Das Aha-Erlebnis - Mark Beeman - E-Book

Das Aha-Erlebnis E-Book

Mark Beeman

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  • Herausgeber: DVA
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Warum wir unter der Dusche die besten Ideen haben

Jeder kennt das: Wir kauen ewig auf einem Problem herum und suchen eine Lösung, und lange passiert nichts. Dann plötzlich kommt die Erleuchtung. Wie aus heiterem Himmel. John Kounios und Mark Beeman, zwei der weltweit führenden Neurowissenschaftler auf dem Gebiet der Kreativität, erklären in Das Aha-Erlebnis, wie solche plötzlichen kreativen Eingebungen in unserem Gehirn zustande kommen, warum sie nicht ganz so zufällig geschehen, wie es uns scheint, und was wir tun können, um ihr Entstehen zu befördern. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit hoher Nutzanwendung, unterhaltsam und fesselnd präsentiert.

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Seitenzahl: 398

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Verständlich und unterhaltsam: Was die Wissenschaft über die Entstehung plötzlicher Einsichten weiß

Jeder kennt das: Wir kauen ewig auf einem Problem herum und suchen eine Lösung und lange passiert nichts. Dann plötzlich kommt die Erleuchtung. Wie aus heiterem Himmel. John Kounios und Mark Beeman, zwei der weltweit führenden Neurowissenschaftler auf diesem Gebiet, erklären in Das Aha-Erlebnis, wie solche plötzlichen kreativen Eingebungen in unserem Gehirn zustande kommen, warum sie nicht aus ganz so heiterem Himmel geschehen, wie es uns scheint, und was wir tun können, um ihr Entstehen zu befördern. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Anwendungstipps, unterhaltsam und fesselnd präsentiert.

Die Autoren

John Kounios ist Professor für Psychologie an der Drexel University in Philadelphia, Mark Beeman hat den Lehrstuhl für Psychologie an der Northwestern University in Evanston, Illinois, inne. Beide gehören zu den weltweit führenden Neurowissenschaftlern, was die neuralen Grundlagen von Ideen und kreativem Denken anbelangt, über ihre Forschung wird regelmäßig in den wichtigsten englischsprachigen Medien berichtet, etwa in der New York Times und im Wall Street Journal. Das Aha-Erlebnis ist ihr erstes Buch für ein breites Publikum.

»Die fruchtbare Zusammenarbeit von Mark Beeman und John Kounios hat die Forschung über das Aha-Erlebnis ganz entscheidend vorangetrieben.«

ERIC KANDEL

John Kounios | Mark Beeman

DAS AHA-ERLEBNIS

Wie plötzliche Einsichten entstehen und wie wir sie erfolgreich nutzen

Aus dem amerikanischen Englisch von Nele Junghanns

Deutsche Verlags-Anstalt

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Eureka Factor. Aha Moments, Creative Insight, and the Brain bei Random House, einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York.

1. AuflageCopyright © 2015 by John Kounios and Mark BeemanCopyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehaltenRedaktion: Manuela Knetsch, GöttingenTypografie und Satz: Brigitte Müller/DVAGesetzt aus der ArnoISBN 978-3-641-16643-4www.dva.de

INHALT

VORWORT

1 NEUES LICHT, NEUE SICHT

2 EINSICHT ZUR ANSICHT

3 DIE BOX

4 URPLÖTZLICH

5 AUSSERHALB DER BOX, INNERHALB DES GEHIRNS

6 DAS BESTE AUS ZWEI WELTEN

7 ERST ABSCHALTEN, DANN HOCHSCHALTEN

8 DER »BRUTKASTEN«

9 IN STIMMUNG

10 IHR GEHIRN WEISS MEHR ALS SIE

11 DER EINSICHTSVOLLE UND DER ANALYST

12 ZUCKERBROT UND PEITSCHE

13 FERN, ANDERS, UNWIRKLICH, KREATIV

14 DIE VERFASSUNG

DANK

ANMERKUNGEN

REGISTER

VORWORT

»Heureka!« Niemand weiß mit Sicherheit, ob Archimedes wirklich dieses Wort rief, aus der Badewanne sprang und durch die Straßen des antiken Syrakus rannte, um seine neueste Entdeckung zu verkünden. Und doch hat diese Geschichte zwei Jahrtausende überdauert – weil sie bei den Menschen eine Saite zum Klingen bringt; wahrscheinlich hatten Sie selbst schon solche »Aha-Erlebnisse« oder plötzlichen Erkenntnisse. Psychologen sprechen auch von »Einsicht«. Derlei Einsichtserlebnisse sind mächtige Erfahrungen, die unser Verständnis von der Welt und uns selbst erweitern. Sie können nicht nur Erleuchtung, sondern auch praktische Vorteile mit sich bringen.

Auch uns bewegen Geschichten über Einsichtserlebnisse, weshalb wir diese Momente schon seit fast zwanzig Jahren untersuchen. Aus diesem Grund haben wir das vorliegende Buch geschrieben. Wir wollen erklären, was Einsicht ist, wie sie entsteht und wie man nach dem neuesten Stand der Forschung öfter dazu gelangen kann. Aber zuerst würden wir Ihnen gern etwas über die Historie unserer Arbeit und die Einsichtsforschung ganz allgemein erzählen.

In den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg dokumentierten deutsche Psychologen, dass eine Person, die mit einem verwirrenden und scheinbar unlösbaren Problem konfrontiert ist, plötzlich realisieren kann, dass sie es aus dem falschen Blickwinkel betrachtet hat und die Lösung in Wirklichkeit ziemlich offensichtlich ist. Ein Problem zu lösen, hat viel damit zu tun, wie man es »sieht«.

Nach dieser Identifizierung der Einsicht lag das Augenmerk der Psychologen fortan auf ihrer Charakterisierung. Insbesondere bemühten sie sich darum nachzuweisen, dass sie einzigartig ist und sich von willentlichen, bewussten Gedanken – der »Analyse« – unterscheidet. In den 1980er-Jahren zeigte beispielsweise die Psychologin Janet Metcalfe, dass Menschen ihre analytischen Gedanken bewusst kontrollieren können. Die geistigen Prozesse, die zu Einsicht führen, sind jedoch größtenteils unbewusst, was es schwierig macht, sie zu kontrollieren und vorauszusagen, wann eine Lösung als Aha-Erlebnis ins Bewusstsein vordringt. Ein weiterer Vorstoß gelang in den frühen 1990er-Jahren, als der Psychologe Jonathan Schooler demonstrierte, dass einsichtsvolle Gedanken fragil sind und leicht überschattet werden: Laut über ein Problem »nachzudenken«, verringert die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es mit einem Geistesblitz der Einsicht lösen. Ihre Fähigkeit, es analytisch zu lösen, wird dagegen nicht beeinträchtigt, wenn Sie sich durch ein Problem »hindurchquatschen«.

Trotz Schoolers Entdeckung hatten neue Forschungsergebnisse über Einsicht bis zu den 1990er-Jahre Seltenheitswert, das Forschungsgebiet war in eine Art Dornröschenschlaf versunken. Obwohl Einsicht ein Kernthema der Experimentalpsychologie blieb und in fast jedem Lehrbuch zur Einführung in die Psychologie behandelt wurde, war noch niemand in der Lage, ihre Funktionsweise festzumachen. Die wichtigsten Fragen lauteten nach wie vor: Wie kommt es zur Einsicht? Und: Können wir sie öfter erzeugen?

Dem Vorankommen stand etwas im Weg, ein Hindernis, das im Wesen der Einsicht selbst begründet ist: Sie fühlt sich anders an. Es liegt an der Durchschlagskraft von Aha-Erlebnissen, dass die Menschen sie bemerken und sich an sie erinnern. Dennoch beharrten einige Skeptiker darauf, dass dieses Gefühl trüge und Einsicht sich von bewussten Gedanken ausschließlich darin unterscheide, wie die Menschen sich fühlen, wenn sie zu einer Lösung gelangen. Ansonsten seien sie nichts Besonderes und die Vorstellung, dass es sich bei Aha-Momenten um echte, kreative Durchbrüche handelt, ein Ammenmärchen.

Als wir uns Ende 2000 an der University of Pennsylvania begegneten, diskutierten wir darüber, ob die Skeptiker Recht haben könnten. Was, wenn sich Aha-Erlebnisse zwar anders anfühlen, ansonsten aber keineswegs einzigartig sind? Vielleicht sind es bloß gewöhnliche Gedanken, die gelegentlich außergewöhnliche Ergebnisse hervorbringen. Wenn es wenigstens ein objektives Merkmal gäbe, um die subjektive Erfahrung von Einsicht zu überprüfen – etwas, das uns helfen würde, Aha-Erlebnisse zu isolieren und zu analysieren, um dahinterzukommen, ob sie tatsächlich etwas Besonderes sind …

Dann begriffen wir, dass diese Art objektives Merkmal der Einsicht potenziell tatsächlich existiert – in der Gehirnaktivität. Das brachte uns auf die Spur.

Bis dahin hatte sich Mark in seiner Forschungsarbeit auf ein anderes Thema konzentriert, und zwar darauf, inwiefern sich das Sprachverständnis auf die rechte Gehirnhälfte stützt – die Seite, die eher für die räumliche Vorstellungskraft bekannt ist als für Sprache. Basierend auf den Forschungsarbeiten anderer Wissenschaftler sowie seinen eigenen Studien zu subtilen Sprachdefiziten bei Patienten mit geschädigter rechter Gehirnhälfte, stellte Mark eine Theorie darüber auf, inwiefern die beiden Hemisphären Informationen unterschiedlich verarbeiten. Zu einem Wendepunkt in Marks Karriere kam es 1994, als er eine Vorlesung von Jonathan Schooler über Einsicht besuchte. Diese überzeugte ihn, dass dieselbe Eigenschaft der rechten Gehirnhälfte, die es Menschen ermöglicht, Sprache zu verstehen – nämlich die Fähigkeit, entfernt zueinander in Beziehung stehende Informationen zusammenzubringen –, auch für Aha-Erlebnisse sorgt. In den 1990er-Jahren tat Mark sich mit Edward Bowden zusammen, einem Einsichtsforscher, den er aus seiner Zeit an der Graduate School kannte. Gemeinsam arbeiteten sie an Verhaltensstudien, die die Theorie unterstützten, dass die rechte Gehirnhälfte eine besondere Rolle für die Einsicht spielt. Zwischenzeitlich begann Mark mithilfe von funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) Sprache zu erforschen, um die Hirnareale abzustecken, mit deren Hilfe Menschen in der Lage sind, Geschichten zu verstehen. Bald schon begann er über die Möglichkeit nachzudenken, fMRT auch zur Untersuchung von Einsicht zu nutzen.

Johns Forschungsschwerpunkt lag während der 1990er-Jahre auf der neuronalen Grundlage des »semantischen Gedächtnisses« – wie Menschen Wissen erwerben, anwenden und manchmal auch verlieren. Mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG) zeichnete er die elektrische Aktivität des Gehirns auf, um millisekundengenau zu umreißen, wie ein Begriff geistig erfasst wird. Der nächste logische Schritt bestand darin, sich anzusehen, wie eine Einsicht ins Gedächtnis springt. Zusammen mit seinem Doktorand Roderick Smith veröffentlichte er eine Verhaltensstudie, die zeigte, dass Einsicht abrupt und in ihrer Ganzheit eintritt, was die bewusste Erfahrung von Plötzlichkeit bestätigte. Das brachte John auf die Idee, EEG zu nutzen, um das Phänomen der Einsicht zu ergründen.

In den frühen 1990er-Jahren kamen die bildgebenden Verfahren (Tomografie) für das Gehirn auf, die sich über das folgende Jahrzehnt hinweg rasant entwickelten. Dank dieser Techniken brauchten wir uns nicht darauf zu beschränken, das äußere Verhalten der Menschen zu analysieren. Wir konnten in ihre arbeitenden Gehirne spähen. Das änderte alles.

Die ersten Neurowissenschaftler, die sich die Bildgebungsverfahren zunutze machten, untersuchten hauptsächlich Fähigkeiten, die bereits ausführlich von Psychologen erforscht worden waren, etwa Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Bewegung und Gedächtnis. Vor schwierigeren Aufgaben schreckten sie zurück: geistige Fähigkeiten, die komplexer und weniger leicht zu begreifen waren, wie logisches Denken, Entscheidungsfindung und Problemlösung – von Einsicht ganz zu schweigen.

Wir fühlten uns bereit, der Einsicht mit diesen Werkzeugen auf den Grund zu gehen, aber zuvor hatten wir noch eine wissenschaftliche Entscheidung zu treffen: Welche Art von Experiment sollten wir durchführen? Forschungsgelder und Zeit waren knapp. Jeder von uns verfügte lediglich über die finanziellen Mittel, um ein Experiment zu unterstützen. Aber welches? Wir umkreisten das Problem eine Weile, kamen aber immer wieder auf den einen Punkt zurück, der sich als Schlüsselfrage entpuppte: Was geschieht in dem Moment im Gehirn, in dem jemand ein Problem mit einem Geistesblitz der Einsicht löst? Wir entwarfen ein Experiment, das den eigentlichen Moment des Aha-Erlebnisses beleuchten würde.

Bis 2002 hatten wir die Einzelheiten unserer ersten Studie ausgearbeitet und waren bereit, mit den Tests zu beginnen. Etwas mulmig war uns allerdings schon zumute, denn wir gingen ein großes Risiko ein. Idealerweise führen Forscher zunächst kleine vorbereitende Pilotversuche durch, um Schwächen aufzudecken und ihre Verfahren zu verfeinern, bevor eine gesamte Studie in Angriff genommen wird. Dazu hatten wir weder die Mittel noch die Zeit, wir mussten also mit dem ersten Schuss ins Schwarze treffen.

Nachdem wir die Daten gesammelt hatten, verbrachten wir die nächsten Monate damit, die EEG- und fMRT-Ergebnisse unabhängig voneinander zu analysieren. Dann tauschten wir unsere Gehirnbilder aus und staunten nicht schlecht – wenn man die EEG- und fMRT-Bilder überlagerte, passten sie perfekt zusammen! Die zentrale Erkenntnis: Im Augenblick des Aha-Erlebnisses leuchtet ein Schlüsselbereich der rechten Hemisphäre auf.

Diese und andere Erkenntnisse lieferten schließlich den konkreten Beweis für die Realität und Besonderheit der Einsicht. Wir verfassten einen Artikel über unsere Ergebnisse. Als wir beide neue Lehrtätigkeiten angenommen hatten – Mark an der Northwestern University und John an der Drexel University –, legten wir ihn zur Veröffentlichung vor und freuten uns, als er von der renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift PLoS Biology angenommen wurde.

Die Abhandlung zog große Aufmerksamkeit vonseiten der Kollegen aus Psychologie und Neurowissenschaft auf sich. Forscher hatten schon immer Interesse an Einsicht gezeigt, auch wenn es wenig neue Belege gegeben hatte, um diese Faszination zu schüren. Aber mit einem solchen Ausmaß an positiver Resonanz – sowohl der Nachrichtenmedien als auch der Öffentlichkeit – hatten wir nicht gerechnet. Die Londoner Times etwa verkündete die Entdeckung des »E-Punkts« (»E« wie »Eureka«; Anm. d. Übers.: engl. Schreibweise für »Heureka«; das deutsche »Aha-Erlebnis« wird im Englischen als eureka effect bezeichnet.) im Gehirn, eine übertriebene Vereinfachung, die nötig war, um unsere Erkenntnisse im wahrsten Sinn des Wortes auf den Punkt zu bringen. Diese Berichterstattung veranlasste Menschen aus den verschiedensten Bereichen, uns Briefe und E-Mails zu schicken, in denen sie uns ihre eigenen Aha-Erlebnisse und persönlichen Anschauungen über Kreativität schilderten. Einige dieser Geschichten haben den Weg in dieses Buch gefunden, andere haben uns zu neuen Experimenten inspiriert.

Diese erste Neuro-Bildgebungsstudie legte weitere Untersuchungen nahe, die wir als Hauptschwerpunkt unserer Arbeit bis heute fortsetzen. Als die Forschung voranschritt, wurde deutlich, dass die entstehende Geschichte der Einsicht nicht in einem Zeitungsartikel abzuhandeln war. Sie würde ein Buch erfordern.

Wir machten uns also daran, eins zu schreiben, das lebendig und lesbar sein sollte. Ebenso wichtig aber war uns seine wissenschaftliche Genauigkeit. Die Dokumentation dieses Prozesses sowie interessante Informationen aus dem »Schneideraum« finden Sie in den Anmerkungen. Darüber hinaus wollten wir sowohl das Wunder der Entdeckung vermitteln, als auch Menschen mithilfe der Forschungsergebnisse dazu anregen, in Privat- und Berufsleben selbst kreativer zu werden. Zu diesem Zweck haben wir viele Anekdoten aufgenommen, die sowohl die Aha-Erlebnisse selbst illustrieren als auch die Umstände, die dazu geführt haben. Als Wissenschaftler erachten wir Anekdoten zwar nicht als endgültige Belege für oder gegen eine wissenschaftliche Theorie, denn jede einzelne Anekdote könnte ein Ausnahmefall oder falsch wiedergegeben worden sein. Aber sie helfen uns, zentrale Gedanken zu veranschaulichen. Darüber hinaus haben sie uns inspiriert, und wir glauben, dass sie auch Sie inspirieren werden.

Dieses Buch zu schreiben, war eine faszinierende Erfahrung. Unsere wahre Belohnung besteht jedoch darin, diese Informationen teilen zu können. Wir hoffen, dass sie Ihnen helfen, kreative Einsicht zu nutzen, um Ihre persönlichen und beruflichen Ziele zu verwirklichen und sogar noch darüber hinaus zu wachsen.

1 NEUES LICHT, NEUE SICHT

Wer aber will solche Geistesblitze zählen und wägen, wer den geheimen Wegen der Vorstellungsverknüpfungen nachgehen?1

HERMANN VON HELMHOLTZ

Helen Keller wusste nicht, was ein Wort ist. Als sie neunzehn Monate alt war, wurde sie durch eine kurze Krankheit für immer taub und blind – die Möglichkeit, sprechen zu lernen, blieb ihr verwehrt. Irgendwann entwickelte sie ein paar Zeichen für eine einfache Kommunikation, doch diese waren nichts als Gesten. Sie war gefangen in einer Welt tastbarer Gegenstände. Das Reich der Worte und Ideen blieb für sie unerreichbar.

1887, als Helen sechs Jahre alt war, stellten ihre Eltern eine junge Lehrerin namens Anne Sullivan ein, um sie zu Hause zu unterrichten. Anne, die Helens lebenslange Freundin und Begleiterin werden sollte, versuchte, Helen Wörter beizubringen, indem sie sie ihr in die Handfläche buchstabierte. Auf diese Weise lernte Helen mehrere Zeichenfolgen, begriff aber nicht, dass es Wörter waren. »Ich wusste damals noch nicht, dass ich ein Wort buchstabiere, ja nicht einmal, dass es überhaupt Wörter gab; ich bewegte einfach meine Finger in affenartiger Nachahmung«, erklärte sie später.2

Eines Tages stritten Helen und Anne über die Wörter mug (Becher) und water (Wasser). Helen brachte die Zeichenfolgen einfach nicht mit den dazugehörigen Dingen in Verbindung. Während einer weiteren Lektion geriet sie außer sich und zerschmetterte ihre Puppe. Da versuchte Anne es mit einem anderen Ansatz. Sie nahm Helen mit zum Brunnen, ließ sie ihren Becher unter die Öffnung halten und begann Wasser zu pumpen. Als das Wasser über Helens Becher und ihre Hand lief, buchstabierte Anne ihr w-a-t-e-r in die freie Hand. Und da geschah es. Anne erzählt: »Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten, über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt da. Ein ganz neuer Lichtschein verklärte ihre Züge.« Helen erklärte es später so: »Ich stand still, mit gespannter Aufmerksamkeit die Bewegung ihrer Finger verfolgend. Mit einem Male durchzuckte mich eine nebelhaft verschwommene Erinnerung an etwas Vergessenes, ein Blitz des zurückkehrenden Denkens, und einigermaßen offen lag das Geheimnis der Sprache vor mir. Ich wusste jetzt, dass water jenes wundervolle kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand hinströmte. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele zum Leben, spendete ihr Licht, Hoffnung, Freude, befreite sie von ihren Fesseln!«

In diesem wundervollen Augenblick erkannte Helen, dass das Gekritzel in ihrer Hand für Gegenstände in der Welt stand und sie diese Symbole benutzen konnte, um zu denken und mit anderen zu kommunizieren. »Ich verließ den Brunnen voller Lernbegier. Jedes Ding hatte eine Bezeichnung, und jede Bezeichnung erzeugte einen neuen Gedanken. Als wir in das Haus zurückkehrten, schien mir jeder Gegenstand, den ich berührte, vor verhaltenem Leben zu zittern. Dies kam daher, dass ich alles mit dem seltsamen neuen Gesicht, das ich erhalten hatte, betrachtete.« So wurde ein blindes Mädchen »sehend«.

Letztendlich lernte Helen, die Brailleschrift zu lesen und zu schreiben. Sie lernte sprechen, obwohl sie nicht hören konnte, und mit den Fingern Lippen zu lesen. Sie machte einen Collegeabschluss und schrieb zahlreiche Bücher mit sozialen und spirituellen Themen. Mark Twain, Alexander Graham Bell, Charlie Chaplin und andere Prominente ihrer Zeit waren mit ihr befreundet. US-Präsident Lyndon B. Johnson verlieh ihr die Freiheitsmedaille des Präsidenten. Ihr Werdegang inspiriert immer noch Generationen von Menschen, gibt ihnen Hoffnung und spornt sie zur Verwirklichung ihrer Ziele an.

Und all das wurde möglich durch einen Augenblick der Einsicht.

»Es hat einfach klick gemacht.« »Plötzlich fügte sich eins ins andere.« »Ein Geistesblitz … eine Eingebung … eine Erleuchtung.« »Mir ist ein Licht aufgegangen.« »Der Groschen ist gefallen.« »Es traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel.« »Es fiel mir wie Schuppen von den Augen.« »Plötzlich sah ich alles in einem anderen Licht.« – All diese Ausdrücke beziehen sich auf das, was gemeinhin als Aha-Erlebnis bekannt ist und von Psychologen »Einsicht« genannt und als eine Form der Kreativität betrachtet wird. Es ist die plötzliche Erfahrung, einen zuvor unklaren Zusammenhang zu begreifen, auf neue Art über eine vertraute Sache zu denken oder bekannte Dinge zu kombinieren, um etwas Neues entstehen zu lassen. Einsicht ist ein Quantensprung der Gedanken, ein kreativer Durchbruch, der unser Leben und unsere Geschichte mit Energie auftankt. Einsicht vermittelte Sir Isaac Newton die Gravitationstheorie, Sir Paul McCartney die Melodie einer Beatles-Ballade und Buddha die Erkenntnis über die Ursache des menschlichen Leidens.3 So gut wie jeder von uns hatte schon einmal Aha-Momente plötzlicher Klarheit. Sie können unser Leben verändern – und tun das auch.

Vieles wurde schon über Einsicht geschrieben, mutmaßliche Erklärungen darüber, wie sie funktioniert und wie sich diese Funktion noch verbessern lässt. Fast alles basiert eher auf Meinungen und formlosen Beobachtungen denn auf wissenschaftlich fundierten Fakten. So unterhaltsam oder inspirierend solche Populärliteratur auch sein mag, die Wissenschaft ist mittlerweile viel weiter, als wir mit anekdotischem Sinnieren kommen. Nicht, dass Meinungen und Beobachtungen schlecht wären. Sie können ein hilfreicher Ausgangspunkt für Untersuchungen sein. Aber es gibt einen umfassenderen Ansatz – einen wissenschaftlichen. Die Wissenschaft spinnt den Faden weiter, indem sie Meinungen und Beobachtungen auf Herz und Nieren prüft, wo immer es geht.4

Immer wieder haben einzelne Wissenschaftsbereiche Phasen außergewöhnlicher Entwicklung erfahren, oftmals in Gang gesetzt durch neue Technologien. Die Astronomie wurde durch die Erfindung des Teleskops vorangebracht ebenso wie die Biologie durch das Mikroskop. Im letzten Vierteljahrhundert entstand ein ganz neuer Bereich – die kognitive Neurowissenschaft –, angekurbelt durch Methoden, mit denen die Aktivität des Gehirns bei der Arbeit gemessen werden kann. Durch Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie und die Elektroenzephalografie lässt sich das Gehirn auf eine Weise erforschen, die uns verdeutlicht, wie wir wahrnehmen, uns erinnern, denken, fühlen – und Einsicht erleben. Seit über einem Jahrzehnt nutzen wir und unsere Kollegen diese bildgebenden Verfahren, um aufzudecken, was im Gehirn passiert, wenn jemand ein Aha-Erlebnis hat. In Kombination mit Methoden der Verhaltensforschung der kognitiven Psychologie haben Gehirn-Bildgebungsverfahren neue und unerwartete Aspekte der Einsicht enthüllt, die allein aus dem Verhalten einer Person nicht zu eruieren gewesen wären.

Beim Schreiben dieses Buchs haben wir zwei Ziele verfolgt. Das erste war, basierend auf den neuesten Erkenntnissen der kognitiven Neurowissenschaft und Psychologie zu erklären, was Einsicht genau ist und wie sie im Gehirn abläuft. Das zweite, Ihnen zu zeigen, wie Sie diese Informationen nutzen können, um Ihre eigene Kreativität und Lösungsfindung zu verbessern. Diese beiden Ziele sind eng miteinander verknüpft. In Medienberichten, die nicht immer ganz korrekt waren, wurden neue Forschungsergebnisse über verschiedene Faktoren hinausposaunt, die die Kreativität erhöhen sollen: sich entspannen, Urlaub machen, etwas Blaues betrachten und so weiter. Zwar gibt es Strategien, um die Kreativität zu steigern, doch die funktionieren nur, wenn sie korrekt angewendet werden – zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Kontext. Und die einzige Möglichkeit, sie korrekt anzuwenden, ist zu begreifen, auf welche Weise sie Ihre Denkweise beeinflussen. Planlose Veränderungen, die ohne dieses Verständnis vorgenommen werden, könnten genau das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken. Unser Ziel ist es, ein wissenschaftlich fundiertes Verständnis zu vermitteln, das es Ihnen erlaubt, Ihr kreatives Potenzial auszuschöpfen – zu Hause, bei der Arbeit, überall. Viel kann man vor allem von Menschen lernen, die tendenziell häufig Einsichtserlebnisse haben – wir bezeichnen sie als »einsichtsvoll« –, indem man näher betrachtet, wie sie denken und inwiefern sie sich von »Analysten« unterscheiden, die eher dazu neigen, sich auf bewusstes, methodisches Denken zu verlassen.

Eine Frage der Interpretation

Ehe wir fortfahren, sollten wir vielleicht etwas genauer erläutern, was wir mit »Einsicht« meinen. Das Wort ist ambivalent, weil es eine Vielzahl verwandter Dinge beschreibt. Meistens wird mit dem Ausdruck jede Art von tief gehender Erkenntnis bezeichnet, vor allem der Selbsterkenntnis. Für psychologische Wissenschaftler ist Einsicht jedoch spezifischer und komplizierter.

Einsicht besitzt zwei Hauptmerkmale. Das erste ist, dass sie einem scheinbar aus heiterem Himmel ins Bewusstsein schießt. Sie fühlt sich nicht an wie das Produkt eines kontinuierlichen Gedankenganges. Tatsächlich kann man sie nicht auf die Art und Weise kontrollieren wie willentliche, bewusste Gedanken. Einsicht ist wie eine Katze: Man kann sie locken, aber für gewöhnlich kommt sie nicht, wenn man sie ruft.

Das zweite Hauptmerkmal der Einsicht ist, dass sie, oft im buchstäblichen Sinne, eine andere Betrachtungsweise der Dinge bewirkt.

Sehen Sie sich den linken Würfel in der Abbildung an.

Der Necker-Würfel

© Wikicommons

Es handelt sich um den sogenannten Necker-Würfel. Der Knackpunkt: Sein Erscheinungsbild ist zweideutig. Wie Sie in der Abbildung sehen, können Sie entweder das untere oder das obere Quadrat dieses transparenten Würfels als das Ihnen näher stehende deuten. Durch eine Verlagerung der Aufmerksamkeit können Sie ihn auf die eine oder die andere Art betrachten, jedoch nie auf beide Arten gleichzeitig. Weil die beiden Interpretationen unvereinbar sind: Eine einzelne Seite des Würfels kann Ihnen nicht näher und ferner zugleich sein. Und wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit von einem der Quadrate auf das andere verlagern, vollzieht sich die Veränderung in Ihrer Interpretation abrupt. Diese Art des Perspektivenwechsels ist ein Prototyp für die Einsicht.

Die Gestaltpsychologen des frühen 20. Jahrhunderts wiesen gern darauf hin, dass wir fast jede Art von Gegenstand, Situation oder Ereignis auf mehr als eine Weise interpretieren können.5 Aus diesem Grund benutzt man zur Beschreibung von Einsicht oft Ausdrücke wie »die Dinge in einem neuen Licht sehen« oder »aus einem anderen Blickwinkel betrachten«. Wenn Sie einen Ziegelstein vor sich haben, werden Sie ihn wahrscheinlich als Teil eines Gebäudes oder einer Mauer sehen. Doch Sie könnten ihn sich auch als etwas anderes denken: als Pflasterstein, Türstopper, Briefbeschwerer oder Nussknacker. Tatsächlich ist der »Ziegelsteintest« eine Methode, die Kognitionspsychologen zur Messung von Kreativität anwenden. Je häufiger Sie Ihre Perspektive wechseln können, desto mehr Verwendungsmöglichkeiten fallen Ihnen für einen gewöhnlichen Gegenstand wie einen Ziegelstein ein und als umso kreativer gelten Sie.

Wenn man bei dem Versuch, ein Problem zu lösen, feststeckt, liegt es nach Meinung der Gestaltpsychologen oft daran, dass man auf die falsche Art darüber nachdenkt. Ebenso, wie ein schlichtes visuelles Bild wie der Necker-Würfel im Nu radikal neu interpretiert werden kann, kann auch ein komplexes Problem »restrukturiert« und in einem Aha-Erlebnis die Lösung offenbart werden. Ein Gegenstand, der zuvor für einen bestimmten Zweck verwendet wurde, kann nun als Werkzeug betrachtet werden, um irgendeine andere Aufgabe zu erfüllen. Eine Bedrohung kann als Gelegenheit wahrgenommen, die Rolle eines anderen Menschen vom Konkurrenten zum Mitstreiter umgedeutet werden.

Bevor Orville und Wilbur Wright das Flugzeug erfanden, hatte die gängige Vorstellung davon, wie der motorisierte Flug funktionieren würde, darin bestanden, dass Propeller horizontalen Schub erzeugen, indem sie die Luft wie Klingen durchschneiden, während Flügel mit gebogenen Oberflächen für den nötigen Auftrieb sorgen. Die Brüder Wright waren mental flexibel genug, um die herkömmliche Vorstellung von klingenartigen Propellern zu verwerfen und sie sich stattdessen als durch die Luft gleitende Flügel vorzustellen. Als sie ihre Propellerblätter umgestalteten und ihnen eine gebogene, flügelähnliche Form verliehen – ein Gestaltungsmerkmal, das noch heute bei modernen Flugzeugen verwendet wird –, erzeugten die Propeller einen stärkeren horizontalen Schub. Diese Neuinterpretation von Propellern als rotierende Flügel hat den modernen Motorflug möglich gemacht.

Einsicht ist kreativ

Die Begriffe »Einsicht« und »Kreativität« werden häufig synonym verwendet. Kognitionspsychologen mit ihrem Hang zur Präzision betrachten Einsicht als eine spezielle Form der Kreativität.6 Wir wollen noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass Einsicht zum Kern der Kreativität gehört.

Aber was ist dann Kreativität? Psychologen beschreiben sie oft als Fähigkeit, Ideen hervorzubringen, die sowohl neuartig als auch nützlich sind. Obwohl diese Definition in der Forschung allgemein verwendet wird, halten wir sie für unzureichend. Natürlich neigen kreative Dinge dazu, neuartig und nützlich zu sein, aber was für den einen neuartig ist, mag dem anderen wie die Neuerfindung des Rads erscheinen. Und auch die Nützlichkeit liegt im Auge des Betrachters: Ein iPhone mag für einen Anwalt aus Manhattan durchaus nützlich sein, für den Angehörigen eines Amazonas-Volkes wäre es jedoch wahrscheinlich nutzlos. Außerdem kann auch eine vollkommen nutzlose Schöpfung kreativ sein. Man nennt so etwas »brillante Fehlschläge«.

Angesichts eines fehlenden Konsenses über die Definition von Kreativität wird auch vorgeschlagen, sie einfach gar nicht zu definieren – oder zumindest noch nicht. Dahinter steht der Gedanke, dass jeder Mensch Kreativität intuitiv erkennt, wenn er sie sieht, und die Forschung irgendwann eine effektivere Definition hervorbringen wird. Wir würden behaupten, dass dieser Zeitpunkt gekommen ist.

Wir definieren Kreativität als die Fähigkeit, etwas neu zu interpretieren, indem man es in seine Bestandteile zerlegt und diese auf überraschende Weise neu kombiniert, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dieses Verständnis deckt praktisch alle Phänomene ab, die wir typischerweise als kreativ betrachten. Unter den Händen eines Komponisten werden die Noten einer Tonleiter neu arrangiert, um eine Melodie zu bilden. Ein erfolgreicher Unternehmer kann bekannte Komponenten, Produkte oder Dienstleistungen neu kombinieren, um etwas zu erzeugen, das niemand sonst verkauft und jeder kaufen will. Selbst kreative Produkte, die radikal neu erscheinen, können als Reorganisation vertrauter Wahrnehmungs- und Gedankenelemente angesehen werden. Die kreativsten Gedichte, Sinfonien, Gemälde, Erfindungen, Businesspläne oder persönlichen Erkenntnisse setzen sich aus einem allgemeinen Vorrat an Worten, Noten, Farben, Teilen, Prozessen, Schritten oder Gefühlen zusammen. Die Grundelemente können vertraut sein. Was das Produkt kreativ macht, ist, auf welche Weise diese Elemente neu kombiniert werden – je weniger offensichtlich diese Rekombination, desto kreativer. Denn wenn sie offensichtlich wäre, würde es schließlich jeder machen.

Wenn diese Art kreativer Rekombination innerhalb eines kurzen Augenblicks stattfindet, spricht man von Einsicht.7 Rekombination kann aber auch das Ergebnis des allmählicheren, bewussten Prozesses sein. Dabei handelt es sich um die methodische und willensgesteuerte Betrachtung vieler Möglichkeiten, bis man die Lösung findet. Wenn Sie zum Beispiel Scrabble spielen, müssen Sie aus einer Anzahl Buchstaben Wörter bauen. Wenn Sie die Buchstaben »A-E-H-I-P-N-E-P-I« vor sich haben und Ihnen plötzlich klar wird, dass Sie daraus das Wort »EPIPHANIE« bilden können, dann wäre das eine Einsicht. Wenn Sie systematisch verschiedene Buchstabenkombinationen durchprobieren, bis Sie auf das Wort kommen, ist das Analyse.

Für vertraute Situationen ist analytisches Denken gut geeignet. Wenn Sie beim Scrabble versuchen, ein Wort zu bilden, wissen Sie genau, was Ihnen zur Verfügung steht, nämlich die Buchstaben, und Sie wissen genau, was Sie tun dürfen, und zwar, diese neu anzuordnen. Das sind die Vorgaben, und wenn Sie die Buchstaben lange genug umstellen, finden Sie irgendwann Kombinationen, bei denen Wörter entstehen. Analytisches Denken ist ein effektiver Weg, um mit solchen klar umrissenen Problemen umzugehen. Weniger hilfreich ist es dagegen bei Problemen, die zu kompliziert sind, als dass Sie sämtliche Kombinationen durchrechnen könnten, oder bei denen nicht eindeutig ist, welcher Arbeitsmittel Sie sich bedienen können. Wenn Sie sich zum Beispiel zum Ziel gesetzt haben, eine bessere Mutter oder ein besserer Vater zu werden, einen einträglicheren Berufsweg zu beschreiten oder sich eine neue Idee für ein Start-up-Unternehmen auszudenken, kommen Sie mit Analyse allein womöglich nicht sehr weit. Diese Probleme sind zu unscharf und kompliziert, als dass Sie alle Möglichkeiten methodisch abwägen könnten. Darüber hinaus ist wahrscheinlich nicht klar, welche Werkzeuge Ihnen zur Verfügung stehen, um solche Ziele zu erreichen. Wenn Sie sich derartigen Problemen gegenüber sehen, hat die Einsicht ihren großen Auftritt.

Es kann jeden treffen, überall

Kreative Einsicht ist keineswegs ein exotischer Gedankentypus, der nur einer kleinen Minderheit vorbehalten ist. Nein, sie ist sogar eine der wenigen Fähigkeiten, die unsere Spezies ausmachen. Tiere können in unterschiedlichem Maße das meiste von dem, was Menschen können – sehen, sich bewegen, die Aufmerksamkeit auf etwas richten und sich erinnern. Aber, abgesehen von ein paar begrenzten und strittigen Gegenbeispielen, nur Menschen – die meisten Menschen – haben Einsichtserlebnisse. Es ist eine grundlegende menschliche Fähigkeit.8

Wenn Ihnen plötzlich aufgeht, wie Sie das neue Auto bezahlen können, warum Ihre Schwester sich von Ihnen distanziert hat oder wie sie sich für eine Beförderung qualifizieren, hatten Sie eine Einsicht. Wenn eine ausschweifende Erklärung Sie verwirrt und Sie dann von jetzt auf gleich begreifen, wovon die Rede ist, hatten Sie eine Einsicht. Wenn die Lösung eines lange gewälzten Problems Sie aus dem Schlaf wachrüttelt, hatten Sie eine Einsicht. Fast jeder von uns hatte schon solche Aha-Erlebnisse.

Auch die Produkte der Einsicht sind allgegenwärtig. Wir sind nicht nur von ihren technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften umgeben, etwa die Tiefkühlkost oder das Fernsehen9, sondern auch von ihren vielen Einflüssen auf die Geschäftswelt, Kunst und die meisten anderen Bereiche menschlichen Strebens. Sie ist sogar zu einem zentralen Thema der Populärkultur geworden, und in Zeitschriften, Selbsthilfebüchern und im Fernsehen wird die Auffassung vertreten, dass Aha-Erlebnisse ein Schlüssel zu persönlichem Wachstum sind.

Die Vorstellung, dass Einsicht ein Sprungbrett für die Persönlichkeitsentwicklung darstellt, ist nicht neu. Viele der großen Weltreligionen lehren schon lange, dass Einsicht das Potenzial für eine grundlegende Verwandlung bietet, indem sie ein Fenster zu transzendentalen und spirituellen Welten öffnet. In der Bibel, BuchExodus, wird eine berühmte Erleuchtung geschildert, durch die Moses plötzlich von Gott inspiriert wird, nach Ägypten zurückzukehren, um die Hebräer vom Joch des Pharaos fort und in das Gelobte Land zu führen. DieApostelgeschichte erzählt von Saulus von Tarsus (dem späteren Apostel Paulus), der auf der Straße nach Damaskus von einem himmlischen Licht geblendet wird. Seine Gefährten führen den Erblindeten nach Damaskus, wo er wieder sehend wird. »Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen und er wurde wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen«, heißt es dort. Auch im Zen-Buddhismus kommt der Vorstellung plötzlicher Einsicht eine besondere Rolle zu. Das ultimative Ziel des Zen ist Satori, was der japanische Gelehrte Suzuki als »das Erreichen eines neuen Blickpunktes für die Einsicht in das Wesen der Welt« bezeichnete.10 Ein Praktizierender kann Zen viele Jahre gewissenhaft ausüben, ehe er Satori erreicht, dann aber wird es mit großer Wahrscheinlichkeit durch ein scheinbar irrelevantes Ereignis ausgelöst. Laut Suzuki kann »ein Geräusch, eine dumme Bemerkung, eine blühende Blume, ein banales Ereignis, etwa ein Stolpern … zum Anlass werden, der eines Menschen Geist für Satori öffnet«. Er hält fest, dass dieser »neue Blickpunkt« innerhalb eines kurzen Augenblicks erlangt wird: »Satori ist das überraschende Aufflammen einer bislang nicht einmal erträumten neuen Wahrheit im Bewusstsein. Es ist eine Art geistige Katastrophe, die plötzlich eintritt, wenn viel Stoff an Begriffen und Beweisen aufgehäuft worden ist. Dieses Aufstapeln hat die Grenze an Tragfähigkeit erreicht, das ganze Gebäude stürzt in sich zusammen, und siehe, ein neuer Himmel öffnet sich weit dem Blick.«

Eine neuere Umfrage über Spiritualität in den USA dokumentiert viele Berichte von persönlich bedeutsamen, religiösen Erleuchtungen. Unter anderem wurden die Teilnehmer gefragt, ob sie schon einmal einen »Augenblick plötzlicher, religiöser Einsicht oder Erweckung« hatten – eine Frage, die schon bei früheren Erhebungen gestellt worden war.11 Beim ersten Mal, 1962, gaben 22 Prozent der Befragten an, schon einmal eine solche Erfahrung gemacht zu haben. Diese Zahl stieg mit jeder Umfrage, bis sie 2009 schließlich 49 Prozent erreichte. Zum ersten Mal seit Beginn der Fragestellung gab es mehr Menschen, die schon einmal eine solche Epiphanie erlebt hatten (49 Prozent), als solche, denen das noch nie passiert war (48 Prozent). Auch wenn die Umfrage keine Erklärung für den Anstieg von Epiphanieberichten lieferte, wird deutlich, dass viele Menschen glauben, solche Offenbarungen gehabt zu haben und sie als persönlich bedeutungsvoll ansehen.

Einsichtserlebnisse sind weit verbreitet, und die Menschen halten sie für wichtig. Aber bringen sie wirklich greifbare Vorzüge mit sich? Lassen Sie uns ein paar Bereiche betrachten, in denen einsichtsvolles Denken ein Vorteil und seine Abwesenheit ein Dilemma ist.

Metamorphose

Menschen verändern sich mit der Zeit, häufig zum Besseren. Reife, Weisheit, Geduld und viele andere Stärken können aus der allmählichen Anhäufung von Lebenserfahrung erwachsen. Aber müssen sich diese Eigenschaften zwangsläufig langsam entwickeln? Der Forscher Timothy Carey und seine Kollegen überprüften die These, dass Einsicht eine Abkürzung zu positiver persönlicher Veränderung sein kann.12 Sie führten strukturierte Interviews mit Menschen durch, die gerade eine Psychotherapie abgeschlossen hatten. Diese strotzten vor Berichten über Aha-Erlebnisse. Ein Befragter gab an, er habe »den Punkt vor Augen«, an dem er sich verändert habe. Ein anderer: »Ich konnte es regelrecht hören.« Viele konnten den Moment ihrer Erkenntnis genau identifizieren, etwa als sie mit dem Ehepartner im Schwimmbad waren oder in einer ganz bestimmten Therapiesitzung. Manche bedienten sich gängiger Metaphern, um ihre »Ahas« zu beschreiben, »mir ging ein Licht auf«, »als wenn sich ein Hebel umlegt«, »es hatte ›Klick‹ gemacht oder ›Bing‹, und plötzlich konnte ich alles ganz klar erkennen«. Persönliches Wachstum muss kein langwieriger Prozess sein. Wie der Arzt und Schriftsteller Oliver Wendell Holmes, Sr. einmal schrieb: »Die Einsicht eines einzigen Augenblicks ist manchmal so wertvoll wie die Erfahrung eines ganzen Lebens.«13

Der Informationsstrudel

Laut einer kürzlich durchgeführten Befragung von über 1500 Unternehmenschefs weltweit ist das Hauptproblem, mit dem Führungskräfte heute zu kämpfen haben, die wachsende Komplexität der Welt. Die Interviewten berichteten, dass Geschäftsmodelle und -strategien aufgrund der rasanten Veränderungen beinahe schon wieder überholt sind, sobald sie umgesetzt werden. 14

Diese Hetzjagd beschränkt sich nicht auf die Geschäftswelt – wir alle begegnen ihr in den unterschiedlichsten Lebenslagen. Im gleichen Maße, wie sich die Zivilisation ausbreitet, geschieht das auch mit ihren Problemen. Zu der vertrauten Litanei von Hunger, Krankheiten, Ungerechtigkeit und Krieg haben sich neuere Probleme hinzugesellt: Umweltzerstörung, wachsende Rivalität um schwindende, natürliche Ressourcen, das Zerbrechen von Familien, Cyber-Kriminalität und so weiter. Und was noch schlimmer ist: Diese Probleme sind zunehmend miteinander verflochten. Soll man nun die Energieknappheit lösen, indem man weiter Öl findet und fördert oder indem man mehr Atomkraftwerke baut? Aber wie gehen wir dann mit der erhöhten Umweltverschmutzung und dem Giftmüll um? Soll man den Terrorismus bekämpfen, indem man die Sicherheitsvorkehrungen verschärft? Aber wie bewahren wir uns dann Freiheit und Privatsphäre? Und so weiter. Wie können wir die wachsende Komplexität und Vernetzung unserer Probleme bewältigen?

Als zukunftsweisend identifizierten die Firmenchefs bei ihrer Befragung die kreative Einsicht. Angesichts dieses Wirrwarrs sei es »die Einsicht, die hilft, Gelegenheiten beim Schopf zu packen«. Sie erschließt einen neuen Blickwinkel, um eine Lösung zu ersinnen, die nicht nur in Reichweite ist, sondern im Nachhinein sogar offensichtlich erscheint. Im Verlauf dieses Buchs werden wir viele Beispiele aus dem wahren Leben schildern, wie Aha-Erlebnisse unvorhergesehene Einfachheit offenlegen können.

Heurökonomie

Kreativität und Innovationen werden von Ökonomen und Wirtschaftsführern mehr und mehr als Antrieb für wirtschaftliches Wachstum hervorgehoben. Globalisierung und technischer Fortschritt haben, um es mit den Worten des Pulitzer-Preisträgers, Korrespondenten und Kommentators der New York Times, Thomas Friedman, auszudrücken, »die Welt flach gemacht«, indem sie die historischen Vorteile, die entwickelte Nationen aufgrund ihrer geografischen Lage und ihres Wohlstands besitzen, verringert haben.15 Computer sind heute relativ kostengünstig. Durch das Internet lassen sich die Gehirne von Beijing ebenso leicht anzapfen wie die von Boston. Folglich haben die Menschen und Unternehmen mit den besten neuen Ideen – unabhängig davon, wer sie sind oder wo sie sich befinden – zunehmend auch die besten Chancen, es zu etwas zu bringen. Solche Ideen sind häufig die Produkte kreativer Einsicht.

Regierungen, Konzerne und private Einrichtungen, die die Bedeutung der Kreativität für den wirtschaftlichen Erfolg erkannt haben, werden von den Warnungen einer aufkeimenden »Innovationslücke« aufgerüttelt.16 Sie fangen an, über Reformen nachzudenken, um die Entwicklung von innovativen Produkten, Verfahren und Leistungen zu unterstützen. Diese Bemühungen basieren auf der Annahme, dass das Haupthindernis für Innovationen fehlerhafte organisatorische Strukturen sind, die die Umsetzung origineller Ideen blockieren. Man hofft, dass die Kreativität entfesselt werden könnte, wenn Regierungen und Unternehmen einfach ihre Politik ändern würden.

Zwar ist an dieser Sichtweise etwas dran, doch es ist nicht die ganze Wahrheit. Die Umsetzung ist nicht das einzige zentrale Problem – tatsächlich finden einsichtsvolle Menschen zumeist kreative Wege, um solche Schwierigkeiten zu meistern. Die größten Hindernisse, und vielleicht die hartnäckigsten, sind eher mentaler denn institutioneller Art. Gruppen von Menschen können zu Ideen anregen, sie verfeinern und umsetzen. Organisationen können die Kreativität unterstützen und fördern. Innovationen können jedoch nicht umgesetzt werden, wenn sie gar nicht erst erdacht werden. Entscheidend ist, dass Ideen ihren Ursprung im Gehirn eines Individuums haben. Individuelle Kreativität muss daher als wertvolle Ressource angesehen werden, die aufgespürt und kultiviert werden muss – gerade, wenn es Grund zu der Annahme gibt, dass sie dahinschwinden könnte.

Wie schlau sind wir?

Seit etwa einem Jahrhundert gibt es Intelligenztests. Diese Tests messen weniger die Kreativität als vielmehr analytische Fähigkeiten, die beim logischen Denken eine Rolle spielen. Intelligenz- oder auch IQ-Tests liegt das allgemeine Prinzip zugrunde, dass der erreichte Rohwert einer Person beim Test mit den Rohwerten von Gleichgestellten verglichen wird. Das Testergebnis eines Kindes wird zum Beispiel mit den Ergebnissen anderer Kinder seiner Altersstufe verglichen, das eines Erwachsenen mit denen anderer Erwachsener. Ein IQ von 100 gilt als durchschnittlich. Die Hälfte der Getesteten schneidet mit einem höheren IQ als 100 ab, die andere Hälfte mit einem niedrigeren. Alle paar Jahre wird das Auswertungsverfahren abgeglichen oder neu genormt, um es an Schwankungen anzupassen, zu denen es mit der Zeit gekommen ist. So könnte der durchschnittliche Rohwert innerhalb eines Jahrzehnts bei 70 Prozent korrekt gelöster Probleme liegen, im nächsten bei 75 und im übernächsten bei 65 Prozent. In allen drei Fällen wird dem Durchschnittsergebnis für diesen Zeitabschnitt ein IQ von 100 zugewiesen. Auch wenn die durchschnittlichen Rohwerte der Menschen schwanken – der durchschnittliche IQ ändert sich nie. Er liegt immer bei 100.

Vor etwa dreißig Jahren begann der neuseeländische Intelligenzforscher James Flynn zu analysieren, wie sich diese Rohwerte über die Zeit veränderten. Was er herausfand – heute bekannt als der »Flynn-Effekt« –, versetzte die Welt in Staunen: Die durchschnittlichen Rohwerte sind gestiegen. Das weltweite »neue Normal« ist immer besser geworden. Wir wissen noch nicht genau, warum das so ist, aber Zahlen lügen nicht. Die Menschen werden schlauer. Oder etwa nicht? Na ja, wie man’s nimmt.

1966 entwickelte der Psychologe E. Paul Torrance den Torrance Test of Creative Thinking (TTCT), ein verbreitetes Instrument, um die Fähigkeit zu kreativem Denken zu messen, und nicht wie die IQ-Tests das analytische Denken. Wie jeder andere psychometrische Test wird auch dieser regelmäßig abgeglichen, sodass das Ergebnis einer Einzelperson mit den Ergebnissen ihrer Zeitgenossen verglichen werden kann. Die Psychologin Kyung-Hee Kim vom College of William and Mary in Williamsburg, Virginia, hat kürzlich untersucht, wie sich die TTCT-Rohwerte in den Vereinigten Staaten mit der Zeit verändert haben, und kam zu dem Schluss, dass die Menschen im Durchschnitt anscheinend immer weniger kreativ werden.17 Bei all unserem Fortschritt in Bildung und Technologie und trotz unseres durch den Flynn-Effekt attestierten Anstiegs analytischer Intelligenz scheinen die Amerikaner gemeinschaftlich an Kreativität einzubüßen. Künftige Forschungen werden zeigen, ob diese sinkenden Kreativitätswerte ein globales Phänomen sind und somit quasi die Kehrseite der weltweit steigenden analytischen Intelligenz darstellen.

Dieses offensichtliche Abflauen der Kreativität ist alarmierend, weil es zu einer Zeit auftritt, in der kreative Einsicht dringend nötig ist, um unsere Probleme erfassen und unsere Möglichkeiten aufdecken zu können. Die bloße Dokumentierung dieses Rückgangs erklärt ihn jedoch noch lange nicht. Wir möchten Ihnen gern zeigen, wie es zu Aha-Erlebnissen kommt, dass sie ein stärkender Faktor in Ihrem Leben sind und, nicht zuletzt, wie der kreative Verfall erklärt – und rückgängig gemacht – werden kann.

2 EINSICHT ZUR ANSICHT

Die Melodie kam einfach so als Ganzes daher … da muss man doch einfach an Zauberei glauben.

SIR PAUL MCCARTNEY

Einsicht kann uns über alles und in so vielen verschiedenen Zusammenhängen erreichen, dass wir oft auf die widersprüchlichste Art und Weise über dieses Phänomen nachdenken. Lassen Sie uns das Bild ein wenig scharf stellen, indem wir eine der hervorstechendsten Eigenschaften der Einsicht näher betrachten. Das wird den Weg bereiten, um in den folgenden Kapiteln ihre inneren Abläufe besser zu begreifen.

Schritt für Schritt

Einsicht ist ein Schritt in einer Abfolge (siehe Abbildung). Im ersten Schritt schlagen Sie sich mit einem Problem herum, was man auch als »Vertiefung« in all seine Aspekte bezeichnet: die Fakten, die Werkzeuge, die Ihnen zur Verfügung stehen, und Ihr Ziel. Vielleicht versuchen Sie bewusst, das Problem zu lösen, vielleicht studieren Sie es auch nur. Wenn Sie sich beim Versuch, es zu lösen, festfahren, sind Sie in eine »Sackgasse« geraten und wissen nicht mehr weiter. Aber vielleicht wurden Ihre Anstrengungen auch gerade von etwas anderem unterbrochen. So oder so findet eine »Ablenkung« oder eine Pause von dem Problem statt. Irgendwann wird die Ablenkung ihrerseits von einem Aha-Erlebnis unterbrochen, das Ihnen die Lösung eingibt. Das ist die Einsicht, auch Phase der »Erleuchtung« genannt.

Gedankenstufen, die zur Einsicht führen

© Sharon O’Brien

So sieht die klassische Auffassung von Einsicht aus, obwohl es verschiedene Ausarbeitungen und Varianten dieses Grundschemas gibt, die wir zu gegebener Zeit noch vorstellen werden. Lassen Sie uns nun einige konkrete Beispiele betrachten, die die Stufen und Eigenschaften der Einsichtserfahrung veranschaulichen – insbesondere die erweiterte Perspektive, das plötzliche Eintreten, die Neuinterpretation des Vertrauten, das Bewusstwerden unvorhergesehener Beziehungen, die subjektive Gewissheit und die emotionale Erregung.1

Blickwinkel

Wenn ein Krebstumor entfernt wird, können in anderen Teilen des Körpers rasch winzige metastatische Tumore wachsen, mit fatalen Folgen. Paradoxerweise kann sogar das Schrumpfen des Primärtumors durch Bestrahlung oder Chemotherapie manchmal das Wachstum von kleinen Sekundärtumoren auslösen. Das war eines der großen Mysterien der Krebsforschung, das schon 1895 in der medizinischen Literatur auftauchte. Es stellte die behandelnden Ärzte vor ein Dilemma: Sollte man den Primärtumor auf die aggressivstmögliche Weise behandeln oder nicht?

Dr. Judah Folkman, ein Absolvent der Harvard Medical School, durchlief gerade seine Facharztausbildung zum Chirurgen am Massachusetts General Hospital, als er 1960 zur US Navy eingezogen wurde. Diese hatte gerade die USSEnterprise gebaut, einen atombetriebenen Flugzeugträger mit einer Besatzung von fast viertausend Mann. Eine der zukunftsweisenden Eigenschaften dieses Flugzeugträgers bestand darin, dass er ein Jahr auf See bleiben konnte, ohne einen Hafen anlaufen zu müssen, um zu tanken oder Vorräte aufzufüllen. In der Praxis war dies jedoch nicht zu verwirklichen, denn seine Operationsräume mussten einen beträchtlichen Vorrat frischen Blutes bereithalten. Blut hat eine Haltbarkeitsdauer von Tagen und nicht von Monaten. Um das volle Potenzial von Schiffen wie der Enterprise zu realisieren, suchte die US Navy nach einem Blutersatz mit längerer Haltbarkeit. Diese Aufgabe wurde Judah Folkman und seinem Kollegen Dr. Fred Becker übertragen.

Folkman und Becker dachten darüber nach, Hämoglobin zu verwenden, die Sauerstoff transportierende Komponente des Blutes. Sie interessierten sich für Hämoglobin, weil es über lange Zeiträume in Pulverform gelagert und später durch die Zugabe von Wasser wiederhergestellt werden konnte. Also führten sie ein Experiment durch, um festzustellen, ob lebendes Gewebe erhalten werden und sich selbst reparieren konnte, wenn man es in Hämoglobin badete. Hierzu verwendeten Folkman und Becker eine Gewebeart, die zu starkem Wachstum fähig ist: Krebszellen.

Zunächst funktionierte das Experiment. Die Krebszellen blieben am Leben und begannen sich zu vermehren. Dann geschah jedoch etwas Unerwartetes. Die Zellen hörten mit der Vermehrung auf, als sie einen Tumor von der Größe eines Stecknadelkopfes gebildet hatten. Folkman, der neugierig war, was es mit diesen verkümmerten Tumoren auf sich hatte, untersuchte sie genauer. Und stellte etwas Merkwürdiges fest: Sie waren frei von Blutgefäßen.

Seine zufällige Beobachtung ließ ihn nicht mehr los und löste schließlich seine erste bedeutende Einsicht aus: Tumore brauchen, ebenso wie gesundes Gewebe, eine beträchtliche Blutversorgung, um zu wachsen. Ohne neue Blutgefäße können sie nicht größer werden als ein Nadelkopf. Folkmans visionäre Erkenntnis: Wenn er die biochemischen Faktoren isolieren konnte, die das Wachstum von Blutgefäßen regulieren, könnten Tumore kontrolliert oder abgetötet werden; man entzog ihnen das Blut und hungerte sie aus. Das war ein radikaler Perspektivenwechsel, der ihn Möglichkeiten erkennen ließ, die andere sich nicht vorstellen konnten.

Über viele Jahre wollten die meisten Forscher die Richtigkeit oder Bedeutung von Folkmans Idee nicht anerkennen. Selbst denjenigen, die seine Idee für technisch korrekt hielten, erschien sie bedeutungslos, weil der beste Weg, einen Tumor zu bekämpfen, der naheliegendste sein musste – der direkte Angriff, ihn durch Chemotherapie vergiften oder einfach herausschneiden. Warum den Umweg über das allmähliche Aushungern des Tumors nehmen, wenn man ihn viel gezielter attackieren konnte? Mitglieder des Wissenschaftsbetriebs brauchten Jahre, um den Wert dieses neuen Blickwinkels zu begreifen, weil alte Denkweisen sie dafür blind machten.

Viele Jahre später erreichte Folkmans Denkweise durch eine weitere Einsicht plötzlich eine ganz neue Dimension.

Aus heiterem Himmel

Nach seinem Dienst bei der Navy kehrte Folkman zurück ans Massachusetts General Hospital, um seine Chirurgenausbildung fortzusetzen, im Anschluss daran erhielt er eine Dozentenstelle an der Harvard Medical School. Er musste damals angesichts der Kritik und des Spotts von Kollegen, die blind waren für die Bedeutung seiner Idee, um die Fortzahlung der Fördergelder für seine Tumorforschung kämpfen. Durch seine beharrlichen Bemühungen während der 1970er-Jahre erzielte er zunehmend Fortschritte bei der Isolierung verschiedener Chemikalien, die das Wachstum der Tumore nährenden Blutgefäße entweder fördern oder hemmen. Trotzdem konnte er die Frage, warum das Entfernen eines Primärtumors das ungehinderte Wachstum winziger Metastasen auslöst, immer noch nicht beantworten. Auf einem Whiteboard in seinem Labor setzte er dieses Problem auf die Liste drängender Fragen, über die sein Team nachdenken sollte.

Noel Bouck taten die Füße weh. Sie trug neue Schuhe, als sie 1985 an einer Krebsforschungstagung teilnahm, und suchte einfach einen Platz, um sich hinzusetzen und auszuruhen. So fand sie Zuflucht im erstbesten Konferenzraum, in dem gerade nichts los zu sein schien. Schon bald begann sich der Raum jedoch mit Menschen zu füllen, die gekommen waren, um den nächsten Redner zu hören. Rasch sah sich Bouck, eingepfercht in ihrer Stuhlreihe, außerstande zu entkommen, ohne Aufsehen zu erregen, also blieb sie zur Vorlesung. Der Redner war Judah Folkman, und sein Vortrag handelte von Krebs und Angiogenese, der Neubildung von Blutgefäßen.

Bouck wusste nicht viel über Angiogenese und hatte noch nie über deren Bezug zu Krebs nachgedacht. Ihr Spezialgebiet war die genetische Basis von Krebs. Folkmans Präsentation war für sie eine Offenbarung. Am Ende seines Vortrags sagte sie sich: »Der Mann hat recht. Absolut. Ich glaube ihm.« Sie begann, auf den Gebieten Angiogenese und Krebs zu forschen.

1987 las Folkman einen neuen Forschungsbericht. Er stammte aus Boucks Labor. In dieser bahnbrechenden Studie demonstrierten sie und ihre Mitarbeiter, dass Tumore sowohl Chemikalien abgeben, die das Wachstum neuer Blutgefäße anregen, als auch solche, die es hemmen. Boucks Bericht wurde zur Pflichtlektüre für die Mitarbeiter in Folkmans Labor erklärt, und tagein, tagaus grübelte Folkman über seine Bedeutung nach.

Im September 1989 nahm Folkman, Sohn eines Rabbis, an einem Rosh-ha-Schana-Gottesdienst im Temple Israel in Boston teil. Als er um zehn Uhr morgens in der letzten Reihe saß und den jüdischen Neujahrsgebeten lauschte, überkam ihn eine plötzliche Einsicht, die »alles erklärte«. Das Wachstum von Blutgefäßen um einen Tumor wird durch ein Gleichgewicht zwischen den vom Tumor abgegebenen Chemikalien reguliert, von denen einige das Wachstum anregen und andere es hemmen. Wenn das Gleichgewicht in die Richtung der wachstumsfördernden Chemikalien kippt, schließen sich die Blutgefäße dem Tumor an und ermöglichen sein Wachstum. Wenn sich das Gleichgewicht zugunsten der hemmenden Chemikalien verschiebt, erreichen die Blutgefäße den Tumor nicht, und der Tumor kann nicht größer werden als einen Millimeter.

Dieser Aha-Moment erklärte, warum das Entfernen eines Primärtumors das Wachstum winziger Metastasen an anderen Körperstellen auslösen kann: Der Primärtumor gibt sowohl gefäßfördernde als auch gefäßhemmende Chemikalien ab. Die gefäßfördernden Chemikalien halten sich nur ein paar Minuten im Blutkreislauf – nicht lang genug, um das Wachstum der kleineren Tumore zu stimulieren. Die gefäßhemmenden Chemikalien dagegen überdauern unbegrenzt im Blutkreislauf, weshalb sie die Oberhand erlangen und neue Blutgefäße daran hindern, die kleinen Tumore zu versorgen. Wenn der Primärtumor entfernt wird, verschwinden auch die hemmenden Chemikalien, die das Wachstum der Blutgefäße bremsen. Es ist, als würde man Benzin auf glühende Kohlen gießen.

Ist Ihnen aufgefallen, wie abrupt Folkmans Aha-Erlebnis eintrat? So abrupt, dass es ihm später möglich war, Zeit und Ort genau zu bestimmen. Es war wie eine fest verschlossene Tür, die sich jeder Kraftanstrengung widersetzt, bis sie plötzlich nachgibt und sich öffnet. Und ist die Tür erst offen, ist alles sichtbar.