Darkanum - Uta Reichardt - E-Book

Darkanum E-Book

Uta Reichardt

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Beschreibung

Merit und Ben sind Zeitenspringer: Sie können in den Körper eines Vorfahren schlüpfen. Das macht sie interessant für die Geheimorganisation Darkanum. Diese mafiöse Vereinigung nutzt Zeitenspringer für Raubzüge in der Vergangenheit. Aus der Spur geratene Jugendliche lassen sich dafür leicht rekrutieren — umso mehr, wenn man sie mit Luxus ködern kann. So auch Ben, der auf der Straße lebt. Der Tod der Eltern nach einem Brand hat die Zwillinge auseinander gerissen. Merit will unbedingt ihren Bruder wiederfinden. Dafür muss sie in den Körper ihrer Großmutter schlüpfen und sich mit Darkanum anlegen. Auch hat jeder Zeitsprung seinen Preis, denn der Springer büßt an Lebenskraft ein. Und wehe, er ist nicht am Ende der Raunächte (25. Dezember bis 6. Januar) in die Gegenwart zurückgekehrt.

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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Nachweise
Dank
Die Autorin

© 2018 Fabulus Verlag, Fellbach

www.fabulus-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Fabulus Verlag

Umschlaggestaltung, Satz und Herstellung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg

Druck und Bindearbeiten: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany

ISBN Print: 978-3-944788-66-1

ISBN E-Book: 978-3-944788-67-8

Was wirst du tun, wenn es schiefgeht … 

Wer wird dich retten?

Simple Minds

1

»Wieder nichts!« Merit betrachtete die Videos, die sie am Nachmittag heimlich mit dem Smartphone in der Fußgängerzone aufgenommen hatte, bis ihre Füße vor Kälte taub waren. Einen Jungen nach dem anderen zoomte sie heran und studierte seine Gesichtszüge, die Augen, wie er sich bewegte. Jeder von ihnen hätte ihr Zwillingsbruder sein können – und war es doch nicht. Einen Jungen hatte sie heute sogar angesprochen. Sie hatte das Erinnern in seinen Augen gesucht, in ihrem Herzen. Doch da war nichts gewesen, und seinen Namen wusste sie fünf Minuten später schon nicht mehr.

Ihr Smartphone vibrierte und zeigte eine neue Voicemail an. Merit stöhnte auf. Die alljährliche Weihnachtsbotschaft von Tilda Fox hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Liebe Merit«, knarzte die Computerstimme, »ich freue mich, dir endlich diese Nachricht schicken zu können. Nun, da du wenige Tage vor deinem vierzehnten Geburtstag stehst, darf ich dir die Wahrheit nicht länger verschweigen. Dein Leben wird sich von Grund auf ändern und also solltest du …«

Sie tippte auf »Stopp«. Genug gehört. Warum hatte sie die Audio-Datei überhaupt angeklickt? Glaubte diese Tilda Fox tatsächlich, sie interessiere sich dafür?

»Ich find’s aufregend. Lass doch weiterlaufen«, protestierte ihre Freundin Sophie aus dem Bett an der gegenüberliegenden Wand.

Merit setzte sich auf. »Warum lässt die mich nicht in Ruhe? Sie hat mich noch nie hier besucht, nicht mal angerufen hat sie in den letzten zehn Jahren!«

»Sie trägt die Verantwortung für dich, weil du keine Eltern mehr hast. Aber sie kann eben nur auf diesem Weg mit dir Kontakt aufnehmen.«

»Von wegen! Sie will einfach nichts mit mir zu tun haben. Ich existiere doch nur auf dem Papier für sie. Und einmal im Jahr kurz vor Weihnachten bekommt sie ein schlechtes Gewissen und schickt mir diese beschissenen Botschaften. Sie weiß ja noch nicht mal, dass ich erst am 2. März Geburtstag hab.«

Sophie wiegte ihren Kopf hin und her. »Vielleicht gibt es noch einen anderen Grund – immerhin ist sie bei der Polizei, vergiss das nicht. Und außerdem: Du hast wenigstens einen Vormund. Aber ich hab’ Eltern, die besser nie welche geworden wären …« Mit einem Mal klang ihre Stimme bitter.

»Ich weiß doch«, murmelte Merit. Sophies Mutter schickte zu Weihnachten ein Päckchen ins Heim, das war’s dann. Und von ihrem Vater hatte sie nichts mehr gehört, seit er vor zwei Jahren wieder geheiratet hatte.

»Was meint sie bloß? Was sollst du endlich erfahren? Alles über Bauchschmerzen und Binden – die Bürde der Frauen? Oder Liebe, Leidenschaften – Lars?«

Merit schleuderte ihr Kopfkissen nach Sophie. »Wenn du den Namen noch ein einziges Mal erwähnst …«

»Lars, Lars, Lars …«, trällerte Sophie leise vor sich hin. Dann unterbrach sie die Neckerei. »Ich verrate dir auch was.«

Merit, die aufgestanden war, um ihr Kopfkissen zu holen, ließ es liegen und schlüpfte neben ihrer Freundin unter die Decke.

»Nun sag schon!« Sophie lächelte.

»Sie haben dich zum Auswahlverfahren eingeladen?« Sophies Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen.

»Ist das wahr?« Merit hörte gar nicht mehr auf, Sophies Arm zu schütteln.

»Ja! Ja! Ja doch! Und wenn ich bestehe, darf ich nach Weihnachten zwei Wochen Praktikum machen!« Sophie strahlte.

»Und wann sind die Tests?«

»Die nächsten zwei Tage. Und du begleitest mich morgen früh hin, ich hab Agathchen schon gefragt!«

»Das hat sie erlaubt? Und was ist mit deinem Vortrag in Chemie?«

Bei dem Wort »Chemie« zuckte Sophie kurz zusammen. »Hm, also, ich bin gleich um fünf nach acht dran mit dem Referat. Danach fahren wir los. Das reicht locker: Ich soll erst um zehn Uhr an der Kaserne sein.«

»Bekommst du auch eine richtige Polizeiuniform?«

Sophie nickte glücklich. Solange Merit Sophie kannte, sprach sie von nichts anderem, als dass sie später Kriminalkommissarin werden wollte, und Merit freute sich aufrichtig für ihre Freundin. Aber insgeheim beneidete sie Sophie auch, nicht wegen des Praktikums, sondern weil Sophie schon so genaue Vorstellungen von ihrem Leben hatte. Und das war nicht das Einzige, was Merits Stimmung nach unten zog.

»Nun guck nicht trübsinnig«, sagte Sophie. »Ist doch bloß für die Ferien. Und an Weihnachten und Silvester bin ich ja hier.«

»›Bloß‹ ist gut. Und was mache ich die restliche Zeit?« Eigentlich hatte sie mit Sophie in den Ferien einen Schlachtplan entwerfen wollen, wie sie Lars doch noch zurückerobern konnte. Obwohl sie allmählich die Lust verlor, jemandem nachzutrauern, der sie seit dem Tanz in den Mai ignorierte.

»Jetzt hältst du mir deinen Vortrag, damit du morgen nicht so nervös bist«, schlug sie Sophie schließlich vor, eher um sich selbst abzulenken.

»Nur, wenn wir danach diese mysteriöse Nachricht auf deinem Smartphone zu Ende hören!«

»Meinetwegen. Wenn ich im Bad war – es ist nach zehn«, sagte Merit und verließ das Zimmer.

Im Waschraum band sie mit einem Zopfgummi ihre schulterlangen rötlichen Haare zusammen, um sich das Gesicht zu waschen. Diese Sommersprossen vermehrten sich auf ihren Wangen und der Nase wie bei anderen die Akne. Nur Lars’ Gesicht hatte weder einen Pickel noch eine einzige Sommersprosse. Er war eben perfekt. Merit schloss die Augen und versuchte sich den Moment in Erinnerung zu rufen, als er sie geküsst hatte. Es war ein kurzer Kuss gewesen, ok, und nur auf ihre linke Sommersprossenwange. Aber trotzdem …

»Ach, lass doch diesen Lars. Du hast etwas Besseres verdient.« Blitzschnell checkte Merit im Spiegel die Duschkabinen hinter ihrem Rücken. Holgers hochtoupierte schwarze Haarpracht tauchte über dem Rand der Badewanne auf. Ohne ihn weiter zu beachten, drehte sie den Hahn auf, beugte sich über das Waschbecken und ließ eiskaltes Wasser über ihr Gesicht laufen. Am besten, sie ignorierte ihn hartnäckig, sonst ließ er sie am Ende gar nicht mehr in Ruhe. Wie stellte er sich das überhaupt vor? Glaubte er im Ernst, sie wollte mit einer schemenhaften halbdurchsichtigen Erscheinung befreundet sein, von der sie sich nicht einmal sicher war, ob sie lediglich in ihrer Fantasie existierte? Dabei sah Holger ganz passabel aus, wenn man von seiner Vorliebe für die Mode der 80er Jahre absah (er trug stets ein neongelbes T-Shirt und darüber ein schwarzes Gitterhemd). Und von der New-Wave-Frisur, die ihre zwanzig Zentimeter Höhe garantiert nur mit Hilfe etlicher Dosen Haarlack hielt.

Als Merit sich vom Becken aufrichtete, schwebte Holger gerade durch die geschlossene Tür des Waschraums, während er wie so oft ein Gedicht vor sich hin murmelte:

»Wenn auch die Zeit darüber geht, 

er Tag und Nacht zur Wache steht, 

knapp tausend Jahr, das gute Stück, 

leer innerlich, nach außen dick.

Ein wahrer Riese, raunend, dicht, 

zu andren Zeiten still und licht, 

ein doppelt Spiel, das er gut kennt,

versteckt’s in sich, kein Namen nennt. 

Schwarz oder Gold, Tod oder Leben, 

wer findet sie, wer wird sie heben?«

Dieses Gedicht gehörte auf jeden Fall in die Abteilung »rätselhaft«, und außerdem hatte sie keine Ahnung, von wem es stammte. Sie putzte sich nachdenklich die Zähne, löschte die Neonlichter und folgte Holger durch die Tür – allerdings nicht, ohne sie vorher zu öffnen.

Im Zimmer stand Sophie bereits neben dem Schreibtisch, mit einem Stapel Karteikarten in der Hand.

»Wo bleibst du denn? Mir steht schon der Angstschweiß in den Schuhen«, jammerte sie und schüttelte ihre Schlappen mit einer theatralischen Geste aus. Merit musste lachen. »Vielleicht solltest du doch lieber Comedian werden statt Polizistin?« Sie machte es sich auf dem dunkelroten Plüschsofa bequem und zündete die Vanilleduftkerze an, die Sophie ihr zum Nikolaus geschenkt hatte. »Leg los!«

»Also … die Meersalzgewinnung in Salzgärten … ein Jahrtausende altes Verfahren, mit dem auch heute noch in warmen Küstengebieten …« Sophie stockte. »Da hab ich was vergessen – wo ist die verdammte Karte?«

»Du machst das gut, nur die Ruhe«, sagte Merit.

Hektisch blätterte Sophie die Karteikarten durch, vor und zurück, vor und zurück. »Die Chemie und ich«, seufzte sie schließlich, »wir werden keine Freunde.« Sie pfefferte die Karten auf den Schreibtisch und ließ sich neben Merit auf das Sofa fallen. »Aber noch schlimmer wird der Sporttest morgen: Tausend-Meter-Lauf. Weitwurf. Schwimmen …« Sie angelte sich eine Nougatkugel aus ihrem Adventskalender und schob sie in den Mund. »Da fällt mir ein, ich muss noch meinen Badeanzug und den Sportkram einpacken!« Sophie sprang auf.

»Da fällt mir ein: Du wolltest doch dein Chemie-Referat halten«, versuchte es Merit noch einmal.

»Ach, ich habe das im Griff. Wo sind bloß meine Sportschuhe?« Merit verkniff sich den Kommentar, dass Sophie ihre Turnschuhe  vermutlich  seit  den  Sommerferien  noch  nicht  wieder ausgepackt hatte. »Und das alles wollen die testen, bloß für zwei Wochen Praktikum?«, fragte sie. Ihr war klar, dass Sophie heute ohnehin keinen Gedanken mehr an ihr Referat verschwenden würde.

»Ja, aber wenn sie mich später für das Vorstellungsgespräch zur Ausbildung einladen, brauche ich den Sporttest nicht nochmal zu machen. Hoffe ich jedenfalls … Komm, wir hören uns jetzt lieber die Botschaft von dieser Tilda Fox an, das ist doch viel spannender als das öde Salz!«

Ihr ganzes Bett durchwühlte Merit nach dem Smartphone. Auf dem Nachttisch fand sie es schließlich. Sie öffnete die spezielle Sicherheits-App und gab den PIN für den virtuellen Tresor ein, auf dem die Audio-Dateien von Tilda Fox lagen. Ein Klick noch, und der Tresor öffnete sich. Sie kniff die Augen zusammen. Immer wieder scrollte sie die Nachrichtenleiste runter und hoch. »Die Datei ist weg!«

Sophie ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und sah Merit über die Schulter. »Vorhin war sie noch da!«

»Irgendwer muss die Nachricht gelöscht haben«, murmelte Merit. »Aber wie kommt jemand an meinen Tresor?«

Sophie zuckte die Schultern. »Niemand war im Zimmer, bloß die Chemie und ich.«

Natürlich, kein Mensch war hier gewesen außer Sophie, überlegte Merit. Warum nur hatte sie vorhin die Nachricht nicht bis zum Ende abgehört? Jetzt würde sie nie erfahren, was Tilda Fox ihr noch hatte sagen wollen. Womöglich hätte sie endlich etwas über ihren Zwillingsbruder erfahren.

Auf dem Innenhof tänzelte Holger durch den Schneeregen. Als ob er spürte, dass sie ihn vom Fenster aus beobachtete, blieb er stehen und winkte zu ihr hoch. In diesem Moment erstarrte Merit. Ihr Smartphone. Es war nicht auf dem Nachttisch gewesen, bevor sie in den Waschraum gegangen war, sondern sie hatte es bei sich im Bett gehabt, weil sie dort die Nachricht abgehört hatte. Hundertprozentig! Jemand musste es aus dem Bett genommen haben. Und dieser Jemand hatte auch die Nachricht gelöscht und das Smartphone auf den Nachttisch gelegt. Merit warf sich ihre Jacke über, schlüpfte in ihre Stiefel und rannte aus dem Zimmer. Dieser wabernde Luftikus konnte was erleben! Sie stürmte die Treppen hinunter und lief hinaus auf den Hof, wo Holger sich gerade mit Sophies Regenschirm im Kreis drehte – Merit erkannte ihn sofort an der Werbeaufschrift: Die Polizei – dein Freund und Helfer.

»Wie kommst du dazu, Dateien von meinem Smartphone zu löschen?«, schrie sie ihn an, dass es über den Innenhof schallte. Holger ließ den Schirm fallen. Mit ein paar Sätzen sprang er Richtung Tischtennisplatte und verschanzte sich dahinter.

»Du siehst mich also doch!«, rief er beleidigt.

»Das ist jetzt nicht unser Thema! Du klaust Schirme und spionierst auf fremden Smartphones herum!«

Im  oberen  Stock  öffnete  sich  ein  Fenster,  und  zwei  Köpfe beugten sich heraus. Na toll. Morgen würde sie das Topthema des Tages sein: Merit schreit eine Tischtennisplatte an. Lars’ Reaktion mochte sie sich gar nicht ausmalen. Aber vielleicht hatte sie auch Glück, und dieselben zwei Köpfe hatten vorhin schon einen sich einsam in der Luft drehenden Regenschirm beobachtet und zweifelten jetzt an ihrem Verstand. Willkommen im Club. Holger verschränkte die Arme vor der Brust. »Bloß ausgeliehen, ich hätte ihn deiner Freundin schon zurückgebracht, keine Sorge!«

Merit fischte den Schirm aus der Pfütze und schloss ihn. »Wir können ja im Pavillon weiterreden«, sagte sie eine ganze Spur leiser und wies mit dem Kopf auf den Glaskasten neben dem Eingang, der den Schülern als Aufenthaltsraum zur Verfügung stand, wenn es in den Pausen regnete. Es dauerte keine zwei Sekunden, da schwebte Holger neben ihr her. Sie schluckte. Es war absurd zu glauben, dass sie sich Holger nur einbildete. Er lieh sich Schirme. Er manipulierte ihr Smartphone. Und er redete keinen wirren Kram auf sie ein, sondern unterhielt sich ganz normal mit ihr.

Im Aufenthaltsraum hätte sie gern das Licht angeschaltet, aber das konnte sie unmöglich tun: Sie hätte längst im Bett sein müssen. Wenn Agathchen oder Schwester Margret sie hier erwischten, konnte sie sich den Ausflug morgen mit Sophie abschminken. Sie setzte sich auf einen der abgeschrammten Holztische, die in der Mitte des Raumes zusammengeschoben waren, während Holger an den Glaswänden entlangglitt und nach draußen stierte, wie um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich allein waren.

»Ok – wer bist du?«, fragte sie, um einen sachlichen Ton bemüht.

»Ein Wandler zwischen den Welten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart gewissermaßen«, begann er theatralisch. »Und ich habe einen Auftrag. Über den darf ich allerdings kein Wort verlieren.«

»Natürlich, streng geheim, dieser Auftrag.« Merit konnte sich einen ironischen Unterton nicht verkneifen. »Und warum hast du die Datei gelöscht?«

Holger schlängelte sich hin und her, seine Gestalt zog sich in die Länge, dann in die Breite, wie wenn er vor einem dieser Spiegel gestanden hätte, die einen nicht gerade vorteilhaft verzerrten.

»Ich habe so ein … wie nennst du es … Candy … noch nie …«

»Du meinst HANDY! Eigentlich Smartphone, es heißt Smartphone. Und jetzt verarsch mich nicht!«, stöhnte Merit.

»Also ja, damals … in den 80er Jahren … gab’s das noch nicht. Ich war fasziniert von deinem … äh … Smartphone, wollte es mir bloß mal in Ruhe ansehen.«

»Und du, der sich mit Smartphones angeblich nicht auskennt, weil er angeblich aus den 80ern kommt, konntest den Code knacken? Für wie blöd hältst du mich?«

Holger senkte den Kopf. »Ich habe dir mal heimlich über die Schulter gesehen. Dabei hab ich mir wohl den Code eingeprägt. Ich kann mir Zahlenfolgen gut merken. Es war ein Versehen, ich wollte dieses Audio oder wie du es nennst nicht löschen!« Er warf ihr einen treuherzigen Blick zu, aber Merit zweifelte, ob sie ihm die Geschichte glauben sollte.

»Und deshalb trägst du so komische Klamotten, weil du aus den 80ern stammst? Du bist so eine Art Zeitreisender?«

Holger seufzte. Mehrmals setzte er an, um etwas zu sagen, und verstummte wieder, als würde seine Erklärung ohnehin keinen Sinn machen.

»Kann ich dich mal berühren?«, fragte Merit und streckte die Hand vorsichtig nach seinem Arm aus. Holger strahlte, doch nur, bis er Merits enttäuschten Gesichtsausdruck sah.

»Ich spüre nichts. Du bist bloß Luft!«

Er nickte betrübt und schickte sich an, den Pavillon durch eines der großen Fenster zu verlassen. »Wir sehen uns morgen, Merit. Da muss ich besonders gut auf dich aufpassen.«

»Jetzt hör schon auf mit diesem geheimnisvollen Gerede! Gib es zu, du kennst die Nachricht von Tilda Fox bis zum Ende«, rief sie ihm nach.

Holger drehte sich noch einmal um. »Eigentlich darf ich nichts sagen …«

»Eigentlich – aber du hast die Nachricht gelöscht! Woher soll ich denn jetzt erfahren, was Tilda Fox mir mitteilen wollte?«

»Also gut. Ich soll dich zu ihr bringen, morgen Vormittag«, flüsterte Holger fast ehrfürchtig.

»Und deswegen macht ihr so ein Theater? Und wenn ich überhaupt nicht zu ihr will? Schließlich wollte sie die letzten Jahre nicht einmal mit mir sprechen!«

»Aber es ist wichtig. Dein Bruder ist übrigens auch eingeladen … und jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss noch einige Stunden zurück in den Körper ….«

»Wie – mein Bruder ist auch eingeladen«, unterbrach sie ihn und ihr Herz klopfte schneller. Aber da entschwebte Holger bereits in den Hof. Merit sprang vom Tisch und stürmte aus dem Pavillon. Doch Holger war verschwunden.

Den Weg zurück ins Zimmer legte sie wie in Trance zurück. Ihr Bruder lebte! Wie er wohl aussah? Und wie hieß er? Auf all die Fragen, die ihr schon so lange durch den Kopf schwirrten, würde sie endlich eine Antwort bekommen. Und das bereits morgen! Sie streckte die Hand aus, um ihre Freundin wachzurütteln, um ihr auf der Stelle von der Sensation zu berichten. Aber dann dachte sie an das Auswahlverfahren, das Sophie am nächsten Tag bevorstand. Leise zog sie sich aus und legte sich ins Bett. Ihr Puls dröhnte.

2

Ben schlug die Augen auf. Er tastete sein Bett nach Schnuff ab, konnte das Stoffschaf aber nicht finden. »Mama!« Der Mond schien ins Kinderzimmer. Doch da war noch ein anderes Licht; ein Licht, das Ben nie zuvor gesehen hatte. Es erleuchtete den Raum nicht gleichmäßig, sondern ließ die Schatten an den Wänden tanzen. Durch das gekippte Fenster hörte Ben ein Knistern und Knacken, das er nicht kannte. »Mami!«, rief er jetzt lauter. Ohne Schnuff konnte er nicht schlafen. Seine Schwester, deren Bett neben seinem stand, war jetzt auch wach. Es roch anders im Zimmer als sonst. Ben war den Tränen nah. Da öffnete sich die Tür. »Schnuff ist weg!«, schluchzte er. Die dunkle Gestalt schob sich in den Raum und kam langsam auf ihn zu. Das war nicht Mama, auch nicht Papa. Es war ein Monster mit funkelnden Augen und einer entsetzlich großen Hakennase. Es kam genau auf ihn zu, den Mund weit aufgerissen. Ben schrie …

»Halt die Klappe, Ben! Hey!«

Jemand trommelte grob auf seinen Rücken, zerrte an seiner Schulter. Ben drehte sich um, riss die Augen auf, erwartete das Monster über sich, das nach ihm griff. Stattdessen blinkten die Sterne, und das Gesicht seines Freundes Ratte schob sich vor die schmale Mondsichel, den Mund irgendwo zwischen Sorge und Gereiztheit verzogen.

Wieder dieser verfluchte Traum! Sein Kopf dröhnte, sein Mund war staubig – wie jedes Mal, wenn es passierte. Stöhnend setzte er sich auf. Ihn fröstelte. Seine Füße waren zwei Eisblöcke, offenbar hatte er den Schlafsack nicht richtig zugezogen. Das feuchte Gras tat ein Übriges, trotz der Plastiktüten und Kartons, die sie zum Schlafen ausgebreitet hatten. Ben massierte seinen eingeschlafenen Arm und wischte sich die strähnigen Haare aus der Stirn. Ratte sah ihn fragend an, während er seinen Schlafsack zusammenrollte und in die Plastiktüte stopfte.

»Geht’s wieder?« Er streckte Ben eine Flasche hin. »Nimm einen Schluck.«

Ben trank wortlos. Das Bier schmeckte schal, aber wenigstens war es bei den Temperaturen kühl geblieben. Und es vertrieb das widerliche Staubgefühl aus seinem Mund.

»Wir müssen los. Leo hat geschrieben, dass die SecurityTypen fertig sind mit dem Kontrollgang. Los, komm schon!«

Ratte half ihm auf, und sie schoben in Windeseile die Kartons zusammen und steckten sie mit den übrigen Tüten hinter den Bretterverschlag des Schrebergartens. Ben warf sich den Rucksack über die Schulter. Obwohl ihm noch schwindlig war, lief er mit Ratte Richtung Gartentor. Dort erwartete Leo sie bereits. Mister Bombastic, der Schrebergartenkater, hockte neben dem Törchen und maunzte kläglich.

»Machst deinem Namen keine Ehre, wenn du so jammerst. Wir sind bald zurück!« Ben strich dem Kater über das buschige graue Fell, was dieser mit einem Fauchen quittierte, und kletterte über das Gartentor. Sein Magen knurrte. Vergangene Nacht hatten sie zum letzten Mal gegessen, und das waren in der Hauptsache rote Paprika und bräunliche Matschbananen gewesen. Hoffentlich fanden sie in den Abfallcontainern heute etwas Besseres. Aber in letzter Zeit hatten sie kaum noch Gelegenheit, die Container in Ruhe zu durchsuchen – der Supermarkt hatte neues Wachpersonal eingestellt, das viel häufiger kontrollierte und die Jungen sofort verjagte. Beim letzten Mal hatten die Männer sogar mit der Polizei gedroht.

Leo klatschte Ratte und ihn ab, anschließend schlichen sie auf dem unbeleuchteten Trampelpfad Richtung Parkplatz.

Im Gänsemarsch erreichten sie die Rückseite des Supermarktes, dort, wo die LKW tagsüber frische Ware anlieferten. Ganz am Rand stand der Container.

»Wenigstens haben die hier noch keine Überwachungskamera«, wisperte Ratte. »Wer geht?«

»Ich war gestern«, sagte Leo und sah Ben auffordernd an.

»Dann eben ich.« Ben stieß einen Seufzer aus, stützte sich mit den Händen auf dem Rand des Müllcontainers ab und drückte sich hoch, während Ratte zur Ecke des Supermarktes rannte, um Schmiere zu stehen. Er streifte Einweghandschuhe über und setzte sich die Stirnlampe auf. Leo reichte ihm drei Plastiktüten hoch. »Los doch!«, wisperte er, aber Ben brauchte einen Moment, bis er seinen Ekel überwinden konnte. Er hielt die Luft an und drückte die Blechklappe auf. Er beugte sich über die große, runde Öffnung und durchwühlte mit beiden Händen die Abfälle. Zwei Kohlrabi zog er hervor, eine Tafel Marzipan-Schokolade, mehrere Orangen, drei Packen Fertiglasagne mit Haltbarkeitsdatum 14. 12., die Packung verschmiert mit undefinierbaren Essensresten. Nur mit Mühe unterdrückte er einen Brechreiz. Schnell hob er den Kopf aus dem Müll und zog eine Brise Frischluft tief in seine Lungen.

»Was ist mit dir, Leichentuch«, frotzelte Leo.

»Die Bullen!« Ratte jagte heran. Vom Parkplatz blinkte ihnen Blaulicht entgegen. Ben sprang mit einem Satz vom Container, und die drei spurteten los, den Lichtkegel einer Taschenlampe im Rücken. Ohne sich abzusprechen, nahmen sie den Fußweg Richtung Innenstadt.

»Bleibt stehen!«, rief einer der Polizisten. Ben dachte gar nicht daran. Der Lärm der vierspurigen Hauptstraße schwoll an, als er um die Ecke bog. Leo und Ratte waren nicht mehr bei ihm, aber so hatten sie es geplant für den Ernstfall: sich aufteilen, jeder in eine andere Richtung abhauen und einander später in der Unterführung wiedertreffen. Er nahm zwei Treppenstufen auf einmal nach unten Richtung U-Bahn, rannte im Zickzack um Passanten herum durch die langen Gänge. Bei Blumen-Willi blieb er stehen und stützte sich keuchend auf seine Oberschenkel. Er sah zurück in die Unterführung. Strike! Die Polizisten hatte er abgehängt.

Als sein Atem sich etwas beruhigt hatte, schlenderte er weiter, die Hände in den Hosentaschen. Am Ende der Unterführung nahm er die Rolltreppe nach oben. Es war Samstagabend, und zum Glück waren noch viele Menschen in der Innenstadt unterwegs. Der ekelhafte Schneeregen hatte wieder eingesetzt. Ben schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Diese Nacht würden sie die Hütte  im  Schrebergarten  aufhebeln  und  drinnen schlafen, so viel stand fest. Auch wenn sie sich dann bald einen neuen Fixpunkt suchen mussten, wenn der Besitzer den Einbruch bemerkt hatte.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Rucksack fehlte. Er fluchte. Den hatten mittlerweile sicher die Bullen eingesammelt,  klar, und die Tüte mit den Lebensmitteln dazu. Zum Glück steckte er seinen Geldbeutel mit dem Ausweis immer in die linke Hosentasche.

Ohne ein konkretes Ziel irrte er durch die Fußgängerzone. Sein Hunger war mittlerweile so schlimm, dass ihn selbst die Vorstellung der Fertiglasagne aus dem Müllcontainer fast durchdrehen ließ. Der türkische Laden in der Heinrichstraße fiel ihm ein. Manchmal spendierte Achmed ihm einen Döner und ein bisschen Obst – wenn er gut drauf war und sich gerade nicht mit seiner Frau stritt. Und Ben würde dafür bald einmal wieder beim Kistenschleppen helfen. Aber hatte Achmed noch offen, kurz vor Mitternacht?

Gerade wollte er auf die andere Straßenseite wechseln, als dort Mario auftauchte. Ben machte eine Kehrtwende und fiel in einen leichten Dauerlauf. Normalerweise kam Mario nicht hinter ihm her, sondern respektierte, wenn Ben keinen Kontakt wollte. Und das wollte er definitiv nicht.

»Hey, Ben! Warte doch mal! Ich muss unbedingt mit dir sprechen!«

Für einen Augenblick zögerte Ben. Seine Klamotten waren feucht und er fror am ganzen Körper. Aber der Preis für ein trockenes Plätzchen und ein warmes Essen erschien ihm zu hoch: Mario würde ihm ein Gespräch reindrücken, das war schließlich sein Job als Streetworker. Ob er nicht endlich weg von der Straße wolle? Schule, Zimmer, neues Leben, noch sei doch nichts verloren? Und der Ausschlag an seinem Hals, damit müsse er endlich mal zum Arzt … Ben blieb stehen, hob den Kopf und sah direkt in die Gesichter zweier Polizisten. Dann ging alles ganz schnell. Sie eilten auf ihn zu, er drehte um, rannte in die entgegengesetzte Richtung. Aber da stand Mario noch immer und rief ihm etwas zu. Ben bog nach rechts ab, auf die große Straße zu. Er musste schnell sein, wollte er sie zwischen den Rasern überqueren, die sich ihre Wettrennen lieferten. Sehr schnell. Er sah nach links, um eine Lücke zwischen den grellen Scheinwerfern zu finden. Nur wenige Meter neben ihm bremste eine weiße Limousine. Die hintere Tür öffnete sich und ein Mädchen mit den längsten blonden Haaren, die er je gesehen hatte, streckte den Kopf aus dem Wagen und winkte ihn heran.

»Steig ein«, rief sie, »los, schnell!« Er warf einen Blick zurück. Die Polizisten waren keine zwanzig Meter mehr entfernt. Ohne zu zögern sprang er auf den Rücksitz. Mit einem satten »Klack« schloss sich die Tür von selbst, und die Limousine rollte geräuschlos an.

Im Inneren der Limousine sorgten zwei kleine Strahler an der Decke für schummriges Licht. Ben sank tief in eine weiße Ledergarnitur und ein automatischer Gurt legte sich über seine Schulter und klickte auf der anderen Seite ins Schloss. Gefangen!, schoss es ihm durch den Kopf.

»Hightech«, sagte das Mädchen mit den längsten blonden Haaren und klickte etwas auf ihrem Smartphone weg – ein Foto von ihm? Er fuhr mit den Fingern über das kühle Sitzleder. »Edel«, stieß er hervor, noch immer außer Puste, obwohl ihm ganz andere Fragen auf den Nägeln brannten. Warum war diese Limousine zur richtigen Sekunde an der richtigen Stelle gewesen? Wohin fuhr sie? Durch die milchige Trennscheibe versuchte er, einen Fahrer auszumachen. Aber er sah nur einen Schatten, umgeben von einem schwach bläulichen Schimmer. Ben fröstelte.

Das Mädchen griff in eine Seitenöffnung, zog eine Karaffe mit dickflüssigem rötlichem Saft und ein langstieliges Glas hervor und schenkte ein. »Willst du einen Smoothie? Ananas-Orange mit einem Schuss Grenadine und Kokos.«

Sein Bauch meldete sich laut grummelnd zurück und gierig griff er nach dem Glas. Sie schenkte ein zweites Glas ein und prostete ihm zu.

»Cheers! Ich bin Afra.«

»Ben«, murmelte er und trank den Saft in einem Zug aus.

»Und gib der Roboterkarre Bescheid, dass sie mich an der nächsten Ecke rauslässt.«

»Wir brauchen erst einen Scan von dir«, sagte Afra ruhig.

»Einen Scheiß kriegt ihr!« Er beugte sich vor und pochte kräftig gegen die Trennscheibe zur Fahrerkabine. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden und wo der Luxusschlitten hinfuhr. Die extrem verdunkelten und milchigen Scheiben machten nicht nur den Blick von außen ins Innere, sondern auch umgekehrt unmöglich. Sicher fuhren sie schon zehn Minuten oder länger. Das musste er gleich alles zu Fuß zurücklegen bis in die Münchner Innenstadt oder einen Bus erwischen. Ratte und Leo machten sich seinetwegen garantiert einen Kopf.

Ein leises Brummen ertönte und im selben Moment schob sich der Boden unter seinen Füßen zusammen und die gesamte Karosserie mit. Es war, als würde der Wagen auf die Hälfte seiner Länge zusammengestaucht, wie ein Akkordeon. Und das alles mit dem Effekt, dass Afra ihm näher rückte und ihre Haare seine Knie streiften. Sie verströmten denselben Duft von Kokos und exotischen Früchten wie der Smoothie von  eben.  Dafür roch er selbst alles andere als verführerisch. Ben presste den Oberkörper zurück in die Lederlehne. Ihm war mit einem Mal schwindlig und er musste ständig gähnen. Mehrmals versuchte er sich Afras letzten Satz in Erinnerung zu rufen. Und dass er doch längst hatte aussteigen wollen. Aber seine Augenlider wurden schwer, wie bleierne Rollgitter, die mit aller Kraft nach unten drückten. Er bekam sie einfach nicht mehr auf.

3

Am nächsten Morgen fühlte Merit sich kein bisschen müde und zerschlagen wie sonst, wenn sie die ganze Nacht kein Auge zugemacht hatte. Im Gegenteil, ihr Körper vibrierte vor Aufregung und ihre Gedanken kreisten unablässig um den einen Fixpunkt – ihren Zwillingsbruder. Es kam ihr seltsam, beinahe surreal vor, dass sie ihn heute treffen würde, nachdem sie diesen Augenblick so lange Zeit vergeblich herbeigesehnt hatte. Obwohl sie sich alle Mühe gab, Sophies Salz-Referat zu folgen, schaffte sie es nicht. Sie wippte mit den Füßen und drehte das Lineal in ihren Händen, bis Schwester Margret sie verwarnte. Merit war flau im Magen. Wo blieb bloß Holger?

»Und jetzt nichts wie los«, rief Sophie nach dem Klingeln.

»Gib mir zwei Minuten!« Merit ließ Sophie stehen und eilte auf eine der Säulen in der Eingangshalle zu, hinter der sie die Silhouette von Holger ausgemacht hatte.

»Wann bringst du mich zu ihm?«, raunte sie ihm zu, darauf bedacht, dass keiner der vorbeieilenden Schüler den Eindruck bekam, sie unterhalte sich mit einer Säule.

»Das Ziel deiner Freundin ist auch unser Ziel!«

»Was – wir müssen zur Polizei?« Bedeutete das, ihr Zwillingsbruder saß in Untersuchungshaft?

»Merit! Jetzt komm schon!« Ungeduldig hakte  Sophie ihre Freundin unter und zog sie mit sich nach draußen. »Da vorne steht Lars«, wisperte sie.

Merit fuhr sich durch die Haare, obwohl sie sich vorgenommen hatte, genau das nicht mehr zu tun, wenn Lars in Sichtweite war. Sie sah geflissentlich in die andere Richtung, während sie mit Sophie an ihm vorbeiging.

»Der hält sich wohl für was Besseres«, rief Holger ihr aus dem Astern-Beet zu.

»Er IST etwas Besseres«, hätte sie ihm beinahe geantwortet. Und jedenfalls ist er viel zu toll für mich, fügte sie in Gedanken noch hinzu.

Mit dem Bus brauchten sie keine zwanzig Minuten bis zu den Kasernen der Bereitschaftspolizei, wo Sophies Praktikum und seltsamerweise auch das Treffen mit Merits Bruder und Tilda Fox stattfinden sollte. Merit hätte Holger zu gerne mit Fragen gelöchert, aber sie hatte jetzt keinen Nerv, Sophie aufzuklären, warum sie mit Luft redete. Dabei hielt sie es kaum aus, Sophie zu verschweigen, wen sie gleich treffen würde. Sie nahm sich vor, ihrer Freundin möglichst bald alles zu erzählen und ihr auch Holger nicht länger vorzuenthalten. Wenn jemand sie nicht auslachen und für verrückt erklären würde, dann war es Sophie.

Während der Fahrt in die Münchner Vorstadt tänzelte Holger zwischen den Sitzreihen auf und ab und musterte jeden Fahrgast misstrauisch, der zustieg. Doch die meiste Zeit betrachtete er sich selbst in den spiegelnden Scheiben des Busses. Keiner der Fahrgäste schien ein besonderes Interesse an Merit zu haben, und sie fragte sich allmählich, ob Holger sich gestern Abend bloß hatte wichtig machen wollen, weil er Lust auf einen Ausflug zur Polizei hatte.

»Sieht aus wie beim Militär«, stellte Merit fest, als sie schließlich ausstiegen und auf die Schranke vor dem grauen Eingangsgebäude der Polizei zugingen. Holgers Geflatter machte sie noch nervöser, als sie ohnehin schon war. Dabei hätte sie Sophie beruhigen sollen. Aber die Vorstellung, in wenigen Minuten ihrem Bruder gegenüber zu stehen, toppte alles.

»Es ist ganz schön windig«, stellte Sophie fest.

»Hm«, machte Merit und hoffte, dass Sophie nicht merkte, dass dieser Wind nur ihnen beiden um die Nase wehte. Sie scheuchte Holger mit ein paar Handbewegungen aus der Zu-Nah-Zone.

»Gibt es hier mitten im Winter Wespen, oder wen verjagst du?«

In diesem Augenblick kreuzte eine endlos lange schneeweiße Limousine die Straße vor ihnen.

»Wow, einmal da mitfahren«, hauchte Sophie. Der Wagen bremste, und die hintere Tür glitt auf. Einen Augenblick später wurde Merit grob herumgerissen, und zwei maskierte Männer schleiften sie Richtung Kaserne durch den schmalen Eingangsbereich ins Innere des Polizeigeländes.

»Halt! Hilfe!«, schrie Merit und trat um sich.

Holger umschwebte sie während der ganzen Zeit und jammerte wie eine hängengebliebene CD: »Ich hab gewusst, dass das eines Tages passiert, ich hab’s gewusst!«

Die Männer zerrten sie um die Ecke des Eingangsgebäudes. Dahinter ließen sie Merit los und zogen ihre Masken ab. Erst jetzt entdeckte Merit, dass in großen weißen Lettern POLIZEI auf ihren schwarzen Westen stand.

»Das war knapp«, stellte der eine fest.

»Setz dich«, sagte der andere und wies auf eine Holzbank an der Rückwand des Gebäudes. Sie wankte auf die Bank zu.

»Was ist … ich habe doch nichts …«, stammelte sie. Prompt saß Holger neben ihr und legte seinen Arm um sie. Merit spürte zwar nichts, doch allein die Geste half ihr, sich etwas zu beruhigen.

Im selben Moment bog Sophie um die Ecke, wachsweiß im Gesicht. »Geht es dir gut?«, rief sie und umarmte Merit. »Was war das? Die haben dich abgeführt wie eine Schwerverbrecherin! Fehlt bloß noch, dass sie dir Handschellen anlegen!«

»Eure Ausweise bitte«, schnarrte ein dritter Beamter, der zu ihnen getreten war.

»Sophie Tenne. Ich bin zum Auswahltest da!«, sagte Sophie leise.

Merits Hand zitterte, als sie dem Polizisten ihren Ausweis entgegenstreckte.

»Du wirst gleich abgeholt. Und du, Sophie, du kommst mit mir. Die anderen sind bereits auf dem Sportplatz, ein bisschen Beeilung bitte!«

Sophie zögerte und blickte Merit unsicher an.

»Nun geh, ich komme schon klar! Schreib mir nachher, wo du bist! Und zeig’s denen!« Merit bemühte sich, ihre Angst zu verbergen und hielt beide Daumen nach oben, um ihrer Freundin Mut für die verhassten Sportprüfungen zu machen.

Kaum war Sophie außer Sichtweite, bog eine stämmige kleine Frau mit Hut, Regencape und karierten Gummistiefeln um die Ecke. Merit erkannte Tilda Fox sofort, denn sie hatte erst kürzlich nach ihr gegoogelt und mehrere Fotos von ihr im Netz gefunden. Fox’ energischer Gang wurde nur dadurch eingeschränkt, dass sie das linke Bein etwas nachzog und in der Hüfte bei jedem Schritt einknickte. Doch das Hinken schien sie nicht weiter zu beeinträchtigen: Sie eilte schnurstracks auf Holger zu, der sich augenblicklich aufrichtete und Haltung annahm.

»Das war haarscharf«, sagte sie scheinbar ruhig, aber der schneidende Klang ihrer Stimme und die hochgezogene Augenbraue ließen ein Gewitter erahnen, das sich in ihr zusammenbraute. Holger räusperte sich, schlug die Augen nieder und legte den Rückwärts-Schwebegang ein, der ihn Meter um Meter aus der unmittelbaren Gefahrenzone brachte, bis er hinter einer Gruppe Bäumen verschwand. Merit schluckte: Tilda Fox hatte gerade eindeutig in Holgers Richtung gesehen und offensichtlich war ihr Kommentar für ihn bestimmt gewesen. Ok, sie wirkte schrullig. Dennoch kam Merit es unwahrscheinlich vor, dass Tilda halluzinierte. Holger war also keine Einbildung.

Tilda Fox trat auf sie zu und reichte ihr die Hand, während sie Merit eingehend musterte. »Ich bin Tilda Fox, meine Liebe«, sagte sie mit einem Hauch britischen Akzents. »Nun bist du ja zum Glück hier und wohlauf. Wir gehen besser in mein Büro, da können wir in Ruhe sprechen.«

»Was sollte das eben mit den Polizisten? Ich habe doch gar nichts gemacht«, platzte Merit heraus.

»Das erkläre ich dir alles später …«

War das nur ihre  übliche  Vertröstungstaktik?  Merit  folgte ihr widerwillig über den Kasernenhof und weiter, am  Sportplatz vorbei, wo Sophie gerade mit hochrotem Kopf in der Weitsprung-Grube saß. An einem sicher hundert Meter hohen Schornstein auf der anderen Seite des Sportplatzes seilten sich mehrere junge Männer in Kampfanzügen ab.

»Unsere Eliteeinheit«, erklärte Tilda Fox. »Sie findet hier optimale Trainingsbedingungen vor.« Schließlich bogen sie auf einen Seitenweg ein, der zu einem abgelegenen Gebäude führte, das sich äußerlich jedoch nicht von den anderen grau getünchten, in die Jahre gekommenen Kasernengebäuden unterschied. Tilda Fox hielt Merit die schwere Eichentür auf und bedeutete ihr, dicht dran zu bleiben.

Im Inneren war es dunkel und kühl. Sie passierten ein Vorzimmer mit kleinem Fenster, wo eine Polizistin sie mit kurzem Nicken begrüßte. Die Gänge waren von jungen Polizistinnen und Polizisten in Trainingsanzügen oder Uniformen bevölkert, und die meisten von ihnen schienen lediglich zwei oder drei Jahre älter als Merit und Sophie zu sein. Vielleicht würde Sophie, wenn sie erst einmal genommen war, ja auch hier wohnen.

»Unsere Polizeischüler hier sind im ersten Ausbildungsjahr. Immer mehrere von ihnen teilen sich – natürlich nach Geschlechtern getrennt – ein Zimmer. Es gibt Waschräume, eine Krankenstation, die Waffenkammer, die Kleiderkammer, eine Kantine …« Tilda Fox hinkte die breiten Treppen in den Keller hinunter und schloss die erste Tür im Gang auf. Daneben stand auf einem an die Wand gehefteten Blatt Abteilung Raunächte – Tilda Fox und Assistent, von Hand geschrieben. Hinter der mächtigen Stahltür folgte eine weitere Tür, die Fox mit einem Zahlencode öffnete.

»Und nun willkommen in meinen bescheidenen Räumen!« Sie knipste mehrere Schreibtischlampen an, die das große Zimmer nur ungenügend erhellten. Merit sah sich um. Bescheidene Räume, das passte. Genau genommen handelte es sich bloß um einen einzigen Raum. Oder vielmehr um eine Art muffige Rumpelkammer mit einem überdimensionalen Schreibtisch in der Mitte, auf dem ein Computerbildschirm stand, der seine beste Zeit längst hinter sich hatte. Eine Wand war vollgehängt mit dämonischen Masken, wie Merit sie von den traditionellen Umzügen nach Weihnachten in der Münchner Umgebung kannte. Vor einigen Jahren hatten sie mit der Heimklasse einen solchen Maskenlauf besucht und ihr stockte jetzt noch der Atem, wenn sie daran dachte: Sie hatte damals Todesängste ausgestanden – die lärmenden, grölenden Dämonengestalten waren auf sie zugestürmt, eine Fratze grässlicher als die andere, und Merit hatte bloß noch geschrien. Als sie jetzt die Masken betrachtete, sahen die meisten nur scheußlich aus, wie eine Mischung aus wilden Tieren und Hexen mit Hörnern, langen Nasen und verzerrten Gesichtern. Sie wusste sofort, weshalb sie damals Angst bekommen hatte – da war dieser Albtraum, der sie verfolgte, so lange sie denken konnte: Eine schwarz vermummte Gestalt mit grässlicher Fratze, die sich in ihr Kinderzimmer schlich und sie und ihren Bruder töten wollte. Sie wandte sich ab. Wenn sie nur an den Traum dachte, stieg ihr sofort wieder der beißend-scharfe Geruch in die Nase, der sie an Spiritus erinnerte, und ihre Beine zitterten, ohne dass sie es verhindern konnte.

Tilda Fox schien ihr anzusehen, dass es ihr nicht gutging, denn sie befreite einen antik anmutenden Schaukelstuhl von Kartons und Zeitschriften und lud Merit ein, Platz zu nehmen. Kaum hatte Merit die aufsteigende Panik überwunden, wirbelte in ihrem Kopf eine Unmenge großer und kleiner Fragezeichen durcheinander. Und eines drängelte sich mit aller Macht vor:

»Wo ist mein Bruder?«

Die Stirn von Tilda Fox zog krause Falten, als sie auf die tickende Wanduhr sah, die  aus  einem  hölzernen  Hexengesicht mit einem Ziffernblatt darin bestand. Statt einer Antwort griff sie nach dem Funkgerät. »Sören Reichel. Sofort in mein Büro, Sören Reichel!«

Bildete sie es sich ein, oder klang Tilda Fox mindestens so angespannt, wie Merit sich fühlte? Eine Klingel schrillte. Tilda Fox betätigte einen Türöffner, der offenbar unter ihrem Schreibtisch angebracht war. Ein junger Mann mit Glatze und sagenhaft blauen Augen betrat im Kampfanzug den Raum. Merit konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Das war jedenfalls nicht ihr Zwillingsbruder. Aber dafür sah er unverschämt gut aus. Und das wusste er auch.

»Ist sie das?«, fragte er und schenkte Merit ein spöttisches Lächeln.

Tilda Fox nickte ungnädig. »Schön, dass du auch schon da bist. Wir können sie jedenfalls nicht mehr alleine vom Gelände lassen. Die Limousine war da, direkt vor dem Eingang, wie wenn ich’s geahnt hätte. Weiß der Teufel, wie sie erfahren haben … und Holger hätte sie wohl kaum abgehalten … Gibt es eine Spur von Ben?«

»Nein. Ich hab die ganze Innenstadt abgesucht.«

»Wer weiß, ob er sein Smartphone noch hat. Nun gut, es war einen Versuch wert, ihn anzuschreiben. Aber vielleicht haben sie ihn auch längst geschnappt. Und Detlef ist auch schon seit Wochen verschwunden, merkwürdig, beinahe zum gleichen Zeitpunkt …« Tilda Fox seufzte.

»Bitte, ich verstehe kein Wort. Wo ist mein Bruder? Was ist mit ihm?«, startete Merit einen zweiten Anlauf.

Tilda Fox wandte sich ihr zu. »My dear, ich fürchte, Ben wird nicht kommen.«

»Ben …« Merit war es, als hörte sie den Namen zum ersten Mal. Mit einem Ben verband sie keinerlei Erinnerung an ihren Bruder, und allmählich wich ihre Anspannung der letzten Stunden einer tiefen Enttäuschung. »Ich weiß nicht mal, wie er aussieht«, murmelte sie.

»Nun …« Tilda Fox lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück.

»Würdest du uns bitte einen Tee zubereiten, Sören? It’s always teatime, isn’t it?«

Die Miene von Sören verfinsterte sich, während er den Wasserkocher füllte. Offenbar war es weit unter seiner Würde, Tee zu kochen, während seine SEK-Kumpel am Schornstein auf und ab kletterten.

Sören reichte Merit mürrisch eine Tasse und legte original britisches Shortbread, wie Tilda Fox betonte, auf einen Teller.

»Danke, Sören. Du kannst jetzt gehen. Wir sprechen später weiter.«

Das ließ sich Sören nicht zweimal sagen. Obwohl Merit ihn nicht leiden konnte, verstand sie seine schlechte Laune: Tilda Fox strahlte Schrulligkeit und Autorität zugleich aus und Merit fragte sich, ob sie sie gerne als Chefin gehabt hätte. Oder als Lehrerin? Nein, wahrscheinlich eher nicht.

»Du hast bestimmt eine Menge Fragen?« Tilda Fox nippte an ihrem Tee. »Ich wollte sie dir und deinem Bruder gemeinsam beantworten, deshalb meine Einladung an euch  beide.  Aber dein Bruder ist im September aus seinem Heim weggelaufen. Wir vermuten, er lebt auf der Straße seither. Zumindest hat mir das ein Streetworker bestätigt, dem ich Ben beschrieben habe. Wir haben keinen Kontakt mehr zu Ben. Er hatte Detlef an seiner Seite, der auf ihn achtgeben sollte – so wie Holger auf dich. Aber auch Detlef ist wie vom Erdboden verschluckt.«

Merit nippte an ihrem Tee und versuchte zu begreifen, was Tilda Fox sagte. »Sie glauben, ihm ist etwas zugestoßen?«

»Du kannst mich gerne duzen. Nun, wir befürchten es. Aber um das alles zu erklären, muss ich ein wenig ausholen.«