Dark Noise - Margit Ruile - E-Book

Dark Noise E-Book

Margit Ruile

4,5

Beschreibung

Zafer arbeitet als freiberuflicher Bild- und Videoretuscheur. Und er ist der Beste. Einen Mann in das Überwachungsvideo einer Tiefgarage einzufügen, ist für ihn ein Kinderspiel. Merkwürdig ist nur, dass dieser Auftrag anonym war. Tage später erkennt Zafer durch Zufall eines seiner Videos in den Nachrichten über einen Journalistenmord wieder. Es zeigt, wie der mutmaßliche Täter den Tatort, eine Tiefgarage, verlässt. In Wirklichkeit ist der Mann nie dort gewesen. Aber das weiß nur Zafer …

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Kapitel 1 – Ich liebe die …

Ich liebe die Dunkelheit. Ich habe sie schon immer geliebt.

Solange ich meinen Laptop mitnehmen kann, bin ich überall zu Hause.

Der Ort, an dem dies alles geschieht, spielt deshalb auch keine Rolle. Es könnte überall auf der Welt sein. Ich sehe die gleichen Einkaufszentren, die gleichen Lichter in der Nacht, die gleichen Coffeeshops mit ihren Pappbechern und der schwachen Brühe, die alle trinken, zusammen mit den Turnschuhen und den T-Shirts, die jeder trägt.

U-Bahnen rauschen unter der Erde, Tunnels verzweigen sich unter den Straßen, Dunstschwaden stiegen aus Gullydeckeln.

Sie treffen sich dort, ich weiß es. An geheimen Punkten.

Es gibt verschiedene Arten zu verschwinden. Die eine ist wie das Auslöschen einer Kerze. Ein Flackern, der letzte Kampf einer zuckenden Flamme, und dann steigt der Rauch aus einem schwarzen Docht empor und kräuselt sich unter der Decke. Das Problem mit dieser Art des Verschwindens ist, dass man am Ende nicht mehr da ist.

Ich bevorzuge die andere Art. Ich bin unsichtbar. Weg und doch da. An mehreren Orten zugleich.

Wo ich jetzt bin?

Es ist einer von diesen Punkten, auf die man vom Weltraum aus Zugriff hat, ich zoome auf mich selbst hinunter, Wolken, Erde, eine Stadt, klicke auf das Zappelmännchen und setze es in eine Straße. Ja, hier bin ich.

Ich werde nicht erzählen, wo, denn ich muss meine Spuren verwischen. Immer wenn man philosophisch wird, will man nur seine Spuren verwischen. Untergehen in diesem großen Rauschen.

Das mache ich jetzt. Ich bin – unsichtbar –

und tippe diese Buchstaben in meinen Rechner:

L-A-U-R-I-N

Stille.

Der Trick sind die Schatten. Schatten machen die Figur dreidimensional. Erst mit einem Schatten wirst du ein Mensch.

Es ist schwieriger als Mensch.

Kapitel 2 – Ich fange nicht …

Ich fange nicht mit mir an. Das kann ich nicht. Denn dieses Ich, das ich jetzt bin, wundert sich über die Figur, die sie war. Die beiden sind nicht deckungsgleich. Ich drehe mich um und schaue zurück auf jemanden, den ich gut kenne. Sehr gut kenne. Nennen wir ihn – Zafer.

Zafer wohnte also in einer Stadt, die ich nicht verrate. Darin eine Straße, unweit einer großen U-Bahn-Station. Die Nummer 12 lag am Ende einer Sackgasse. Bäume und Büsche verstellten den Blick auf die Stadtautobahn. Das Haus war ein schmuckloses Gebäude mit vier Stockwerken, das vor vielen Jahren einmal mit blutroter Farbe gestrichen wurde und nun einen schmutzig braunen Ton angenommen hatte.

Ging man durch die türkisfarbene Tür, die rechts und links von zwei verwitterten Steinlöwen bewacht wurde, kam man an zwei weiteren Gebäuden vorbei, nur um dann im zweiten Hinterhof auf ein drittes Haus zu stoßen. Der Hinterhof vom Hinterhof. Dort gab es eine Erdgeschosswohnung mit drei hohen Fenstern. Einem zur Küche, einem zum winzigen Schlafzimmer und einem zum Wohnzimmer, in dem ein großer Kachelofen stand. Von außen konnte man das alles nicht sehen. Auch nicht bei Licht. Die Scheiben der Fenster waren einfach zu verschmutzt. Innen war es immer dunkel, selbst im Hochsommer. Das lag an den Hinterhofhäusern, die so hoch waren, dass sie keinen Sonnenstrahl in die Erdgeschosswohnung durchließen. Es gab einen Winkel, von dem aus man den Himmel sehen konnte. Man musste das Fenster öffnen, sich auf das Bett legen und mit dem Kopf ganz nah an den Ofen rücken. Einmal lag Zafer so auf der Lauer, um zwischen den aufragenden Mauern den Blick auf eine Wolke erhaschen zu können.

Eine echte Wolke. Kaum nachzubauen.

Kam man durch den Hausflur mit gesprungenen Fliesen und eingedellten Briefkästen in die Wohnung, so stolperte man als Erstes über einen Kabelstrang im Gang. Die Kabel durchliefen den vorderen Teil des Wohnzimmers, vorbei an einer Zimmerpflanze mit ledrigen grünen Blättern, die später noch eine Rolle spielen wird, und Pizzaschachteln, die kunstvoll übereinandergestapelt waren zu einem schiefen Turm, der fast bis zur Decke reichte. Neben dem alten Kachelofen stand – den Lattenrost auf vier Bierkästen gestützt – ein ungemachtes Bett; die blauen Überzüge mit Fußbällen bedruckt und vom vielen Waschen ausgebleicht. Die Kabel führten in einem breiten Bogen um die Kästen herum und landeten schließlich im Zentrum der Welt. Dem Rechner.

Hier wurden Dinge geschaffen, Welten verändert, neue Kreaturen geboren. Und mitten drin saß der Schöpfer – Zafer, leicht gebückt, mit Nackenschmerzen.

Noch wenige Wochen zuvor hatte er mit einem Heer anderer Retuscheure in Schneideräumen geschuftet, deren Fenster mit schwarzer Folie verklebt waren. Stundenlang konnte man nichts anderes als das leise Klicken der Maustasten hören. Mittags gab es immer einen, der sich an die Herdplatte der Küchenzeile stellte und kochte. Zafer schlang dankbar die Nudeln in sich hinein, vermied es aber, Dinge aus den verschimmelten Kühlschränken zu essen oder den geschäumten Milchkaffee aus den leicht säuerlich riechenden Kaffeemaschinen zu trinken. Er vermied es auch, sich zu den anderen zu setzen, die zusammen vor den Rechnern aßen, über Programme sprachen oder sich neue Spiele zeigten, bevor sie sich wieder ihren Filmsequenzen zuwandten. Er konnte nicht von seinen Monstern sprechen. Er hatte sie noch niemandem gezeigt. Sie könnten sie ihm klauen.

Es war zu früh. Noch war es zu früh.

Sobald sich auf seinem Konto ein bisschen Geld angehäuft hatte, war er froh, dass er den großen Schneideräumen entfliehen konnte. Er kaufte sich einen schnelleren Rechner und eigene Programme und baute alles in seiner Wohnung auf, die er nun nicht mehr zu verlassen brauchte. Die Aufträge bekam er per E-Mail zugeschickt, mit einem Link zu den Sequenzen. Er lud sich die Szenen auf die Festplatte, bearbeitete sie und schickte sie wieder zurück.

Er wusste nicht, ob seine Auftraggeber zufrieden waren, denn man gab ihm nie eine Rückmeldung. Nur die Zahlungen gingen mehr oder weniger pünktlich auf seinem Konto ein und er bekam immer neue Links zugeschickt, sodass er annahm, dass man seine Arbeit in Ordnung fand.

Anfangs hatte er noch vor, um elf Uhr vormittags mit der Arbeit zu beginnen, aber das verschob er jeden Tag ein wenig nach hinten. Je kürzer die Tage wurden, desto später fing er an. Kaum noch verließ er das Haus bei Tageslicht. Manchmal blieb er auch tagelang zu Hause. Er hasste die Straßen mit den vielen Menschen, die U-Bahnen, das Gedrängel. So viele Details, so viele Kleinigkeiten. Ohren, Augen, Körper, Bewegungen, Haare. Perfekt erschaffen. Wie sollte er das jemals nachahmen? Manchmal ertappte er sich dabei, dass er sich wünschte, die Szene in der U-Bahn anzuhalten, um sie sich etwas genauer anzusehen. Einen Haarschopf, ein Tattoo, perlendes Wasser auf den Mänteln, die Augen eines Hundes. Doch alles lief unerbittlich in Echtzeit weiter in einer verwirrenden Geschwindigkeit.

Nur vor seinem Rechner war er sicher. Hier konnte er alles tun, die Zeit verlangsamen, sich in ihr vor und zurück bewegen, und vor allem konnte er den Rechner in den Ruhezustand versetzen, wann immer er wollte.

Seit Wochen schon bearbeitete er Sequenzen aus Wahre Liebe, einer vor Jahren hastig produzierten Soap um drei Mädchen Mitte zwanzig, die ihr Glück in der Großstadt versuchten. Zafers Auftrag war es, Produktnamen und Schriftzüge von Zeitschriften, Flaschen, Shampoos und Damenbindenschachteln in den Filmszenen wegzuretuschieren. Was einmal sehr sorgfältig und scheinbar zufällig in der Filmkulisse platziert worden war, verhinderte nun die Ausstrahlung der Serie, da die Nebenverdienste der Produzenten plötzlich jemandem aufgefallen waren, der das all die Jahre vorher scheinbar nicht bemerkt hatte. Man nannte es Schleichwerbung. Und die musste nun entfernt werden.

Zafer war es egal, was er tat. Ihn interessierte die Arbeit an sich und nachdem er zuvor monatelang Mikrofone und Lampenkabel aus Bildern herausgenommen hatte, empfand er es nun zumindest als kleine Herausforderung, Produkte umzubenennen oder sie gleich ganz logofrei zu machen. So verbrachte er Stunden mit den Szenen und schon nach ein paar Tagen fühlte er sich als Teil der Soap. Und obwohl er der Handlung nicht richtig folgen konnte, da er immer nur einzelne Szenen bearbeitete, glaubte er bald, die Figuren so gut zu kennen, als sei er ihnen im wirklichen Leben schon einmal begegnet.

Später konnte er nicht mehr sagen, wann er das Monster zuerst eingebaut hatte. Es musste zwischen Folge 2435 und 2438 gewesen sein.

Eine der Hauptfiguren aß Gurken aus einem Glas. (Es war die Vorbereitung für die Enthüllung ihrer Schwangerschaft, zwei Folgen später.) Zafer hatte gerade den Schriftzug der Gurkenherstellerfirma getilgt und stattdessen eine weitere Gurke hineingeschmuggelt, die durch das Glas hindurchschien – in Flüssigkeit – ganz schwierig, vor allem wegen der Lichtbrechung –, als er plötzlich eine Idee hatte. Das Glas stand die restliche Szene über unbeachtet rechts hinten auf dem Küchenbord und er gab seiner neu erschaffenen Gurke Augen, einen Mund und ließ sie schließlich mit zwei kleinen Flügeln schlagen.

Zafer schickte die Szene zurück und wartete den ganzen Tag auf eine Reaktion. Unwahrscheinlich, dass sie den neuen Statisten im Hintergrund nicht bemerkten. Hatten sie Humor? Wohl eher nicht, denn diese Soap war, soweit Zafer das beurteilen konnte, eine todernste Angelegenheit und noch dazu handelte es sich bei dieser Szene um den Cliffhanger.

Er wartete. Einen Tag, zwei Tage. Doch es kam nichts zurück. Eine Woche später hatte er das Geld auf dem Konto. Keinem schien die Flügel schlagende Gurke aufgefallen zu sein und Zafer fühlte eine angenehme Aufregung in sich aufsteigen. Er hatte nicht nur retuschiert, er hatte etwas hinterlassen, er, Zafer, hatte sich für eine Sekunde, 25 Frames, in der wirklichen Welt sichtbar gemacht.

Er speicherte die Gurke auf einer externen Festplatte, die auch andere derartige Kreaturen beherbergte. Monster. Kleine und große, komische und solche, denen man lieber nicht begegnen würde. Es war ein ganzer Zoo von Geschöpfen, darunter Drachen, fleischfressende Pflanzen und riesige Insektenwesen.

Nachdem die Sache mit der Gurke unentdeckt blieb, fasste Zafer Mut und fügte seine Kreaturen noch anderen Szenen hinzu. Dabei ging er äußerst vorsichtig vor. Mal ließ er einen Reptilienschwanz aus einem Cocktailglas hängen, dann tauchte plötzlich ein lederner Flügel aus einer Kleenexschachtel auf. Besonders stolz war Zafer auf einen Drachenkopf, den er auf ein Familienfoto im Hintergrund montierte. Um sich nicht verdächtig zu machen, achtete er genau darauf, seine Geschöpfe gleichmäßig zu verteilen und zwischen ihren einzelnen Hintergrundauftritten ein paar Folgen verstreichen zu lassen.

Obwohl er froh darüber war, dass seine Aktivitäten seinen Auftraggebern bisher verborgen geblieben waren, begann er sich im Stillen zu ärgern, dass sie sonst von noch niemandem bemerkt worden waren. Er fing an, die Internetforen zu Wahre Liebe zu durchstöbern, aber niemand schrieb etwas über ungewöhnliche Figuren im Hintergrund. Nur eine »stupsi21« postete etwas von einem »irgendwie putzigen« Familienbild und hüpfende gelbe Smileys mit allen Gesichtausdrücken unterstrichen ihren Post.

So verbrachte Zafer den Herbst. Nachdem ihm klar wurde, dass er nun zwar sichtbar war, aber trotzdem niemandem auffiel, hatte er das Gefühl, wieder in die Dämmerung zurückzufallen. Er gehörte dem Zwielicht und war ohne Schatten.

Bis zu einem Abend im November.

Dieser November war nicht kalt, eher nass. Seit Tagen trommelte der Regen gegen die Scheibe von Zafers Wohnzimmer. In den Tropfen spiegelte sich, auf den Kopf gestellt, der Hinterhof und Zafer überlegte, ob er etwas davon in die Wassertropfen auf dem Sektkübel, den er gerade bearbeitete, einfügen sollte.

Um 17:13 Uhr schreckte ihn ein Pfeifen aus seiner Arbeit hoch. Eine E-Mail. Vielleicht eine Nachfrage zu seiner Pizzabestellung? Aber was sollten sie schon nachfragen? Er bestellte eigentlich immer Pizza Salami, schon seit mindestens zwei Wochen.

Nein, es war etwas anderes. Die Mail brauchte eine Weile, denn sie hatte einen Anhang, der sich schleppend durchs Netz quälte –, und eine merkwürdige Betreffzeile.

»Wie schnell bist du, Zafer?«

Wie schnell?

Zafer hatte den Absender noch nie gesehen. Er kannte alle seine Auftraggeber, hatte zumindest einmal in ihren Büros gestanden und irgendwelche Verträge über Urheberrechte unterschrieben. Es gab niemanden, der sich Laurin nannte. L-A-U-R-I-N.

Komisch. Sicher Spam. Er ließ seinen Virenscanner über die Mail laufen. Sauber. Er kopierte den Domainnamen. Es gab keine entsprechende Website. Seltsam.

Dann klickte er darauf. Es war nur eine kurze Nachricht.

lass die nummer verschwinden. du hast eine stunde. keine sekunde länger. keine speicherung, keine kopien. du wirst deinen lohn bekommen.

laurin

Über der Nachricht war der Anhang. Eine Filmdatei. 4242 Kilobyte. Nicht gerade viel. Warum hatte dieser Laurin sie als Anhang geschickt und nicht hinterlegt? Zafer spürte eine leichte Unruhe in sich aufkommen. Er wartete kurz, dann doppelklickte er auf die Datei. Gestochen scharfe Farbaufnahmen mit Datum und Uhrzeit am oberen rechten Rand. Man sah nichts als ein Auto, das aus einer Tiefgarage fuhr. Für einen Moment war deutlich das Nummernschild zu erkennen. Dann wischte es am Bildrand vorbei.

Zafer lehnte sich zurück.

Es war das Video einer Überwachungskamera.

Kapitel 3 – Eine Stunde! Eine …

Eine Stunde! Eine Stunde war lächerlich viel. Zafer hatte das Ganze in weniger als 30 Minuten erledigt. Erst schnitt er eine weiße Pixelfläche des Nummernschilds aus, legte sie über die schwarze Schrift und radierte damit die Nummer einfach weg. Allerdings – das war zu billig. Jetzt war es einfach ein Auto mit einem weißen Nummernschild. Nicht sehr glaubwürdig. Es musste einen Grund geben, warum die Nummer nicht zu sehen war.

Er probierte fünf Minuten mit einem Feuerlöscher herum, den er so platzierte, dass er das Schild verdeckte. Aber auch das sah letzten Endes zu künstlich aus. Wie hingeklebt. Schließlich ließ er die Buchstaben und Nummern stehen, veränderte sie aber geringfügig, machte aus einem A ein F und aus dem H ein B, und zog anschließend eine durchgehende Schmutzkruste darüber. Schließlich war er Spezialist für Schmutz. Schmutz war sogar etwas kniffliger, als nur die Zahlen verschwinden zu lassen. Unter der Kruste ließen sich dann noch die Nummern erahnen. Die falschen Nummern. Falls also jemand etwas entdecken wollte, würde er das Falsche entdecken. Zafer arbeitete sich Bild für Bild und Pixel für Pixel vor, bis es realistisch aussah.

ERLEDIGT schrieb er in die Betreffzeile und beendete die E-Mail mit: »Beste Grüße, danke für den Auftrag« und seiner Bankverbindung. Er überlegte kurz, dann löschte er »danke für den Auftrag« wieder weg und schließlich auch noch »Beste Grüße«. Nur die Bankverbindung ließ er stehen.

35 Minuten vor der Zeit schickte er die E-Mail ab.

Er stand auf, rieb sich den Nacken und trank ein bisschen Multivitaminsaft, um sich fit zu halten. Zwei Flaschen Multivitaminsaft – jeden Tag. In seiner Küche standen schon unzählige leere verstaubte Flaschen mit klebrigen Hälsen, die er irgendwann einmal zum Glascontainer bringen musste. Allein von ihrem Anblick wurde er müde.

Er hatte Hunger, seine Pizza war nicht gekommen und er sah auf der Website von Pizza Elegante nach. Wieso hatten sie nie diesen Service, bei dem man sehen konnte, wo sich die Pizza gerade befand? Alles, was er sah, war eine Telefonnummer. Sie zwangen einen geradezu, ein Telefongespräch zu führen. Er hasste es zu telefonieren. Er hasste die Gesprächspausen, er hasste es, nach Wörtern zu suchen, den Satz zuerst in seinem Kopf zu hören und ihn dann nachsprechen zu müssen. Ihm wäre es lieber gewesen, er könnte die Wörter eintippen und eine elektronische Stimme würde seine Stimme nachbilden wie bei Stephen Hawking. Gab es das? Und wenn ja – vielleicht sollte er sich so was mal herunterladen?

Schließlich war der Aufruhr in seinem Magen größer als sein Unbehagen und er tippte die Nummer in sein Telefon, woraufhin sich eine genervte Frauenstimme meldete. Nein, von ihm läge heute keine Bestellung vor. Onlinebestellungen würden heute eh nicht bearbeitet, da sie keinen Zugriff auf die Seite mehr hätten, was sicher an den vielen Bestellungen liegen würde. Am Schluss hatte Zafer das Gefühl, irgendwie am Zusammenbruch des Pizzalieferdienstes schuld zu sein, und am Ende entschuldigte er sich sogar hastig. Das war knapp bevor die Stimme »Danke für Ihren Anruf« sagte – was ungefähr so klang wie »Fahr zur Hölle!« – und die Leitung jäh unterbrochen wurde.

Er sah in den Kühlschrank. Außer einem vergammelten Käsestück war hier nichts zu finden. Aus dem Tiefkühlfach starrte ihm eine arktische Winterlandschaft entgegen mit Höhlen, Stalaktiten und Kristallen, die im Licht der Küchenglühbirne böse glitzerten. Er löste eine Eisscholle heraus, die sich nach kurzem Abputzen als gefrorenes Backhähnchen entpuppte, und schmiss sie nach einem kurzen Blick auf das Haltbarkeitsdatum gleich wieder zurück, um dann schnell das Eisfach wieder zu schließen.

Es half nichts. Er musste nach draußen.

Schon als er den zweiten Hinterhof verließ, wusste er, dass er zu wenig anhatte. Der Nieselregen hatte sich in seiner Jacke verhangen und ein eisiger Wind pfiff ihm um die Haare. Es war einer von den gemeinen Winden, die eine kalte feuchte Luft mit sich führten. Zafer steckte die Hände in die Taschen seiner dünnen Jeansjacke und spürte darin das Münzgeld, das er sich vorher aus einer Kaffeedose zusammengeklaubt hatte. Viele Fünf- und Zehn-Cent-Stücke, die nun seine Taschen ausbeulten und sie lächerlich nach unten hängen ließen. Er würde sich einen Imbiss suchen, etwas Dampfendes mit viel Fett essen und danach, wenn er endlich wieder sicher vor dem Rechner saß, würde er irgendetwas mit der Website des Pizzaunternehmens anstellen. Er war sich sicher, dass sie nicht besonders gut geschützt war. Er könnte sie umbenennen wie die Produkte in seiner Soap. Von Pizza Elegante in Pizza Mutante zusammen mit einer verschimmelten Salamischeibe im Logo. Die Aussicht auf diesen Rachefeldzug ließ ihn die Kälte vergessen, und während er auf der Straße gegen den Wind ankämpfte, überlegte er, ob und wie gut der Käse in seinem Kühlschrank als Vorlage für den Schimmel taugte. Kreisrunde graublaue Flecken mit weißen Rändern.

Das Rauschen der Stadtautobahn war lauter als je zuvor. Der Wind bog die Bäume und kleine Zweige flogen vor Zafer auf den Gehweg. Er trat in eine Pfütze und seine Turnschuhe sogen sich voll. Die nasse Straße war übergossen mit Farben. Grün und rot. Das flackernde Blau eines Krankenwagens. Verschwimmendes Licht im Wasser. Leicht zu imitieren.

Sein Weg führte Zafer über eine Brücke, unter der die S-Bahnen fuhren. Nasse Gleise glänzten und verloren sich in der Stadt hinter ihm. Der Wind auf der Brücke wurde stärker und zerrte Zafer vorwärts, vorbei am Eingang zur S-Bahn, der ihm grün entgegenleuchtete. Graffitis waren hastig an die Wände gesprayt. Wörter in verschnörkelten Buchstaben, die für Zafer erst viel später einen Sinn ergeben würden.

Einen Sinn. Zafer, mein Zafer, geistert noch durch das Nichts. Aber hier läuft er schon über die Brücke in sein neues Leben und ich fange an, die Szenerie zu bevölkern. Mit Dingen. Mit Menschen. Statisten und Requisiten. Dinge, an denen Zafer jetzt vorbeigeht, wie dieser Zeitungsständer an dem S-BahnEingang, von dem ihm später die Wahrheit entgegenspringen sollte und den er später, noch viel später eintreten würde, aus Schmerz und Liebeskummer, das einzige Ding, das er je wissentlich zerstören wird. Das heißt, das einzige Ding, dessen Zerstörung er wirklich sehen und begreifen wird. Aber das wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Zu diesem Zeitpunkt, jetzt auf der Brücke vor der S-Bahn, war es nur ein Zeitungsständer. Ein völlig unbedeutendes Requisit.

Die Straße, in die Zafer nun einbog, bestand aus zusammengewürfelten Geschäften und war erst seit ein oder zwei Jahren hip. Vorher war sie ein Sammelsurium an Existenzen gewesen. Hier gab es einen Nähladen, in dem auch Torten verkauft wurden, dann etwas mit Frozen Joghurt, eine Bio-Backstube und irgendwo weiter vorne war Zafers Ziel. Dort krümmten sich Neonbuchstaben zu einer Schrift wie kleine Würmchen und es roch nach ranzigem Frittierfett. Doch zuvor ragte der Betonklotz eines Kaufhauses unter den alten Gründerzeitbauten hervor. Wäre nicht in Leuchtschrift ein Name darüber geschrieben, dessen Buchstaben Zafer in Gedanken sofort umgruppierte, man hätte es eher für ein Gefängnis gehalten. Oder für den Eingang zu einem unterirdischen Bunker, dazu gedacht, harmlose Fußgänger vor der fallenden Atombombe zu schützen. Hinter der Schaufensterscheibe standen nackte Puppen. »Wir dekorieren um.« Die Scheibe war bis zur Hälfte zugeklebt, als ob sich die Puppen dahinter umziehen müssten und nicht dabei gestört werden durften. Um den Eingang zum Kaufhaus stand eine Gruppe von Menschen, die unter dem Dach vor dem Regen Schutz suchten.

Da war Musik. Jemand spielte Gitarre.

Er hörte sie, bevor er sie sah. Ihre Stimme. Rau und tief.

Sie.

Er würde nicht stehen bleiben, schließlich war ihm kalt und er hatte noch nie Interesse an Straßenkünstlern gehabt. Vor allem wollte er sich nicht in die Menge stellen und womöglich angestarrt werden. Schlimmstenfalls würde noch sein Gang imitiert oder er müsste vortreten und Geld in einen umgedrehten Zylinder werfen.

Er blieb doch stehen und versteckte sich hinter einer Betonsäule.

Hello Darkness, my old friend

Eine Ovations, 12-saitig, die ihr mit einem Tragriemen um die Schultern hing.

I’ve come to talk to you again

Eine Wollmütze. Beige. Gehäkelt. Eine schwarze Daunenjacke, die ihr zu groß war und die sie noch schmaler erscheinen ließ. Ein knallroter Wollschal. Ihr Gesicht war spitz und blass. Sie hatte große Augen, an denen etwas mekwürdig war, und die Haare, die unter der Wollmütze hervorstachen, waren schwarz und kurz geschnitten. Regen prasselte auf das Glasdach des Eingangs. Sie sang in ein Mikrofon. Neben dem Verstärker stand ein großer solider geöffneter Gitarrenkoffer, in dem die Münzen funkelten.

Er war nicht ihr einziger Zuhörer, aber er hatte das Gefühl, sie würde nur für ihn singen. Die anderen waren nur Statisten. Statisten, die die Hauptfigur noch heller leuchten ließen. Eine alte Frau mit einer Einkaufstüte, ein Vater, der sein Baby in einem Tragetuch langsam in den Schlaf wiegte, indem er zu der Musik von einem Bein auf das andere trat. Die beiden Jungs, die mit dem Fahrrad unterwegs waren und eigentlich schon längst zu Hause sein sollten. Zafer fragte sich, wie lange sie wohl da schon stand. Wie lange sie schon gegen den Regen ansang, der auf das Glasdach des Eingangs trommelte. Aber er gehörte dazu, dieser Regen. Wie eine Begleitmusik.

Because a vision softly creeping

Left its seeds while I was sleeping

Er kannte das Lied. Die Dunkelheit, die einen umschlang und in der man sicher war. Es war richtig, dass sie es sang. In ihrer Stimme lag die Dunkelheit und dieser unbestimmte Schmerz, der mit ihr einherging. Und plötzlich wusste er es. Sie war – wie er – ein Kind des Schattens. Und er hatte plötzlich dieses überwältigende Gefühl, sie beschützen zu müssen. Vor der Sonne, vor dem grellen Licht. Er spürte etwas, von dem ihm vorher gar nicht klar war, dass es existierte. Etwas, das er nicht zu benennen wusste. Ein Brennen zwischen den Rippen, im Solarplexus. Heiß und schmerzhaft.

And the vision that was planted in my brain

Still remains

Within the Sound of Silence

Zafer wagte sich nicht hinter seiner Säule hervor. Sie würde ihn entdecken. Sie würde ihn erkennen. Er würde einfach stehen bleiben, warten, bis sie mit ihrem Lied zu Ende war, und dann schnell in der Menge untertauchen und weggehen. Je weiter er weggehen würde, desto schneller würde auch dieses neue unbekannte Gefühl verschwinden, wie ein Akkord, der noch eine Weile in der Luft schwebte und sich dann verflüchtigte wie dünner Rauch.

Dann ein Misston. Als würde eine Saite der Gitarre reißen, ein durch und durch falscher Akkord. Das Mädchen sah auf und durch die Zuschauer hindurch. Es war ein kurzer alarmierter Blick, sodass auch Zafer sich umwandte. Auf der Straße hinter ihnen fuhr ein Auto langsam vorbei und Zafer konnte darin zwei Männer ausmachen. Der Fahrer rief aus dem geöffneten Fenster und starrte dumpf auf das Mädchen. Eine kalte Berechnung und eine Wut in seinem Blick. Das Auto verschwand, aber Zafer hatte das Gefühl, dass die Männer wiederkommen würden.

Der Gesang verstummte und der letzte schräge Akkord verklang zwischen dem Beton. »Danke«, sagte das Mädchen mit rauer Stimme. Sie lächelte unbestimmt und baute dann eilig ihr Mikrofon ab. Die Statisten klatschten, manche warfen Münzen in den Gitarrenkoffer, dann drehten sie sich um und verschwanden im Regen. Nur Zafer verharrte hinter der Säule.

Er warf einen kurzen Blick auf sein Spiegelbild in der Schaufensterscheibe und fand, dass er dastand wie ein Idiot. Das Wasser lief ihm in den Kragen und die Taschen seiner Jacke waren mit Kleingeld ausgebeult.

Sollte er sie ansprechen? Ihm fiel kein Satz ein, kein einziger.

Das Mädchen beeilte sich inzwischen, das Kabel aus dem Verstärker auszustöpseln, und rollte es auf.

Zafer nahm all seinen Mut zusammen, gab sein Versteck auf, trat aus dem Dunkel und warf hastig und mit Schwung sein ganzes Geld in den Gitarrenkoffer. Es war viel zu laut. Ein Klirren und Klingeln, dessen Hall von den Betonwänden hin- und hergeworfen wurde. Zafer schämte sich. Es musste so aussehen, als hätte er nur eine günstige Gelegenheit abgewartet, das überschüssige Kleingeld loszuwerden.

Er wollte gerade weglaufen, verschwinden für immer, schnell, nur schnell diese Sequenz verlassen, als er hinter sich eine Stimme hörte. Ihre Stimme.

»Warte!« Er blieb stehen und drehte sich um. Sie ging auf ihn zu. Jetzt in der Nähe war sie viel kleiner. Er sah zu ihr hinab. Ein Regentropfen rann ihr über das Gesicht, das angespannt und gehetzt aussah.

»Du musst mir helfen!«

Kapitel 4 – Zeit für die …

Zeit für die Werbepause. Ich halte den Film an. Ihr könnt aufs Klo gehen oder die Chips holen. Oder mir zuhören, denn ich versuche, inzwischen ein paar Fragen zu beantworten. Zum Beispiel »War Zafer einsam?« oder »War er glücklich?«.

Hätte man ihn noch eine Stunde zuvor gefragt, hätte er sicher erwidert, dass er zufrieden sei. Niemand kam ihm zu nahe, niemand wollte etwas von ihm, er durfte sein, wie er war. Er hatte sich immer gewünscht, einfach in Ruhe gelassen zu werden, nicht belästigt mit Freundschaft oder Liebe oder ähnlichen Dingen, die ihm in Wirklichkeit unheimlich waren. Er wollte nicht in etwas hineingezogen werden und plötzlich etwas entscheiden oder gar handeln müssen. Er war froh, keine Leidenschaften zu haben, aufzustehen, wann er Lust hatte, essen zu können, was er wollte, und ab und zu an seinen Monstern zu basteln. Er sah sich jeden Tag die Gefühle der Schauspieler in der Serie an. Sie zappelten wie die Fliegen in einem unsichtbaren Netz. Ihre Leben erschienen ihm endlos kompliziert und hoffnungslos verstrickt. Sie stritten sich ständig und versöhnten sich tränenreich und er war froh, dass ein Monitor zwischen ihnen und ihm war und sie nicht in seine Welt hinüberkommen konnten. Doch nicht nur vor seinem Rechner hielt er die Bilder auf Distanz, es hatte sich auch eine Glasscheibe zwischen ihn und die wirkliche Welt geschoben.

Jetzt sah er das Mädchen vor sich und fragte sich, ob er selbst in einen Film geraten war. Vielleicht saß jemand an einem anderen Computer und lenkte seine Geschicke? Wenn ja, dann sollte er ihn bitten, eine kleine Mauer zwischen sich und dem Mädchen aufzuziehen. Eine solide Mauer, über die er gerade noch schauen, hinter der er sich aber genauso gut auch wegducken konnte.

Schon als Kind hatte er sich versteckt und aus einem sicheren Schutz den anderen zugesehen. Er sah sie staunend in der Welt agieren und manchmal empfand er so etwas wie Neid darüber, wie selbstverständlich sie sich benahmen, mit welcher Sicherheit sie vom Sprungturm im Schwimmbad kopfüber ins Wasser sprangen, wie sie miteinander sprachen und lockere Witze rissen. Er stand im gefleckten Dickicht der Bäume und beobachtete sie. Die Welt bestand aus verwirrend vielen Details und er wunderte sich, wie die anderen es schafften, sich davon nicht ablenken zu lassen. Spinnweben, in denen das Sonnenlicht sich verfing, das Licht in den Pfützen, Eiskristalle, die nur für Sekunden existierten. Ihm, Zafer, bot sich eine Welt an, die so vielfältig und bunt war, dass sie in seinen Augen schmerzte. Er konnte das versteckte Leuchten in allen Dingen sehen, und dieses Leuchten flößte ihm Furcht ein. Er war Midas, der in Gedanken alles in Gold verwandelte und zugleich Angst hatte, dass es sich in Luft auflösen würde, sobald er es berührte.

So zog er sich zurück und war froh damit, sich seine eigenen Welten zu erschaffen. Da war nur manchmal dieses schale Gefühl, mit dem er nichts anzufangen wusste. Eine Ödnis, ein Grau, eine lichtlose Sonne. Es war – ungelebtes Leben. So als stellte das helle Licht gewisse Forderungen an ihn, die er nicht erfüllen konnte. Er fühlte sich nicht gut genug für den strahlenden Himmel, für die blendende, grausame Schönheit um ihn herum.

Irgendwann hatte er sich damit abgefunden, nicht dazuzugehören. Diese Welt, die da im Licht lag, und alle, die sich in ihr vergnügten, war nicht für ihn bestimmt. Und dieser Abstand zwischen ihm und der Welt war eine Wunde, die sich nie schloss. Es gab niemanden, mit dem er je darüber gesprochen hatte, denn all das war schwer in Worte zu fassen. Und bis vor wenigen Minuten hatte es auch niemanden gegeben, von dem er glaubte, er würde es verstehen.

Zafer suchte den Blick des Mädchens und wusste – mit einer plötzlichen Gewissheit –, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor.

Es war ein seltsamer Blick, den sie auf ihn richtete. Es sah so aus, als schielte sie oder sähe an ihm vorbei, doch dann wurde ihm klar, dass er in zwei Augen von unterschiedlicher Farbe blickte. Eines war braun und eines blau. Beide hatten einen hellen Hof um die Pupille.

»Hey!« Sie wischte den Tropfen an ihrer Wange ab und drückte ihm den Verstärker in die Hand. »Du musst mir den gleich über den Zaun reichen, okay?«

Zafer nahm widerspruchslos die Verstärkerbox an dem schwarzen Griff und wunderte sich einen Moment lang darüber, wie schwer sie war. Das Mädchen schulterte die Gitarre und war schon vor ihm in der Dunkelheit verschwunden. Nur der Gitarrenkasten glänzte noch blau auf ihrem Rücken. »Komm, schnell!« Er hörte ihre Stimme in einer schmalen Gasse, die sich zwischen dem Kaufhausbunker und dem angrenzenden Haus befand, und folgte ihr. Nach einer Weile in der engen Dunkelheit, in der er nur ihre Umrisse vor sich erkennen konnte, tat sich vor ihnen eine Baulücke auf. Ein großer Platz mit einem Baukran, an dessen Spitze ein grünes Licht leuchtete. Der Wind peitschte den Regen gegen einen Holzzaun, an dem halb zerfetzte Plakate hingen. »Hilf mir rüber«, sagte das Mädchen. Zafer verstand sie zunächst nicht, doch dann ging er in die Hocke und verschränkte die Hände so, dass sie hineinsteigen konnte. Sie trug rote Schuhe, fest, aus Leder, und war nicht besonders schwer, auch nicht mit Gitarre. Er hievte sie hoch. Sie zog sich am Zaun entlang nach oben und stützte sich auf. »Gib mir den Verstärker!« Zafer reichte ihn ihr. Sie nahm ihn und schwang sich über den Zaun auf die andere Seite. Er hörte erst einen, dann zwei dumpfe Aufschläge.

»Bist du okay?« Das war das Erste, was er überhaupt sagen konnte. Er sprach es in die Holzwand.

»Alles gut!« Sie klang erleichtert. Er wartete darauf, Schritte zu hören, doch sie lief nicht weg. Er ging den Zaun entlang, bis er zu einem kleinen Spalt zwischen zwei Holzlatten kam, durch den er noch einen Blick auf sie werfen konnte. Dann sah er ihr Gesicht. Sie musste darauf gewartet haben, dass er noch einmal zurücksah, und blickte ihn an. Am liebsten wäre er weggelaufen. Aber nein, er blieb.

»Wie heißt du?«

»Zafer.«

»Danke, Zafer!«

Sein Herz klopfte. Er sagte nichts. Das unterschied ihn von denen in der Sonne, die so lässig den Kopfsprung machten.

»Ich muss zurück!«, sagte er schließlich.

»Wohin zurück?«, fragte das Mädchen. Ihre seltsamen Augen glänzten im Schein der Baulaterne.

»Zu meinen Monstern«, sagte Zafer.

Das Mädchen lächelte.

»Das muss ich auch!«

Gleich würde sie sich umdrehen. Aber sie ging noch nicht, warum eigentlich?

»Spielst du wieder hier?«, fragte Zafer.

Das Mädchen zögerte, dann schüttelte es den Kopf.

»Ich glaube nicht.« Sie hob die Verstärkerbox von dem schlammigen Boden auf. Zafer hinter dem Holzzaun hoffte, dass sie nicht so schnell weggehen würde. Sie fuhr sich über die Mütze und überlegte. Schließlich sah sie auf.

»Du findest mich überall, wenn du die Augen offen hältst.«

Sie blickten sich noch einmal an, dann, als hätte sie schon zu viel verraten, drehte sie sich schnell um.

Vielleicht hätte Zafer noch eine Chance gehabt, wenn er sofort das Weite gesucht hätte. Aber er blieb stehen und sah ihr nach, wie sie zwischen den Containern mit Bauschutt verschwand. Dann machte er den zweiten Fehler und lief nicht am Zaun entlang, sondern über die Gasse zurück zum Kaufhaus. Der Regen hatte zugenommen und trommelte auf das Glasdach. Und zwischen dem Trommeln hörte Zafer plötzlich Schritte, Stimmen und laute Rufe. Er lief schneller. Jemand musste hinter ihm sein, dicht hinter ihm. Vor Zafer wurde es hell, das orangefarbige Licht der Straßenlaternen drang in die Gasse, gleich wäre er wieder auf dem Platz vor dem Kaufhaus. Da tauchte plötzlich ein kompakter Schatten vor ihm auf. Ein Mann – nicht besonders groß, dafür umso breiter. Er trug eine Bikerjacke mit schrägem Reißverschluss und roch unangenehm nach billigem Leder und Schweiß. Zafer spürte seine Wut durch die Hand, die ihn gepackt hatte. Er drehte blitzschnell seinen Arm zurück, stieß dem Mann mit dem Ellenbogen in den Magen und sprintete weiter die enge Gasse entlang. Doch er sollte nicht zu dem Kaufhaus kommen, denn er wurde von hinten herumgerissen und ein Schlag traf ihn. Es war ein harter Schlag mit der Faust, direkt in Zafers Gesicht. Das heißt, genau auf die Nase.

Zafer beugte sich nach vorne und schützte sein Gesicht mit beiden Händen. Komischerweise hatte er keine Angst. Eher spürte er, wie sich eine Gleichgültigkeit in ihm ausbreitete. Als wäre sein Kopf so betäubt wie seine Nase und Oberlippe, die nun völlig gefühllos waren und an denen eine merkwürdig fremde Flüssigkeit vorbeirann.

»Ich hab’ ihn noch nie bei ihnen gesehen«, sagte der Mann. Er hatte eine viel zu hohe Stimme für seine Statur und wandte sich an eine andere Gestalt, die sich nicht weit entfernt gegen die Mauer lehnte.

»Aber er passt gut dazu, so wie er aussieht.«

Sie starrten Zafer an und er blinzelte verwirrt zurück. Vor ihm standen zwei Männer, die sich vollständig glichen, zumindest sah es in der Dunkelheit so aus. Sie trugen die gleiche schwarze Lederjacke, einen dünnen Kinnbart und hatten das gleiche fliehende Kinn mit dem fleischigen Mund.

Der rechte der Männer ging auf ihn zu und packte Zafer am Kragen. »Bald haben wir euch alle. Ihr habt keine Chance.«

Er grinste ihn an.

»Dark Noise ist tot. Sag das deiner Freundin, wenn du sie das nächste Mal siehst!« Er ließ los, sah Zafer noch einmal abschätzig an und ging dann mit seinem Zwilling die Gasse hinunter.

Eine Lüftung unter dem Kaufhaus wirbelte über ein Gitter Styroporkügelchen auf, die in der warmen abgestandenen Luft tanzten.

Zafer putzte sich die Nase. Das Blut war schwer zu stoppen. Es lief über seine Hand. Eine Unmenge von Blut, die nun in das Lüftungsgitter tropfte. Mühsam rappelte er sich hoch, wankte die Gasse entlang zurück zu dem Kaufhaus und hielt sich mit den Händen an der bröckeligen Mauer fest.

Eine Autotür klappte. Er blickte um die Ecke, die Straße hinunter.

Das Auto war weiß und unauffällig und kam ihm irgendwie bekannt vor, aber sein Gehirn weigerte sich, darüber nachzudenken, von woher.

Kapitel 5 – Das Blöde war, …

Das Blöde war, er hatte immer noch Hunger. Er schleppte sich nach Hause, Regenwasser in den Schuhen, die Nase geschwollen, Blut auf seinem Ärmel, auf seiner Jeansjacke, kein Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen.

Keine gute Idee, überhaupt keine gute Idee, in die wirkliche Welt zu gehen. Wäre er nur zu Hause geblieben! Er hielt sich am Brückengeländer fest und sah einer der fahrenden S-Bahnen hinterher. Die roten Lichter wurden unscharf und verschwanden dann im Schimmern der Stadt auf der anderen Seite der Brücke.

Da brachte ihm der Wind ihr Lied. Als hätten sich die Luftpartikel mit ihrer Stimme vollgesogen und schwebten um ihn herum und hüllten ihn ein. Ein beruhigendes wattiges Gefühl, das seinem Schmerz die Schärfe nahm. Ihre Stimme war überall. In den Lichtern, in jeder Ampel, in jedem Regentropfen, in jedem Scheinwerfer, der sein streifendes Licht über den Asphalt warf.

Er hörte sie und nahm sie mit auf jedem Schritt, der ihn nun zurück zum alten Mittelpunkt seiner Welt brachte. Er sperrte die Tür zu seiner Wohnung auf, wobei er sich einen Moment lang wunderte, warum sie sich bereits nach einer Drehung des Schlüssels öffnete. Er hätte geschworen, beim Verlassen der Wohnung zweimal abgesperrt zu haben. Es war ein kurzer Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss. Etwas, das anders war, aber scheinbar so unwichtig, dass man es gleich wieder vergessen konnte. Es war auch nicht das Einzige, das verändert war.

Seine Wohnung kam ihm plötzlich staubig und schmutzig vor. Ein seltsam säuerlicher Geruch von Einsamkeit hatte sich in die dunklen Zimmer geschlichen und verband sich mit dem Metallgeschmack in seinem Mund. Er beugte sich im Bad über das Waschbecken und beobachtete die Blutschlieren, die sich mit dem Wasser vermischten. Ein Strudel rot und durchsichtig, hellrosa, der im weißen glatten Waschbecken nach unten quirlte. Wenn er die Augen schloss, sah er helle Blitze. Kleine, irr umherkreisende Glühwürmchen.

»Dark Noise ist tot.«

Dark Noise. Er kannte White Noise. Das weiße Rauschen. Pink Noise. Rosa Rauschen. Beides klang wie lang anhaltender Regen. Oder das Störgeräusch eines Fernsehers, griseliges Grau, winzige weiße und schwarze Punkte, die sich vermischten. Zafer wischte sich mit seinem Handtuch das Gesicht ab und ging zu seinem Rechner. Keine Mails. Er starrte auf den Monitor und gab dann die zwei Wörter in die Suchmaske ein.

Dark Noise

»Dunkelstrom«, las er. »Ein geringes, durch Wärme entstandenes Rauschen auf digitalen Bildern.«

Zafer starrte einige Minuten auf die Definition. Was hatte das Mädchen mit Dark Noise zu tun? Dann spürte er Müdigkeit. Und einen wild hin und her tanzenden Schmerzteufel, der sich in seiner Nase breitgemacht hatte. Schließlich legte er sich auf sein Bett, zog die nassen Socken aus und fiel innerhalb von wenigen Sekunden in einen tiefen Schlaf.

Zafer erwachte von einem Scheppern. Er rückte mit seinem Kopf an die Wand. Seine Haare waren immer noch feucht. Der Himmel durch die verstaubte Scheibe glänzte milchig, ein gedämpftes freundliches Licht, das allem weiche Konturen gab.

Krsch…krschh…

Das Scheppern ging nun in ungeduldiges Schnarren über und ertönte in immer kürzeren Abständen. Es dauerte lange, bis Zafer begriff, dass jemand draußen auf den Klingelknopf drückte. Er schälte sich aus den Decken mit den bedruckten Fußbällen und schlurfte zur Tür.

»Aufmachen, Polizei!« Eine junge Stimme, die versuchte, älter zu klingen.

»Wir wissen, dass Sie dort drin sind! Gleich trete ich die Tür ein.«

Zafer sah durch den Spion. Er seufzte und öffnete die Tür einen Spaltbreit.

Draußen stand Charis. Rundlich, kräftig und einen Kopf kleiner als Zafer. Sie strich sich über die stoppelkurzen dunklen Haare und sah zu ihrem großen Bruder auf.

»Drogenkontrolle!«

Zafer schob die Kette zurück und öffnete die Tür. Charis schlüpfte herein und schnüffelte. Ihr Schulranzen leuchtete orange und wetteiferte mit einer giftgrünen Regenjacke.

»Puh, was für ein Gestank!« Sie ging zum Küchenfenster und versuchte, es zu öffnen, was gar nicht so einfach war. Sie musste dazu auf einen Stuhl steigen. Und dafür erst Zafers Klamotten von der Lehne herunterwerfen. Sie rüttelte an dem Fensterhebel und es gelang ihr schließlich, die eine Hälfte aufzuziehen.

»Hast du das schon jemals aufgemacht?«

»Äh, ich glaub nicht.« Zafer kratzte sich am Kopf. Ein kühler Luftzug ging durchs Zimmer. Es roch nach Auspuffgasen und Kohlsuppe. Das war also die Frischluft.

Charis starrte ihn von oben an.

»Du siehst echt furchtbar aus.«

Zafer fasste sich an die Nase und spürte eine Blutkruste. Der Schmerz war noch da, aber den Springteufel musste jemand in eine Zwangsjacke gebunden haben. Langsam krabbelte auch wieder dieses komische Gefühl von Einsamkeit in ihm hoch, das sich jetzt noch verstärkte, als er sah, wie Charis ihn besorgt musterte. Für einen Moment war er froh, selbst nicht zu wissen, wie er aussah. Er konnte es eigentlich nur an dem erschrockenen Blick seiner Schwester erraten.

»Is’ sie gebrochen?«, fragte sie schließlich.

Zafer zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung!«, erwiderte er wahrheitsgemäß.

Charis schüttelte den Kopf und blickte sich um. Für einen Moment sah Zafer seine Wohnung mit ihren Augen. Die verstaubten Flaschen hinter dem Kühlschrank. Die Kabel, die sich wie Schlangen über den Boden zogen, die Jacken, die an einem Nagel an der Wand hingen. Im Gang stand als Ablagefläche ein alter Spiegelschrank, der eigentlich in das Bad gehört hätte, aber es bis dahin nicht geschafft hatte und jetzt mit Bergen von ungeöffneten Briefen bedeckt war.

»Hast du irgendwie Ärger?«

Zafer schüttelte den Kopf.

»Warum kommst du dann nie?«

Zafer wusste es selbst nicht. Oder vielleicht … Aber er konnte ihr nicht sagen, dass er sich davor fürchtete, nach draußen zu gehen. Dass er nur hier sicher war. Sie würde ihn ansehen wie ein Alien.

»Ich hatte … zu tun.« Zafer hoffte, dass sie sich mit dieser einfachen Erklärung zufriedengeben würde.

Charis blickte ihn an, dann sprang sie zu Boden und schleppte den Stuhl, immer den Kabeln folgend, neben Zafers Hocker vor den Rechner.

»Zeigst du mir was?«

Er kratzte sich am Kopf. »Müsstest du eigentlich nicht in der Schule sein oder so?«