Dark Inside (Band 1) - Jeyn Roberts - E-Book

Dark Inside (Band 1) E-Book

Jeyn Roberts

4,5

Beschreibung

Aries kämpft sich nach einem Erdbeben durch zerstörte Straßen. Clementine überlebt als Einzige ein Blutbad in der Gemeindehalle. Mason verliert all seine Freunde bei einem Bombenanschlag. Michael entkommt nur knapp dem Amoklauf zweier Polizisten. Vier Jugendliche kämpfen in einer postapokalyptischen Welt um ihr Überleben. Sie können niemandem trauen. Nicht einmal sich selbst. Erdbeben verwüsten ganze Kontinente, zerstören Städte und Häuser. Doch etwas regt sich, was tausendmal schlimmer ist: eine dunkle Kraft, die Menschen in rasende Bestien verwandelt. Wer nicht befallen wird, kämpft um sein Leben. Keiner kann den Monstern entkommen, denn sie sind mitten unter uns: ein Freund, ein Familienmitglied, ein Kind. Ihre Tarnung ist perfekt. "Dark Inside" ist der erste von zwei Bänden.

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Für meine Eltern, Don und Peggy Roberts.

NICHTS

Ich stehe am Rand des Abgrunds. Hinter mir jagen tausend Ungeheuer. Ihre Tarnung verändert sich mit jeder Bewegung.

Wenn sie in einen Spiegel schauen, sehen sie dann ihr wahres Ich?

Meine Arme sind weit ausgebreitet. Vor mir ist nichts. Niemand hat gewusst, wie die Menschheit enden würde. Sicher, es gab viele Hypothesen: Feuer, Hochwasser, Seuchen und so weiter. Sie haben den Himmel nach Heuschrecken abgesucht und auf den Regen gewartet. Sie haben Städte gebaut, die Wälder zerstört und das Wasser vergiftet. Warnzeichen, die in den Ruinen früherer Zivilisationen zurückgelassen worden waren, wurden falsch gedeutet. Natürlich kann man den Sünden der Menschheit die Schuld am Untergang geben. Aber wer hätte gedacht, dass er so grau sein würde? So leer.

Gibt es wirklich einen Weg zurück? Einen Weg zurück in eine Zeit vor unserer?

Hallo? Ist da jemand?

Tut mir leid, falsch verbunden.

Mir geht noch so vieles durch den Kopf, aber ich habe keine Zeit mehr dafür. Ich wusste, dass sie mich finden würden. Ich leuchte im Mondlicht. Meine dunkle Seite war zu hell, um sie für immer zu verstecken. Irgendwann finden sie uns alle. Sie sind uns klar überlegen und meine Chancen stehen bei null.

Vor mir ist nichts. Keine hellen Lichter, keine Dunkelheit. Keine Energie. Nur nichts.

Es gibt keine Zukunft, denn auch unsere Vergangenheit existiert nicht mehr. Unsere Gegenwart besteht nur noch aus dem Kampf ums Überleben und dieser Kampf wird bald zu Ende sein.

Dafür haben sie gesorgt.

Ich bin Nichts.

Ich bin das Leben.

Ich bin Schmerz.

Ich knie mich auf die Erde und schreibe meine letzten Worte. Ich würde sie laut aussprechen, doch es ist niemand mehr da, der sie hören könnte.

DAS SPIEL IST AUS.

MASON

»Deine Mutter hatte einen Unfall.«

Noch nie hatte ihm etwas solche Angst eingejagt.

Die Sonne schien. Es war ein schöner Tag. Anfang September. Er hatte gelacht. Die Schule hatte gerade wieder angefangen. Jemand erzählte einen Witz. Die erste Unterrichtsstunde war vorbei und Mason ging zu seinem Schließfach, als der Schulleiter auf ihn zukam. Ihn von seinen Freunden wegzog und die fünf Worte aussprach.

Deine Mutter hatte einen Unfall.

Zwanzig Minuten später kam Mason am Royal Hospital an. Er hatte nicht selbst fahren dürfen, sein Wagen stand noch auf dem Schulparkplatz. MrYan, der Geologielehrer, war gefahren. Mason kannte ihn gar nicht. Er war nie auf die Idee gekommen, Geologie zu belegen. Doch so etwas war jetzt nicht mehr wichtig.

Draußen brannte die Sonne vom Himmel. Es war heiß. Obwohl die Tage schon wieder kürzer wurden, hatten die Mädchen auffallend wenig an. Warmes Licht drang durch das Fenster des Hondas und heizte Masons Jeans auf. Er überlegte kurz, ob er seinen Kapuzenpulli ausziehen sollte, doch der Gedanke war viel zu platt. Viel zu normal. Wie konnte er jetzt daran denken, dass ihm vielleicht zu warm werden würde? Wie egoistisch war das denn?

Der Lehrer bot an, ihn ins Krankenhaus zu begleiten, doch Mason schüttelte den Kopf. Nein. Sein Kopf bewegte sich auf und ab, als er gefragt wurde, ob er es allein schaffe. Ja. Er solle auf jeden Fall in der Schule anrufen, wenn er jemanden brauche, um nach Hause zu kommen. Ja. Als MrYan davonfuhr, fiel Mason auf, dass sein weißer Honda Civic eine Delle in der Stoßstange hatte.

Jemand ist bei Rot über die Ampel gefahren und mit ihr zusammengestoßen. Seitenaufprall. Deine Mutter saß allein im Wagen. Sie liegt im Krankenhaus. Wir bringen dich hin. Du kannst jetzt nicht fahren – du stehst unter Schock.

Schock? Nannte man das so?

Irgendwie schaffte er es, das Krankenhaus zu betreten. Eine Frau an der Aufnahme sagte ihm, wo er hinmusste. Sie aß einen Bagel. Auf ihrem Ärmel prangte ein Kaffeefleck. Tiefe Falten hatten sich in ihre Stirn eingegraben und um ihren Mund lag ein verkniffener Zug. Sie wies in Richtung des Aufenthaltsbereichs und sagte ihm, er solle warten. Es waren zu viele Leute da. Mehr als der Warteraum fassen konnte. Für einen Mittwochvormittag war eine Menge los. Mason fand keinen Sitzplatz. Er zwängte sich in die schmale Lücke zwischen einem Getränkeautomaten und der Wand. Von dort konnte er alles sehen und hören.

Vor den Fenstern zuckten die Warnlichter von Rettungswagen. Sanitäter stürmten herein und schoben Tragen in die Notaufnahme. Ärzte auf den Gängen riefen hektisch Anweisungen und Krankenschwestern rannten mit Klemmbrettern und Verbandsmaterial hin und her. Der kleine Warteraum war völlig überfüllt. Niemand lächelte. Die meisten Leute starrten vor sich hin ins Leere, einige unterhielten sich im Flüsterton miteinander. Eine Frau, die ein Stück von Mason entfernt saß, machte ständig ihre Handtasche auf und zu. Ihre Augen waren rot und verschwollen, und als sie Mason ansah, stiegen ihr Tränen in die Augen und liefen über ihr Gesicht. Ihre Hände umklammerten eine rosa Decke, die mit Blut beschmiert war.

Mason starrte auf seine Füße. Er wollte nichts mehr sehen. Sein Schnürsenkel ging auf.

Irgendwann rief ein Arzt seinen Namen.

»Sie bringen sie gerade in den OP«, klärte der Arzt ihn auf. »Du kannst jetzt nur noch warten. Wenn du möchtest, rufen wir jemanden an. Gibt es jemanden aus der Familie, dem wir Bescheid geben sollen?«

Es gab niemanden. Nur Mom und ihn. Sein Vater war vor fünf Jahren gestorben, als Mason zwölf gewesen war.

»Wird sie wieder gesund?«

»Wir tun, was wir können.«

Das war keine Antwort. Es verhieß nichts Gutes.

Eine Krankenschwester brachte ihm Kaffee. Der Pappbecher verbrannte ihm die Finger. Dennoch setzte er den Becher an die Lippen und trank einen großen Schluck. Verbrannte sich die Zunge. Mason bemerkte es kaum. Er stellte den Kaffee auf den Boden neben sich und vergaß ihn sofort wieder.

Sein Telefon klingelte. Die anderen starrten ihn wütend an. Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern warf ihm einen Blick zu, als wäre er das Böse in Person. An der Wand hing ein Schild mit dem Hinweis, Mobiltelefone auszuschalten. In der Notaufnahme waren keine elektronischen Geräte erlaubt. Warum war ihm das Schild nicht schon vorher aufgefallen? Er drückte die Ausschalttaste, ohne den Anruf entgegenzunehmen. Es gab sowieso nichts zu sagen.

Noch mehr Rettungswagen hielten vor dem Krankenhaus, pausenlos stürmten Sanitäter mit ihren Tragen durch die Tür. Im Warteraum, der sowieso schon aus allen Nähten platzte, brach das Chaos aus. Wo kamen nur die vielen Leute her? Inzwischen standen sogar einige auf dem Gang. Niemand schien zu wissen, was los war.

Über den Köpfen einer asiatischen Familie war ein Fernseher an die Wand montiert. Die Großmutter der Familie lag auf einer Krankentrage, die man an die Wand neben dem Stationstresen geschoben hatte. Die Pfleger wussten nicht, was sie mit ihr anfangen sollten. Auf den Gängen begannen sich die Tragen mit Verletzten zu stauen. Das Krankenhaus schien keinen Platz mehr zu haben.

Der Fernseher war auf einen Lokalsender eingestellt, in dem gerade eine Talkshow lief. Jemand gab ein Interview, in dem es um einen neuen Film ging. Der Ton war leise gestellt und nur ganz wenige der Wartenden beachteten den Fernseher überhaupt. Mason sah eine Weile zu, dankbar für die Ablenkung, obwohl er kein Wort verstehen konnte. Er saß immer noch auf dem Boden neben dem Getränkeautomaten. Als er einen Blick auf seine Uhr warf, stellte er fest, dass es schon fast zwei war. Er war seit vier Stunden hier und hatte keine Ahnung, was los war. Wurde seine Mutter immer noch operiert? Er überlegte, ob er eine der Krankenschwestern fragen sollte, doch als er die Schlange aus mindestens zwanzig Leuten sah, die lautstark versuchten, sich Gehör zu verschaffen, verwarf er den Gedanken sofort wieder. Niemand bekam Informationen, warum also sollte man bei ihm eine Ausnahme machen?

»Mason Dowell?«

Der Arzt war vor ihm stehen geblieben und Mason hatte es nicht einmal bemerkt. Er hielt immer noch das Klemmbrett von vorhin in der Hand und verzog keine Miene. Nachdem er ein paarmal geblinzelt hatte, blieb sein müder Blick an den Formularen vor ihm hängen.

»Geht es ihr gut?« Die Worte sprudelten aus ihm heraus. Er hasste den Klang seiner Stimme. Schrill. Atemlos. Verängstigt.

»Fürs Erste.« Der Arzt wollte ihn nicht ansehen. »Wir haben die inneren Blutungen stoppen können, aber sie ist noch nicht bei Bewusstsein. Jetzt können wir nur noch warten. Ich glaube, es ist das Beste, wenn du jetzt gehst und dich ein wenig ausruhst. Ich versuche, jemanden zu finden, der dich nach Hause bringt.«

»Kann ich zu ihr?«

»Das hätte jetzt keinen Sinn. Sie würde es gar nicht merken. Wir sind gerade sehr beschäftigt. Geh nach Hause und iss etwas. Telefonier mit deinen Freunden. Komm heute Abend wieder, dann kannst du zu ihr.«

Jemand schrie auf.

Beide drehten sich um, um zu sehen, was los war. Im Warteraum war es schlagartig still geworden. Alle starrten auf den Fernseher. Jemand stürzte zu dem Gerät und stellte den Ton lauter.

Mason brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, was er sah. Statt der Talkshow lief jetzt eine Nachrichtensendung, in der live vor Ort berichtet wurde. Löschfahrzeuge und Streifenwagen blockierten die Sicht auf ein völlig zerstörtes Gebäude. Die Feuerwehrleute versuchten, die Flammen zu löschen, die aus den Trümmern schlugen. Grelle Warnlichter zuckten und überall rannten Leute herum, die wegen der Rauch- und Staubwolken jedoch nicht zu erkennen waren.

»Ich wiederhole«, sagte die Stimme der Nachrichtenreporterin aus dem Off. »In der Highschool von Saskatoon hat sich eine schreckliche Tragödie ereignet. Channel Nine liegen noch keine Details vor, aber wir vermuten, dass vier Männer und drei Frauen, die alle Sprengstoff mit sich führten, um 13.30Uhr die Schule betraten. Die Bomben wurden in der Sporthalle, der Cafeteria und etwa fünf Klassenräumen gezündet. Es liegen noch keine Informationen darüber vor, wer den Anschlag begangen hat oder ob es eine Verbindung zu einer Terrororganisation gibt. Wie viele Opfer zu beklagen sind, ist noch unklar, man geht jedoch davon aus, dass die Zahl der Toten in die Hunderte geht. Einige der Leichen werden jetzt gerade herausgebracht.«

Die Kamera schwenkte auf das Gebäude, aus dem Rettungskräfte schwarze Leichensäcke trugen. Die Glastür war zerstört, der Eingang zur Hälfte eingestürzt. Vor wenigen Stunden war Mason durch diese Tür gegangen.

»Das ist meine Schule!«, rief er.

Niemand hörte ihm zu.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte die Reporterin. Ihre Stimme zitterte und klang gepresst. Sie las nicht mehr von ihrem Skript ab; die Worte, die ihr über die Lippen kamen, waren ihre eigenen. »Die Schule ist völlig zerstört. Es ist nichts mehr da. Was sind das nur für Ungeheuer, die so etwas tun?« In ihren Augen glitzerten Tränen.

Die Kamera schwenkte nach links und holte einen Polizisten ins Bild. Sein angespanntes Gesicht wurde in Großaufnahme gezeigt. »Wenn Sie oder Bekannte von Ihnen Kinder an dieser Schule haben: Kommen Sie bitte nicht her! Ich wiederhole: Kommen Sie nicht her! Sie können uns hier nicht helfen, aber es gibt eine Telefonnummer, bei der Sie anrufen können.« Auf dem Bildschirm wurden lokale Telefonnummern eingeblendet. »Ich wiederhole: Kommen Sie nicht her! Die Rettungskräfte haben zu tun und können sich nicht um Sie kümmern.«

Die Kamera schwenkte auf den Parkplatz mit Hunderten Autos, deren Besitzer nicht mehr kommen würden. Neben einem zerschmetterten Ford Pick-up, der mit Trümmern übersät war, entdeckte Mason seinen Toyota Corolla. Es war merkwürdig, aber sein Auto sah völlig unbeschädigt aus. Es schien nicht einmal einen Kratzer zu haben.

»Das ist meine Schule«, sagte er noch einmal.

»Mason?« Der Arzt legte Mason eine Hand auf die Schulter. »Du solltest jetzt besser nach Hause gehen.«

»Ja, in Ordnung.« Mason hatte das Gefühl, als würde das gesamte Gewicht des Krankenhauses auf seinen Schultern lasten. Er musste hier raus und einige Anrufe machen. Er musste herausfinden, was passiert war.

»Ich werde jemanden holen, der dich nach Hause fährt.« Der Arzt sah sich im Wartezimmer um. »Warte hier. Ich werde nachsehen, wer jetzt mit dem Dienst aufhört. In zwanzig Minuten bin ich wieder da.«

»Nein, lassen Sie. Ich schaff das schon alleine.« Mason zog den Reißverschluss seines Kapuzenpullovers hoch. Wenn er sich beeilte, könnte er in knapp einer halben Stunde bei der Schule sein.

»Ich glaube nicht …«

»Schon in Ordnung.« Mason ging einige Schritte rückwärts. »Es ist nicht so weit. Ich muss jetzt los. In ein paar Stunden bin ich wieder da. Ich werde … ähm … ich werde was essen. So wie Sie gesagt haben. Mich ausruhen. Duschen.«

Der Arzt lächelte. »Also gut. Wir sehen uns dann heute Abend. Deine Mutter kann froh sein, dass sie dich hat.«

Draußen war es immer noch hell und warm. Sonnig. Schön. Sollte es nicht dunkler sein? Mason stolperte über den Bordstein und wäre um ein Haar vor einen einfahrenden Rettungswagen gestürzt. Er wich zurück, als das Rot der Warnlichter auf ihn fiel und das Fahrzeug vorbeiraste. Sein Mobiltelefon rutschte aus der Tasche seines Kapuzenpullovers, doch er konnte es gerade noch auffangen, bevor es auf den Boden fiel. Als er es einschaltete, fiel ihm ein, dass vorhin jemand angerufen hatte. Er hatte eine neue Nachricht.

»Hey, Alter!« Die Stimme auf der Mailbox gehörte seinem Freund Tom. »Ich hab das mit deiner Mom gehört. Tut mir wirklich leid. Ich hoffe, es geht ihr gut. Ich ruf dich sofort an, wenn die Stunde vorbei ist. Sag mir, ob du noch im Krankenhaus bist, dann komm ich hin. Ich muss aufhören. Der Trainer lässt mich sonst wieder ein paar Runden zusätzlich drehen, wenn ich schon wieder zu spät komme.«

Ein Piepton ertönte und eine Stimme fragte ihn, ob er die Nachricht beantworten, speichern oder löschen wolle.

Runden drehen. Sporthalle.

Sprengstoff.

Tom war in der Sporthalle gewesen, zusammen mit den anderen. Leute, mit denen er aufgewachsen war. Alle Freunde, die sein Leben teilten. Er hätte auch in der Sporthalle sein sollen. Er wäre dort gewesen, wenn diese furchtbaren fünf Worte nicht gewesen wären. Hatte ihm seine Mutter das Leben gerettet?

Er scrollte durch sein Handy, bis er Toms Nummer hatte. Dann tippte er auf den Button und hielt das Telefon ans Ohr. Wartete darauf, dass es läutete. Nichts passierte. Der Anruf wurde nicht zur Mailbox geleitet. Es gab nicht einmal eine Ansage, die ihm mitteilte, er solle es später noch einmal versuchen.

Mason brach den Versuch ab und sah die Liste mit Telefoneinträgen durch. Dutzende Nummern, alles Freunde, und jeder Einzelne von ihnen war in der Schule gewesen. Wenn er eine dieser Nummern anrief, würde er dann wieder nur Rauschen hören? Er hatte nicht den Mut, es auszuprobieren.

Nachdem er ein Taxi angehalten hatte, stieg er ein und bat den Fahrer, ihn zu dem Seven-Eleven zu fahren, der einen Häuserblock von der Schule entfernt war. Den Rest wollte er zu Fuß gehen. Nervös fuhr er sich mit den Fingern durch sein zerzaustes braunes Haar und versuchte, sich abzulenken; alles nur, um nicht auf dem Rücksitz um sich zu treten und zu schreien.

Er musste es selbst sehen. Er musste Gewissheit haben. Dass es tatsächlich geschehen war, würde er erst glauben, wenn er es mit seinen eigenen Augen gesehen hatte.

ARIES

Der Mann im Bus war verrückt.

Jedenfalls sah es so aus. Er schaukelte auf seinem Platz vor und zurück und stammelte etwas in einer Sprache, die Aries nicht verstand. Zweimal stand er auf und ging durch den Gang zwischen den Sitzen hindurch, wobei er alle paar Schritte den Kopf schüttelte und sich die Ohren zuhielt. Schließlich ließ er sich auf den Platz direkt vor ihr fallen und suchte etwas in seinen Jackentaschen.

»Was ist denn mit dem los?«, raunte Sara ihr ins Ohr. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie drückte sich so weit wie möglich in die Lehne ihres Sitzes. Dann wickelte sie eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger, was sie nur tat, wenn sie nervös war.

»Ich glaube, er ist psychisch krank«, flüsterte Aries zurück. Sie sah sich um, wobei sie den Blicken der anderen auswich, die sich alle Mühe gaben, so zu tun, als gäbe es den Verrückten gar nicht. Einige Reihen vor ihr saß ein Junge, der etwa in ihrem Alter war. Er beobachtete sie. In der Hand hielt er ein aufgeschlagenes Buch, doch er schien nicht zu lesen. Seine dunklen Augen verschwanden fast hinter seinen langen Haaren. Als er sie angrinste, wandte sie den Blick ab. Ihre Wangen brannten.

»Solche Leute sollte man gar nicht in den Bus lassen«, sagte Colin, der hinter ihnen saß. Er war der beste Beweis, dass es auch männliche Drama-Queens gab, doch Sara betete ihn an. Aries fand ihn arrogant und etwas zu selbstverliebt. Sie hielt es nur Sara zuliebe mit ihm aus. Das war sie ihr als beste Freundin schuldig. Sie hatten schon im Sandkasten miteinander gespielt und für Sara würde sie durchs Feuer gehen. Colin ging ihr mächtig auf die Nerven, aber wegen Sara konnte sie gar nicht anders, als nett zu ihm sein. Sie wusste, dass sie Sara in den langen Jahren ihrer Freundschaft schon weitaus mehr zugemutet hatte.

Es war einer jener schönen Abende in Vancouver, an denen es einmal nicht regnete. Sie waren gerade auf dem Weg zur Highschool von Clayton Heights, wo sie Alice im Wunderland proben wollten. Aries spielte Alice, und Colin beschwerte sich immer noch darüber, dass Ms Darcy, ihre Schauspiellehrerin, ausgerechnet dieses Stück ausgesucht hatte. In Alice im Wunderland gab es keine männliche Hauptrolle und Colin war fest entschlossen, die ganze Welt wissen zu lassen, dass man ihn übergangen hatte.

»Und wenn er uns etwas tut?«, fragte Sara. Sie spielte die Herzkönigin, eine Rolle, von der sie scherzhaft behauptete, sie sei extra für sie geschaffen worden. Sara konnte einfach nicht verstehen, warum kleine Mädchen Prinzessinnen sein wollten, wo sie doch Königinnen sein konnten. Selbst an ihrem Handy baumelte ein kleiner, mit funkelnden Schmucksteinen besetzter Anhänger in Form einer Krone.

»Er wird euch nichts tun«, behauptete Colin, während er die Arme um Sara schlang und ein überlegenes Gesicht machte. »Nicht, solange ich hier bin.«

Plötzlich fing der Mann an, lautstark zu fluchen. Die Schimpfwörter trieben fast allen Insassen des Busses die Röte ins Gesicht. Auch Colins Wangen verfärbten sich und mit einem Mal wirkte er gar nicht mehr so selbstsicher. Er ließ Sara los, lehnte sich zurück und sah nach oben. Die Werbeanzeigen im Bus zu lesen, schien auf einmal erheblich wichtiger zu sein, als Sara die Angst zu nehmen.

Aries verdrehte genervt die Augen und drückte auf den Summer vor ihr. An der nächsten Haltestelle mussten sie raus. Dann konnte Colin aussteigen, ohne dass allzu offensichtlich wurde, was für ein Feigling er doch war. In dem Moment, in dem sie in der Schule ankamen, würde Colin vermutlich lautstark behaupten, dass er um ein Haar aufgesprungen wäre, um sich mit dem Verrückten im Bus anzulegen. Dann würde Sara lächeln, ihm einen Kuss auf die Wange drücken und so tun, als wäre er tatsächlich der Held, der er sein wollte. Und Aries würde so höflich sein, Colins Geschichte zu bestätigen, die Wahrheit aber für sich behalten. Jungs konnten manchmal so unfassbar dämlich sein.

Sie sah noch einmal zu dem merkwürdigen Jungen hin. Er beobachtete sie immer noch. Das Buch hatte er weggelegt, aber er stand nicht auf. Ein Bein lag lässig auf dem Sitz und mit den schlanken Fingern trommelte er selbstvergessen auf seinem Knie herum. Er sah so ernst aus. Sie fragte sich, ob sie ihn nicht schon irgendwo gesehen hatte. Ging er vielleicht auf dieselbe Schule wie sie? Sie war sich nicht sicher.

Colin stand auf und griff nach der Haltestange. Sara stellte sich neben ihn. Aries zog den Reißverschluss ihres Rucksacks zu und war gerade dabei aufzustehen, da drehte der Verrückte sich um und sah sie direkt an. Sie erstarrte mitten in der Bewegung, als er die Hand ausstreckte und ihren Arm packte. Seine Finger waren eiskalt.

»Du bist ein hübsches Mädchen«, murmelte er. »Mach dich bereit. Es wird sich gleich öffnen.«

»Wie bitte?«

»Sie konnten es nicht für immer geschlossen halten. Zu viel Hass. Sie haben einen Spalt gefunden. Es wieder rausgelassen. Gleich geht’s los. Zehn, neun, acht.« Speichel spritzte von den Lippen des Mannes und die Hand auf ihrem Arm packte noch fester zu.

»Lassen Sie mich los!«, verlangte Aries. Sie wollte ihren Arm zurückziehen, doch es gelang ihr nicht. Sie griff nach seiner schmutzigen Hand und versuchte, seine Finger von ihrem Arm zu lösen. Es widerstrebte ihr, ihn anzufassen; seine fahle Haut war ganz feucht. Seine Kleidung starrte vor Dreck und er roch leicht nach sauer gewordener Milch. In seinem Bart hingen Krümel und seine Wangen waren pockennarbig und verschorft. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie ihn noch einmal bat, sie loszulassen.

»Hey!«, rief Colin, aber er kam ihr nicht zu Hilfe. Er war zur Salzsäule erstarrt. Sara stand neben ihm, den Mund weit aufgerissen, doch sie bekam keinen Ton heraus.

»Sieben, sechs, die Städte stürzen um uns herum ein. Fünf!«, sagte der Mann. »Das Spiel ist aus. Vier! Hörst du die Schreie? Spürst du die Kraft? Drei!«

Plötzlich ging ein heftiger Ruck durch den Bus. Er schoss in die Höhe, überfuhr etwas und landete dann mit einem lauten Krachen wieder auf der Straße. Die Fahrgäste auf ihren Sitzen wurden nach vorn geschleudert. Schreie gellten durch den Bus, als mehrere Leute in verschiedene Richtungen gewirbelt wurden. Colin prallte gegen Sara, sodass sie das Gleichgewicht verlor und mit einer alten Dame zusammenstieß, die gerade vom Einkaufen kam. Mandarinen rollten den Gang entlang und ein Glas mit Spaghettisoße explodierte. Es roch nach gewürzten Tomaten.

Doch Aries und der Verrückte bewegten sich nicht. Er starrte sie immer noch an. Sie sah ihm in die Augen.

Eigentlich hatte sie erwartet, dass seine Augen blutunterlaufen waren. In Büchern und Filmen hatten durchgeknallte Leute immer blutunterlaufene Augen. Standardklischee für Geisteskranke. Doch die Augen des Mannes vor ihr waren nicht gerötet. Sie hatten eine andere Farbe.

Die Adern in seinen Augen waren schwarz.

»Zwei.«

Der Bus machte wieder einen Satz nach vorn. Der Fahrer trat auf die Bremse und immer mehr Leute begannen zu schreien. Mitten auf einer Kreuzung kamen sie abrupt zum Stehen und mehrere Autofahrer hupten wütend. Eine Zehntklässlerin aus ihrer Schule wurde durch die Gegend geschleudert, die Umhängetasche noch über der Schulter. Sie prallte mit dem Rücken gegen eine Metallstange. Die Insassen sprangen auf und versuchten, den Bus zu verlassen. Doch die Türen öffneten sich nicht. Einige der Männer schlugen mit den Fäusten gegen die Fenster.

Aries und der Verrückte saßen immer noch reglos da.

»Eins.«

Die Erde unter ihnen explodierte.

Der Bus schwankte und machte einen Satz nach vorn. Die Straße unter ihnen riss auseinander; Teile des Betons vibrierten und bewegten sich voneinander weg, als wären sie lebendig. Ein Hydrant platzte; Wasser schoss in die Höhe und regnete auf die Kreuzung herab. Stromleitungen schwankten, bis die Kabel rissen und durch die Luft peitschten. Das Licht in den Geschäften und auf der Straße flackerte und ging aus. Autofahrer traten auf die Bremse und stießen mit anderen Fahrzeugen zusammen. Durch das Fenster sah Aries, wie mehrere Leute versuchten, aus den Autowracks zu klettern, während andere sich auf einen Parkplatz und die Gehsteige retteten. Bei einem Supermarkt, der direkt neben der Kreuzung stand, brachen große Teile aus der Fassade. Glas splitterte und schickte winzige Projektile in alle Richtungen. Die Passanten legten schützend die Hände auf den Kopf, um nicht zerfetzt zu werden. Als sie versuchten, auf dem wackelnden Boden das Gleichgewicht zu halten, behinderten sie sich gegenseitig und stürzten.

Gerade eben hatten die Insassen des Busses noch verzweifelt versucht auszusteigen. Jetzt drehten sich alle wieder um und drängten in den Bus zurück. Die Erde bebte immer noch und der Bus ächzte und schüttelte sich. Von hinten wurde ein riesiges Stück Beton unter den Bus geschoben, sodass der hintere Teil in die Höhe gehoben wurde.

Aries hörte, wie Sara ihren Namen schrie, doch in dem Chaos konnte sie ihre Freundin nicht sehen. Überall waren Menschen; sie krochen über den Boden, kletterten über die Sitze, schlugen mit den Fäusten gegen das Glas, um sich in Sicherheit zu bringen.

»Was ist passiert? Was ist passiert?«, stammelte jemand immer wieder. Irgendwer rief um Hilfe. Schreie gellten durch den Bus. Der Verrückte fing an zu brüllen, er grölte etwas, das wie eine andere Sprache klang. Aries wusste nicht, ob er lachte oder weinte.

In einiger Entfernung gab es eine laute Explosion. Die Fenster des Busses zerbarsten. Aries hob die Hände über den Kopf und warf sich zwischen die Sitze. Glassplitter regneten auf sie herab, verfingen sich in ihren Haaren und prallten von ihren Händen ab. Der Verrückte hatte sie losgelassen. Sie hörte ihn nicht mehr, aber er war in ihrer Nähe. Es roch immer noch nach saurer Milch.

Ein Lieferwagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit über die Kreuzung und krachte seitlich gegen den Bus. Der Zusammenstoß war so heftig, dass der Bus umkippte und sich auf die Seite legte. Aries packte den Sitz vor sich und hielt sich fest. Menschen prallten gegen sie. Einen Moment lang sah sie Colins Gesicht, das gegen ihr Bein gepresst wurde, doch gleich darauf war der Junge in dem Meer aus zuckenden Körpern verschwunden.

Die Erde bebte immer noch.

Stunden? Minuten?

Und dann war es vorbei.

Im Bus war es totenstill. Aries lag da, mit dem Rücken gegen den Metallrahmen des Fensters und den aufgeplatzten Beton gedrückt, unfähig, an etwas zu denken. Ihr Bein schmerzte, aber nicht so stark, dass sie annehmen musste, es sei gebrochen. Etwas Feuchtes lief ihr über das Gesicht und ließ ihre Stirn wie verrückt jucken. Sie bekam ihre Hand nicht frei, um sich zu kratzen oder nachzusehen, ob es Blut war. Blutete sie? Sie war sich nicht sicher. Auf ihrer Brust lastete zu viel Gewicht. Mehrere Menschen lagen auf ihr. Ihre Arme waren eingeklemmt. Als sie tief Luft holte, atmete sie Staub ein und musste husten. Es roch durchdringend nach Kupfer.

Aries bewegte ihre Finger und versuchte, ihre Hand freizubekommen. Sie musste heftig ziehen; ihr Arm steckte unter dem Rücken von jemandem fest. Sie versuchte, den halb auf ihr liegenden Körper wegzuschieben, und hätte um ein Haar laut geschrien, als der Kopf zur Seite fiel und sie in das Gesicht des Verrückten blickte. Ihr wurde eng in der Brust, kalte Luft drang in ihre Lungen und sie war sich sicher, dass sie zu atmen aufgehört hatte. Ihr Gesichtsfeld verengte sich zu einem Tunnel. Gleich würde sie bewusstlos werden.

Was, wenn er aufwachte? Seine Lippen berührten fast ihre Wange. Der Geruch nach saurer Milch stieg ihr in die Nase. Wenn er sich bewegte, würde sie auf der Stelle einen Herzanfall bekommen. Sie sah durch die kaputte Fensterscheibe nach oben in den Himmel und stellte sich vor, wie die frische Luft sich auf ihrer Haut anfühlen würde, wenn sie sich befreit hatte.

Eine Hand griff nach ihr. »Halt dich fest«, sagte eine Stimme. Finger umschlossen ihre Hand und drückten sie leicht. Die Hand war warm und weich. Beruhigend. Der dunkelhaarige Junge tauchte vor ihr auf. Mit seiner freien Hand packte er die Jacke des Verrückten und zog ihn von ihr herunter.

»Besser?«

Aries nickte. Irgendwie schaffte sie es, ihre Beine aus den Trümmern zu befreien und zu sich heranzuziehen. Der Junge, der immer noch ihre Hand hielt, half ihr auf die Knie.

»Sara?« Ihre Stimme klang laut und unnatürlich.

Der Bus war voller menschlicher Körper, von denen sich manche bewegten, andere dagegen nicht. Sie packte eine Metallstange an einem Sitz und zog sich daran hoch, bis sie stehen konnte. Die Sitze waren immer noch mit dem Boden verbunden, der jetzt die Seite des Busses bildete, und ließen es noch enger im Innern werden. Über ihrem Kopf zitterten zerbrochene Scheiben und gelegentlich regneten Glasscherben auf sie herab.

Überall lagen Körper.

»Wir gehen sie suchen«, rief der Junge.

Er hielt immer noch ihre Hand und Aries ließ zu, dass er sie in den vorderen Teil des Busses führte. Als sie an den Körpern vorbeigingen, blieb sie immer wieder stehen, um sich die Gesichter anzusehen. Was hatte Sara getragen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Ihre Jacke? Einen Kapuzenpulli? Welchen? Einige von den anderen regten sich und standen auf. Sie stolperten und stürzten, als sie versuchten, ins Freie zu gelangen. Da der Bus auf der Seite lag, konnten sie die Tür nicht benutzen, daher nahm jemand einen der Nothämmer von der Wand und zertrümmerte die Frontscheibe. Eine Frau, deren Arm in einem merkwürdigen Winkel gebeugt war, kletterte über das Lenkrad nach draußen. Andere suchten das Innere des Busses nach Freunden und Familienangehörigen ab. Sie sah, wie Colin über den Körper der älteren Frau stieg. Sein Fuß landete auf einer der Mandarinen und zertrat sie zu einem matschigen Brei.

»Hilf mir!«, rief sie ihm zu. »Ich kann Sara nicht finden.«

Doch Colin ignorierte sie. Sie sah ihm an den Augen an, dass er fest entschlossen war, ins Freie zu gelangen. Sein Blick war ziellos und wirr. Die Haare standen ihm vom Kopf ab und seine Wangen starrten vor Dreck. Sie hatte ihn noch nie so schmutzig gesehen. Selbst seine Fingernägel waren immer peinlich sauber gewesen. Er ging an ihr vorbei und würdigte sie keines Blickes.

Sie überlegte, ob sie ihm etwas nachrufen sollte, doch es würde wahrscheinlich zwecklos sein. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, zwischen den am Boden liegenden Menschen nach ihrer Freundin zu suchen. Sie hörte Stimmen, die um Hilfe riefen. Ein Mann schrie nach seiner Mutter und flehte sie an, zu ihm zu kommen, weil er nicht wusste, wo er war. Schmerz und Tod waren überall. Einige der Leute streckten mit letzter Kraft ihre Hände nach ihr aus und Aries half mit, einen Mann unter einer bewusstlosen Frau hervorzuziehen. Er hatte sich den Knöchel gebrochen, der bereits angeschwollen war, schaffte es aber trotzdem, in den vorderen Bereich des Busses zu kriechen. Sie suchte weiter nach Sara, fand sie aber nicht.

»Vielleicht ist sie draußen«, sagte der Junge. Sie nickte und wehrte sich nicht, als er den Arm um sie legte. Aus irgendeinem Grund schien es jetzt das Richtige zu sein. Sein Körper war warm und die Muskeln unter seiner Jacke pressten sich an sie und trösteten sie.

Vielleicht war es Sara ja gelungen, ins Freie zu kommen?

Zwischen zwei zertrümmerten Sitzen lag eine hochschwangere Frau, die aufzustehen versuchte. »Bitte helft mir!«, bat sie.

Der Fremde ließ Aries los und sie stützten die halb bewusstlose Frau. Blut floss über ihre Stirn, mit der sie gegen das Fenster geprallt war. Zu dritt kletterten sie durch die Frontscheibe nach draußen auf die zerstörte Straße. An der Bushaltestelle standen Bänke. Sie begleiteten die Frau hinüber und halfen ihr, sich zu setzen. Eine Frau kam zu ihnen, um ihre Hilfe anzubieten. Aus einer Platzwunde an ihrer Stirn floss Blut, doch sie kniete sich neben die Schwangere und redete beruhigend auf sie ein.

Das Erste, was Aries auffiel, war die Stille. Um sie herum standen so viele Leute, von denen viele blutüberströmt und verletzt waren. Doch sie schwiegen alle. Sie liefen herum und einige halfen sich gegenseitig, aber kaum jemand sagte etwas.

Von der Straße war nicht mehr viel übrig. Der Beton war auseinandergebrochen und zu großen Haufen zusammengeschoben worden. Überall lagen Glassplitter, die unter ihren Füßen knirschten. Die Sonne würde gleich untergehen, der Himmel war mit Rosa- und Violetttönen überzogen. Lange Schatten krochen über den Boden. Normalerweise würden sich um diese Zeit die Straßenlampen einschalten, doch da der Strom ausgefallen war, würde es kein Licht in der Stadt geben. Bald würde alles stockdunkel sein. Aries schauderte. Der Gedanke, nach Sonnenuntergang auf der Straße zu sein, genügte, um ihr das Gefühl zu geben, wieder fünf Jahre alt zu sein und Angst vor den Ungeheuern unterm Bett zu haben.

Das Gebäude an der Ecke war in sich zusammengefallen. Es war einmal ein Supermarkt gewesen, doch jetzt war nur noch ein Haufen Schutt davon übrig. An der Stelle, an der der Parkplatz sein musste, lagen umgestürzte Einkaufswagen. Einige der Räder drehten sich noch. Wie viele Leute waren in dem Supermarkt gefangen? Auf dem Parkplatz standen Dutzende Autos, von denen viele auf die Seite gekippt waren. Es roch durchdringend nach Gas.

Während Aries an der Längsseite des Busses entlanglief, musterte sie die Gesichter der Menschen. Sie ging von Gruppe zu Gruppe, bückte sich, um sich Leute anzusehen, die auf dem Boden lagen. Viele waren benommen und schienen starke Schmerzen zu haben, doch sie kannte niemanden. Sara war nicht unter ihnen.

Einer der Autofahrer holte einen Erste-Hilfe-Kasten aus dem Kofferraum seines Wagens. Er machte ihn auf und fing an, Verbandsmaterial zu verteilen. Der Fremde aus dem Bus kam mit einem Stück weißer Mullbinde in der Hand zu ihr. »Du blutest.« Er legte Aries den Verband auf die Stirn und drückte ihn sanft gegen ihre Haut. »Halt das mal. Alles in Ordnung mit dir?«

Aries hob den Arm. Ihre Finger berührten sich, als sie ihre Hand auf den Verband legte. Sie drückte ihn fest auf ihre Stirn, doch es tat gar nicht weh. Als sie den Mull wegnahm, sah sie dunkelrotes Blut darauf. »Ich glaube, das ist nicht von mir«, sagte sie. »Ich bin nicht verletzt.«

»Gut. Hast du deine Freundin gefunden?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann sollten wir es noch mal im Bus versuchen. Wir suchen weiter nach ihr.« Als der Junge sich umdrehte und zu dem zerstörten Bus ging, folgte sie ihm. Sie mochte seine ruhige Art und es gefiel ihr, wie er seinen Körper beim Gehen bewegte. Es vermittelte ihr Sicherheit. Und Stärke. Sie sah Colin auf der Straße stehen und wollte ihm etwas zurufen, doch dann überlegte sie es sich anders. Er hatte sie schon einmal ignoriert; sie bezweifelte, dass er ihr eine Hilfe sein würde.

»Was ist denn eigentlich passiert?«, fragt sie, als sie wieder in den Bus kletterten.

»Erdbeben«, antwortete der Junge. Seine Augen flackerten im Licht der untergehenden Sonne. »Als hätte sich die Erde geöffnet und uns verschlungen.«

Mach dich bereit. Es wird sich gleich öffnen.

Der Verrückte hatte das gesagt, kurz bevor er mit seinem Countdown begonnen hatte.

Doch wie konnte das sein? Niemand konnte Erdbeben vorhersehen – oder vielleicht doch?

»Sara muss irgendwo hier drin sein«, sagte Aries. Ihre Stimme hörte sich so schwer und fremd an. »Sie ist blond und trägt eine Brille. Wir müssen sie finden.«

»Wir werden sie finden.«

»Ich weiß nicht mehr, was sie anhat.«

»Ich habe sie gesehen. Ich weiß, wie sie aussieht.«

»Ist es nicht merkwürdig, dass ich mich nicht erinnern kann? Ich müsste es doch eigentlich wissen. Sie ist meine beste Freundin. Oh Gott. Und wenn sie jetzt tot ist? Dann muss ich es ihrer Mutter sagen.«

Der Junge drehte sich um und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie sah ihm in die Augen und fragte sich, wie sie so dunkel und stechend und gleichzeitig so warm und freundlich sein konnten. Sie überlegte, ob sie ihn nicht doch schon einmal gesehen hatte. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Waren sie vielleicht auf dieselbe Schule gegangen?

»Wir werden sie finden«, wiederholte er.

Und sie fanden sie auch. Doch da war es schon zu spät.

CLEMENTINE

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