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Ein Knarren. Sachte, unendlich leise. Ein Zimmer, das bis eben noch in vollkommener Finsternis lag. Jetzt bahnte sich ein schwacher Lichtkeil seinen Weg von der Tür her bis hinüber zu dem Bett an der Wand. Die Mundwinkel des kleinen, schlafenden Mädchens zuckten. Es träumte, doch sicher keinen friedlichen Traum.
Ein Schatten näherte sich dem Bett. Eine hochgewachsene Gestalt beugte sich über das Kissen.
Das blonde Mädchen schlug die Augen auf. So rund. So fragend.
"Du siehst mich nicht", flüsterte der Schatten. So nah.
"Du weißt, warum ich gekommen bin." Die Gestalt beugte sich tiefer über das Kind und formte die dünnen Lippen zu einem Lächeln. "Es wird nicht wehtun. Nicht so sehr."
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Seitenzahl: 152
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Was bisher geschah
Eine von euch
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
»Geisterjäger«, »John Sinclair« und »Geisterjäger John Sinclair« sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Wuerz
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-5421-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Die Hauptpersonen dieses Romans sind:
Wynn Blakeston: Gestrandeter aus einer anderen Dimension
Abby Baldwin: Wynns beste Freundin
Theodore Winter: ehem. Reverend in TC
Marjorie und Gerald Mulligan: Leiter des Waisenheims Bird Nest
Muriel Ryder: Betreuerin im Bird Nest
Lieutenant Bella Tosh: Ermittlerin der Abteilung Delta
Johnny Conolly hat seine Mutter verloren. Sie wurde von einem Schnabeldämon brutal ermordet. Als dieser Dämon durch ein Dimensionstor flieht, folgt Johnny ihm.
Kurz darauf wird das Tor für immer zerstört, sodass es für Johnny keine Möglichkeit zur Rückkehr gibt. Das Dimensionstor spuckt ihn schließlich wieder aus – in einer anderen Welt. Er ist in Dark Land gelandet, genauer gesagt in Twilight City, einer Stadt voller Geheimnisse.
Menschen und Dämonen leben hier mehr oder weniger friedlich zusammen, und doch ist Twilight City voller Gefahren. Die Stadt ist zudem von einem dichten Nebelring umgeben, den kein Einwohner jemals durchbrochen hat. Niemand weiß, was hinter den Grenzen der Stadt lauert …
In dieser unheimlichen Umgebung nennt sich Johnny ab sofort Wynn Blakeston – für den Fall, dass irgendjemand in Twilight City mit seinem Namen John Gerald William Conolly etwas anfangen kann und ihm möglicherweise Übles will. Schließlich wimmelt es hier von Dämonen aller Art – und die hat Wynn in seiner Heimat immer bekämpft.
Wynn findet heraus, dass der Schnabeldämon Norek heißt und skrupelloser und gefährlicher ist als alle seine Artgenossen, die sogenannten Kraak.
Als Wynn wegen eines unglücklichen Zwischenfalls zu einer langen Haftstrafe verurteilt wird, zahlt der geheimnisvolle Sir Roger Baldwin-Fitzroy das Bußgeld und nimmt ihn bei sich auf – warum, das weiß Wynn nicht.
Er lernt Sir Rogers Tochter Abby und seinen Diener Esrath kennen, die auch in Sir Rogers Villa leben. Er freundet sich mit Abby an, sie wird schon bald zu seiner engsten Vertrauten in dieser mysteriösen Welt.
Was Wynn nicht ahnt: Auch sein geheimnisvoller Gönner hat noch eine Rechnung mit dem Dämon Norek offen. Als es Sir Roger schließlich gelingt, Norek zu schnappen, liefert er den Kraak dem Wissenschaftler Dr. Shelley aus, der gleichzeitig Leiter des Sanatoriums Dead End Asylum im Deepmoor ist. Dieser verpflanzt Noreks Gehirn in einen anderen Körper und sperrt Norek in seinem Sanatorium ein.
Sir Roger aber präsentiert Wynn Noreks toten Körper, sodass der glaubt, der Kraak wäre für immer besiegt.
Doch einen Ausweg aus Dark Land scheint immer noch in weiter Ferne, und Wynn muss sich mit dem Gedanken anfreunden, dass sein Aufenthalt in dieser Welt wohl noch länger andauern wird. Mit Abbys Hilfe hat er inzwischen einen Job beim Twilight Evening Star ergattert, der größten Zeitung von TC. Als man dort erkennt, dass er für Größeres bestimmt ist, steigt er vom Archivar zum Reporter auf.
Und schon bald stellt Wynn fest, dass noch ganz andere Aufgaben in TC auf ihn warten …
Währenddessen ist Abby dem Geheimnis ihrer verstorbenen Mutter ein Stück näher gekommen. Offenbar war diese eine Hexe, und Sir Roger scheint eine düstere Vergangenheit zu haben. Nun fragt Abby sich, ob das Erbe ihrer Mutter auch in ihr schlummert …
Eine von euch
von Marc Freund
Ein Knarren. Sachte, unendlich leise. Ein Zimmer, das bis eben noch in vollkommener Finsternis gelegen hatte. Jetzt bahnte sich ein schwacher Lichtkeil seinen Weg von der Tür her bis hinüber zu dem Bett an der Wand. Die Mundwinkel des kleinen, schlafenden Mädchens zuckten. Es träumte, doch sicher keinen friedlichen Traum.
Ein Schatten näherte sich dem Bett. Eine hochgewachsene Gestalt beugte sich über das Kissen.
Das blonde Mädchen schlug die Augen auf. So rund. So fragend.
»Du siehst mich nicht«, flüsterte der Schatten. So nah.
»Du weißt, warum ich gekommen bin.« Die Gestalt beugte sich tiefer über das Kind und formte die dünnen Lippen zu einem Lächeln. »Es wird nicht wehtun. Nicht so sehr.«
Die Kleine tat einen tiefen Seufzer und sank mit dem Kopf auf das Kissen zurück.
Die Gestalt vor dem Bett lächelte zufrieden. Im dünnen Lichtkegel war zu sehen, wie aus ihrem geöffneten Mund etwas hervorzüngelte. Ein schwarzer, glänzender Saugrüssel tauchte auf und schlängelte sich in Richtung des blonden Lockenkopfs. Mit zuckenden, ungeduldigen Bewegungen tastete er nach den weichen Lippen des Mädchens und schob sie dennoch vorsichtig und behutsam auseinander. Im Halbdunkel des Zimmers war ein schlürfendes Geräusch zu hören, so als ob jemand versuchte, einen Pappbecher mit einem Strohhalm vollständig leer zu saugen.
Nach einer Weile bäumte sich die Gestalt vor dem Bett auf, der Saugrüssel verschwand im selben Augenblick. Es folgte ein zufriedenes Geräusch.
Die schattenhafte Gestalt drehte sich um und verließ das Mädchen, das nun im Schlaf unruhige Laute ausstieß. So als würde sie noch immer träumen, was vermutlich sogar der Fall war.
Leise schloss sich die Tür. So als wäre nichts gewesen.
Die Nacht hatte viele Schrecken, einer davon war hier gewesen.
***
»Hey Sie! Kommen Sie da weg!«
Der junge Police Officer war stehen geblieben. Er war gerade aus der Tür einer kleinen Dampfbäckerei getreten, die von einem schlitzäugigen Kerl namens Silfax betrieben wurde, als er den Mann auf dem Pier sah.
Der Angesprochene reagierte nicht.
»Was zum …«, setzte Officer Montague Green erneut an.
Er ließ das salzige Gebäck, von dem er gerade hatte abbeißen wollen, wieder in die fettige braune Papiertüte plumpsen. Der Polizist, der von seinen Kollegen nur Monty genannt wurde, leckte sich das Frittier-Öl von Daumen und Zeigefinger und trat näher an den Pier heran.
»He, Sir!«, rief er noch einmal. »Das ist kein geeigneter Ort, um sich auszuruhen! Kommen Sie da weg. Haben Sie nicht gehört, was mit den Leuten passiert ist, die sich zu nahe an dieses Ding herangewagt haben? Verflucht noch mal, ich rede mit Ihnen!«
Reverend Theodore Winter blinzelte. Wie aus einer Trance erwacht, hob er den Kopf und wandte ihn in die Richtung, aus der die seltsam schnarrenden Geräusche gekommen waren. Er entdeckte einen jungen Police Officer in seiner Uniform. Der Kerl blickte in seine Richtung, nein, er sah ihn sogar direkt an. Seine Lippen bewegten sich unablässig. Der Mund öffnete und schloss sich, ließ eine flinke Zunge erkennen, die gerade dabei war, sich in Rage zu reden.
Wenn er doch nur verstehen würde, dass Reverend Winter keines seiner Worte an sich herankommen ließ. Sie prallten an ihm ab wie ein Schwarm Schmeißfliegen an einem geschlossenen Fenster.
»Sie sollen da wegkommen, verdammt! Sonst schleife ich Sie vom Pier runter!«
Wie Winter diese Streber und Wichtigtuer hasste. Oh, verdammt noch eins, er hasste sie wirklich. Und diesen hier ganz besonders. Nicht, dass sie sich schon einmal begegnet wären, aber Winter sah dem Kerl bereits an, dass er das Abzeichen auf seinem Hemd besonders wichtig nahm. Es machte ihn aus seiner Sicht vermutlich zu einer Art Halbgott. Ein vermaledeiter Stern oder was immer es war, was der Kerl da mit sich herumtrug. Winter verspürte gute Lust, dem Typen den Schädel einzuschlagen. Am besten gleich jetzt und hier, vor allen Leuten, ganz egal.
Natürlich tat Winter es nicht. Stattdessen öffnete er die Augen weiter, löste seine beiden Hände vom Rumpf des weißen Schiffs und hielt sie dem anderen demonstrativ entgegen.
Sehen Sie? Nichts passiert. Der alte Theo hat sich nur einen Spaß erlaubt.
»Was soll das?«, fragte der Officer. »Können Sie nicht lesen?« Er deutete mit dem Zeigefinger auf ein Schild, das Passanten mit großer, knallroter Schrift untersagte, sich dem Schiff zu nähern.
Winter ging dem Gesetzeshüter entgegen. Er lächelte. Sein Lächeln war wie eine Maske, die er sich nach Belieben überstreifen konnte.
»Tut mir leid, Officer, ich muss das Ding wohl übersehen haben.«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«, fragte Monty. »Ich könnte Ihnen deswegen jetzt eine Anzeige verpassen. Auch Ihr Priestergewand würde mich davon nicht abhalten.«
Das Lächeln verschwand aus Winters Gesicht, so als hätte es jemand mit einem feuchten Lappen abgewischt. Er trat so nahe an den jungen Mann heran, dass ihre Nasen sich beinahe berührten.
»Soll ich Ihnen etwas sagen, junger Freund? Mein Priestergewand hat schon mehr ruhmreiche Schlachten geschlagen, als Sie bisher in Ihrem jämmerlichen Leben warme Mahlzeiten hatten. Und es würde mich auch nicht davon abhalten, Ihnen den Kopf in eine Richtung zu Ihrem milchweißen, verpickelten Hintern zu drehen, damit Sie auch ja immer wissen, woher der Wind weht.«
Monty öffnete den Mund. »Aber …«
»Und egal, was Sie mir jetzt entgegnen wollen, lieber junger Freund«, fuhr Winter fort, »Sie werden insgeheim wissen, dass ich recht habe und dass es für Sie heute Morgen vermutlich tausend andere Dinge gibt, die Sie stattdessen besser erledigen sollten, anstatt einen Mann wie mich auf offener Straße über Dinge belehren zu wollen, von denen Sie nicht die geringste Ahnung haben.«
Der junge Police Officer war rot angelaufen. Er trat von einem Bein auf das andere und versuchte dabei, nach Luft zu schnappen. Seine Hand näherte sich der rechten Gesäßtasche, wo er seinen Notizblock aufbewahrte, mit dem er Personalien aufnahm.
Winter bäumte sich auf, und obwohl er nicht ganz die körperliche Größe wie der Gesetzeshüter hatte, schien er ihn in diesem Augenblick selbst in dieser Disziplin noch zu überragen.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, wie wir diese Farce hier beenden«, sagte der Mann im Priestergewand. »Sie werden Ihren jämmerlichen Notizblock dort stecken lassen, wo er sich gerade befindet. Möglicherweise stopfen Sie ihn später noch etwas tiefer als kleinen Vorgeschmack auf den nächsten Kameradschaftsabend der Polizei. Und jetzt werden wir beide unserer Wege gehen, als hätte diese bezaubernde kleine Unterhaltung nie stattgefunden.«
Officer Monty reckte das hochrote, glattrasierte Kinn nach oben. Es zitterte leicht.
Reverend Winter lächelte ihm freundlich zu und ging an ihm vorbei. »Und vergiss nicht, dir den Rotz abzuwischen, bevor du zum Mittagessen gehst, mein Kleiner.«
Der ehemalige Geistliche setzte seinen Weg fort und entfernte sich vom Pier. Er machte sich auf den Rückweg, der ihn die Cellar Lane hinauf bis in seine Wohnung führen würde.
Er hatte kein Signal empfangen. Kein einziges, verdammtes Signal.
Sollten die Stimmen etwa für immer verstummt sein?
Nein, sie hatten immer mit ihm kommuniziert. Wenn nicht auf die eine, dann auf eine andere Art. Aber dieses Mal war nichts als Schweigen.
Ob es an den Auswirkungen dieses vermaledeiten Hell-o-ween lag? Es hatte Unruhen in TC gegeben. Die Krankenwagen der Stadt schienen pausenlos im Einsatz gewesen zu sein. Irgendein Irrer hatte den Kindern vergiftete Süßigkeiten ausgegeben, und es waren Geister unterwegs gewesen.
Die Dämonen vom weißen Schiff hatten in dieser Zeit geschwiegen. Aber, verflucht noch eins, warum schwiegen sie noch immer?
Reverend Winter wusste, dass sie nur allzu bereit waren, das Schiff zu verlassen. Doch damit es so weit kommen konnte, mussten noch einige Vorkehrungen getroffen werden. Menschen und Dämonen würden sterben. Doch die Dämonen des Schiffs waren es, die ihm die Befehle dazu erteilten.
Warum, zum Teufel, schwiegen sie … Winter fluchte laut, als er sich dabei ertappte, diesen Gedanken zum wiederholten Mal durchzuspielen. Er war wie einer dieser lästigen Ohrwürmer, die man nie wieder loswurde, egal, wie sehr man sich auch darauf konzentrierte. Ob es anders herum auch funktionierte?
I love you baby just because, you’ll dig my grave, and I’ll dig yours.
Winter schnippte seine Finger demonstrativ zu diesem alten Song von Ronny Bash and the Bastards und summte die Melodie voller Inbrunst.
Eine junge Frau, die ihm entgegenkam, sah ihn mit großen Augen an und lenkte sicherheitshalber ihren Kinderwagen auf die gegenüberliegende Straßenseite.
Reverend Winter musste inzwischen erkennen, dass sein kleines Ablenkungsmanöver nicht funktioniert hatte.
Er hatte noch immer keine Nachricht von den weißen Dämonen erhalten, nicht einmal, als er sein gutes rechtes Ohr direkt an die verdammte Bordwand des Schiffes gepresst hatte.
Er stieß die Tür auf und quälte sich das muffige Treppenhaus hinauf.
Im zweiten Stock hatte sein Nachbar, der Krötenmann, gerade die Wohnungstür geöffnet, um die neue Ausgabe des Twilight Evening Star reinzuholen, die sich wegen der vielen Sonderbeilagen im Zeitungsschlitz verkeilt hatte.
»Ist Ihnen das Klopapier ausgegangen, Krötenfratze?«, fragte der Reverend im Vorbeigehen, ohne den anderen anzusehen.
Mit einem reißenden Geräusch gab das Papier nach, und die Kreatur mit den Glubschaugen stolperte zwei Schritte nach hinten.
Winter gab ein glucksendes Lachen von sich, während er im Gehen bereits nach seinem Wohnungsschlüssel kramte.
»So eine Scheiße! Würde mich nicht wundern, wenn Sie das gewesen sind, Winter!«, brüllte ihm der Froschmann nach.
Der Reverend beugte sich über das Treppengeländer. »Das waren genau die Worte Ihrer Frau nach der Geburt Ihrer Zwillinge. Schönen Gruß an die Kleinen.«
Winter schloss die Tür auf und klappte sie hinter sich wieder zu.
Alarmiert hob er den Kopf. Er wusste sofort, dass außer ihm noch jemand in seiner Wohnung war.
***
»Es ist nicht normal.«
Gerald Mulligan hatte die Hände sorgfältig gegeneinander gelegt. Er saß in seinem Bürostuhl und hörte zu. Seit einigen Minuten tat er nichts anderes. Er drehte sich auf seinem Sitz leicht nach rechts und wieder zurück.
Die junge Frau vor ihm redete noch immer, erzählte ihm etwas von den Beobachtungen, die sie gemacht und von den Aufzeichnungen, die sie daraufhin angefertigt hatte. Jetzt hatte sie eine Pause eingelegt. Offenbar erwartete sie jetzt eine Reaktion von ihm.
Mulligan räusperte sich. »Natürlich können Sie mir Ihre Unterlagen geben. Ich werde sie sorgsam prüfen.«
»Und genau das glaube ich Ihnen nicht«, antwortete die junge Frau auf dem Besucherstuhl in jenem Büro, in jenem großen Haus, das in einiger Entfernung an Darkwater grenzte, einem der Gebiete des berüchtigten Stadtteils Blackpool.
Wenn Mulligan seinen Kopf ein wenig reckte, konnte er von hier aus den riesigen Krater erkennen, der vor vielen Jahren bei der Explosion einer Fabrik entstanden war und sich über die Zeit mit dunklem Wasser gefüllt hatte.
»Warum nicht?«, entgegnete er, während er die Hände fragend auseinanderbreitete. »Ich bin Ihr Vorgesetzter, Muriel. Sie können mir getrost alles anvertrauen.«
Die blonde Frau, die auf den Namen Muriel Ryder hörte, tat einen tiefen Seufzer. »Es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen. Aber ich fürchte, ich habe schon viel zu lange untätig zugesehen.«
»Das heißt, Sie wollen ab jetzt etwas unternehmen?«
»Ja.«
Auch das noch, dachte Mulligan. Was mach ich mit ihr? Was mach ich mit ihr? Laut sagte er: »Miss Ryder, Sie wissen doch, dass Sie mir vertrauen können. Und ich verspreche Ihnen, dass alles, was zwischen uns geredet wird, diesen Raum nicht verlässt.«
Muriel rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück nach vorne, sodass ihre wohlgeformten Knie unter ihrem Rock hervorblitzten.
Mulligan registrierte es mit Wohlwollen.
»Ich weiß ja, dass Sie immer gut zu mir waren, Sir«, fuhr sie fort. »Deswegen fällt es mir ja auch so schwer.«
Er beugte sich auf seinem Sessel nach vorne und nickte ihr väterlich zu. Er griff mit seiner Rechten über den Schreibtisch hinweg und griff ihre Hand, die er sanft tätschelte.
»Es kommt alles in Ordnung, das verspreche ich Ihnen. Sie können mir Ihre Unterlagen getrost aushändigen, und ich lese sie mir in Ruhe durch. Gleich heute Abend. Einverstanden?«
Sie lächelte säuerlich und wand ihre Hand unter seiner heraus. »Es sind nicht Sie, vor dem ich Angst habe.«
Mulligans Augen weiteten sich einen Deut. »Sie … ach, jetzt begreife ich erst. Sie sprechen von meiner Frau?« Mulligan legte den Kopf in den Nacken und lachte kurz auf. »Aber liebes Kind, machen Sie sich doch, um Himmels willen, um Marjorie keine Gedanken. Sie ist diesem Heim, seinen kleinen Bewohnern und er Belegschaft ebenso offen zugetan, wie ich es bin.«
Muriels Blick verriet, was sie in Wirklichkeit von dieser Antwort hielt.
»Also schön«, sagte er, »Sie denken, dass im Bird Nest nicht alle Dinge so sind, wie sie sein sollten. Es … wie sagten Sie noch gleich … es geht hier etwas vor sich. In der Nacht. Huuhuuhuuuuuh.« Mulligan lachte, hob beide Hände in die Höhe und ließ seine gepflegten Finger tanzen.
»Ja, das glaube ich«, bestand Muriel auf ihrer Meinung. »Und die Tatsache, dass Sie versuchen, meine Beobachtungen ins Lächerliche zu ziehen, macht mir meine Entscheidung nur leichter.«
Sie erhob sich von ihrem Stuhl, nahm ihre Unterlagen vom Tisch und presste sich den braunen Pappordner mit beiden Händen vor die Brust.
»Ach, kommen Sie schon«, lenkte Mulligan ein. »So war das doch nicht gemeint. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Ihnen …«
»Und ich sagte Ihnen, dass ich mich mit meinen Untersuchungen an eine andere Stelle wenden werde. Vielleicht an Doktor Drewett, an die Presse oder …«
»Aber Muriel«, rief Mulligan. Er setzte sich mit einem Ruck kerzengerade, während ihm die Farbe aus dem Gesicht wich.
»Etwas passiert mit den Kindern in diesem Heim«, sagte sie entschieden, wich drei Schritte zurück und blieb in der Nähe der Tür stehen, die rechte Hand auf der Klinke. »Etwas ist in diesem Haus. Und es sucht die Kinder auf, wenn sie schlafen. Es sucht sie heim, um ihnen etwas wegzunehmen.«
Mulligan starrte seine Angestellte mit offenem Mund an.
»Haben Sie sich die Kinder eigentlich jemals genau angesehen? Ich habe es getan, und ich weiß, dass das, was mit ihnen Nacht für Nacht passiert, nicht normal ist. Ich weiß nicht, was es ist, Sir, aber ich werde es herausfinden.«
»Sie wissen, dass ich alle Möglichkeiten besitze, Sie …«
»Sie wollen mich feuern?«, fragte Muriel gerade heraus. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Meinetwegen können Sie das tun. Aber Sie werden mich nicht daran hindern können, dies hier an geeigneter Stelle vorzulegen. Wer weiß, vielleicht interessiert sich ja sogar Sir Roger Baldwin persönlich dafür.«
»Jetzt ist es aber genug!«, schrie Mulligan. Er schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte, sodass sein Stifthalter nach vorne kippte und zahlreiche Bleistifte und Kugelschreiber (mit dem Werbedruck Bird Nest – für die, die wir lieben) auf der Schreibunterlage verteilte. Einige von ihnen rollten über die Kante und fielen zu Boden.
Mulligan war bei der Erwähnung des Namens ihres prominenten Schirmherrn aufgesprungen. »Denken Sie nicht, dass Sie da einen Schritt zu weit gehen? Ich will Ihnen mal was sagen, Muriel: Sie nehmen sich und Ihre lächerlichen Aufzeichnungen für zu wichtig.«