab und schob sie neben meine, dann folgte er mir ins Wohnzimmer.

»Es tut mir leid, dass es ein bisschen unordentlich ist«, sagte ich, obwohl ich am Wochenende Staub gesaugt hatte.

»Das muss es nicht.«

Ich überprüfte, ob eine Nachricht oder so am Kühlschrank hing.

»Alles okay?«

»Eigentlich sollte mein Dad zu Hause sein.«

Ich schickte ihm eine Nachricht auf sein Handy, um zu fragen, wo er war.

Landon war schon öfter vorbeigekommen, aber Mom oder Dad waren bisher immer zu Hause gewesen.

Mein Nacken kribbelte.

Ich überprüfte alle Küchentheken und auch den Tisch, aber es gab nirgendwo ein Zeichen, wohin Dad gegangen war, nur ein Stapel Geschirr in der Spüle. Sobald Landon das sah, krempelte er die Ärmel hoch und begann abzuwaschen.

»Ich kann den Abwasch machen«, sagte ich.

»Ich mache das gern.«

»Dann trockne ich ab.«

Ich stand neben Landon, nahm Teller und Schüsseln und Gläser entgegen und trocknete sie mit einem der blau-weißen Geschirrtücher ab, von denen Mom einen endlosen Vorrat zu haben schien.

Unser Geschirrspüler war im Sommer kaputtgegangen, und da Mom und Dads Ersparnisse wegen unserer Reise in den Iran aufgebraucht waren, hatten wir ihn noch nicht austauschen können.

Wer hätte gedacht, dass Shirin Kellners Geschirrtuch-Kollektion sich einmal als so nützlich erweisen würde?

Nachdem ich den letzten Teller abgetrocknet hatte, nahm Landon mir das Tuch ab und wischte über das Spülbecken, die Küchentheken und den Fliesenspiegel. Er sah zu mir hoch. »Bist du okay?«

»Jep.«

Was tat man, wenn man allein zu Hause mit dem Typ war, den man datete, und es keine häuslichen Pflichten mehr zu erledigen gab?

Ich schnappte mir meine Umhängetasche vom Stuhl. »Ich schätze, ich stelle die mal lieber woanders hin.«

Landon folgte mir nach oben. Mein Puls pochte gegen mein Trommelfell.

»Bist du sicher?«

»Jep. Warum?«

»Dein Gesicht ist ganz rot.«

»Oh.« Ich schluckte. »Es ist nur … Dad hat keine Nachricht oder irgendwas hinterlassen. Und wir waren bisher noch nie allein, so wie jetzt.«

Landon setzte sich auf mein Bett. Ich hängte meine Tasche an meinen Schrank und drehte mich zu ihm um.

»Und ich habe das Gefühl, dass wir uns vielleicht küssen sollten oder so.«

Darüber musste Landon lachen. »Wir müssen das nicht machen, wenn du nicht möchtest. Wir können auch nur reden.«

»Ich mag es aber, dich zu küssen.«

Landon lächelte und biss sich auf die Lippen.

»Ich mag es auch, dich zu küssen.«

Er legte seine Hände an mein Gesicht und fuhr dann mit seinen Fingern an den Konturen meiner ausrasierten Haare entlang. Ich hatte dort schon lange keine blanke Haut mehr gehabt, und es kribbelte am ganzen Körper.

Das mochte ich sehr.

Ich mochte es auch sehr, wie langsam und bedacht Landon mit seinen Lippen war. Er hatte die vollsten Lippen, die ich je an einem weißen Typen gesehen hatte.

Ich mochte es nicht so sehr, als Landon seine andere Hand auf meinen Bauch legte, weil ich ihn einziehen musste, und das machte es ein bisschen schwieriger, gleichzeitig zu atmen und weiter zu küssen.

Ich mochte, wie es sich anfühlte, als meine Zunge seine berührte. Wie vorsichtig er damit war.

Ich mochte es wiederum nicht, als Landon seine Hand weiter nach unten bewegte und seine Fingerspitzen die Haut unter meinem Hosenbund streiften.

Ich konnte nicht sagen, ob er es absichtlich tat oder nicht, aber ich wusste nicht, wie ich ihn aufhalten sollte. Besonders, weil ich – wie schon erwähnt – den Kussteil wirklich sehr mochte, und um etwas zu sagen, hätte ich damit aufhören müssen.

Und dann mochte ich es natürlich absolut nicht, als Dad seinen Kopf in mein Zimmer steckte.

»Darius, kannst du mir mit Laleh helf – oh.«

Landon schrie auf, als ich ihm aus Versehen auf die Zunge biss. Wir sprangen auseinander.

Ich bedeckte meinen Schoß mit meinen Händen.

»Oh.« Auf dem Gesicht meines Vaters zeichnete sich Roter Alarm ab. Er sah den Flur hinunter. Seine Augen sprangen zurück zu meinem Gesicht und dann sofort wieder weg. »Sorry.«

Mein eigenes Gesicht stand ebenfalls auf Roter Alarm.

»Deine Schwester ist während des Sportunterrichts krank geworden. Ich musste sie früher abholen.«

»Oh.« Normalerweise hatte Laleh dienstagabends Sport und wurde dann von den Eltern eines Freundes mitgenommen und nach Hause gefahren.

»Kannst du nach unten kommen? Wenn du, äh, in angemessenem Zustand bist?«

Mein Gesicht brannte noch heißer.

Von meinem Vater beim Rummachen erwischt zu werden, hatte meine Unangemessenheit in null Komma sechs acht Sekunden in sich zusammenfallen lassen.

»Ja«, krächzte ich.

Dad schloss die Tür hinter sich.

»Sorry«, sagte ich. »Bist du okay?«

»Jep. Auch wenn ich bisher nicht wusste, dass du beißt.«

Ich versuchte zu lächeln. Aber dann, ich weiß nicht warum, war mir ein bisschen nach weinen zumute.

Seit dem Sommer nahm ich ein anderes Medikament gegen meine Depressionen ein, und obwohl ich die neue Verschreibung grundsätzlich mochte und mich durchschnittlich zehn bis zwanzig Prozent besser fühlte, war ich manchmal überfordert und wollte am liebsten weinen.

»Hey. Es ist okay.« Landon wischte mir eine Träne von der Wange.

»Ich weiß.« Ich meine, natürlich wussten meine Eltern von Landon und mir. Sie hatten schon gesehen, wie wir uns küssten.

Aber nicht so richtig.

»Ich weiß.« Ich holte noch einmal Luft. »Ich gehe mal meinem Dad helfen. Willst du hierbleiben?«

»Nee, ich komme auch und helfe.«

»Danke.«

Eines der besten Dinge an Landon Edwards war, wie gut er in der Küche war.

Nicht nur, was das Geschirrspülen anging: Er war auch ein großartiger Koch.

Während Dad Laleh zum Umziehen nach oben brachte, schälte ich Gemüse für Landon, der es kleinhackte und damit eine Hühnernudelsuppe zubereitete.

»Was ist das?« Er zog ein unbeschriftetes Vorratsglas mit einem braunen Gewürz aus dem Regal und schraubte den Deckel auf.

»Vorsicht«, warnte ich, aber es war schon zu spät. Landon schnupperte daran, was zu einem kaskadenartigen Nasennebenhöhlen-Ausbruch führte.

»Gesundheit.«

»Danke. Puh.«

»Das ist Moms Advieh.«

»Advieh?«

»Eine Art Familiengewürzmischung. Für persische Gerichte.«

»Es riecht speziell.«

Er schüttelte eine Handvoll heraus, warf sie zu den Zwiebeln und Karotten und machte sich dann daran, den Sellerie zu schneiden.

Während Landon kochte, deckte ich den Tisch und sah ihm bei der Arbeit zu. Er bewegte sich so entspannt in unserer Küche, als wenn er hier wohnen würde. Er hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen, und er summte vor sich hin, als er die Hühnerbrustreste auseinanderzog und in den Topf gab.

Während Landon vor sich hin arbeitete, kam Dad nach unten, mit roten Ohren.

»Hey, Jungs«, sagte er. Er beugte sich zu mir herab, um mich auf die Stirn zu küssen. »Wow, deine Haare sehen super aus.«

»Danke.«

»Hey, Stephen«, sagte Landon.

»Entschuldigt, dass ich euch vorhin überrascht habe.«

»Alles gut.« Landon kramte im Gewürzschrank und zog einen Beutel Lorbeerblätter heraus.

Ich wusste nicht, wie er die ganze Zeit so cool bleiben konnte.

Ich konnte Dad nicht in die Augen sehen.

»Ist Laleh okay?«

»Ich hoffe, dass es nicht wieder Streptokokken sind. Achtet darauf, euch ordentlich die Hände zu waschen.«

»Okay.«

»Und danke fürs Suppe machen, Landon. Es riecht gut.«

»Klar, gern.«

Laleh kam schließlich auch nach unten, in ihren grünen Pyjamas, und plumpste auf ihren Platz am Küchentisch.

Ich küsste sie auf den Kopf. »Hey, Laleh.«

Sie gab die Art von dramatischem Stöhnen von sich, das ich normalerweise mit Erwachsenen assoziierte, die am Morgen ihren Kaffee nicht bekamen.

Manchmal war es schwer zu sagen, ob meine Schwester neun oder neununddreißig war.

»Es tut mir leid, dass es dir nicht gut geht.«

»Danke«, sagte sie. Ihre Stimme war heiser und kehlig. Sie hörte sich nicht gut an.

»Landon kocht Suppe für dich.«

»Mjam«, sagte sie, aber ohne ihren üblichen manischen Enthusiasmus für Landons Kochkünste.

Um zwanzig Uhr war die Suppe fertig, und Mom war endlich von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie und Dad arbeiteten sehr viel mehr seit unserer Reise in den Iran.

Mom sah so müde aus, dass es schwer zu sagen war, wer die Suppe nötiger hatte, Laleh oder sie. Aber sobald sie sie probiert hatte, lächelte sie.

»Das ist gut, Landon«, sagte sie. »Das hast du innerhalb einer Stunde zubereitet?«

»Jep. Aber ihr hattet auch gutes Hühnchen dafür.«

Wie ich schon sagte, war Landon ein großartiger Koch. Ich denke, damit hat er auch Mom für sich eingenommen.

Es war nicht so, als ob Shirin Kellner sauer oder traurig gewesen wäre, als ich ihr sagte, dass ich schwul bin.

Und es war nicht so, als ob sie sich komisch verhalten hätte, seitdem Landon und ich miteinander herumhingen.

Aber manchmal war diese Spannung zwischen uns, eine Art störende Kraft in unseren Umlaufbahnen, die ich nicht einordnen konnte.

Aber immerhin konnte Landon kochen.

Jede persische Mutter möchte, dass ihr Sohn jemanden heiratet, der kochen kann.

Nur um das klarzustellen, ich hatte nicht vor zu heiraten, weder Landon noch sonst irgendwen. Aber Kochkompetenzen sind für iranische Eltern einfach ein absolutes Muss, wenn es um potenzielle Partner geht.

»Landon hat dein Advieh gefunden«, sagte ich.

»Es ist Mamus Rezept. Von meiner Mutter«, sagte sie zu Landon. »Sie hat es früher immer in einem großen Mörser mit einem Stößel zusammengemischt.«

»Ich vermisse Mamu«, sagte Laleh, als sie eine kurze Pause vom Nudelschlürfen machte. »Ich wünschte, wir könnten wieder zu ihr fahren.«

Es wurde still am Tisch.

Ich denke, das wünschten wir uns alle.

Die Sache ist die, dass wir im letzten Frühjahr nur in den Iran geflogen waren, weil Babu – mein Großvater – einen Gehirntumor hatte. Er würde bald sterben. Und Mom wollte, dass wir ihn kennenlernten, bevor es zu spät war.

»Ich wünschte auch, dass wir wieder hinfahren könnten«, sagte Mom schließlich.

Sie drehte sich zurück zu mir und ließ ihre Finger an den Rändern meiner ausrasierten Haare entlangfahren, dort, wo sie auf die langen Locken vom Oberkopf stießen.

»Ich kann nicht glauben, dass du endlich eine Frisur hast.«

DER GROSSE NAGUS

Ich war gerade dabei, meine Hausaufgaben zu beenden, als Dad an meinen offenen Türrahmen klopfte.

»Hast du mal eine Minute?«

»Klar.«

Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf mein Bett.

»Also.« Er rieb seine Handflächen an seinen Knien. »Ich weiß, dass wir schon ein wenig über Dating gesprochen haben. Und über Sex. Und Konsens. Aber ich dachte mir, dass wir besser noch einmal darauf zurückkommen sollten.«

Mein Gesicht brannte.

»Dad.«

»Ich weiß, dass es unangenehm ist. Aber es ist wichtig, Darius.«

Ich drehte mich in meinem Schreibtischstuhl herum und lehnte mich mit den Ellenbogen auf meine Knie.

»Aber ich meine –« Ich schluckte. »Es hat sich nichts verändert, seitdem wir das letzte Mal darüber geredet haben.«

Das war im Sommer gewesen, direkt nachdem Landon und ich unseren ersten zwiebligen Kuss ausgetauscht hatten.

Und auch davor hatten wir Gespräche geführt. Zum Beispiel, als ich acht Jahre alt und kurz davor war, eine kleine Schwester zu bekommen. Und dann noch einmal, nach dem Sexualkundeunterricht in der Mittelstufe.

Am schlimmsten war es, als ich dreizehn war und in klebrigen Bettlaken aufwachte.

Das war die qualvollste unangenehme Unterhaltung in Dads und meinem Verzeichnis der qualvoll unangenehmen Unterhaltungen, und vor unserer Reise in den Iran waren so ziemlich alle unsere Unterhaltungen auf diesem Level.

Um ehrlich zu sein, war es sogar nach dem Iran – nachdem keine Mauern mehr zwischen uns standen – noch unangenehm, über Sex zu sprechen.

Dad räusperte sich. »Landon hatte nicht seine Hand in deiner Hose, als ich reinkam?«

»Nein«, sagte ich.

Und dann sagte ich: »Ich meine, er war noch nicht weit gekommen.«

Und dann sagte ich: »Und ich weiß nicht so genau, ob ich solche Sachen schon machen will.«

Dad nickte. »Okay. Du weißt, es ist normal und gesund, falls du es willst. Und genauso normal und gesund, falls nicht. Richtig?«

Ich nickte und starrte auf meine Füße.

Dad atmete hörbar aus. »Hast du ihm das auch gesagt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wir waren dabei, uns zu küssen.«

»Okay.« Er starrte eine Sekunde aus meinem Fenster. Die Vorhänge waren offen, und die Abenddämmerung senkte sich wie eine Decke über die Häuser unserer Nachbarschaft. »Zunächst einmal ist es okay, eine Pause beim Küssen einzulegen, damit man kommunizieren kann. Beziehungen, auch die lockeren, du weißt schon, was auch immer, benötigen Kommunikation. Und zweitens, falls du nicht weißt, was du sagen sollst, kannst du deine Hände benutzen, um seine zu führen. Wenn du sie also nicht … äh … in deiner Hose willst, kannst du sie sanft woanders hinführen, wo es dir lieber ist. Zu deinem Rücken oder deinem Knie oder wohin auch immer.«

»Okay.«

Dad warf mir ein wackeliges Grinsen zu.

So schwer es auch war, Unterhaltungen wie diese zu führen, er ließ es nie so rüberkommen, als ob er sie nicht führen wollte.

»Hast du jemals mit Landon über seine letzten Beziehungen gesprochen?«

»Ein wenig«, sagte ich.

»Habt ihr darüber gesprochen, wie intim sie gewesen sind?«

Bei dem Gedanken fühlte sich mein Magen leicht mulmig an.

»Etwas.«

Landon hatte mir erzählt, dass er bisher mehr mit Mädchen als mit Jungen gemacht hatte. Dass er seinen ersten Kuss in der sechsten Klasse bekam.

Manchmal wünschte ich mir, ich hätte früher mit dem Daten angefangen. Vielleicht hätte ich dann ein wenig Übung mit alldem gehabt.

Vielleicht hätte ich dann gewusst, was ich tun und sagen sollte.

Dad fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Macht es dich nervös, dass Landon erfahrener ist?«

»Nein. Vielleicht. Ich weiß es nicht.«

»Ich weiß, dass es nicht spaßig ist, über diese Dinge mit seinem Dad zu sprechen«, sagte er. »Aber ich will, dass du gesund und glücklich bleibst. Okay?«

»Ich weiß«, sagte ich.

»Gut. Okay. Gut.« Er atmete tief ein. »Sag ihm das nächste Mal einfach, dass du die Dinge gern langsamer angehen möchtest. Lass ihn wissen, dass du das, äh, Küssen und so genießt, dass du mit dem Rest aber noch warten willst.«

»Alles klar.«

Dad klopfte sich auf die Beine und stand auf. Er küsste mich auf den Scheitel und rieb mir dann über den Hinterkopf. »Ich hatte ganz vergessen, dass du dort Haut hast«, sagte er.

»Und Ohren. Ich sehe aus wie der Große Nagus.«

Dad prustete. Der Große Nagus war einer der Anführer der Ferengi, dieser Alien-Rasse mit den großen Ohren, die besessen von Profit war.

»Du bist perfekt, genauso wie du bist«, sagte Dad.

»Danke, Dad.«

»Und jetzt mach deine Hausaufgaben, damit wir ein bisschen Deep Space Nine sehen können.«

An den meisten Morgen ging ich vor meiner Dusche eine Runde joggen.

Ich weiß nicht, ob ich Joggen eigentlich mochte.

Es war nicht so schlecht, wenn wir im Training liefen, und die Jungs dabei waren und wir rufen und lachen und uns gegenseitig anspornen konnten. Aber ganz allein mit meinen Gedanken im rosigen Morgenlicht unterwegs zu sein, das machte mich irgendwie traurig.

Dennoch wollte ich meine Schnelligkeit verbessern.

Und wenn ich ganz ehrlich bin, hoffte ich auch, dass es mir dabei helfen würde, Gewicht zu verlieren, damit ich mehr wie die anderen Jungs im Team aussah, die fast alle schlank und langgliedrig und flachbäuchig waren.

Vielleicht musste ich dann nicht länger meinen Bauch einziehen, wenn Landon mich berührte.

Das Haus war still, als ich nach Hause kam. Moms Auto war schon weg, Laleh lag noch im Bett, und Dads Tür war geschlossen.

Es war merkwürdig, mit so viel weniger Haaren zu duschen. Es ging sehr viel schneller. Als ich mich abgetrocknet hatte, rieb ich mir etwas von der Lockencreme hinein, die Mikaela empfohlen hatte.

Mein Haar sah gut aus. Wirklich gut.

Ich zog mich an und setzte mich an meinen Computer, um Sohrab anzurufen.

Es klingelte und klingelte – okay, tatsächlich hörte man dieses merkwürdige Dut-dut-dut-Geräusch – und dann:

»Hallo Dariush!«

Ich hörte Sohrabs stark komprimierte Stimme, ehe ich sein Gesicht sah, das aus dem verpixelten schwarzen Nichts auftauchte.

»Hey.«

Sohrab Rezaei war mein bester Freund auf der ganzen Welt.

Ich hasste es, dass er eine halbe Welt entfernt lebte.

Im Iran war es elfeinhalb Stunden später als in Portland (ich verstand immer noch nicht den Sinn und Zweck einer halben Stunde Zeitunterschied), also war es gerade Abend in Yazd.

»Isst du gleich zu Abend? Oder kannst du gerade reden?«

»Ich kann reden. Das Abendessen ist noch nicht fertig. Es gibt Ash-e Reshteh.«

Ash-e Reshteh ist eine persische Nudelsuppe.

»Oh, gut. Wir hatten gestern Suppe. Laleh war krank.«

»Ist sie okay?«

»Ich denke schon. Sie geht heute zum Arzt.«

»Gut.« Sohrab betrachtete mich einen Moment lang. »Eh! Du hast deine Haare geschnitten!«

Ich grinste.

»Gefällt es dir?«

»Es sieht gut aus, Dariush. Sehr stylish.«

Meine Wangen brannten. »Wie gefällt es Landon?«

Sohrab war die erste Person, der ich von Landon erzählt habe.

Sohrab war sogar die erste Person, der ich erzählt habe, dass ich schwul bin.

Es war super unheimlich, obwohl ich wusste, dass er es gelassen hinnehmen würde.

(Ich hoffte, dass er es gelassen hinnehmen würde.)

Er sagte: »Danke, dass du es mir erzählt hast, Dariush. Hast du es deiner Mom erzählt? Deinem Dad?«

»Noch nicht.«

»Hast du Angst?«

»Nein. Vielleicht. Ich weiß es nicht.«

Wir sprachen eine Weile darüber, wie ich es den Leuten sagen wollte und wem ich es sagen wollte, aber dann bemerkte Sohrab, dass es mich nervös machte – er wechselte das Thema und sprach über Babus letzten Arzttermin.

»Die Ärzte denken, dass es für ihn Zeit wird, in ein … Wie nennt man es? Hospiz zu gehen.«

»Oh.«

Ich weiß nicht, warum mich das fast zum Weinen brachte. Ich wusste, dass Babu nicht wieder gesund werden würde.

Aber ich schätze, ein kleiner Teil von mir hoffte auf ein Wunder.

»Es tut mir leid, Dariush.«

»Ist okay.«

Es war nicht okay, und Sohrab wusste es. Aber wir mussten es nicht laut aussprechen.

Anschließend redeten wir über andere Dinge: über das Wetter in Yazd; über die Geschicke von Team Melli; über die aktuellsten Streitigkeiten, die er mit Ali-Reza und Hossein hatte, den beiden Jungen, mit denen er Fußball in Yazd spielte; über die Schule und den Laden seines Onkels und das Essen seiner Mom.

Kurz bevor wir auflegten, sah Sohrab mich an. Und er sagte: »Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast, Dariush. Ich werde immer dein Freund sein.«

Ich erzählte Sohrab davon, dass Landon mich zum Friseur begleitet hatte und dass wir danach im Rose City waren und davon, wie Dad uns beim Rummachen erwischt hatte.

Als ich ihm erzählte, dass ich aus Versehen auf Landons Zunge gebissen hatte, lachte er so sehr, dass er sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischen musste, und das brachte mich auch zum Lachen.

Und ich erzählte ihm davon, dass es wieder einmal ein unangenehmes Gespräch mit Stephen Kellner gegeben hatte.

Sohrab und ich erzählten einander alles.

»Aber genug von mir. Wie geht es dir?«

»Bei mir ist alles gut. Ich habe Babu gestern gesehen.«

»Wie geht es ihm?«

»Nicht sehr gut.« Er seufzte. »Mamu denkt, dass es nun nicht mehr lange dauern wird.«

»Oh. Ist sie okay?«

»Deine Großmutter ist stark. Wie du, Dariush. Aber …« Er sah einen Moment zur Seite. »Es ist schwer für sie. Sie sagt niemandem Bescheid, wenn sie Hilfe braucht. Maman und ich müssen sie zwingen, etwas langsamer zu machen.«

»Das tut mir leid.«

»Das muss es nicht. Ich liebe deine Großmutter. Und deinen Großvater.«

»Ich auch.« Ich wischte mir über die Augen. »Ich wünschte, ich könnte da sein.«

»Ich wünschte auch, dass du das könntest.« »Danke dir. Dafür, dass du auf sie Acht gibst.« Sohrabs braune Augen legten sich in Falten, und er blinzelte, als er mich anlächelte.

Sohrab Rezaei lächelte immer mit seinem ganzen Gesicht. »Immer, Dariush. Ghorbunet beram. Für immer.«

Ghorbunet beram ist eine dieser perfekten Redensarten auf Farsi, die man nicht gut übersetzen kann.

Vielleicht so: Ich würde mein Leben für deines geben.

Manchmal benutzte man es nur als Floskel.

Aber Sohrab meinte es wortwörtlich.

Und ich meinte es ebenso.

Genau das ist es, was es bedeutet, einen besten Freund zu haben.

DER GUTE TISCH

Ich war ein wenig nervös, am Mittwochmorgen in die Schule zu gehen.

Erstens, weil an dem Abend unser Eröffnungsspiel stattfand. Und zweitens, weil Trent Bolger verdächtig mit seinem Handy herumhantiert hatte, als er mich mit Landon sah, und Trent liebte es, Falschinformationen zu verbreiten.

Aber als ich in die Schule kam, sagte niemand etwas.

Entweder hatte Trent seinen Zug noch nicht gemacht oder er war bereits aktiv geworden, und es interessierte nur keinen.

Beim Konditionstraining, an dem ich mit Trent und ein paar Typen aus dem Fußballteam teilnahm, kam es mir so vor, als sei Letzteres passiert: Er war von dem Resultat seiner Gerüchteküche enttäuscht worden. Trent blickte mich ständig wütend an, besonders, als ich von Jaden und Gabe, den Seniors des Teams, begrüßt wurde.

»Alles klar, Darius?«, fragte Gabe. Unser Flügelspieler war braunhäutig und der kleinste Junge im Team, aber er war der schnellste Läufer, den ich je gesehen hatte.

»Ein bisschen nervös.«

»Das musst du nicht sein. Du schaffst das schon«, sagte Jaden. Er war ein Bruchstückhafter Koreaner – er hatte gelacht, als ich ihn das erste Mal so nannte, aber dann übernahm er es selbst – und groß, aber nicht so groß wie Chip oder ich. Er spielte im Mittelfeld.

»Danke.«

Gabe blickte rüber zu Trent und senkte dann seine Stimme.

»Weißt du, dass Trent überall verbreitet, dass er dich gestern Abend mit einem Kerl gesehen hat?«

»Ich dachte mir irgendwie schon, dass er das tun würde.«

Gabe grinste. »Du hast einen Freund?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht. Wir hängen nur zusammen ab.«

»Irgendjemand, den wir kennen?«

»Ich glaube nicht. Er geht auf eine Privatschule in Vancouver.«

»Cool. Es macht dir nichts aus, dass jetzt alle davon wissen?«

»Nicht wirklich.«

»Alles klar. Wir stehen in jedem Fall hinter dir. Gib einfach Bescheid, wenn du uns brauchst.«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.

Es fühlte sich immer noch komisch an, dass einige Leute an unserer Schule tatsächlich hinter mir standen.

»Danke.«

»Tut euch für die Frontkniebeugen zu zweit zusammen«, sagte Coach Winfield. »Leichte Gewichte. Zehn Wiederholungen. Drei Sekunden halten.«

Ich unterdrückte ein Stöhnen. Kniebeugen waren das Schlimmste, aber Frontkniebeugen, die man drei Sekunden halten sollte, kamen einem Verbrechen gegen die Menschheit gleich.

Wenigstens waren sie gut für meinen Hintern.

Man merkte, dass Coach Winfield Footballcoach war, weil immer, wenn ein Footballspiel anstand, gedehnt oder gejoggt wurde oder es irgendeine andere Form von »Erholungs-Workout« beim Konditionstraining gab. Aber diese Art Zufall ereignete sich nie bei Fußballspielen.

Ich tat mich mit Jaden zusammen, da wir dieselbe Gestellhöhe verwenden konnten, und neben uns trainierte Gabe, mit Trent als Partner.

Es war schwer zu sagen, wer mit diesem Arrangement unglücklicher war.

Um ehrlich zu sein, wirkte Trent Bolger in diesen Tagen nie sonderlich glücklich. Ich war immer Trents Zielscheibe Nummer eins gewesen, aber nun, da ich mit Chip und einem Teil des Fußballteams befreundet war, hatte ich viele Leute auf meiner Seite.

Trent war es bisher nicht gelungen, eine neue Zielscheibe zu finden. Er verbrachte seine Zeit ausschließlich damit, dass er versuchte, mir das Leben schwer zu machen, was ihm aber nie ganz gelang.

Es hatte eine beachtliche Gravitationsverschiebung in der Sternenkonstellation an der Chapel Hill Highschool gegeben, und Trent arbeitete noch mit der alten Sternkarte.

Er tat mir beinahe leid.

Beinahe.

»Guck mir nicht auf den Arsch, Dairy Queen«, murmelte Trent, als Coach Winfield außer Hörweite war.

»Dann beweg ihn endlich«, sagte Gabe. »Einige von uns würden gern in Gang kommen.«

Es gelang mir, nicht laut zu lachen, aber ein Grinsen konnte ich nicht zurückhalten. Trent wusste einfach nicht, wie er sich in dieser neuen Welt zurechtfinden sollte.

Und gleichzeitig war mir auch ein bisschen nach Weinen zumute.

Es fühlte sich gut an, dass Gabe sich für mich einsetzte. Es fühlte sich gut an, ein Team zu haben.

Spieltage waren für das Männerfußballteam der Chapel Hill Highschool sehr viel weniger besonders als für das Footballteam, aber das störte mich nicht. Die Footballspieler mussten ihre Trikots den ganzen Tag tragen und die Cheerleader ihre Uniformen, es gab Motivationstreffen, und ihre Stundenpläne wurden abgeändert, um sie zu unterstützen.

Es gab keine Motivationstreffen für das Fußballteam. Also beendete ich am Tag unseres ersten Spiels wie üblich den vierten Unterrichtsblock und ging dann zu den Fahrradständern, um Chip zu treffen.

Flache graue Wolken waren herangerollt, während wir im Unterricht saßen. Ich zog meine Kapuze über, um mich vor dem kalten Nieselregen zu schützen, der in weichem, regelmäßigem Rhythmus gegen meinen Nacken klopfte.

Als ich mein Fahrrad aufschloss, kam Chip die Treppen herunter, seine Schlüssel klimperten am Karabinerhaken seiner Umhängetasche. Er hatte mindestens zehn Schlüssel daran, auch wenn nur zwei davon wirklich von Nutzen waren. Der Rest bestand aus Schlüsseln, die er irgendwo gefunden und zu seinem Schlüsselanhänger hinzugefügt hatte – zum Beispiel ein schwarz angelaufener Generalschlüssel, der aussah wie aus dem achtzehnten Jahrhundert – »für die Ästhetik«.

»Sorry. Musste Mister Gerke etwas wegen einer Hausarbeit fragen, aber irgendwie sind wir dann bei Deutschland und der Wirtschaft der Europäischen Union gelandet. Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte.«

»Mister Gerke ist manchmal so. Komm, wir beeilen uns lieber, wenn wir noch an den Guten Tisch kommen wollen.«

Ich zog meine Umhängetasche enger an meinen Rücken, während Chip sein Fahrrad abschloss und seinen Helm aufzog.

Ich fuhr voran zu Mindspace, dem kleinen Coffeeshop, der etwa anderthalb Kilometer von der Chapel Hill Highschool entfernt war, in die entgegengesetzte Richtung zu meinem Nachhauseweg. Nur etwa zehn Leute fanden dort Platz, wenn man also nicht zur richtigen Zeit kam, war womöglich nichts mehr frei.

Ich lehnte Kaffeetrinken kategorisch ab, aber ich mochte den Geruch der Röstmaschine gern, die im Mindspace so ziemlich die ganze Zeit lief. Und ich mochte es, wie der Röster den gesamten Laden warmhielt, besonders an regnerischen Tagen. Das Geräusch dabei war ein angenehmes konstantes weißes Rauschen, das es einfacher machte, sich aufs Lernen zu konzentrieren.

Das Beste war allerdings, dass es im Mindspace Teesorten von Rose City Teas gab. Es war der einzige Ort in der Nähe der Schule, an dem ich zuverlässig eine gute Tasse Tee bekam, wenn ich nicht gerade meinen eigenen Tee mitbrachte.

(Ich meine, ich trug meist meinen eigenen Tee mit mir herum, aber es war schön, nicht darauf angewiesen zu sein.)

Ich stellte mich an, während Chip schnurstracks auf den Guten Tisch zusteuerte: einen polierten Mahagoni-Esstisch, der an der Wand stand, mit einer Bank auf der einen Seite und einigen nicht zusammenpassenden Stühlen mit roten Kissen auf der anderen. Chip schnappte sich einen der gepolsterten Stühle und legte seine Tasche auf den anderen, um mir den Platz freizuhalten.

Ich bestellte eine Tasse Alishan (ein exzellenter chinesischer Oolong) für mich und einen Mochaccino für Chip und schnappte mir noch ein paar Servietten, um den Guten Tisch abzuwischen, bevor wir unsere Sachen darauflegten.

»Was hast du dabei?«, fragte Chip, als ich mein Tablet herausholte.

»Algebra II.«

»Algebra war das Schlimmste.«

»Ist es immer noch.«

Chip nickte und nahm einen Schluck von seinem Mocha. Er zog sein eigenes Tablet heraus, steckte seine Ohrstöpsel ein und machte sich an die Arbeit.

Die Sache ist die: Ich bin immer noch nicht ganz sicher, wie ich dazu gekommen war, meine Hausaufgaben an mehreren Tagen der Woche mit Cyprian Cusumano im Mindspace zu machen. Tatsächlich bin ich nicht ganz sicher, wie wir überhaupt dazu kamen, Freunde zu werden.

Als wir aufwuchsen, hatte Chip mich fast genauso oft geärgert wie Trent. Und dann auf einmal, als ich aus dem Iran zurückkam, hatten sich die Dinge geändert. Chip fing an, nett zu mir zu sein. Er sagte Hi in den Schulfluren, und wir hingen beim Training zusammen rum, und wir fuhren zusammen mit dem Rad nach Hause – Chip musste in dieselbe Richtung wie ich – und sprachen über Fußball oder unsere Hausaufgaben oder was auch immer.

Einmal nach dem Training, als wir beide einen Aufsatz für Amerikanische Literatur schreiben mussten, fragte Chip mich, ob wir zusammen daran arbeiten wollten, und ich hatte das Mindspace vorgeschlagen, und irgendwie war eine Tradition daraus geworden.

Ich mochte es, mit Chip rumhängen und Hausaufgaben zu machen.

Ich weiß nicht warum, aber es war so.

Das ist ja normal.

Stimmt’s?

Chip und ich waren um achtzehn Uhr zurück im Umkleideraum.

Mein Magen fühlte sich an, als explodierte darin ein kleiner Neutronenstern.

Er drückte meine Schulter. »Bist du okay?«

Ich nickte und rieb mir mit meiner Hand über den Hinterkopf.

Ich hatte mich immer noch nicht an das stachelige Gefühl dort hinten gewöhnt. Es fühlte sich schön an.

Entspannend sogar.

»Du siehst irgendwie grün aus.«

»Nur die Nerven, denke ich.«

Chip grinste mich an. »Du wirst das super machen.«

»Danke.«

Ich zog meine Spielkleidung an – purpurfarben und schwarz bei unseren Heimspielen – und setzte mich auf die Bank, um meine Stollenschuhe zuzuschnüren.

Neben mir schälte sich Gabe aus seinem Pulli. Ich hielt meine Augen auf meine Stollenschuhe gerichtet, weil Gabe ziemlich gut aussehend war mit seinem flachen, braunen Bauch und ein wenig Haar direkt oberhalb der Gürtellinie, was mich etwas irritierte.

Außerdem datete ich Landon. Also war es nicht richtig, einen anderen Jungen anzusehen. Oder?

»Kommt dein Typ auch zum Spiel?«

Meine Wangen wurden heiß. »Landon? Nein, er hat Bandprobe. Mom und Dad kommen aber. Und meine Schwester.«

»Älter oder jünger?«

»Jünger. Sie ist neun.«

»Cool.« Gabe setzte sich neben mich, um seine Stollenschuhe anzuziehen. Ich stand auf, streckte mich und wandte mich dann eine Sekunde ab, um mich zu vergewissern, dass in meinen Kompressionsshorts alles gut arrangiert war.

Wenn man sich wundrieb, war das kein Spaß.

»Bereit?«

»Bereit.«

HEISSGETRÄNKE-KAPSELEXTRAKTIONS-GERÄT

Mein ehemaliger Sportlehrer, Coach Fortes, war derjenige gewesen, der mich überredet hatte, bei den Auswahlspielen für das Fußballteam mitzumachen, aber über den Sommer hatte seine Frau einen Job im Osten von Washington State bekommen, also war er mitgegangen.

Coach Bentley war eingestellt worden, um ihn zu ersetzen (und um Geschichte und Gemeinschaftskunde zu unterrichten). Sie war eine Schwarze Frau mit warmer, dunkler Haut, glattrasiertem Kopf und einem Gesichtsausdruck, der in unter einer Sekunde von glühendem Lob zu nuklearem Zorn wechseln konnte, besonders, wenn sie dachte, dass man nicht einhundert Prozent auf dem Spielfeld gab.

An ihrer letzten Schule hatte sie ihr Team zu mehreren Oregon State Meisterschaften geführt, und nun war sie entschlossen, dem Chapel Hill Highschool Fußballteam einen gefürchteten Ruf zu verleihen. Sie hatte die Entschlossenheit einer Klingonen-Kriegerin und die analytischen Fähigkeiten eines vulkanischen Gelehrten.