Das Alphabet meiner Familie - Nina Sahm - E-Book
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Das Alphabet meiner Familie E-Book

Nina Sahm

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Beschreibung

Ein deutscher Familienroman von großer Eindringlichkeit. Eines Tages steht er vor Ellas Tür: Frieder, ein völlig Fremder, der sie jedoch vom ersten Augenblick an fasziniert – nicht nur weil er ein Foto ihrer Mutter Rike bei sich hat. Wer aber ist er? Ella kann sich nicht an ihn erinnern, lauscht jedoch wie gebannt seinen Geschichten: von seinem Vater Viktor, den er kaum kennt, von dessen Faszination für die Zucht einer ganz besonderen Zwiebel, die man essen kann wie einen Apfel. Von der Trennung seiner Eltern kurz nach seiner Geburt. Und von jenem kleinen Dorf am Bodensee, das er und seine Mutter auf der Suche nach einem neuen Zuhause bald hinter sich ließen. Ella gerät immer mehr in den Sog von Frieders spannenden Geschichten, die von Familie und den eigenen Wurzeln erzählen – etwas, was sie nie gekannt hat. Allmählich wird ihr bewusst, was Frieders Geschichte mit ihrer eigenen zu tun hat …

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Seitenzahl: 343

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Nina Sahm

Das Alphabet meiner Familie

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein Familienroman von großer Eindringlichkeit

Eines Tages steht er vor Ellas Tür: Frieder, ein völlig Fremder, der sie jedoch vom ersten Augenblick an fasziniert – nicht nur weil er ein Foto ihrer Mutter Rike bei sich hat. Wer aber ist er? Ella kann sich nicht an ihn erinnern, lauscht jedoch wie gebannt seinen Geschichten: von seinem Vater Viktor, den er kaum kennt, von dessen Faszination für die Zucht einer ganz besonderen Zwiebel, die man essen kann wie einen Apfel. Von der Trennung seiner Eltern kurz nach seiner Geburt. Und von jenem kleinen Dorf am Bodensee, das er und seine Mutter auf der Suche nach einem neuen Zuhause bald hinter sich ließen.

Ella gerät immer mehr in den Sog von Frieders spannenden Geschichten, die von Familie und den eigenen Wurzeln erzählen – etwas, was sie nie gekannt hat. Allmählich wird ihr bewusst, was Frieders Geschichte mit ihrer eigenen zu tun hat …

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. KapitelVon der Zwiebel, die man essen kann wie einen Apfel2. KapitelVon den seltsamen Angewohnheiten, die am See zum Alltag gehörten3. KapitelVon der Schwierigkeit, irgendwo anzukommen4. KapitelVon klebrigen Bonbons, die mich retten sollen5. KapitelVon wackligen Fahrten und seltsamen Kuchen6. KapitelVon tickenden Uhren und leeren Kartons7. KapitelVon den Umzugskartons, die niemand ausräumen will8. KapitelVon der Unmöglichkeit, einen Ersatz zu finden9. KapitelVon krummen Nasen und schiefen Zehen10. KapitelVon der großen Ehre, die dem Dorf zuteilwurde11. KapitelVon der ersten Fahrt zu den Zwiebeln12. KapitelVon einem Dreieck, das alles durcheinanderbringt13. KapitelVon zwei Frauen, die sich nicht erinnern wollen14. KapitelVon den Zeichnungen, die jahrelang in einem Versteck verstaubten15. KapitelDanksagung
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Für Stephan

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Prolog

Meine Familie war anders. Damit meine ich nicht, dass wir größere Nasen oder schiefere Zehen als der Rest der Welt hatten. Nein, rein optisch fielen wir nicht weiter auf. Wir waren nicht besonders hübsch und nicht besonders hässlich, ein gesundes Mittelmaß, das die Blicke nicht weiter anzog. Doch sobald jemand den kleinen Hof am Bodensee betrat, rieb er sich verwundert die Augen. Spätestens nach ein paar Metern stiegen ihm die Tränen in die Augen, und das hatte mit Rührung oder Trauer nichts zu tun: Es lag schlichtweg an den Zwiebeln, die das Gelände beherrschten wie Unkraut. Je nach Jahreszeit wuchsen sie in den Beeten oder lagerten am Wegesrand. In dekorativen Zöpfen und Kränzen bevölkerten sie den Rest des Hofes, um jeden Gast auf den ausgeprägten grünen Daumen der Familie hinzuweisen. Und selbst wenn nirgendwo eine Knolle zu sehen war, lag der betörende und dennoch leicht beißende Geruch in der Luft, als hätte er sich für immer dort festgesetzt. Zwar war die Zucht dieser uralten Kulturpflanze nicht nur bei uns, sondern im ganzen Dorf äußerst beliebt, doch niemand trieb es dabei so auf die Spitze wie die Familie meines Vaters. Niemand war von dem Gemüse so besessen, niemand erforschte sein Wesen so detailverliebt.

 

Mein Vater hatte offenbar bei jeder Gelegenheit erzählt, dass er an seinem ersten Schultag nur einen Buchstaben kannte: das Z. Er weigerte sich, schreiben zu lernen, und interessierte sich nicht für die kleinen und großen Bögen, die er zur Übung in sein Heft malen sollte. Warum auch? Er wollte Zwiebelzüchter werden wie sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater vor ihm. Wozu sollte er also die Schulbank drücken, wenn das viel wichtigere Wissen unter der Erde lag? Als die Lehrerin ein Arbeitsblatt verteilte und die Schüler bat, neben jeden Buchstaben des Alphabets ein passendes Bild zu malen, begann mein Vater sofort mit der Arbeit. Fein säuberlich malte er eine flache Zwiebel neben das A, eine etwas größere neben das B, eine ganz kleine neben das C. Insgesamt füllten am Ende 26 unterschiedliche Zwiebeln das Blatt. Stolz hielt er das Ergebnis in die Höhe, doch die anderen verdrehten die Augen, und das Gelächter erfüllte minutenlang den Raum. Mein Vater steckte sein Blatt ein, verließ wortlos das Zimmer und schwänzte für den Rest des Tages die Schule.

Einen Tag später wurden meine Großeltern zu einem Gespräch in die Schule gebeten. Sie kamen in Sonntagsgarderobe, stellten der Lehrerin ein Glas mit in Balsamessig eingelegten Bodenseezwiebeln auf den Tisch und legten eine Gabel daneben.

»Wir haben nur eine Bedingung«, sagte meine Großmutter und lächelte schelmisch. »Würden Sie einen Bissen nehmen, bevor wir mit unserem Gespräch fortfahren?«

Die Lehrerin überlegte kurz, doch die Neugierde war zu groß. Sie pickte sich mit mürrischem Gesichtsausdruck eine kleine Knolle heraus, schob sie sich in den Mund und begann zu kauen. Überrascht hielt sie inne, schnupperte an dem Glas und nahm sich gleich die nächste Zwiebel heraus.

»Worüber wollen Sie mit uns reden?«, fragte mein Großvater und legte siegessicher einen Arm um seine Frau. Und tatsächlich – die Lehrerin gab nach.

»Der Vorfall wird keine Konsequenzen haben«, erklärte sie, »allerdings nur, wenn diese Köstlichkeit bei mir bleibt …«

[home]

1

Als der Fremde mit einem großen braunen Koffer, einer Aktentasche aus Leder und einem langen Mantel vor ihrer Tür stand, sah Ella ihn neugierig an.

»Sie schon wieder!«, sagte sie.

Er hob unbeholfen eine Hand zur Begrüßung und suchte offenbar nach den richtigen Worten. Dreimal hatte sie den Mann an diesem Tag schon gesehen. Auf dem Weg zur Arbeit war er ihr hinterhergerannt und hatte ihr außer Atem den Schlüssel gereicht, der ihr aus der offenen Handtasche gefallen war. Ein paar Stunden später hatte sie ihn im Café bedient, wo er stundenlang in ein Buch vertieft gewesen war und ihr schließlich ein viel zu hohes Trinkgeld auf dem Tisch liegen ließ. Und schließlich stand er im Supermarkt vor ihr in der langen Feierabendschlange und ließ ihr den Vortritt, da sie nur etwas Gemüse und eine Flasche Wein in der Hand hielt.

»Habe ich mal wieder etwas verloren, oder was verschafft mir die Ehre?«, fragte sie. Ihre Stimme zitterte leicht. Vor einigen Monaten hatte sie sich geschworen, in nächster Zeit keinen Mann in ihr Leben zu lassen. Es war an der Zeit für eine ruhige Phase ohne größere Aufregungen und Verletzungen, fand sie. Aufdringlichen Besuch konnte sie nicht gebrauchen, sie musste ihn so schnell wie möglich abwimmeln. Der Fremde ließ seinen Blick kurz auf ihr ruhen, dann zog er ein Foto aus der Tasche.

»Ihre Mutter, nicht wahr?«

Sie erkannte Rike sofort, auch wenn die Aufnahme sicher zwanzig Jahre alt war.

»Ist ihr etwas passiert?«

»Nein, nein.«

»Wie kommen Sie dann an dieses Bild?«

Ohne weitere Erklärung marschierte der Fremde in den Flur, hängte seinen Mantel an die Garderobe und bückte sich, um Alma zu streicheln. Normalerweise wehrte die Hündin jeden Eindringling laut bellend ab, doch diesmal beschnupperte sie in aller Ruhe die Hosenbeine des ungebetenen Gasts, als würde ein alter Freund zu Besuch kommen.

»Darf ich mich umsehen?«, fragte der Fremde.

»Natürlich nicht. Ich kenne Sie doch gar nicht.«

»Sind Sie sicher?«

»Wir sind uns heute ein paar Mal über den Weg gelaufen, aber vorher habe ich Sie noch nie gesehen.«

»Wir sind uns näher, als Sie im Moment ahnen.«

»Was soll das denn bedeuten?«

»Warten Sie nur ab …«

»In meiner Wohnung bestimme normalerweise nur ich – und kein Fremder, der hier einfach hereinmarschiert.«

Doch das schien er nur als Ermunterung zu verstehen und sah sich in aller Ruhe die Tierzeichnungen an der Wand an.

»Die gefallen mir!«, stellte er fest und wirkte dabei so unbekümmert wie ein Bekannter, der nach langer Zeit vorbeikam und die Veränderungen in der Wohnung begutachtete. Eigentlich war er so ganz und gar nicht ihr Typ. Selten hatte sie ein so perfekt gebügeltes Hemd gesehen, und die Hose saß wie maßgeschneidert. Die Sachen stammten sicher aus einem der teuren Designerläden, die sie aufgrund der horrenden Preise noch nie betreten hatte. Und dann diese Frisur! Der Seitenscheitel war für ihren Geschmack viel zu akkurat gezogen. Doch seine freundliche, ruhige Stimme gefiel ihr. So bedächtig hatte schon lange niemand mehr mit ihr gesprochen. Verspürte er keinen Zeitdruck? Musste er nicht sofort zum nächsten Termin?

»Was haben Sie mit meiner Mutter am Hut?«, fragte sie.

»Gegenfrage: Komme ich Ihnen wirklich nicht bekannt vor?«, entgegnete er geheimnisvoll und inspizierte die Küche. Dabei lief er so aufrecht herum, dass sie an ihren Großvater Emmerich denken musste. Egal, ob er stand oder saß – sein Rücken war immer durchgedrückt. Sie hatte ihn damit aufgezogen, doch das hatte ihn nicht weiter gekümmert. Die letzten Jahre seines Lebens verließ er seine kleine heimische Bibliothek nur noch zum Schlafen und für kurze Gänge ins Bad. Selbst die Mahlzeiten nahm er mit einem Buch neben sich und dem Blick auf die Regalwände ein. Besonders abwechslungsreich wirkte es nicht, aber er schien zufrieden bis zuletzt. Von dieser Ähnlichkeit abgesehen, war sie sich sicher, den Fremden nicht von früher zu kennen. Ihr Personengedächtnis war gut, und eine so ungewöhnliche Erscheinung hätte sie mit Sicherheit in Erinnerung behalten. Alma lief an ihr vorbei, rollte sich auf ihrem Platz neben dem Sofa ein und atmete gleichmäßig ein und aus, als wäre alles wie sonst.

»Moment mal, ich dachte, du hilfst mir dabei, unseren Besuch wieder loszuwerden«, raunte Ella der Hündin zu und kraulte sie hinter den Ohren. »Weißt du was, wir nennen ihn Dostojewski. Er wirkt wie aus der Zeit gefallen und scheint sehr belesen zu sein. Nur den Bart muss er sich noch wachsen lassen.«

Ella ging in die Küche, füllte einen Krug mit Wasser und legte ein paar Minzeblätter hinein. Als sie sich umdrehte, stand er direkt hinter ihr.

»Nicht erschrecken!«, warnte er sie. Offenbar hatte er seine Wohnungsbesichtigung fürs Erste beendet.

»Ich darf doch«, sagte er und nahm sich ein Glas aus dem Regal. Es klang eher wie eine Feststellung als wie eine Frage. Fast so, als hätte er längst von dieser Wohnung Besitz ergriffen. Er holte das dicke rote Notizbuch aus seiner Tasche, in dem er im Café immer wieder geblättert hatte.

»Sind Sie Schriftsteller?«, fragte sie. »Suchen Sie nach Inspirationen für Ihr neuestes Werk?«

»Nein, nein. Das sind nur … unbedeutende Aufzeichnungen eines einfachen Mannes.«

»Kein schlechter Titel!«

Er setzte sich und machte nach wie vor keine Anstalten zu gehen. Das Radio lief, und er summte leise ein Lied von Ed Sheeran mit.

»So etwas kennen Sie?«

»Warum nicht? Das ist doch bekannt.«

Ella schwieg. Sollte sie ihm sagen, dass er wie ein Besucher aus einem anderen Jahrhundert wirkte und sie ihm nicht zutraute, sich für aktuelle Musiktrends zu interessieren? Die gewählte Ausdrucksweise und die adrette Kleidung passten nicht so recht in diese Zeit. Woher kam er bloß und warum interessierte er sich für sie? Obwohl sie niemanden in ihrer Nähe haben wollte, war ihre Neugier geweckt. Sie spülte das Küchenmesser ab, legte die Rote-Bete-Würfel und die Karottenscheiben auf ein Backblech, träufelte etwas Olivenöl darüber und schob es in den Ofen. Der Ziegenkäse war bereits klein geschnitten, die Pinienkerne geröstet, der Tisch für eine Person gedeckt.

»Ich muss Ihnen noch etwas gestehen«, sagte der Fremde auf einmal.

»Dass Sie mich ausrauben wollen?«

»Nicht ganz. Ich wollte Sie schon im Café ansprechen und Ihnen das Foto Ihrer Mutter zeigen, doch dann schien mir die Umgebung viel zu unpassend für unsere erste Unterhaltung.«

»Und meine Küche ist passender?«

»Ja.«

»Dann rücken Sie endlich mit der Sprache raus. Erstens: Woher ist das Foto? Zweitens: Haben Sie mich heute verfolgt? Und drittens: Wer sind Sie?«

»Auf leeren Magen redet es sich äußerst schwer und ungelenk. Finden Sie nicht?«

»In Ordnung, Sie können zum Essen bleiben. Aber danach lasse ich keine Ausrede mehr gelten.«

Ella schmeckte das Gemüse mit Salz und Pfeffer ab und stellte einen zweiten Teller auf den Tisch. Seit Ansgar ausgezogen war, hielt sie die Stille in der Wohnung kaum noch aus. Das Schweigen schlug ihr nicht nur auf die Stimmung, sondern löste auch Beklemmungen aus. Sie hatte sich angewöhnt, irgendeine Geräuschquelle laufen zu lassen. Das Radio, den Fernseher oder eine CD – der Inhalt war gar nicht wichtig. Hauptsache, eine andere Stimme gaukelte ihr vor, dass sie nicht vollkommen alleine war. Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen.

»Was essen wir?«, fragte er und riss sie aus den Gedanken. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er mehrere Schubladen öffnete, bis er das Besteck gefunden hatte.

»Einen warmen Wintersalat.«

 

Nach ihrem Zusammenbruch dachte sie oft an diese Minuten. Sie hätte Dostojewski nicht so schnell vertrauen sollen, sagte sie sich dann. Sie hätte ihn gleich nach seinem überraschenden Erscheinen mit Fragen löchern und ihm nicht so viel Zeit für seine Erzählungen lassen sollen. Doch diese Einsicht kam erst spät. Zu spät. Bei ihrem ersten gemeinsamen Essen warfen die Zimmerpflanzen Schatten auf den Tisch, und Dostojewski arrangierte das Geschirr so, dass die Teller und Gläser dieses Muster nicht berührten und im Hellen standen. Ella traf selten auf jemanden, der sie nicht nach ein paar Minuten langweilte, und war schwer zu beeindrucken. Ein Arzt hatte kurz vor dem Abitur ein Aufmerksamkeitsdefizit bei ihr festgestellt und ihr erklärt, dass sie daher solche Mühe beim Lernen habe. Die Prüfungen hatte sie gerade so bestanden, aber konzentrieren konnte sie sich nach wie vor nur mühsam. Ständig wanderten ihre Gedanken umher, nie blieben sie lange bei einem konkreten Thema hängen. Statt eines Buches las sie immer mindestens fünf Exemplare gleichzeitig, sie hatte sich auch nicht für einen Beruf entscheiden können und verdiente ihr Geld mit wechselnden Gelegenheitsjobs, und durch ihre impulsive Art stieß sie ständig jemanden vor den Kopf.

Dostojewski sah ihr in die Augen, lächelte schief und strich über das kalte, fleckige Silber des Bestecks.

»Ein Erbstück?«, fragte er.

»Von meiner Oma.«

»Da haben Sie aber Dusel.«

»Bitte was?«

»Glück haben Sie, außerordentliches sogar.«

Mit jeder Minute, die verging, wirkte er noch antiquierter. Sicher war noch nie ein Schimpfwort über seine Lippen gekommen, und in seinen Regalen standen vermutlich nur Fachbücher und die Werke von Nobelpreisträgern. Ellas Hände zitterten, als sie dicke Scheiben von einem Sauerteigbrot schnitt und in einen Korb legte, den sie auf den Tisch stellte. Genau in die schmale Lücke zwischen den Schatten der Bananenpflanze und der Monstera. Er nahm freudig zur Kenntnis, dass sie sein Muster auf dem Tisch ergänzte, und sie war froh, dass er ihre Unruhe entweder nicht bemerkte oder geschickt ignorierte. Was war nur in sie gefahren? Das ist ein Fremder, sagte sie sich immer wieder, er kann alle möglichen Abgründe haben. Sie nahm seinen Teller und füllte ihn mit dem Gemüse. In der Zwischenzeit zog Dostojewski eine weiße Stoffserviette aus seiner Ledertasche, die er sich auf den Schoß legte. Als sie gegenüber von ihm Platz genommen hatte, begann er zu essen. Er führte den Löffel in einer gleichförmigen Bewegung zum Mund, als hätte er einmal die perfekte Choreographie dafür berechnet, die er seitdem wiederholte. Kein Tropfen landete daneben. Kein Wort fiel, während sie aßen.

»Ich freu mich schon auf den Nachschlag!«, sagte er und schob ihr erwartungsvoll seinen leeren Teller hin.

»Ihnen geht’s wohl zu gut!«, schimpfte sie und sah ihn skeptisch an. »Und jetzt erzählen Sie mir sofort, warum Sie dieses Foto dabeihaben!«

»Gut Ding will normalerweise Weile haben, nicht wahr?«

»Ich habe Ihnen einen kurzen Aufschub gegeben, jetzt sind Sie an der Reihe. Normalerweise teile ich mein Essen auch nicht mit Fremden.«

»Ach, fremd. Was heißt das schon?«

»Zurück zum Thema!«, erwiderte Ella bestimmt. »Wer sind Sie?«

Er schloss die Augen und machte keine Anstalten zu antworten. Stattdessen atmete er geräuschvoll ein und aus und sah dabei so zufrieden aus, dass sie ihn für einen Moment um diesen Zustand beneidete.

»Meditieren Sie?«

Er schreckte auf.

»Ich denke.«

»Woran?«

»An die Zwiebel, die man essen kann wie einen Apfel.«

»So etwas gibt es? Wer beißt denn da freiwillig hinein?«

»Sie werden sich wundern.«

»Ob ein Espresso Ihre Erzählungen endlich in Gang bringt?«

Er nickte erfreut. Sie füllte heißes Wasser in das Kannenunterteil und häufte Kaffeepulver in den Trichtereinsatz, dann schaltete sie den Herd an und stellte die Kanne auf das kleinste Kochfeld. Dostojewskis Hände ruhten auf der Tischplatte, und wenn die Schatten wanderten, versetzte er sie ein Stück nach links oder rechts, ansonsten bewegte er sich nicht. Neben ihm lag das dicke Notizbuch.

»Fangen Sie endlich an!«, blaffte sie ihn ungeduldig an und reichte ihm eine Tasse.

Er antwortete nicht und blätterte in dem Buch. Ein paar zwischen die Seiten geschobene Stadtpläne und Eintrittskarten lugten hervor, auch ein paar Bleistiftzeichnungen konnte sie erkennen. Sie kam noch ein Stück näher und versuchte einen genaueren Blick darauf zu erhaschen, doch da schlug er die Aufzeichnungen schnell zu und sah sie herausfordernd an.

»Wann hat Ihnen zuletzt jemand eine Geschichte erzählt?«, fragte er. »Mit Figuren, die Sie nicht mehr losgelassen haben? Mit Orten, die Sie im Anschluss selbst bereisen wollten? Sagen Sie mal, können Sie sich daran noch erinnern?«

Ella zuckte ratlos mit den Schultern.

»Dann hören Sie mir besser mal gut zu …«

Von der Zwiebel, die man essen kann wie einen Apfel

Die Ehe meiner Eltern scheiterte kurz nach meiner Geburt. »Wenn es diese flache, bauchförmige Zwiebel nicht gegeben hätte, wären wir noch zusammen!«, seufzte meine Mutter immer und spielte dabei auf die größte Diva unter allen Zwiebelsorten an. Die rötliche Schale dieser Bodenseezwiebel färbte im Gegensatz zu anderen Sorten beim Aufschneiden nicht ab, das war eines ihrer ersten optischen Kennzeichen. Darüber hinaus war ihr besonderer Charakter vor allem von ihrer unglaublichen Empfindlichkeit geprägt. Sie war so sensibel, dass sie nur mit der Hand geerntet werden konnte. So wurde jeder Arbeitsschritt, der mit ihr zu tun hatte, zu einer kleinen Herausforderung. Ständig konnte man scheitern, ständig konnte man das Pflänzchen überfordern. Doch das war noch nicht alles: Die Zwiebel machte sich auch noch extrem rar. Ihren Samen gab es nirgendwo zu kaufen. Nur wer sie selbst züchtete, konnte sie wachsen sehen. Und wie es sich für eine Diva gehörte, war auch diese Züchtung mit einigen Hindernissen verbunden und nur mit besonderen Kenntnissen zu meistern. Zunächst mussten im August die Blütendolden der Zwiebel abgeschnitten und getrocknet werden. Die trockenen Blüten rieb man daraufhin zwischen den Handflächen und wusch sie, damit sich die Samenkörner absetzten. Im Anschluss durfte auch das Einpflanzen der Zwiebelsamen nur ohne Maschinen ablaufen.

»Sie sieht aus wie eine fliegende Untertasse!«, sagte meine Mutter. »Wie kannst du so viel Aufhebens um ein einfaches Gemüse machen?«

»Du kannst sie nach dem Schälen einfach Biss für Biss wie einen Apfel essen«, erwiderte mein Vater. »Sie ist eine Delikatesse. Eine Seltenheit. Sie ist alles, was wir hier auf der Halbinsel Höri haben.«

»Ist das nicht etwas pathetisch, Viktor?«

»Weißt du noch, wie du zum ersten Mal hineingebissen hast? Warst du nicht auch überrascht, wie mild sich der Geschmack auf deiner Zunge entfaltet hat? Warst du nicht kurz unsicher, ob du wirklich eine Zwiebel in der Hand hältst?«

»Sicher. Lecker ist sie.«

»Woran zweifelst du dann noch?«

»An deinen Prioritäten. Vergiss doch einfach mal für einen Moment alles Gemüse der Welt und leg dich mit mir ins Bett.«

»Es ist vierzehn Uhr.«

»Na und?«

»Ich muss zurück an die Arbeit, die Pause ist vorbei.«

»Das war ja klar.«

»Meine Familie hält an den Traditionen fest. Alle haben hier auf Höri in dem gleichen Dorf gewohnt. Und die Zwiebelsamen werde ich so lange züchten, bis ich sie mit meinen Augen nicht mehr erkennen kann.«

 

Keinen dieser Sätze hatte ich je selbst gehört, und es dauerte viele Jahre, bis ich die Geschehnisse vor und direkt nach meiner Geburt zu einem schlüssigen Bild zusammensetzen konnte. Bis ich die besondere Stellung dieser eigenartigen Zwiebel aus der Ferne nachvollziehen und mir wirklich vorstellen konnte, wie mein Vater aussah, wie er sich ausdrückte und was ihn beschäftigte. Anfangs bekam ich nur knappe Antworten. Doch je länger die Zeit am Bodensee zurücklag, desto öfter redete meine Mutter darüber. Wenn wir abends am Küchentisch saßen und meine Hausaufgaben durchgingen, lenkte ich sie ab und bedrängte sie, mir mehr über ihre Zeit auf dem Hof und die Höri-Bülle zu erzählen. So hieß die Leidenschaft meines Vaters nämlich, da eine Zwiebel im alemannischen Dialekt bevorzugt »Bülle« genannt wurde.

»Du wirst wohl niemals lockerlassen, wenn ich dir nicht mehr verrate«, lenkte sie nach einer Weile meistens ein. »Dann hör gut zu, Frieder!«

Meine Mutter verstellte die Stimme, wenn sie über die Zeit in Süddeutschland sprach. Bei den ersten Sätzen schloss sie die Augen, als müsste sie sich konzentrieren, damit die Erinnerungen zurückkehrten. Sie wartete einen Moment, bis ihr Atem ruhiger wurde, und dann erzählte sie mir von der Zucht der Zwiebeldiva und imitierte meinen Vater, wie er über die Haut eines besonders schönen Exemplars strich, das er nach der Ernte zurückgelegt hatte.

»Wenn es nur ein einfaches, bedeutungsloses Gemüse wäre, hätte es wohl kaum so einen besonderen Namen!«, stellte er fest und sah sie dabei herausfordernd an. Er hatte wie jedes Jahr einige Zwiebeln ausgewählt, die er bis Mitte März lagern musste. Dann würde er sie einpflanzen, immer vier Zwiebeln um einen Stock herum. Und sobald die Triebe groß genug waren und Blütendolden bildeten, würde er die zarten Pflänzchen festbinden, um ihnen bei ihrem weiteren Wachstum die Richtung vorzugeben.

»Er hat das wirklich ernst gemeint, Frieder«, seufzte meine Mutter. »Sicher, es war eine große Kunst. Sicher, er wurde mit besonders zartem Geschmack belohnt. Doch wie konnte er sich so in der Aufzucht verlieren?«

Sie schlug empört mit der Handfläche auf den Tisch, und ich nahm zur Sicherheit schnell meine Tasse in die Hand. Während ich am Tee nippte, erklärte sie mir, wie sie immer wieder versucht hatte, seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken. Mal war es ein neuer Duft, ein besonders schönes Kleid oder auch ein neuer Haarschnitt. Ihre Erfolgsquote war gering, doch so schnell gab sie nicht auf.

»Fällt dir nichts auf?«, fragte sie, während mein Vater mit gesenktem Kopf die Suppe löffelte. Seit er die schweren Stiefel mit der dreckverkrusteten Sohle vor der Haustür ausgezogen hatte und ins Warme gekommen war, hatte er sie mit keinem Blick bedacht. Sein Magen knurrte, als er sich seine Hände im Spülbecken wusch und an einem Geschirrtuch abtrocknete.

»Hast du ein neues Rezept ausprobiert?«

»Nein.«

»Aber mit Ingwer hast du die Kartoffelsuppe doch nie gekocht?«

»Kann sein.«

»Dann ist es mir aufgefallen, siehst du.«

»Schau mir mal in die Augen.«

»Oh.«

In dem darauffolgenden Schweigen hörte man nur ein Gluckern in der Heizung und das laute Schmatzen meines Vaters. Er war schon immer ein stiller Typ gewesen, doch so abwesend hatte sie ihn noch nie erlebt. Oft kam er erst kurz vor Mitternacht nach Hause und wirkte fast enttäuscht, wenn sie noch wach war und im Bett auf ihn wartete. Gleichzeitig konnte es vorkommen, dass er in aller Frühe alleine aufstand, in Jogginghose zum einzigen Bäcker im Dorf stapfte und ihr eine halbe Stunde später ihre Leibspeise vorbeibrachte. Duftende Hefekränze. Die Bäckerin hielt sich an ein Rezept ihrer Großtante und verriet die Zutaten nicht.

»Eine Prise Kardamom und ein Teelöffel Zimt dürfen niemals fehlen«, gab sie zu, »den Rest musst du selbst herausfinden.«

Doch es schmeckte niemals so gut wie bei ihr. Wenn meine Mutter im Laden stand und nach weiteren Details fragte, presste die Bäckerin die Lippen fest zusammen und malte pantomimisch einen Schlüssel in die Luft, der ihren Mund fest verschloss. Die Teilchen waren so gefragt, dass sie jeden Morgen als Erstes ausverkauft waren und zu einem beliebten Dorfgespräch avancierten. Immer wieder hörte man jemanden im Bus oder im kleinen Supermarkt darüber philosophieren, warum die Kränze an diesem Tag schon um zehn Uhr nicht mehr zu haben waren oder welcher Nimmersatt mit einer riesigen Bäckertüte gesichtet worden war und offenbar den halben Bestand mitgenommen hatte.

Wenn meine Mutter von dem süßen Duft des Gebäcks geweckt wurde, wusste sie, dass ein guter Tag anbrach. An solchen Vormittagen war mein Vater kaum wiederzuerkennen und brachte ihr das Frühstück auf einem Tablett ans Bett.

»Hat da jemand ein schlechtes Gewissen?«, scherzte sie. Er stotterte unbeholfen vor sich hin, und sie fragte lieber nicht weiter nach. Hauptsache, er blieb ausnahmsweise länger bei ihr und ging erst zur Mittagszeit wieder zu den Zwiebeln.

 

Als sie sich mit fünfzehn in ihn verliebte, hatte er seine Zwiebelpassion vor ihr verborgen. Sie wusste natürlich, dass er aus einer Familie mit lauter Gemüsebauern stammte, doch sie dachte damals noch, dass er die Tradition brechen und als Musiker durchstarten würde. Niemand an der Schule spielte so gut Gitarre wie er, und Viktor schrieb sogar seine Liedtexte selbst. Er gefiel ihr, weil er nicht so großspurig daherredete wie die Angeber an der Schule. Trotz der etwas stilleren Art konnte er die schönsten Komplimente machen. Er zitierte bei den ersten Treffen mit meiner Mutter zwischendurch einen Songwriter oder einen Dichter und lächelte dabei so schief, dass man ihm kaum widerstehen konnte. Die anderen Mädels hatten sie beneidet, als sie mit Viktor zusammenkam, und sie war stolz auf den drei Jahre älteren Freund gewesen. Seine andere Seite zeigte er erst nach dem Abitur. Während die anderen aus seinem Jahrgang nach Freiburg oder Stuttgart zogen, um Großstadtluft zu schnuppern und fernab vom Dorfmief endlich etwas Sinnvolles zu studieren, zog Viktor sich immer mehr zurück und beschloss, eine Auszeit zu nehmen.

»Ich kann nicht mehr schlafen«, erklärte er meiner Mutter. »Irgendetwas stimmt nicht, und ich muss herausfinden, was das sein könnte.«

Er konzentrierte sich daraufhin auf den Hof seines Vaters und ließ sich die einzelnen Produktionsschritte genau erklären. Statt wie lange geplant Musikwissenschaft zu studieren und als Künstler erfolgreich zu werden, änderte er nach und nach seine Prioritäten. Erst sprach er von einer ein- bis zweijährigen Pause, bei der er sich auf die Traditionen konzentrieren wollte. Doch die Zeit verging, und er begann eine Ausbildung im größten Betrieb der Gegend, um mehr über die Feinheiten des Gemüseanbaus zu lernen. Auf einmal hatte er immer mindestens eine Zwiebel in der Manteltasche, die er meiner Mutter anbot wie eine Trophäe. Er erzählte ihr von seinem Entschluss, sich in seinem Berufsleben nur den Zwiebeln zu widmen und der Höri-Bülle zu einer noch größeren Bedeutung – weit über die Bodenseeregion hinaus – zu verhelfen. Tag für Tag zog es ihn gleich nach Sonnenaufgang auf die Felder oder in die Gewächshäuser. Außer an den seltenen Hefekranztagen schmierte er sich morgens nur schnell eine Semmel und aß sie unterwegs.

Meine Mutter war mal belustigt, mal irritiert. Lange hielt sie es für eine Phase, die sie einfach aussitzen musste. Sie kannte ja noch eine andere Seite an ihm, und die würde eines Tages zurückkehren, dachte sie, anders konnte es gar nicht sein. Aber je mehr Zeit verging, desto größer wurden die Zweifel. Viktor schien die Traditionen seiner Familie um jeden Preis aufrechterhalten zu wollen und an neuen Impulsen nicht mehr interessiert zu sein. Seine Gitarre verstaubte auf dem Dachboden, die Freunde aus der Schulzeit kamen nicht mehr vorbei, wenn sie in den Semesterferien in der Gegend waren, und selbst für Wochenendausflüge in eine Kneipe oder einen Club in Konstanz fehlte ihm die Energie.

 

Doch dass er nicht einmal ihre kurzen Haare bemerkte, war eine neue Stufe der Eskalation. War das der Anfang vom Ende? Der Rest des Ortes reagierte nicht ganz so teilnahmslos wie mein Vater, und alle waren entsetzt, dass jemand freiwillig so aussehen wollte. Aktuelle Frisurentrends waren im Dorf noch kein Thema, und so wusste niemand, dass meine Mutter lediglich ihrem Idol David Bowie nachgeeifert hatte und mit ihrem Kurzhaarschnitt vollkommen am Puls der Zeit war. Keiner hatte je einen Undercut gesehen, keinem gefiel es. Als meine Mutter mir Jahre später davon erzählte, konnte ich mir das kaum noch vorstellen. In meinem Bekanntenkreis gab es neben Sidecuts und Irokesenschnitten auch junge Frauen, die sich ihre Haare grau färbten, nur weil eine Schauspielerin dies als Trend ausgegeben hatte. Selbst eine der älteren Professorinnen an der Universität war vor kurzem mit lilafarbenen Haaren in die Vorlesung gekommen, und niemand hatte sich daran gestört.

»Was redest du denn da?«, hakte ich nach. »Die haben dir wegen deines Haarschnitts Probleme gemacht? Das ist doch deine Sache, wie du aussiehst.«

»Kaum zu glauben, ja. Die Uhren haben auf der Halbinsel immer etwas langsamer getickt, und Veränderungen kamen erst mit mehrjähriger Verspätung ins Dorf.«

Jemand erfand an diesen Tagen einen neuen Spitznamen für sie. Sie nannten meine Mutter »Pinsel« und spielten damit auf den seltsamen Schwung ihres Deckhaars an, der durch die seitlich abrasierten Partien besonders auffällig war. Meine Mutter fand nie heraus, wer diese Bezeichnung eingeführt hatte. Sie bemerkte nur ein eigenartiges Tuscheln, das verstummte, sobald sie näher kam. Ihre Neugierde war geweckt, und sie versuchte, bei jeder Gelegenheit etwas aufzuschnappen. Beim Metzger und beim Bäcker lauschte sie den Gesprächen der anderen, und wenn sie sich in der Post in die Schlange einreihte, zog sie sich die Kapuze tief ins Gesicht. Doch erst als sie sich eine Sonnenbrille und einen Hut aufsetzte und auf dem Marktplatz von Gemüsestand zu Gemüsestand schlenderte, schnappte sie eine Anekdote über einen Pinsel auf. Sie verstand nicht gleich, dass von ihr die Rede war. Doch als sie den Schilderungen über diese Person eine Weile lauschte, wurde ihr einiges klar. Diese Frau wisse anscheinend nicht, was schicklich sei, und würde sich mit diesem Aussehen keinen Gefallen tun. Auch ihren Mann habe sie schlichtweg nicht verdient, raunte eine Marktfrau. Man solle ihr keine Höri-Bulle mehr verkaufen, diese seien zu kostbar für undankbare Menschen wie sie, raunte eine andere. Als meine Mutter an der Reihe war, ließ sie sich, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Gemüsesorte nach der anderen abwiegen und einpacken. Es war viel zu viel, mehr, als sie alleine schleppen konnte. Doch vor lauter Wut konnte sie mit den Bestellungen nicht mehr aufhören. Auf dem Rückweg kam sie mit den schweren Einkaufstaschen nur noch mühsam voran und hängte sich die schwere Last mal über die eine, dann über die andere Schulter, nahm mal die linke Hand, dann die rechte, dann wieder beide zum Tragen. Sie schaffte es dennoch nicht mehr zurück, und als sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, setzte sie sich auf eine Bank und schloss die Augen.

»Man müsste nur durch die Kraft der Gedanken an einen anderen Ort reisen können«, sagte sie leise vor sich hin.

»Nach Puttgarden!«, forderte sie. »Oder nach London! Kopenhagen! Riga! Stockholm!«

Um sie herum blieb alles unverändert.

»Na schön, dann wenigstens nach Stuttgart!«, sagte sie und schnippte erwartungsvoll mit den Fingern.

Der kalte Wind trieb ihr die Tränen in die Augen, und sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis Viktor ihr Fehlen bemerken würde. Eine halbe Stunde später fuhr ein Nachbar an ihr vorbei. Doch statt anzuhalten, beschleunigte er sein Tempo und grüßte sie nicht.

»Dann schlafe ich eben auf der Bank«, sagte meine Mutter und trat gegen den Mülleimer neben sich.

Der Nachbar bekam zu Hause offenbar ein schlechtes Gewissen und versuchte, ihren Mann zu benachrichtigen. Er erreichte ihn erst zwei Stunden später, und als Viktor seine frierende müde Frau abholte, war sie so wütend auf die ganze Gegend, dass sie 24 Stunden kein Wort mehr sprach.

 

»Was wissen die schon über das Leben?«, sagte meine Mutter zu mir und klopfte sich mit der Hand auf die Brust.

»Mein Herz schlägt anders als das der anderen. In diesem Nest am Bodensee war die Zeit stehengeblieben, und niemand merkte es. Doch ich kam nicht fort aus Höri. Dein Vater war hier, und das hieß, dass ich bleiben musste. Allen Unkenrufen der Bewohner zum Trotz.«

Ich nahm ihre Hand und wartete, bis sie sich etwas beruhigt hatte.

»Warum lehnten sie dich im Dorf damals so ab?«, fragte ich. »Das kann doch nicht nur an der Frisur gelegen haben?«

»Vielleicht haben sie von Anfang an gemerkt, dass es mich immer fortgezogen hat. Dass das Fernweh morgens an meine Tür geklopft hat und ich nie sicher war, ob ich öffnen und verschwinden sollte. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass meine Eltern in Stuttgart geboren wurden und wir erst an den Bodensee zogen, als ich in die Pubertät kam. Dass ich mich wie sie in dem Dorf immer wie ein Fremdkörper fühlte und nie richtig ankommen konnte. Das ging der ganzen Familie so, und nicht ohne Grund wohnen meine Eltern mittlerweile wieder in ihrer Heimatstadt. Sie haben es im Alter auch nicht mehr in dem kleinen Kaff ausgehalten. Das Schlimmste war, dass ich mich immer so isoliert gefühlt habe und Viktor das nie nachvollziehen konnte. Er hat mich immer mit der gleichen Floskel beruhigt.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Lehn dich zurück und iss eine Zwiebel, Biss für Biss. Das wird dir guttun!«, ahmte ihn meine Mutter mit tiefer Stimme nach.

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2

In der Nacht plagten Ella wirre Träume. Jemand hatte einen riesigen Berg Zwiebeln vor ihrer Wohnung deponiert, und sie kam nicht mehr hinein. Wenn sie versuchte, das Gemüse zur Seite zu schaffen, rollte es jedes Mal wie ferngesteuert zurück. Sie schwitzte und rief nach Dostojewski, damit er ihr half. Doch dieser hatte in ihrer Küche das Radio aufgedreht und sang die Opernarien des Klassiksenders mit. Nach dem Aufwachen sah sie sich irritiert um. Es erleichterte sie, dass nirgendwo eine Zwiebel lag und es in der Wohnung ganz still war. Sie stand auf, öffnete das Schlafzimmerfenster und ließ die kühle Luft hereinströmen. Doch die Kraft, um in den Tag zu starten, fehlte ihr, und sie ließ sich zurück auf das weiche Laken fallen. War ihr tatsächlich ein Fremder vom Café bis nach Hause gefolgt, nur um ihr ein Foto ihrer Mutter zu zeigen und ihr eine mysteriöse Geschichte rund um einen von Zwiebeln besessenen Familienvater zu erzählen? Sie wälzte sich umher und versuchte, die pulsierenden Kopfschmerzen zu ignorieren. Es geht bergab mit dir, Ella, sagte sie zu sich selbst. Erst die Trennung, dann die Einsamkeit, jetzt die Verrücktheit. Am Ende hast du dir diesen Typen nur ausgedacht, und bald hörst du so viele Stimmen, dass dich jemand einweisen wird. Alma stand zum wiederholten Male vor ihrem Bett, wedelte mit dem Schwanz und sah sie mit Kulleraugen an. Sie blieb stocksteif liegen und atmete flach, damit sich die Hündin wieder verzog. Noch eine halbe Stunde, wünschte sie sich, dann geh ich auch mit dir raus. Es war jeden Morgen das gleiche Spiel, und meistens konnte sie noch etwas Zeit für sich herausschlagen. Doch diesmal war Alma unerbittlich. Statt zurück in ihr Hundebett im Wohnzimmer zu gehen, fiepte sie lautstark und lief aufgeregt neben Ella auf und ab.

Als es klingelte, raste Alma zur Tür, und Ella stolperte hinterher. Sie griff nach einer Strickjacke, die sie sich hastig überzog, und schlüpfte in die Hausschuhe. Durch den Spion sah sie draußen Dostojewski auf sie warten. Um diese Zeit schon? Da konnte es ja jemand kaum abwarten, sie erneut zu sehen. Ziemlich aufdringlich, fand sie. Sie legte Alma zur Sicherheit die Leine um den Hals, damit sie nicht alleine auf die Straße raste, und öffnete die Tür einen Spaltbreit.

»Guten Morgen, Ella!«

Dostojewski strahlte sie an und streckte ihr eine Papiertüte entgegen, die nach frisch Gebackenem roch.

»Sie sind aber früh auf«, seufzte sie. Musste das sein, dass er sie gleich in Schlafanzughose sah? Und dazu noch mit zerzausten Haaren?

»Ich kann das Frühstück auch wieder mitnehmen.«

»Schon gut, so war das nicht gemeint. Ich bin nur noch nicht ganz wach.«

Ella schob die Tür ganz auf, nahm ihm die Brötchen ab und drückte ihm die Hundeleine in die Hand.

»Sie haben sicher nichts dagegen, noch eine Runde mit Alma zu drehen?«

Er sah sie verblüfft an, aber offenbar fiel ihm kein triftiger Grund ein, das Angebot abzulehnen. Als er seine Aktentasche in die Hand nahm, schüttelte Ella den Kopf.

»Die muss ich leider als Pfand in Beschlag nehmen. Nicht dass Sie mit meiner Hündin verschwinden.«

»Das sind aber strenge Sitten hier. Potzblitz!«

Ella drückte ihm noch ein paar rote Hundekottüten in die Hand, die er mit angewinkelten Fingern vorsichtig entgegennahm, als wäre er sich nicht sicher, ob sie wirklich leer waren.

»Der Park ist gleich um die Ecke, an dem sind Sie sicher auf dem Weg zu mir vorbeigekommen. Alma braucht eine Dreiviertelstunde, bis sie sich ausgetobt hat. Aber Vorsicht bei den Eichhörnchen – die jagt sie besonders gerne, und dann ist sie nicht mehr zu halten.«

Dostojewski nickte und hielt kurz inne, als würde er das Gesagte nochmals Wort für Wort durchgehen.

»Bis gleich«, sagte er schließlich.

 

Ella sah den beiden nach. Alma gab das Tempo vor und zog ihn hinter sich her. Dostojewski hatte sich die Leine zweimal um das Handgelenk gewickelt und lief mit schnellen Schritten die Straße entlang. Am ersten Grünstreifen hielt Alma inne, beschnupperte das Gras und pinkelte schließlich. Dostojewski sah sich um, dann zog er eine Plastiktüte heraus, bückte sich und bemerkte zu spät, dass es nichts aufzusammeln gab. Kopfschüttelnd ging er weiter und bog mit Alma um die Ecke. Es war lange her, dass Ella morgens nicht die Hunderunde übernehmen musste, und sie genoss den Moment. Statt gleich unter die Dusche zu springen, brühte sie sich eine erste Tasse Kaffee auf und stellte das Radio an. Sie erschrak, als ihr tatsächlich eine Sängerin eine Arie entgegenschmetterte. Träumte sie noch? Das fing ja gut an.

»Pass bloß auf!«, murmelte sie vor sich hin und stellte wieder ihren Lieblingssender ein. »Das sieht mir ganz nach einer feindlichen Übernahme aus.«

 

Statt den Tisch zu decken, drehte sie die Musik lauter und ging ins Bad, wo sie Wasser und etwas Lavendelöl in die Wanne laufen ließ. Sie brauchte einen kurzen Moment, um sich zu sammeln und wieder zu beruhigen. Mit dem Besuch des Fremden waren die Erinnerungen zurückgekommen. Die Anwesenheit eines Mannes in ihren vier Wänden schien auszureichen, um ihrem letzten Freund wieder einen prominenten Platz in ihrem Kopf zu verschaffen. Sein Gesicht, sein Duft, seine Redewendungen. Seit Wochen hatte sie es geschafft, nicht daran zu denken, und nun war auf einen Schlag alles wieder da. Ihrer Mutter hatte sie bis heute nichts von der Trennung erzählt, um sich die Schmach zu ersparen. Schon wieder ein Kerl, der es nicht ausgehalten hatte mit ihr. Schon wieder eine Enttäuschung, die sie an ihr Alter erinnerte und vor allem daran, was andere in dieser Zeit alles erreicht hatten.

»Warum ist Ansgar nicht da?«, hatte ihre Mutter gefragt, als sie kurz nach ihrem Geburtstag mit einem Schokoladenkuchen vorbeikam.

Sie murmelte etwas von einem wichtigen neuen Job mit einem noch wichtigeren Vortrag auf einem Kongress in der Hauptstadt mit lauter unfassbar wichtigen Menschen.

»Über welches Thema spricht er dort?«

»Ähm, die Medien.«

»Geht es noch unkonkreter?«

»Die digitalisierte Transformation der Prozesse, die zu den Kampagnen der Zukunft führen.«

»Aha.«

Ella war sich nicht sicher, ob ihre Mutter schon irgendwo etwas aufgeschnappt hatte. Ob jemand den Auszug beobachtet hatte, so dass der Klatsch nach und nach bis zu ihrer Mutter in den Vorort vorgedrungen war? Oder hatte am Ende sogar Ansgar schon bei ihr angerufen und ihr brühwarm erzählt, dass es mit Ella auf Dauer einfach nicht auszuhalten sei?

»Es muss ja nicht der Nobelpreis sein«, sagte ihre Mutter in die Stille hinein. »Aber findest du nicht auch, dass die Zeit so langsam reif für einen richtig großen Wurf ist?«

»Meinst du damit wirklich meine Karriere oder spielst du schon wieder auf eine Hochzeit und ein Kind an?«

»Ich glaube nicht, dass ich dir das so genau erläutern muss. Schau dich doch einfach mal um.«

Ihre Mutter zeigte auf das Chaos in allen Ecken ihrer Wohnung. Auf die leeren Bilderrahmen, die Ella noch immer nicht mit Fotos gefüllt hatte. Auf das am Boden liegende Hundespielzeug, die Berge ungebügelter Wäsche im Schlafzimmer, die unzähligen Pflanzenableger auf den Fensterbänken.

»Bei dir ist es wie in einem Labyrinth – ich weiß nie so genau, welchen Weg ich einschlagen soll«, kritisierte sie.

»Das gilt als anerkanntes Gehirntraining und fördert die Gesundheit.«

»Hauptsache, du findest für jede schlechte Angewohnheit eine Studie, die du zitieren kannst.«

»Hauptsache, du vergisst nicht, dass ich schon ausgezogen bin.«

Statt Ella zuzuhören, sah ihre Mutter sich unruhig in der Wohnung um.

»Und wo sind die anderen Haustiere gelandet? Nicht, dass ich sie vermissen würde, aber sie waren euch doch immer so wichtig?«

Ella wandte sich ab. Sie konnte und wollte ihr nicht erzählen, dass Ansgar die Fische Oona und J.D. sowie die Mäuse Tick, Trick und Track bei seinem Auszug mitgenommen hatte.

»Ach, die sind bei dem Nachbarsjungen aus dem vierten Stock. Er schreibt einen Aufsatz über Tiere in Stadtwohnungen und will ihr Verhalten ein paar Tage beobachten.«

»Was es heutzutage nicht alles gibt …«

Ihre Mutter versenkte ein Stück Kandis in ihrem schwarzen Tee und sah sie besorgt an.

»Sag mal, fehlt dir denn nichts?«, wollte sie wissen.

»Nein!«, sagte Ella trotzig. »Ganz und gar nicht.«

Seitdem hatten sie noch ein paar Mal telefoniert, aber so ganz war die Verstimmung nicht verschwunden.

 

Dostojewski klingelte, als sie noch gemütlich in der Wanne lag. Sie fluchte, rubbelte sich schnell mit einem Handtuch trocken, zog sich einen Bademantel über und lief zur Tür. Auf dem Parkett hinterließ sie dabei feuchte Fußabdrücke.

»Da sind wir wieder. Ist der Kaffee schon fertig?«

Ella deutete auf ihr Outfit.

»Ich muss mich noch kurz umziehen. Aber die Espressokanne steht neben der Spüle, der Kaffee im Regal. Eine Tasse müssen Sie sich erst spülen, die Milch ist aus, und Butter und Marmelade finden Sie im Kühlschrank. Kommen Sie damit klar?«