Das ganze Leben da draußen - Nina Sahm - E-Book
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Das ganze Leben da draußen E-Book

Nina Sahm

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Beschreibung

Die junge Autorin Nina Sahm erzählt in ihrem zweiten Roman die Geschichte zweier Frauen, die im Island von heute ihren Weg ins Leben finden müssen. Elín ist ein besonderes Mädchen – eigenwillig, verträumt und wie aus der Zeit gefallen. Sie entfernt sich immer mehr von ihren Altersgenossen und folgt in jeder freien Minute den Fährten eines jungen Fuchses, der in der Umgebung von Reykjavik aufgetaucht ist. Selbst ihre Lehrerin Alfa dringt nicht zu ihr durch, obwohl auch diese eine ziemliche Außenseiterin ist. Ihre Welt hat einen Sprung bekommen, seit ihr großes Vorbild – ihr Großvater Magnús – sich das Leben genommen hat. Alfa würde am liebsten der Realität entfliehen und die Welt neu entdecken. Und so brechen die beiden jungen Frauen gemeinsam aus und begeben sich auf eine sehr eigene Reise jenseits von gesellschaftlichen Vorstellungen und Idealen.

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Seitenzahl: 357

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Nina Sahm

Das ganze Leben da draußen

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelDank
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Für Stephan

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1

Elín konnte ihr Versteck zwischen den Birken schon von weitem sehen. Die schmalen Kronen neigten sich aufeinander zu, als würden sie sich besonders nahe sein wollen. Die Lücke zwischen den Stämmen reichte gerade, um sich mit angezogenen Beinen gegen den einen Baum zu lehnen und die Füße gegen den anderen zu stemmen. Elín verkroch sich oft an dieser Stelle, und da sie in dieser Position von der Straße aus nicht gesehen werden konnte, fühlte sie sich jedes Mal wie ein unsichtbarer Beobachter. Sie lief über den weißen Asphalt und hinterließ die ersten Abdrücke auf dem Pulverschnee, der in der Nacht gefallen war. »Da liegt etwas in der Luft«, hatte sie am Vorabend zu ihren Eltern gesagt, und sie hatte recht behalten, obwohl ein Wintereinbruch so früh im Jahr selten war. Die Wolken hingen tief über den Dächern der Reihenhäuser und schienen sie mit ihrem Gewicht nach unten zu drücken. Die Autos der Nachbarn standen noch am Straßenrand, und der Schulbus würde erst in einer Stunde losfahren. Elín zog sich die Mütze tief in die Stirn, streckte die linke Hand aus und ließ sie von Zaunstrebe zu Zaunstrebe hüpfen. Schon nach wenigen Minuten waren ihre Fingerknöchel gerötet, aber sie ließ sich von dem Schmerz nicht beirren. Ihre Handschuhe hatte sie nach dem Frühstück weder in ihrem Zimmer noch im Flur finden können.

»Das sind meine, und die brauche ich später selbst«, hatte ihre Mutter ihr zugerufen, als Elín nach der erfolglosen Suche stattdessen nach den mit Schaffell gefütterten Fäustlingen griff, die auf dem Garderobenschrank lagen. »Ist das etwa das fünfte Paar, das du in diesem Jahr verloren hast?«

Elín zuckte mit den Schultern und öffnete die Tür.

»Redest du nicht mehr mit mir?«

»In siebzehn Monaten ziehe ich sowieso aus. Dann kontrolliert mich niemand mehr.«

Elín lief weiter, und der Ärger über ihre Mutter begleitete sie bei jedem Schritt. Sie öffnete ihre Jacke, als müsste sie die Herausforderungen noch erhöhen, um ihr persönliches Härtetraining endgültig zu bestehen.

»Mir ist nicht kalt, mir ist so was von überhaupt nicht kalt«, murmelte sie und setzte einen Fuß vor den anderen. Sie zählte bis siebzehn, und sobald sie die Zahl erreicht hatte, begann sie wieder von vorne. Sie sehnte die Volljährigkeit herbei wie ihr erstes Fahrrad, ihr erstes Zelt und den ersten Fuchs, den sie beobachtet hatte. Auf einer Strichliste, die sie über ihren Schreibtisch gehängt hatte, zählte sie die Tage bis zu ihrem übernächsten Geburtstag. Danach würde sie niemand mehr aufhalten, wenn sie die Gegend erkundete, sie würde weniger Regeln befolgen müssen und weniger Verbote zu hören bekommen. Diese Zeit schmeckte nach Pfannkuchen mit Blaubeeren und Zimt, und wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich mit ihrem großen Rucksack das Land erkunden sehen, so lange sie wollte und wo immer sie wollte. Sie würde ihren ersten Dokumentarfilm vorbereiten und Material sammeln, und vielleicht würde sie im Sommer im Polarfuchszentrum arbeiten können und von den Forschern lernen, was ihr die Bücher nicht zu verraten vermochten. Elín formte einen Schneeball und warf ihn gegen ein Stoppschild, dann rannte sie die letzten Meter zu den Birken. Lange Zeit waren auf dem Grünstreifen nur die beiden Bäume gewachsen, und niemand hatte sich weiter darum gekümmert. Der Abfall lag auf der Erde wie Fallobst, und das Holz der kleinen Bank moderte vor sich hin. Eine Planke fehlte, schon lange hatte niemand mehr darauf Platz genommen. Erst als Elín die Stelle für sich entdeckte, veränderte sich etwas. Sie entfernte Kippen und leere Bierflaschen, wenn sie nach der Schule vorbeikam, und sammelte nicht nur den Müll in einer Plastiktüte, sondern auch den Hundekot, den sie mit einer ausklappbaren Schaufel vom Boden kratzte. Wenn ihre Arbeit getan war, lehnte sie sich gegen einen der Bäume und sog den Geruch nach klebrigem Harz und feuchtem Lehm tief ein. Sie fühlte die feinen Adern der Blätter zwischen ihren Fingern und strich über die rauhe Rinde, die sich in breiten Streifen vom Stamm schälte. Sie ließ sich auf den Boden sinken, schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie einen tiefen Tunnel graben würde, statt zur Schule zu gehen. Wie sie eine der Steinplatten mit einem Meißel lösen und sich dann unter dem Gehsteig einen Weg zu den Bäumen im Wald bahnen würde, Meter für Meter, bis sie über sich nur noch moosbedeckte Steine spürte und mit Erde in den Haaren und Kratzspuren im Gesicht neben einem Fuchsbau wieder auftauchen könnte.

 

Doch diesmal war alles anders. Elín musste unter rot-weißem Absperrband hindurchkriechen, um die Birken überhaupt zu erreichen. Ein Lkw und ein Bagger parkten am Straßenrand, und ein Mann im Blaumann näherte sich mit einer Kettensäge in der Hand. Er pfiff Elín zurück.

»Bist du blind?«, fragte er. »Der Zugang ist verboten.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Stamm.

»Die Birken gehören mir.«

»Ich habe einen Beschluss der Stadt, dass an dieser Stelle ein neuer Parkplatz für die Anwohner entstehen soll«, sagte er und sah ihr in die Augen, als würde er sie hypnotisieren wollen. »Wenn du dich beschweren willst, musst du zum Bürgermeister gehen. Aber beeil dich besser, in ein paar Stunden ist hier alles platt.«

Elín wich nicht von der Stelle. Sie zog ihren Sweater ein Stück nach unten, um mehr von ihrem Dekolleté freizugeben.

»Morgen bist du krank!«, sagte der Mann unbeeindruckt und hob drohend die Säge. Sein Kollege stieg aus dem Lkw und kam näher. Die beiden wechselten leise ein paar Sätze, dann zählten sie bis drei. Der eine packte Elíns Hände, der andere ihre Füße. Sie zappelte und schrie, doch die Fremden waren stärker und konnten sie mühelos ein paar Meter tragen. An der nächsten Kreuzung stellten sie Elín auf dem Gehsteig ab.

»Wenn du nicht sofort verschwindest, holen wir die Polizei«, sagte einer der Männer, und als Elín davonlief, hörte sie, wie hinter ihrem Rücken eine Säge aufheulte.

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2

Alfa fuhr mit den Fingern über den kalten Silberring, den Magnús ihr nach dem Tod ihrer Großmutter gegeben hatte und der bei ihr an einer Kette um den Hals hing. Das Gegenstück trug er an seinem rechten Ringfinger, und im ersten Moment hatte sie gezögert, ob sie das Geschenk überhaupt annehmen sollte. Einen halben Tag lang hatte sie den Ring in einer Papierschachtel in ihrer Sockenschublade aufbewahrt, doch als sie von der Schule zurückkam, holte sie ihn wieder hervor. Sie versuchte, ihn über einen ihrer Finger zu streifen, und war erleichtert, als er ihr nicht passte. Sogar ihr kleiner Finger war zu breit dafür. Sie legte das Erbstück auf die Kommode neben dem Bett, in eine Schatulle im Badschrank und in die Zuckerdose auf dem Esstisch. Ihr Großvater hatte wichtige Kleinigkeiten, die er nicht vergessen wollte, bei sich zu Hause zwischen dem Würfelzucker aufbewahrt. Er zwinkerte ihr zu, als er ihr das Versteck zum ersten Mal gezeigt hatte.

»Kein Einbrecher wird dort suchen«, sagte er, »und ich verliere es auch nicht aus den Augen.«

Doch nachdem ihr kein Aufbewahrungsort geeignet vorkam und sie ständig das Gefühl hatte, den Ring zu verlieren oder gar versehentlich wegzuwerfen, fädelte sie das Schmuckstück auf ein Lederband und verknotete es im Nacken. Wider Erwarten gewöhnte sie sich schnell an das kalte Silber auf der Haut. Jeden Morgen überprüfte sie mit ihrem ersten Griff, ob der Ring noch da war, und wenn sie nicht weiterwusste, drehte sie daran. Ihre Englischstunde hatte bereits vor zehn Minuten begonnen, doch es flogen noch Papierkügelchen durch die Luft, ein Radiergummi schlug gegen die Fensterscheibe, und ihre Schüler hatten die Mobiltelefone noch nicht wie besprochen in den Taschen verstaut und auf lautlos gestellt. Ein durchdringender Hinweiston nach dem anderen erinnerte Alfa daran, dass im Gegensatz zu ihr offenbar jeder abhängig von diesen Chat-Nachrichten war. In der letzten Reihe sah sich Kjartan ein Hip-Hop-Video auf YouTube an, natürlich ohne Kopfhörer. Alfa umschloss den Ring mit einer Hand, auch wenn ihr klar war, dass sie so sicher keine Stärke ausstrahlte. Sie räusperte sich und bat um Ruhe, dann rückte sie ihren Schal zurecht, der ihr ganzes Dekolleté bedeckte. Ein paar Sekunden blieb der Luftraum im Klassenzimmer frei, doch dann verdoppelte sich die Anzahl der Flugobjekte, und Alfas Räuspern ging im Getuschel der Schüler unter. Sie wusste, dass sie in so einem Fall Verweise verteilen oder zur Strafe ein Zusatzreferat vergeben sollte, doch sie bekam ihren Mund trotzdem nicht mehr auf. Sie ging zum Fenster, presste die Stirn gegen die kalte Scheibe und zählte ihre Atemzüge. Als sie bei 34 angekommen war, hatte sie immer noch keine Idee für den Rest der Stunde. Die Direktorin stand auf dem Sportplatz und machte Kniebeugen mit ihrer Klasse. Auf dem Rasen lag eine dünne Schicht Schnee, und ihre Schüler trugen dicke Fleece-Jacken und Jogginghosen.

Am liebsten würde ich euch auch nach draußen zum Sport schicken, dachte Alfa, aber in T-Shirts und kurzen Hosen.

Erst da fiel ihr auf, dass ihre Schüler etwas stiller geworden waren. Hatte sie ihren Gedanken etwa laut ausgesprochen, oder warum sahen sie auf einmal alle so ehrfürchtig an? Sie ging an ihr Pult zurück und klappte ihre Shakespeare-Gesamtausgabe zu. Tjara aus der ersten Reihe sah sie erwartungsvoll an, sie hatte bereits alle ihre Stifte nach Farben sortiert und am Rande ihres Tisches aufgereiht, daneben lag ein Notizblock in Schmetterlingsform.

»Nehmt eure Bücher«, sagte Alfa, »und lest euch noch einmal in Ruhe das Sonett 98 durch.«

»Warum ausgerechnet Nummer 98?«, wollte Tjara wissen.

»Das findest du sicher selbst heraus«, sagte Alfa und setzte sich auf ihren Stuhl. Sie blätterte wahllos in ihrer Gesamtausgabe. Einige Stellen hatte sie während des Studiums mit Leuchtstift markiert, seitdem hatte sie keinen Blick mehr hineingeworfen.

»Mit diesem Wälzer kannst du jemanden erschlagen!«, hatte Magnús bei einem ihrer letzten Treffen gesagt, als er das Buch in ihrer Tasche entdeckte. »Machst du Kraftübungen damit?«

Sie hatte ihm ein paar Zeilen aus einem Sonett vorgelesen, bis er ihr die Ausgabe aus der Hand nahm und sie auf den Boden legte. Er stellte seinen Halbschuh darauf, damit er leichter hineinschlüpfen konnte. Dann lief er mit schnellen Schritten zu seinem Auto und wartete außer Atem darauf, dass sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

»Wie lange machen wir das schon?«, fragte er, als er den Zündschlüssel drehte.

»Das weißt du doch.«

»Ich will es nur noch einmal hören.«

»Seit dreiundzwanzig Jahren.«

 

Magnús hatte sie mit dem Jeep zur Einschulung gebracht. Aufgrund eines plötzlichen Kälteeinbruchs waren ihre Eltern als Reiseleiter mit einer Gruppe im Landesinneren steckengeblieben und mussten ihre Rückkehr verschieben. Alfa saß mit der Schultüte in der Hand auf dem Beifahrersitz und bat ihren Großvater um eine Extrarunde nach der anderen. Noch einmal um den Block, noch einmal den Fußballplatz umrunden, noch einmal zur Tankstelle und ein Eis kaufen. Als sie in der Aula ankamen, beendete die Direktorin gerade ihre Rede. Die Eltern in den letzten Reihen drehten sich zu ihnen um, einige begannen zu tuscheln. Magnús nahm Alfas Hand, drückte sie so fest er konnte und sah regungslos nach vorne.

»Ich stelle mich auf den Hof und warte unter dem Fenster«, sagte Magnús, als sich die Schüler auf die Klassenzimmer verteilen mussten. »Wenn du wieder rauskommst, zeige ich dir, in wie viel Sekunden der Jeep und ich von null auf hundert kommen.«

Seitdem war Alfa jeden Samstag zu ihren Großeltern gelaufen, um den Tag mit Magnús im Jeep zu verbringen. Wenn es ihr schlechtging, kam sie noch öfter. Ihre Eltern sahen es zwar nicht gerne, dass sie und ihr Großvater so unzertrennlich waren, doch da sie beide arbeiteten, fehlte ihnen die Zeit, um sich selbst um Alfa zu kümmern.

»Ich gehe zu meiner kostenlosen Kinderbetreuung«, sagte Alfa mit ernsthafter Stimme, und dieses Argument zog fast immer. Ihr Vater lachte glucksend, ihre Mutter drückte ihr einen trockenen Kuss auf die Stirn.

»Geh schon«, sagte sie, »aber lass dir etwas Gutes zu essen geben. Nicht nur Burger und Pommes und diesen Kram. Versprochen?«

Alfa nickte, schlüpfte in ihre Schuhe und rannte los, ohne sie zuzubinden.

 

Ihre Großmutter öffnete ihr jedes Mal, bevor sie klingelte. Alfa fragte sich, wie ihr das gelang, und stellte sich vor, dass sie einfach durch die Wände und Türen hindurchsehen konnte. Sie gingen gemeinsam in die Küche, und Nyola goss ihr Saft aus dem Kühlschrank ein. Alfa musste sich anstrengen, das kalte Glas nicht aus den Händen gleiten zu lassen. Anfangs fühlte es sich immer so an, als würde sie Schnee halten. Erst nach wenigen Minuten nahm das Glas ihre Körpertemperatur an, und sie konnte den ersten Schluck nehmen. Nyola lehnte sich gegen die Spüle, summte gedankenverloren Lieder vor sich hin, und Alfa wusste nie so ganz, in welcher Zeit und in welchem Land sie sich in diesen Momenten befand. Ihr abgewandter Blick und die verträumten Melodien wirkten so, als würde Nyola in andere Epochen reisen und die Menschen dort beobachten können. Die Realität schien sie nur durch einen Schleier wahrzunehmen, und Alfa musste sich mehrmals räuspern oder ihren Namen sagen, wenn sie den Saft ausgetrunken hatte. Dann breitete Nyola ihre Arme aus, und Alfa lehnte sich gegen ihren schmalen Oberkörper. Die wallenden Hausmäntel oder weiten Kleider, die ihre Großmutter bevorzugt trug, rochen nach Süßholz und Rosen. Der zarte Stoff war wie eine Decke, unter der man verschwinden konnte. Alfa schloss die Augen und stellte sich Nyola in ihrem Alter vor. Ob sie auch damals schon so zerbrechlich gewirkt hatte? Alfa hatte sie noch nie in einer engen Hose oder einem anliegenden Oberteil gesehen, sie schien ihre zarten Gliedmaßen und den flachen Bauch lieber verbergen zu wollen. Einmal war Alfa zum Mittagessen da gewesen und hatte die winzigen Portionen auf Nyolas Teller bestaunt. Magnús bat seine Frau daraufhin, mehr zu essen, und schaufelte ihr demonstrativ eine Extraportion Nudeln auf den Teller. Doch sie hob nur eine Augenbraue und ging kurz darauf zur Spüle. Sie ließ Wasser einlaufen und versenkte ihren gefüllten Teller darin. Die Erbsen trieben an die Oberfläche, und Alfa bekam einen Lachanfall, der erst aufhörte, als Magnús aufstand, mit dem Autoschlüssel klimperte und sie in den Flur winkte. Aus dem Augenwinkel sah Alfa, wie Nyola die Jalousien nach unten ließ, sich auf ihren Sessel setzte und die Augen schloss.

»Sie meditiert wieder«, sagte Magnús und zog sich eine Trainingsjacke über das T-Shirt. »Fahren wir!«

 

Kjartan kippelte auf seinem Stuhl in der letzten Reihe und wiegte seinen Kopf im Takt der Musik, die er noch immer hörte. Sein Gesicht war kaum zu erkennen, so tief hatte er sich die Kapuze ins Gesicht gezogen. Alle außer Elín drehten sich zu ihm um und klappten ihre Bücher zu.

»Seid ihr schon durch?«, fragte Alfa.

Niemand reagierte.

»Falls du es nicht mitbekommen hast, Kjartan, ihr habt erst morgen wieder Musik.«

Kjartan sah sie herausfordernd an, erhöhte die Lautstärke und sang mit. Er schien nur darauf zu warten, dass Alfa ihn aus dem Unterricht schickte. Nicht mit mir!, dachte sie und stellte sich wieder ans Fenster. Die Schüler hatten sich auf der Aschenbahn versammelt, und die Direktorin ließ die Startklappe zuschnappen. Während sich die Klasse in Bewegung setzte, zückte die Direktorin ihre Stoppuhr und rief den Schnellsten ihre Zwischenzeiten zu. Manchmal vergaß sie nach dem Sport die Uhr zur Seite zu legen, und dann baumelte sie im Lehrerzimmer um ihren Hals, als würde sie die Zeiten ihrer Kollegen stoppen. 3 Minuten, 21 Sekunden, bis der Kaffee von Guðrún durchgelaufen war. 5 Minuten und 7 Sekunden, bis Byarki mit gepresster Stimme um Ruhe bat. 1 Minute und 12 Sekunden, bis Alfa rote Flecken bekam.

 

Alfa war froh, dass Magnús sie nicht beim Unterrichten sehen konnte. Er war sowieso überzeugt gewesen, dass in ihr mehr als eine Lehrerin steckte.

»Warum gehst du immer in Deckung und gibst dich mit dem Einfachsten zufrieden?«, hatte Magnús sie während einer ihrer gemeinsamen Fahrten gefragt. »Warum teilst du nicht aus und wagst etwas?«

In einem Notizbuch sammelte Alfa Straßen, die sie mit Magnús entlangfahren wollte (den Mullholland Drive in Los Angeles, die Panamericana in Chile, die Garden Road am Kap der Guten Hoffnung), und Fähigkeiten, die sie bis dahin noch entwickeln musste (den Orientierungssinn verbessern, die Spinnenphobie überwinden, den Kontrollwahn ablegen).

»Etwas anderes kann ich immer noch machen, später, wenn ich eine Weile ein sicheres Einkommen hatte«, sagte sie.

»Eines Tages, eines Tages, da kannst du gleich den Kopf in den Sand stecken.«

Er fuhr mit ihr zur Trainingshalle des Boxvereins und ignorierte ihre Proteste.

»Ich bleibe im Auto«, sagte sie, als er auf den Parkplatz fuhr.

»Nichts da!«, antwortete er und reichte ihr eine Sporttasche, die er für sie gepackt hatte. Handtuch, Boxhandschuhe, Kleidung. Er hatte an alles gedacht. Alfa drehte das Autoradio lauter und sah ihm nicht in die Augen.

»Alles ist möglich«, sagte er, »du musst es wenigstens einmal ausprobieren.«

Er stieg aus und umrundete den Jeep, dann zog er sie nach draußen und ließ ihre Hand nicht mehr los, als sie gemeinsam ein Stück über den Parkplatz liefen. Er hatte jahrelang hartnäckig trainiert, viele Niederlagen eingesteckt und doch immer daran geglaubt, dass er es schaffen könnte, noch besser zu werden. Er fand es nicht weiter schlimm, dass Alfa bei der Führerscheinprüfung in einen Graben fuhr, und störte sich nicht daran, dass am nächsten Tag der ganze Ort darüber redete. Auch als sie bei ihrer mündlichen Abschlussprüfung einen Blackout hatte, das Lehramtsexamen nur ganz knapp bestand und dann über ein Jahr auf eine Stelle warten musste, reagierte er gelassen.

»Bestanden ist bestanden«, sagte er und öffnete eine Flasche Schnaps. »Dann bist du beim nächsten Mal abgehärteter, das ist doch etwas Gutes. Du darfst die anderen nicht so einfach triumphieren lassen.«

In der Theorie hatte er sicher recht, doch manchmal hätte sie ihm trotzdem am liebsten ein blaues Auge verpasst. Alfa nickte, dann nahm sie ihm den Autoschlüssel aus der Hand, und bevor er sie aufhalten konnte, rannte sie zum Jeep zurück, setzte sich auf den Beifahrersitz und verriegelte das Auto von innen.

»Ich warte bis nach dem Training auf dich«, schrieb sie auf einen Zettel und hielt ihn von innen gegen die Scheibe, als Magnús das Auto umrundete und ihr signalisierte, dass sie wieder nach draußen kommen sollte. Alfa schloss die Augen, zählte bis tausend, und als sie danach wieder nach draußen sah, war Magnús in der Halle verschwunden.

 

Als Kjartan ein bekannteres Lied abspielte, sangen immer mehr Schüler mit, und Alfa drehte sich wieder zu ihrer Klasse um.

Es ist alles nur ein Boxring, dachte sie, und ich bin hier der Schiedsrichter.

»Wir schreiben jetzt einen Übungsaufsatz. Nächste Woche vergebe ich Noten, heute ist es nur zur Probe.«

»Seit wann gibt’s denn so was?«, rief ihr Kjartan zu.

»Seit heute. Wenn ihr nicht mitschreibt, lasse ich euch nächste Woche durchfallen.«

»Mich auch?«

»Sicher. Gleiches Recht für alle.«

»Da werde ich mal mit meiner Mutter sprechen müssen«, sagte Kjartan und wischte auf seinem Smartphone herum. »Muss sie als Direktorin solche Regelungen nicht erst erlauben?«

»Drohst du mir etwa?«

Als Alfa näher kam, zog Kjartan ein Heft und einen Stift aus seiner Tasche.

»Nein, nein«, antwortete er und grinste sie unverfroren an. Sein Atem roch nach Thunfisch und Zwiebeln. Die anderen kramten ebenfalls nach ihren Sachen, nur Elín hatte den Kopf auf den Armen abgelegt und rührte sich nicht. Alfa stellte sich neben sie und klopfte ihr auf die Schulter.

»Aufwachen«, sagte sie. »Oder willst du dieses Jahr durchfallen?«

Sie schrieb das Thema für die Erörterung an die Tafel:

»Das Verhältnis von Mensch und Natur in den Sonetten von William Shakespeare.«

Ein Stöhnen ging durch die Klasse. Alfa strich über die glatte Hülle der Gesamtausgabe, auf der keine Gebrauchsspuren zu sehen waren, und stellte einen kleinen Korb auf ihr Pult, in den die Schüler bei Prüfungen und Aufsätzen ihre ausgeschalteten Mobiltelefone legen mussten. Sonst würden sie wieder versuchen, die Fragen in eine Suchmaschine einzugeben oder sich im Gruppen-Chat über die richtigen Antworten auszutauschen. Nach einer Weile begannen die meisten Schüler zu schreiben, einige blickten nachdenklich auf ihre Hefte. Nur Elín schien sich nicht weiter mit dem Aufsatz zu beschäftigen. Sie streckte die Füße weit von sich und schloss die Augen. Unter ihrem Sweatshirt zeichneten sich ihre Brustwarzen ab, da sie nicht wie die anderen Mädchen einen BH trug.

»Was ist los?«, fragte Alfa.

»Kein Heft dabei. Keinen Stift dabei.«

Alfa riss einen linierten Zettel aus ihrem Block und lieh ihr einen Füller.

»In fünfundviezig Minuten ist Abgabe«, sagte Alfa und stellte sich wieder ans Fenster. Ein paar zusammengeknüllte Schmetterlingszettel wurden von einer Bank zur nächsten weitergegeben, und Alfa gab vor, sie nicht zu sehen. Nur Elín bekam keine Post. Auf dem Sportplatz packte die Direktorin ihre Startklappe ein, und die Schüler verließen den Sportplatz. Alfa sah, wie einer der Jungs immer langsamer wurde und sich hinter einem der Autos versteckte, das neben dem Sportplatz am Straßenrand parkte. Als der Rest der Klasse im Gebäude verschwunden war, ließ er den Motor an und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Alfa goss sich Kaffee aus ihrer Thermoskanne in einen Becher. Ich bin gar kein so schlechter Schiedsrichter, dachte Alfa. Elín sah kurz auf zu ihr, dann band sie ihre dunklen Haare, die sonst wie ein Vorhang einen Großteil ihres Gesichts bedeckten, zu einem Pferdeschwanz und drehte das Blatt um. Sie ließ den Füller langsam von Zeile zu Zeile wandern, als würde sie jedes einzelne Wort mit Bedacht auswählen. Alfa hatte oft beobachtet, wie die anderen Schüler Elíns schleppenden Gang imitierten, über ihre viel zu weiten Hemden und ihre unrasierten Achseln lachten oder ihre tiefe Stimme nachahmten, die auch einem Mann hätte gehören können. Elín ließ sich davon nicht stören. Sie blieb einfach sitzen und malte etwas in ihr Skizzenbuch. Manchmal stand sie auf und fragte eines der Mädchen, das gerade über sie herzog, nach einem Radiergummi. Alfa hatte sie noch nie laut werden gehört, sie zog einfach ihr Ding durch, und wenn sie jemand im Hof schubste, stand sie wieder auf, klopfte sich den Dreck von der Hose und lief weiter, als wäre nichts geschehen.

»Kämpfen würde dir helfen«, hatte Magnús immer wieder zu Alfa gesagt.

»Wobei denn?«

»Die roten Flecken sind nicht zu übersehen.«

Alfa band sich den Schal enger um den Hals. Ihre Panik kam jedes Mal ohne Ankündigung. Beim Einkaufen, bei einem Abendessen, im Aufzug. Erst spürte Alfa das Herz stärker schlagen als sonst, dann zog sich der gesamte Brustkorb zusammen, und ihre Gedanken irrten umher. Sie fühlte sich dann wie gelähmt. Die ersten Attacken hatten sie selbst so überrascht, dass sie sich in ihrem Zimmer einsperrte und darauf wartete, dass es vorbeiging. Doch der enge Raum machte alles noch schlimmer, und wenn sie zu ihren Eltern ging, waren sie von den überraschenden Angstzuständen selbst so beunruhigt, dass sie ihr nicht helfen konnten. Im Gegenteil. Es endete jedes Mal damit, dass Alfa ihnen Mut zusprechen musste und sich anschließend vollkommen leer und ausgelaugt fühlte.

»Du bist doch unsere Starke!«, sagte ihre Mutter, die es gewohnt war, dass Alfa nicht nur schneller laufen und sprechen gelernt hatte als ihr jüngerer Bruder, sie war auch besser in der Schule, prügelte sich nicht mit Mitschülern und wurde nicht wegen Ladendiebstahls angezeigt.

»Bin ich nicht«, widersprach Alfa, doch es schien ihr niemand zuzuhören.

Sie schlich sich in den Flur und schrieb auf einen Zettel, wo sie hingehen würde. Dann rannte sie so schnell sie konnte zu Nyola und Magnús. Sie trank den kalten Begrüßungssaft in einem Zug aus, auch wenn der Temperaturschock groß war und ein leichter Schmerz durch ihre Zähne wanderte. Magnús sah ihr meistens schon an der Nasenspitze an, in welcher Verfassung sie war.

»Wie blass du bist«, sagte er, wenn sie wieder eine ihrer Attacken hinter sich hatte, und fuhr ihr durch die Haare.

»Das Leben ist ein Boxring«, sagte er, »aber im Leben kämpfst du immer gegen mehrere Gegner gleichzeitig.«

Wenn es ihr nicht gutging, drehte er zu Höchstform auf, und die Geschichten strömten nur so aus ihm heraus. Er zog seine Boxhandschuhe an, hob die Hände zur Doppeldeckung vor den Kopf, und als sie sich nicht rührte, deutete er einen Aufwärtshaken an.

»Der Kopf entscheidet alles«, sagte er. »Im Ring brauchst du nicht nur Schnelligkeit und Schlagkraft, viel wichtiger sind deine Gedanken, wenn du am Boden liegst.«

»Hast du dich nie vor deinen Gegnern gefürchtet?«

»Dazu war keine Zeit. Wenn du nur eine Sekunde den Fokus verlierst, kannst du schon in den Seilen hängen.«

 

Alfa warf einen Blick auf die Uhr und erschrak.

»In fünf Minuten ist die Stunde zu Ende«, sagte sie und sah, wie Elín die Kappe auf ihren Füller schraubte. »Das war viel zu wenig Zeit«, beklagte sich Tiara.

»Ihr müsst auch unter Druck gut sein«, sagte Alfa und griff nach dem Zettel auf Elíns Tisch. »Wenn es nächste Woche ernst wird, solltet ihr alle schneller sein. Da Elín schon fertig ist, lese ich euch ihren Aufsatz vor.«

»Ich will das nicht«, sagte Elín und löste das Haargummi.

Alfa hielt einen Moment inne, dann lief sie mit Elíns Aufsatz zur Tafel.

»Es ist ja kein Tagebucheintrag.«

»Ich will das trotzdem nicht«, wiederholte Elín.

»Die Nacht liegt wie ein dunkler Mantel auf dem Wald«, begann Alfa ungerührt zu lesen, »ein rauher Wind weht, die Wolken kauern eng beieinander. Ein Fuchs schleicht durch das Unterholz, er ist auf der Suche nach Nahrung. Doch der Winter naht, und die Umgebung ist so karg wie eine Mondlandschaft.«

Einige in der Klasse kicherten, und Alfa hielt inne. Elín strich über einen großen Tintenfleck auf ihrer Handfläche und rührte sich nicht. Einen Moment wusste Alfa nicht, ob sie fortfahren sollte. Sie ließ den Zettel sinken, doch Kjartan fixierte sie mit seinem Blick und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück, als würde er Schwung für seine nächste Show sammeln.

»Die Moorbirke ist vor der bitteren Kälte gut geschützt«, fuhr Alfa fort. »Sie kann ihre Atemöffnungen in der Rinde mit Harz verschließen. Nur vor den Menschen kann sie sich nicht schützen. Im Zwielicht nähert sich ein Mann mit Bart, er trägt schwere Stiefel und eine gefütterte Jacke mit Pelzkragen. Ich brauche Brennholz, sagt er zu der Birke und lacht hämisch. Da raschelt es im Laub. Der Fuchs nähert sich ihm von hinten und beißt ihm so fest in den Arm, dass das Blut spritzt.«

»Was hat das mit Shakespeare zu tun?«, wollte Alfa wissen und gab Elín ihren Aufsatz zurück.

»Man kann besser über die Menschen und die Natur schreiben, wenn man keinen Schriftsteller zitieren muss«, sagte Elín und stand auf. Sie ging zum Fenster, drehte der Klasse den Rücken zu und sah in der gleichen Haltung wie Alfa nach draußen.

»Setz dich bitte wieder«, bat Alfa.

»Ich hasse Füchse«, sagte Tjara laut vor sich hin, »die schrecken vor nichts zurück. Die fressen sogar die süßen Papageientaucher an der Küste.«

Elín bückte sich neben der Heizung und machte einen Kopfstand. Anfangs wackelten ihre Beine noch etwas, dann fand sie das Gleichgewicht und lehnte die Füße gegen den Fenstersims. Ihr Hemd verrutschte, so dass ein schmaler Streifen ihres nackten Bauches zu sehen war. Kjartan johlte laut auf. Da Alfa abgelenkt war, schnappte er sich sein Mobiltelefon aus dem Korb auf ihrem Pult und fotografierte Elín unter dem Beifall der anderen.

»Hast du noch nie etwas von Low-Carb gehört?«, rief Tjara. »Du musst mehr Superfood essen, das hilft gegen Bauchfett.«

Als Alfa angefangen hatte in der Klasse zu unterrichten, umgarnte Tjara die Lehrerin, als würde sie ihre beste Freundin werden wollen. Sie legte ihr Müsliriegel und Obst auf den Tisch, aber bei jeder Nachfrage leugnete sie, dass die Snacks von ihr waren. Selbst als Alfa sie einmal beim Ablegen erwischte, tat sie so, als hätte sie nichts damit zu tun.

»Hex, hex«, sagte Tjara, »die Dinge kommen und verschwinden, wie sie wollen.«

Sie schien sich nicht anstrengen zu müssen, um Klassenbeste zu sein, und gleichzeitig schien niemand in der Klasse sie als Streberin abzustempeln. Sie stolzierte umher, als hätte sie ein Schutzschild um sich herum, und die anderen schienen sich gerne in ihrer Nähe aufzuhalten, als würde ein Teil ihres Glanzes dann auch auf sie übergehen. Sogar Kjartan wich Tjara nicht von der Seite, auch wenn es auf den ersten Blick nicht zu seinem Image passte, dass er sich mit der Klassenbesten abgab. Alfa fragte sich, ob die zwei seit kurzem ein Paar waren. Einmal hatte sie die beiden nach Schulschluss vor den Spinden eng beieinander stehen sehen. Kjartan wickelte sich eine von Tjaras Locken um den Finger und beugte sich zu ihr. Als Alfa näher kam, fuhren die beiden abrupt auseinander und liefen im Laufschritt zum Ausgang.

Als wieder Papierkügelchen und Radiergummis durch die Luft flogen, räusperte Alfa sich und bat um Ruhe. Elín streckte noch immer ihre Füße nach oben.

»Lässt du das bitte?«

Elín verharrte schweigend in ihrer Position.

»Dann verrate mir doch noch eine Sache: Warum hast du so viel Platz zwischen den einzelnen Zeilen gelassen?«

Elín senkte die Füße zum Boden. Sie lief zurück zu ihrem Platz und zog sich ihren Mantel an, obwohl der Gong noch nicht geläutet hatte. Als sie auf Alfas Höhe war, zerknüllte sie ihren Aufsatz zu einer Papierkugel.

»Da schlafen die Füchse«, sagte sie.

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3

Elín duckte sich hinter die großen Papiertonnen auf dem Schulhof, von wo aus man den Basketballkorb gut im Blick hatte. Im letzten Schuljahr hatte sie nach der letzten Stunde auf der Treppe gesessen und gewartet, bis Jón ihr auf die Schulter klopfte. Dann waren sie Seite an Seite nach Hause gelaufen, während die anderen den Bus nahmen, und es störte sie nicht, dass sie auf diese Weise sowohl für den Hin- als auch für den Rückweg eine halbe Stunde länger brauchten. Sie trennten sich an einer Kreuzung, an der Elín nach links in ihre Straße abbiegen musste. Auf einem Stadtplan hatte Elín mit einem Lineal den Abstand zwischen ihren Häusern gemessen: vier Zentimeter Luftlinie. Das waren umgerechnet 200 Meter. Wenn sie nebeneinander herliefen, war Jón mit seinen langen Beinen ein Stück schneller als sie, und sie musste zwischendurch ein paar zusätzliche Schritte einfügen, um auf seiner Höhe bleiben zu können. Manchmal erzählte Jón von einem Buch, das er gelesen hatte, aber meistens wollte er von ihr Tipps für die Wildnis bekommen. Im Gegensatz zu den anderen interessierte er sich nicht für Hollywoodfilme und Klamottenmarken, sondern wollte von Elín wissen, wie man ein Feuer ohne Streichhölzer entfachen oder wie man die Höhe eines Baumes mit Hilfe eines Stocks bestimmen konnte. Es war ihm egal, ob ein Mädchen sich die Lippen schminkte oder nicht. Er schien den Unterschied nicht einmal zu bemerken und blieb sogar am Wochenende mit Elín im Vorort, wenn die anderen aus der Klasse ins Kaffibarinn in der Reykjavíker Innenstadt fuhren und dort versuchten, als Volljährige durchzugehen. Zusammen mit Jón saß Elín in diesen Momenten auf der Bank vor dem Schwimmbad, da sie von dort durch eine Lücke zwischen den Häusern das Meer sehen konnten. Jón machte jedes Mal ein Foto von dieser Stelle und lud es bei Instagram hoch. Da Elín keinen eigenen Account hatte, zeigte er ihr jede Woche, wie viele Herzen er in der Zwischenzeit gesammelt hatte.

»Warum machst du bei den ganzen Sachen nicht mit?«, fragte er, während er auf einen Kommentar antwortete.

»Ich kann darin keinen Sinn erkennen.«

»Und wenn es einfach nur um den Spaß geht?«

»Ich finde es unnütz, mit Fotos anzugeben und sinnlose Smileys zu verschicken. Und ich will auch nicht wissen, welchen Rekord Tjara auf ihrer Joggingstrecke wieder aufgestellt hat oder welche Lieder sie sich auf Spotify angehört hat.«

»Du hörst dich an wie meine Mutter«, sagte Jón und veränderte seine Stimme. »Kann das wirklich gut für dich sein, wenn du den halben Tag auf das Display starrst? Weißt du überhaupt noch, welche Jahreszeit wir haben, wenn du die ganze Zeit nur am Chatten bist, statt dich draußen mit deinen Freunden zu treffen?«

Die Straßenlaternen warfen ein schummriges Licht auf den Asphalt, und der Parkplatz war um diese Zeit fast leer.

»Willst du mir gerade sagen, dass ich eine altmodische Schachtel bin?«

»So ganz von dieser Welt scheinst du nicht zu sein.«

»Blödmann«, sagte sie und griff nach seinem Arm. Er sah sie erwartungsvoll an, und auf einmal kam sie sich seltsam vor. Jón saß ganz still da, als wäre der gesamte Widerstand aus seinem Körper gewichen. Sie konnte seinen gleichmäßigen Atem hören und passte ihren eigenen seinem Rhythmus an. Erst als ein Wagen angefahren kam, ließ sie seinen Arm wieder los.

 

Die Ankömmlinge auf dem Parkplatz beobachteten sie beide gerne. Sie dachten sich dann Geschichten zu ihnen aus, erfanden Gründe, warum sie um diese Zeit unterwegs waren, und Abgründe, derentwegen sie sich vom Rest der Welt entfernt hatten.

»Du fängst an!«, sagte sie zu Jón, und beide drehten ihre Köpfe zu dem Jungen, der seinen Geländewagen nur wenige Meter von ihnen entfernt einparkte und dabei den Motor mehrmals abwürgte. Als er es endlich geschafft hatte, stieg er aus und ließ die Fahrertür offen stehen. Er schlurfte zur Eckkneipe, kam mit einer Bierflasche in der Hand wieder heraus und öffnete sie zwischen den Zähnen. Den Kronkorken warf er in hohem Bogen durch die Luft, und Elín lehnte sich zur Seite, weil sie für einen Moment glaubte, er könnte sie treffen. Bevor er davonfuhr, spuckte er durch das heruntergekurbelte Fenster.

»Seine Freundin hat ihn verlassen und ist jetzt mit seinem Vater zusammen«, sagte Jón.

»Nichts da. Er ist von der Schule geflogen, weil er sich eine Uhr gebaut hat, die von den Lehrern mit einer Bombe verwechselt wurde.«

»Das hast du geklaut. Das ist doch eine Geschichte, die in den USA vorgekommen ist. Und überhaupt: Schau dir doch seinen Körper an, der ist viel zu grobschlächtig für solche Basteleien.«

»Dann hat er das Auto geklaut und fährt damit heute Nacht zur Ostküste, um eine Fähre nach Dänemark zu nehmen und dort ein neues Leben anzufangen.«

»Ich weiß etwas Besseres: Er holt sich ein Mut-Bier, weil er gleich zum ersten Mal mit seiner Freundin schlafen wird.«

Elín nickte, sah auf den Boden und schob einen Zigarettenstummel mit der Fußspitze hin und her. Das Gespräch stockte, und Jón sang leise ein Lied mit, von dem er sich nur an jedes dritte oder vierte Wort erinnerte. Sie sahen erst wieder auf, als ein Auto ganz am Rand in einer Ecke stehen blieb, die von den Straßenlaternen nicht erfasst wurde. Paare wie dieses sahen sie oft, doch jedes Mal nur von weitem, da sie die Fahrzeuge nicht verließen und sich auf ihren Sitzen umarmten, küssten und verrenkten und dabei doch immer ihre Kleidung anbehielten.

»Wir wohnen noch nicht weit genug draußen«, sagte Jón. »Hier fühlt sich niemand so sicher, dass er die Hüllen fallen lässt. Es könnte ja morgen in der Zeitung stehen.«

»Willst du die wirklich alle nackt sehen?«

»Du nicht?«

»Ich stell mir das nicht besonders schön vor, diese fremden Körper haben sicher Hühneraugen, Pickel im Intimbereich und eingewachsene Zehennägel.«

»Du bist echt eklig. Das will ich auch nicht sehen.«

»Was fehlt dir dann?«

»Das ist alles so unfassbar öde hier. Hier macht eine Tankstelle dicht, dort stirbt ein alter Mann, drüben hat jemand eine Ehekrise. Das war’s. Wir sehen immer die gleichen Straßen, Geschäfte und Leute. Wir drehen uns so lange im Kreis, bis wir es nicht mehr bemerken und uns deshalb nicht mehr daran stören.«

»Seit wann bist du so ein Pessimist? Soll ich dir erklären, wie du bei Regen am schnellsten einen Unterstand aus einer Plane bauen kannst und wie du dich in der Wildnis vor einem Gewitter schützt?«

Als er nicht antwortete, legte Elín einen Arm um ihn, doch er stand gleich wieder auf. »Da hat es angefangen«, dachte sie nun, das war der erste Moment, wo sich der Abstand zwischen ihnen nicht mehr mit einer Geste überbrücken ließ, wo Jóns Gedanken so weit weg schienen, dass sie ihn nicht mehr zurückholen konnte, warum auch immer.

 

Elín beugte sich nach vorne, schrieb mit dem Zeigefinger einen Namen in den Schnee und umrundete ihn mehrmals, bis ihre Fußabdrücke einen Rahmen um die drei Buchstaben bildeten. Dann streckte sie ihren Kopf hinter den Tonnen hervor und sah dem Hausmeister dabei zu, wie er einen blauen Eimer in die Hand nahm und alle paar Meter eine Schaufelfüllung Streusalz verstreute, bis die schwarzen Körner den ganzen Hof sprenkelten. Das sind Wintersprossen, dachte Elín und zog ihren Block hervor, um die neue Metapher aufzuschreiben. Sie behielt die Kappe des Stifts im Mund, während sie schrieb. Als Jón und Kjartan den Basketball vor sich her dribbelten und immer näher kamen, hätte sie sich fast daran verschluckt. Elín ging in die Hocke und verwischte die Buchstaben im Schnee, so schnell sie konnte. Kurz bevor die Jungs Elíns Versteck erreicht hatten, entglitt Jón der Basketball. Elín fixierte Kjartan und wünschte sich Superheldenkräfte, um ihn durch ihren Blick straucheln zu bringen. Doch das Gegenteil geschah. Kjartan schnappte sich den Ball, rannte Richtung Korb und reckte eine Faust in die Höhe, als ihm ein Dreier gelang. Er war erst zu Beginn des Schuljahrs mit seinen Eltern in den Ort gezogen und in Elíns Klasse gekommen. Seitdem hatte für Elín eine neue Zeitrechnung begonnen. »Vor Kjartan« hatte sie mit Jón an einem Pult gesessen, doch »nach Kjartan« ließ Jón sich zu Kjartan in die letzte Reihe versetzen. Mit jeder Woche, die »nach Kjartan« verging, veränderte sich Jón ein kleines Stückchen mehr, und die gemeinsame Zeit auf dem Schwimmbad-Parkplatz kam ihr so unwirklich wie ein Traum vor. Erst trug Jón eine neue Lederjacke, dann schickere Turnschuhe und schließlich die gleichen teuren Kopfhörer wie Kjartan. Elín wollte nicht glauben, dass die Veränderung endgültig und Jón zu einer derartigen 180-Grad-Wendung in der Lage war. Sogar Parfüm benützte er seit neuestem. Elín wartete auch »nach Kjartan« morgens an ihrer Kreuzung auf Jón und kam mehrmals zu spät zur Schule. Jón saß dann schon im Klassenzimmer und wandte den Blick ab. Elín hörte, wie der Rest der Klasse seine neue Frisur lobte, die von Cristiano Ronaldo inspiriert war. Elín fand, dass das Gel ihm nicht stand, und begriff nicht, warum die anderen ihn CR7 nannten. Nach zwei Wochen gab sie ihre alte Angewohnheit auf und fügte den kleinen Schlenker zu den beiden Birken in ihren Schulweg ein, um nicht mehr an dem alten Treffpunkt vorbeikommen zu müssen. Auch am Wochenende war Jón verschollen geblieben, statt mit ihr im Vorort zu bleiben, zog er mit Kjartan und dessen älterem Bruder in Reykjavík um die Häuser. Als Elín erneut hinter den Tonnen hervorspähte, verstaute Kjartan gerade den Basketball in seinem Rucksack und steckte sich seine Ohrstöpsel in die Ohren. Elín stand auf, drückte den Rücken durch und spannte die Bauchmuskeln an. Dann lief sie zu den beiden.

»Jón«, rief sie.

Sie setzte sich den Rucksack auf und lehnte sich unweit des Schultors auf dem Gehsteig gegen den Zaun, so wie sie es »vor Kjartan« immer getan hatte.

Das ist dein letzter Versuch, dachte sie und tat einfach so, als ob Kjartan nicht da war. Jón kam zwar langsam näher, doch er starrte dabei auf die Spitzen seiner Turnschuhe. Als er Elíns Höhe fast erreicht hatte, beschleunigte er seine Schritte und rannte an ihr vorbei zur nächsten Kreuzung. Ein tiefer gelegter, glänzender Audi blieb neben ihm stehen, und Kjartans Bruder kurbelte die Scheibe herunter. Egill sah Kjartan so ähnlich, dass sie auf den ersten Blick wie Zwillinge wirkten. Man konnte sie nur daran unterscheiden, dass Kjartan zwei Köpfe kleiner war und seine Zähne noch nicht ganz so gelblich verfärbt waren. Der Motor lief noch, als Jón einstieg, und kurz darauf kroch auch Kjartan auf die Rückbank. Elín hörte die lauten Bässe aus den überdimensionierten Boxen wummern, dann fuhr Egill so schnell davon, dass er kurz ins Schlingern geriet. Elín trottete langsam den Gehsteig entlang, zog einen Apfel aus ihrer Tasche und bohrte die Fingernägel ihrer rechten Hand hinein. Erst als ein Stück ihres Daumennagels abbrach und im Fruchtfleisch stecken blieb, löste sie den Griff und ließ den Apfel die Straße entlangrollen. Sie schloss die Augen und spürte nur noch den kalten Luftzug auf der offenen Wunde und ein rhythmisches Pochen in den Adern.

 

Zu Hause blieb Elín vor der Tür stehen und lehnte ihren Kopf gegen die kalte Scheibe. Sie sah noch einmal das Gesicht von Jón vor sich, die dicken Locken und die großen Augen, die leicht gebogene Nase und den schmalen Mund. Doch je länger sie an ihn dachte, desto mehr veränderte sich sein Aussehen, eine blutige Wunde nach der anderen tauchte auf seiner Stirn und seinen Wangen auf, als würde er sich in einen Zombie verwandeln. Elín drehte den Schlüssel im Schloss und stellte sich vor, wie Jón vor Schmerz das Gesicht verzerrte.

»Ich war kurz davor, einen Suchtrupp loszuschicken«, rief ihre Mutter aus der Küche.

Elín warf ihre Tasche in die Ecke neben der Garderobe im Flur. Ein Heft rutschte heraus, und ihre Aluflasche rollte über den Boden, aber sie kümmerte sich nicht weiter darum und ließ auch ihre Jacke fallen. Sie zog die Schuhe aus und schob sie wie zwei Fußbälle vor sich her, bis sie die Küche erreicht hatte.

»Die Sauce ist schon kalt«, sagte ihre Mutter. »Willst du sie dir aufwärmen?«

Elín lehnte sich gegen den Türrahmen und knetete ihre durchgefrorenen Hände.

»Das schmeckt auch so«, meinte sie und nahm ihrer Mutter den Topf aus der Hand.

Sie schöpfte sich eine große Portion Nudeln und etwas Sauce auf ihren Teller, trug ihn zum Tisch und setzte sich auf ihren Camping-Klappstuhl, den ihre Eltern schon mehrmals zusammengeklappt und in den Keller getragen hatten, wenn Elín nicht in der Nähe war. Doch das half ihnen nichts, denn wenn Elín es bemerkte, brachte sie ihren Stuhl einfach wieder nach oben.