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Drei Schwestern, ein Gästehaus, stürmische Zeiten.
Nach ihrer Schwester Lily ist es nun an Jasmin, der zweitältesten der Brown-Töchter, das alte Kapitänshaus zu leiten. Als alleinerziehende Mutter meistert sie mit Bravour die Herausforderungen des Alltags – nicht zuletzt dank ihres aufgeweckten siebenjährigen Sohnes Tim, der ihr zur Seite steht. Schon bald entdeckt Jasmin ihre Leidenschaft dafür, die Gäste des Hauses zu umsorgen und ihnen unvergessliche Momente zu bereiten.
Bei einer Strandwanderung kreuzen sich ihre Wege mit dem charmanten Architekten Christian und seinem treuen Labrador. Jasmin, die nach ihrer schmerzhaften Scheidung geglaubt hatte, nie wieder etwas für einen Mann empfinden zu können, findet sich plötzlich in einem Strudel unerwarteter Gefühle wieder. Doch als ihr Ex-Mann sie bittet, das Weihnachtsfest gemeinsam mit seinen Eltern im Alten Kapitänshaus zu verbringen, steht Jasmin vor einer schwierigen Entscheidung …
Und als sie glaubt, alles im Griff zu haben, brechen über Jersey die Herbststürme herein, von denen auch das alte Kapitänshaus nicht verschont bleibt.
Auf einer bezaubernden Insel vor der französischen Küste fangen die Brown-Schwestern noch einmal von vorn an
Zweiter Band der Reihe "Jersey-Träume" von Anne Labus.
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Seitenzahl: 450
Veröffentlichungsjahr: 2025
Drei Schwestern, ein Gästehaus, stürmische Zeiten.
Nach ihrer Schwester Lily ist es nun an Jasmin, der zweitältesten der Brown-Töchter, das alte Kapitänshaus zu leiten. Als alleinerziehende Mutter meistert sie mit Bravour die Herausforderungen des Alltags – nicht zuletzt dank ihres aufgeweckten siebenjährigen Sohnes Tim, der ihr zur Seite steht. Schon bald entdeckt Jasmin ihre Leidenschaft dafür, die Gäste des Hauses zu umsorgen und ihnen unvergessliche Momente zu bereiten.
Bei einer Strandwanderung kreuzen sich ihre Wege mit dem charmanten Architekten Christian und seinem treuen Labrador. Jasmin, die nach ihrer schmerzhaften Scheidung geglaubt hatte, nie wieder etwas für einen Mann empfinden zu können, findet sich plötzlich in einem Strudel unerwarteter Gefühle wieder. Doch als ihr Ex-Mann sie bittet, das Weihnachtsfest gemeinsam mit seinen Eltern im Alten Kapitänshaus zu verbringen, steht Jasmin vor einer schwierigen Entscheidung …
Und als sie glaubt, alles im Griff zu haben, brechen über Jersey die Herbststürme herein, von denen auch das alte Kapitänshaus nicht verschont bleibt.
Auf einer bezaubernden Insel vor der französischen Küste fangen die Brown-Schwestern noch einmal von vorn an
Zweiter Band der Reihe "Jersey-Träume" von Anne Labus.
Anne Labus, Jahrgang 1957, lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Udo Weinbörner, in der Nähe von Bonn. Nach ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau arbeitete sie unter anderem als selbstständige Fitness- und Pilatestrainerin. Die Leidenschaft für das Reisen hat sie an ihren Sohn vererbt, der auf Hawaii seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat. Die Autorin entspannt sich beim Kochen, liebt Bergtouren und lange Strandspaziergänge. Inspirationen für ihre Romane findet sie in Irland und Italien oder auch auf Spiekeroog.
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Anne Labus
Das alte Kapitänshaus – Inselstürme
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Kapitel 2
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Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
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Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
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Kapitel 17
Kapitel 18
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Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
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Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Nachwort
Impressum
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Ein weißes, hochherrschaftliches Haus in der Bucht von St. Aubin ist die Heimat der Familie Brown. Hier hatte der Kapitän zur See für seine Frau Ida und ihre drei Töchter einen sicheren Hafen auf der Kanalinsel Jersey gebaut. Viel zu früh erlag er einem langen Krebsleiden. Ida, seine Ehefrau, zog Rose, Jasmin und Lily allein groß. Um der Einsamkeit nach dem Auszug der erwachsenen Töchter zu entfliehen, baute sie das Haus zu einer Frühstückspension aus, in der Gäste aus aller Welt abstiegen. Ein schwerer Schlaganfall riss sie mit fünfundsechzig Jahren aus dem Leben. Sie hinterließ den Töchtern das alte Kapitänshaus, knüpfte das Erbe jedoch an eine Bedingung. Jede von ihnen sollte mindestens drei Monate lang selbstständig das Gästehaus führen. Erst nach Ablauf eines Jahres dürften sie frei über das Elternhaus verfügen. Andernfalls fiele das Erbe an die Kirche. Geplagt von ihrem Gewissen, die Mutter im Stich gelassen zu haben, stellte sich Lily, die jüngste der Schwestern, als Erste der Aufgabe. Trotz aller Probleme und Schwierigkeiten gelang es ihr, die Pension sechs Monate lang erfolgreich zu führen. Auch privat fand sie ihr Glück an der Seite von Simon, ihrer Jugendliebe.
Jetzt ist es an Jasmin, der zweitältesten Tochter, das alte Kapitänshaus für drei Monate durch die stürmischen Zeiten zu bringen …
»Komm schon, Ma. Ich will endlich los!«, quengelte Tim. Mit verbissener Miene stopfte er seinen Laptop in den Rucksack und stellte ihn demonstrativ neben sich. Brummelnd zog er sich den Winterparka über und schlüpfte in die Stiefel.
Jasmin rannte auf Socken wie aufgezogen durch die Wohnung. »Gib mir noch eine Minute, mein Schatz«, bat sie den siebenjährigen Sohn. »Ich will nur sichergehen, dass ich nichts vergessen habe.« Fast wäre sie über die Koffer gestolpert, die gepackt im Flur standen. Mit einem geschickten Sprung wich sie aus und inspizierte das Schlafzimmer. Das Bett für die Schwester war frisch bezogen. Seufzend zog sie die Tagesdecke glatt.
Erinnerungen lagen wie Staub auf den Möbeln. Sie strich über die Buchrücken im Rattanregal. Hier hatte früher die Stereoanlage ihres Ex gestanden. Jetzt füllte das Bücherregal die Lücke, die Stefan hinterlassen hatte. Nur das breite Ehebett erinnerte sie noch an die glückliche Zeit ihrer kurzen Ehe. In den ersten Monaten nach der Scheidung war der damals dreijährige Tim jede Nacht zu ihr ins Bett gekrochen und hatte sich an sie geschmiegt. Heute Abend würde ihre Schwester Lily sich in die weichen Kissen kuscheln. Wenn Jasmins Zeit im Kapitänshaus um war, wollte sie sich nach einer eigenen kleinen Wohnung umsehen.
Eilig wandte sich Jasmin ab. Zeit für den Aufbruch. Jetzt war sie an der Reihe, den letzten Willen der Mutter zu erfüllen. Drei Monate lang würde Jasmin die Pension selbstständig führen. Sie freute sich auf die Rückkehr in das einstige Elternhaus und die Auszeit vom leidigen Bürojob. Gleichzeitig plagten sie erste Zweifel. War sie den vielfältigen Aufgaben im Kapitänshaus gewachsen? Keine geregelten Arbeitszeiten, ständig wechselnde Gäste, die von ihr umsorgt werden wollten … Wo blieb da noch Zeit für den wichtigsten Menschen in ihrem Leben, ihren Sohn?
»Hör auf zu grübeln, Ma.« Tim schien ihre Gedanken zu lesen. Der Siebenjährige stand mit gepacktem Rucksack vor ihr und zupfte sie am Ärmel des Pullovers. »Nun komm schon. Wir dürfen Lily nicht warten lassen. Falls wir etwas vergessen haben, können wir es jederzeit holen. Wir ziehen nicht an den Nordpol, nur nach St. Aubin.« Er kniff die Augen zusammen, schien zu überlegen. »Das alte Kapitänshaus ist keine drei Meilen Luftlinie von hier entfernt. Notfalls können wir sogar zu Fuß gehen.« Entschlossen fasste er sie bei der Hand. »Wir zwei schaffen das schon«, sagte er. »Ich kann es kaum erwarten, mir das Gästezimmer unter dem Dach herzurichten. Es bleibt doch dabei?«
»Natürlich, mein Großer. Du bekommst das Dachzimmer mit der besten Aussicht auf die Bucht. Dort kannst du schalten und walten, wie du willst.« Jasmin drückte ihn kurz an sich und straffte den Rücken. Dann zog sie sich Stiefel und Mantel an. »Also gut. Auf ins Gefecht!« Entschlossen hängte sie sich die Handtasche über die Schulter und schnappte sich den größeren Koffer. »Nimmst du bitte den anderen?«
»Kein Thema«, versicherte ihr Sohn und schulterte seinen Rucksack. »Hast du den Zweitschlüssel für Lily dabei?«
»Aye, Captain.« Schmunzelnd schloss Jasmin die Wohnungstür hinter sich ab und folgte Tim die Treppe hinunter. Im ersten Stock klopfte sie an Mr Mulders Tür. Sofort ertönte von drinnen das aufgeregte Kläffen seines kleinen Yorkshireterriers Bo.
»Sei still, mein Junge. Das sind sicher nur Jasmin und Tim, die sich verabschieden wollen«, hörte sie den alten Herrn sagen. Kurz darauf wurde die Wohnungstür geöffnet. Wie ein Pfeil schoss ein Fellbündel in den Flur, sprang aufgeregt an Tim hoch und leckte Jasmin die Hand.
»Am liebsten würde ich dich mitnehmen.« Tim kniete sich vor den kleinen Hund und knuddelte ihn ausgiebig. »Keine Sorge, ich komme dich oft besuchen.«
»Euer Kapitänshaus mit dem großen Garten würde ihm sicher gefallen.« Mr Mulder strich Tim über den Kopf und seufzte. »Ihr beide werdet mir fehlen, deine Mutter und du.«
»Sie uns auch, lieber Anthony.« Jasmin schenkte ihm ein warmherziges Lächeln. Der kleine runzelige Mann und sein Terrier waren ihr ans Herz gewachsen. Er war für ihren Sohn wie ein Opa. So manchen Nachmittag, wenn sie länger in der Stadtverwaltung arbeiten musste, hatte er auf Tim aufgepasst. Das Schachspielen hatte ihr Kleiner von ihm gelernt. »Nur weil wir jetzt in mein Elternhaus ziehen und ich dort die Pension führen werde, heißt das noch lange nicht, dass wir uns nicht sehen können. Im Alten Kapitänshaus sind Sie uns jederzeit herzlich willkommen. Wir nehmen zusammen den Nachmittagstee im Wintergarten ein. Dort ist es selbst im November angenehm temperiert.«
»Da kann ich Ihnen endlich mein Fernrohr zeigen und mit Bo im Garten tollen.« Tim schob sich vor sie und fasste den grauhaarigen Mann am Arm. »Ich sage Tante Lily, dass sie ab und zu nach Ihnen schauen soll. Dann fühlen Sie sich nicht so einsam, Mr Mulder.« Er kräuselte die Nase. »Die spielt leider kein Schach«, gab er zu bedenken. »Aber ansonsten ist sie total nett.«
»Sie hat sich mir schon vorgestellt, deine Tante.« Der alte Herr wischte sich verstohlen eine Träne von der faltigen Wange. »Ein Ersatz für dich ist sie nicht, aber ich denke, wir werden gut miteinander auskommen.« Er wandte sich rasch ab und seufzte. »Nun geht schon, ihr zwei. Sonst werde ich noch sentimental.« Mit einem Pfiff rief er seinen Hund zu sich. »Viel Glück für den Neuanfang«, murmelte er und schloss die Tür hinter sich. Jasmin bemerkte den traurigen Zug um Tims Mund und nickte ihm aufmunternd zu. »Du kannst Anthony jederzeit besuchen. Und jetzt, da du ja ein eigenes Handy hast, kannst du ihn auch öfter anrufen.«
Tim tippte auf die Seitentasche seines Parkas. »Die Nummer ist schon gespeichert.« Ein breites Grinsen huschte über sein Gesicht. »Dad hat mir zum Geburtstag ein cooles Geschenk gemacht. Findest du nicht?«
»Ja, mein Schatz«, murmelte sie und biss sich auf die Zunge. Stefan, ihr Ex, verwöhnte den Sohn, wo er nur konnte. Bisweilen übertrieb er es mit der Großzügigkeit. Sooft der deutsche Reiseunternehmer auf Jersey weilte, kümmerte er sich um Tim. Er war ein liebevoller Vater, das hielt sie ihm zugute. Bis heute verstand sie nicht, warum er fremdgegangen war, wo ihm doch angeblich so viel an ihr und seinem Sohn lag. Wenn sie ihm damals nach Berlin gefolgt wäre, vielleicht …
Sie verbat sich jeden weiteren Gedanken über die gescheiterte Ehe. Entschlossen marschierte sie die Treppe hinunter und eilte hinter Tim aus dem Haus. Schau nach vorn, mahnte sie sich.
Am Vorabend hatte sie eine der wenigen freien Parkbuchten in der New Street ergattert. In der Stadtmitte von St. Helier, der Inselhauptstadt von Jersey, waren die kostenfreien Parkplätze rar gesät. Die tägliche Sucherei nach einem freien Stellplatz nahm sie gern in Kauf, denn einen Dauerparkplatz in einer der Tiefgaragen konnte sie sich nicht leisten. Ihr in die Jahre gekommener Polo stand keine Hundert Meter von dem Mietshaus entfernt vor dem China-Imbiss.
»Shit«, fluchte sie leise. »Hoffentlich komme ich aus der Parklücke. Welcher Idi…?« Im letzten Moment bremste sie sich aus. Vor ihrem Sohn zu fluchen, kam für sie nicht infrage. »Manche Leute sind wirklich rücksichtslos. Der Geländewagen parkt so nah hinter unserem Auto, dass kaum noch eine Briefmarke zwischen die Stoßstangen passt. Zu blöd, dass ich zum Vordermann nicht mehr Abstand gelassen habe.«
Tim stellte den Koffer neben sich auf den Bürgersteig und kratzte sich den Nacken. »Soll ich im China-Imbiss nachfragen? Vielleicht wissen die, wem der Wagen gehört.«
»Nett gemeint von dir. Aber lass mich erst mal einen Versuch starten. Irgendwie rangiere ich unser Auto da schon raus«, erwiderte Jasmin. Sie verstaute das Gepäck im Kofferraum, wartete, bis sich Tim auf der Rückbank angeschnallt hatte, und klemmte sich hinter das Lenkrad.
»Sieh mal, da will einer was von uns.« Tim deutete aus dem Wagenfenster zur anderen Straßenseite, wo ein groß gewachsener Mann ihnen zuwinkte.
Jasmin schüttelte verwundert den Kopf. »Was hat der nur? Ich stehe doch nicht im Halteverbot.« Wie ein ehrenamtlicher Ordnungshüter sah der Typ in Anzughose und Kaschmirpullover nicht aus. Eher wie ein Banker oder Geschäftsmann. Gespannt kurbelte sie das Seitenfenster herunter und schaute ihm entgegen. Mit großen Schritten überquerte er die Fahrbahn und blieb neben ihrem Wagen stehen.
»Sorry, Madame. Ich habe Sie zugeparkt. Das war nicht meine Absicht.« Er hatte ein gewinnendes, fast jungenhaftes Lächeln. Nur seine Augenfältchen und die grau melierten Schläfen verrieten, dass er die dreißig deutlich hinter sich gelassen hatte. »Wenn Sie einen Moment warten, parke ich meinen Wagen rasch um.« Statt zu seinem Geländewagen zu eilen, blieb er neben dem Fahrerfenster stehen und starrte sie an.
Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Irritiert von seinen strahlend blauen Augen wandte sich Jasmin rasch ab und steckte den Zündschlüssel ins Schloss. »Wir haben es wirklich eilig. Wenn Sie bitte so freundlich wären«, stammelte sie.
»Ja, natürlich. Wo habe ich nur meinen Kopf?« Der Fremde zog eine Visitenkarte aus seiner Hosentasche und reichte sie ihr. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte er. »Mein Name ist Christian Wood. Ich bin neu in der Gegend. Falls Sie mal einen Architekten brauchen – mein Büro ist gleich dort drüben in dem gläsernen Kasten. Im zweiten Stock.«
»Jasmin Brown«, hörte sie sich sagen. »Und das da hinten ist mein Sohn Tim.« Was war nur in sie gefahren, ihm ihren Namen zu nennen? Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war eine Männerbekanntschaft. Das Leben schien ihr momentan kompliziert genug. Mit entschlossener Miene stellte sie die Rückenlehne senkrecht und starrte stur geradeaus. Er räusperte sich und schielte auf die Rückbank zu Tim. Der spielte gelangweilt Schach auf seinem Smartphone.
»Wenn du mal einen Partner brauchst, komm gern vorbei, Tim. Ich würde mich freuen.«
Jasmin beobachtete im Rückspiegel, wie Tim die Nase kräuselte. So wie sie ihren Sohn kannte, würde der jetzt höflich, aber bestimmt ablehnen. Umso erstaunter war sie, als er nur mit den Schultern zuckte. »Kein Bedarf, Mister«, brummelte er und schaute demonstrativ auf sein Handy. »Fahren Sie bitte endlich ihren Wagen weg«, fügte er etwas höflicher hinzu. »Wir werden in Brélade auf dem Friedhof erwartet. Am Grab meiner Oma.«
»Mein herzliches Beileid«, murmelte Christian Wood und trat von einem Bein auf das andere.
Jasmin sah die Betroffenheit in seinem Gesicht und seufzte. »Meine Mutter ist bereits vor sechs Monaten gestorben. Heute treffen wir uns nur zu ihrem Gedenken. Trotzdem würde ich jetzt gern fahren, Mr Wood.«
»Ich bin schon so gut wie weg«, sagte er und spurtete zu seinem Wagen.
Keine Minute später fuhr er hinter ihr aus der Lücke, steuerte den Geländewagen neben ihren Polo und rief ihr durch das offene Wagenfenster zu: »Hoffentlich bis bald, Jasmin«, bevor er auf den Liberation Square abbog.
»Wie war der denn drauf?« Tim schüttelte entrüstet den Kopf. »Hat der dich etwa angemacht?«
Das waren ja ganz neue Töne von ihrem Sohn. Jasmin warf ihm im Rückspiegel einen empörten Blick zu. »Ganz bestimmt nicht. Mister Wood war nur höflich.« Täuschte sie sich, oder schwang da etwa Eifersucht in seiner Stimme mit? Bisher war es für ihn immer okay gewesen, wenn sie sich auf ein Bier mit einem Kollegen traf. Doch seit Stefan sich von seiner Freundin getrennt hatte und öfter auf der Insel weilte, hoffte ihr Sohn, dass die Eltern wieder ein Paar würden. Zumal sie ab und zu etwas gemeinsam unternahmen. Erst letzte Woche hatten sie zusammen das Herbstfest auf dem Weingut besucht.
»Fahr endlich los, Ma. Wir sind schon spät dran«, mahnte Tim von der Rückbank.
»Du kennst doch Lily. Die kommt nie pünktlich«, winkte Jasmin ab und setzte den Blinker. Der Strom der vorbeifahrenden Autos riss ab, und sie manövrierte den Wagen aus der Parkbucht. Auf der Uferstraße Richtung St. Aubin herrschte der übliche Nachmittagsverkehr. Sie kamen nur schrittweise voran.
An einer roten Ampel ließ Jasmin den Blick über die Bucht schweifen. Der Novemberwind trieb dunkle Wolkenberge vom Meer auf die Insel. Im Hafen von St. Aubin schaukelten die Boote in den Wellen. Nur wenige Spaziergänger trotzten dem Nieselregen und marschierten mit hochgeschlagenen Kragen über den Strand. Die Hochsaison für Touristen war längst vorbei, dennoch hatte sich für die nächste Woche eine Reisegruppe im Kapitänshaus angemeldet und freute sich auf wildromantische Küstenwanderungen. Beim Weiterfahren riskierte sie einen kurzen Blick auf das weiße Haus oberhalb der Bucht. Jasmin schluckte schwer. Nie wieder würde die Mutter dort oben auf der Gartentreppe stehen und ihr zuwinken. Sie fehlte ihr so sehr, dass es schmerzte.
Endlich sprang die Ampel um, und der dichte Verkehr forderte wieder ihre volle Konzentration. Hinter St. Aubin verengte sich die Fahrbahn. In schmalen Kehren schraubte sich die Landstraße den Hügel hinauf, vorbei an einzelnen Gehöften und Anwesen. Windzerzaust duckten sich Palmen hinter den Steinwällen. Selbst im November blühten auf ihrer Heimatinsel Kamelien und Heidekraut.
»Die trauen sich was«, rief Tim und deutete aus dem Fenster Richtung Bucht, wo zwei Kitesurfer gewagte Manöver auf den Wellen vollführten. »Das möchte ich auch mal lernen. Schau nur, wie die über das Wasser flitzen.«
Jasmin schüttelte verständnislos den Kopf. »Darüber reden wir, wenn du alt genug bist«, wich sie diplomatisch aus.
Vor der Ortseinfahrt von Brélade schaltete sie einen Gang runter. Im Schritttempo fuhr sie vorbei an eleganten Hotels und Restaurants. Am Ende des weitläufigen Strandes lag der Friedhof des Ortes. Nur wenige Schritte von der alten Fishermen’s Chapel, einer Kapelle aus dem 11. Jahrhundert, entfernt hatten ihre Eltern die letzte Ruhestätte gefunden. Kurz vor seinem Tod hatte ihr Vater diesen Platz ausgesucht. »Hier habe ich den besten Blick auf das Meer«, hatte er gesagt.
Nachdenklich parkte sie den Wagen am Straßenrand.
»Wollen wir?«, fragte sie ihren Sohn und stieg aus.
Tim rutschte aus der Rückbank und schaute sich um. »Ich glaube es nicht. Lily ist schon da!«
Sie folgte seinem Blick. Ihre vier Jahre jüngere Schwester lehnte auf der gegenüberliegenden Straßenseite lässig an einem schwarzen Golf und winkte ihnen zu. »Na, da staunt ihr – ich kann auch pünktlich sein. Simon hat mir seinen Elektrogolf geliehen. Der fährt sich fast von allein.« Sie ließ einen Bus passieren, dann spurtete sie über die Straße. »Hallo, Große, bereit für deinen neuen Job?« Die um einen Kopf kleinere Schwester stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Lachend wuschelte sie ihrem Neffen durch die kurzen braunen Locken. »Ich habe dein Fernrohr samt Stativ schon im Dachzimmer aufgebaut. Tante Martha hat die neuen Vorhänge aufgehängt. Es ist alles bereit für dich.«
Tim reckte lässig einen Daumen in die Luft. »Super«, freute er sich und rannte voraus.
Augenzwinkernd wandte sie sich an Jasmin. »Im Kapitänshaus warten fünf Gäste. Nächste Woche hast du die Bude voll«, verkündete sie euphorisch. »Ich habe noch mal tüchtig die Werbetrommel im Internet gerührt. Von wegen romantische Strandwanderungen an der tosenden See und kuschelige Abende vor dem Kamin in unserer Bibliothek.« Seufzend strich sie sich eine ihrer langen braunen Locken hinter das Ohr. »Ein bisschen traurig bin ich schon, dass ich die netten Herrschaften, die sich bei uns einquartiert haben, nicht weiter verwöhnen darf.«
Jasmin schluckte. Sie hatte auf eine kurze Eingewöhnungszeit ohne Gäste gehofft. Drei, vier Tage, in denen sie sich in Ruhe in die Buchführung und das Buchungssystem einarbeiten wollte. Doch jetzt musste sie sofort das volle Programm fahren. Das bedeutete, morgens um halb sechs aufzustehen, das Speisezimmer herzurichten, dafür zu sorgen, dass Tim ordentlich frühstückte und pünktlich zum Schulbus kam. Außerdem war es ihre Aufgabe, den Gästen das Frühstück zu servieren und mit Anna, dem Zimmermädchen, das Haus auf Vordermann zu bringen. Ganz zu schweigen von der anfallenden Büroarbeit.
»Wie hast du das alles nur geschafft, Lily?«, fragte sie voller Bewunderung und hakte sich bei der Schwester ein. »Du bist doch sicher froh, dass du deinen Part des Testaments erfüllt hast.«
»Am meisten freue ich mich auf das Ausschlafen«, gestand Lily. »Die Plaudereien mit den Gästen werden mir jedoch fehlen.«
Gemeinsam bummelten sie über den Friedhof und blieben vor dem Familiengrab stehen.
Tim zog einen kleinen Rechen hinter dem Grabstein hervor und harkte damit das Laub von der Grabstelle. »Ich zünde in der Kapelle noch ein Licht für die Großeltern an«, erklärte er und lief zur Parish Church, die sich nur wenige Schritte von der alten Fishermen’s Chapel entfernt befand.
Lily hockte sich vor das Grab der Eltern, um ein paar welke Blätter aus einem Gesteck zu zupfen. »Hallo, ihr Lieben. Wir sind hier, um die Schlüssel zu übergeben. So wie du es gewünscht hast, Ma«, sagte sie leise und lächelte Jasmin über die Schulter an. »Mutter hatte recht. Ich habe das halbe Jahr im Kapitänshaus gebraucht, um mir endlich darüber klar zu werden, was ich wirklich will. Und das Beste daran ist, dass Simon und ich wieder zueinandergefunden haben.« Sie setzte einen verträumten Blick auf und lachte. »Morgen bewerbe ich mich bei meiner alten Sprachenschule als Aushilfslehrerin. Die suchen jemanden für die Deutschkurse. Acht Stunden die Woche. Da bleibt mir noch genügend Zeit, um bei Simon in der Kanzlei als Dolmetscherin zu arbeiten und privaten Sprachunterricht zu geben.« Ihre Augen strahlten. Sie erhob sich, zog einen Schlüsselbund aus der Manteltasche und reichte ihn Jasmin. »Ich bin zu jeder Zeit für dich erreichbar, das weißt du. Falls du mit der Buchführung Probleme hast, kommt Simon vorbei und hilft dir. Du wirst sehen, mit Murad und Anna an deiner Seite wird dir die Arbeit mit den Gästen bald schon genauso viel Freude bereiten wie mir. Drei Monate sind schnell vorbei.«
»Ja, sicher«, murmelte Jasmin. Sie fischte den Ersatzschlüssel ihrer Wohnung aus der Tasche und drückte ihn Lily in die Hand. »Unser kleines Reich gehört die nächsten drei Monate dir.« Sie zwinkerte verschwörerisch. »Du darfst auch gern Herrenbesuch empfangen.«
Grinsend knuffte die kleine Schwester sie in die Seite. »Die meiste Zeit werden wir sowieso bei Simon sein. Aber falls es in der Kanzlei mal zu spät wird oder wir in der Mittagspause Lust auf …« Sie schlug sich lachend mit der Hand auf den Mund, denn Tim rannte geradewegs auf sie zu und musterte sie kopfschüttelnd. »Falls ich uns in der Mittagspause etwas kochen möchte«, beendete sie rasch den Satz.
Tim rollte mit den Augen. »Wieso musst du dazu extra in unsere Wohnung gehen? Simons Büro hat doch eine Küche.«
Jasmin kam der Schwester eilig zu Hilfe. »Aber bei uns haben sie eindeutig die bessere Aussicht auf den Marktplatz. Und unser Vorratsschrank ist gut gefüllt.«
»Das stimmt«, sagte er altklug. »Gestern habe ich vom Markt noch eine Tüte Äpfel und Kartoffeln geholt. Käse und Wurst sind im Kühlschrank. Nudeln und Reis im Fach über dem Herd. Unter der Spüle stehen Apfelsaft und Wein.« Die Hände auf dem Rücken verschränkt, wanderte er vor ihnen zum Ausgang des Friedhofs. »Bekomme ich jetzt endlich eine heiße Schokolade im Strandcafé?«, quengelte er, kaum dass sie die Strandpromenade erreicht hatten.
»Natürlich, mein Schatz.« Jasmin wechselte einen amüsierten Blick mit der Schwester. »Wenn du magst, auch ein Stück Torte dazu.« Ihr Sohn hatte es wieder einmal geschafft, sie aus einem Stimmungstief zu holen. All ihre Zweifel und Ängste radierte er mit seinem Optimismus aus. Was blieb, war ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, als sie an die bevorstehende einsame Nacht im elterlichen Schlafzimmer dachte. Würde sie in dem breiten Bett von den schmerzlichen Erinnerungen übermannt werden?
Einen Moment überlegte sie, Tim zu bitten, bei ihr zu schlafen. Doch dann siegte die Vernunft. Ihr Sohn freute sich auf sein Adlernest, wie er das Dachzimmer getauft hatte, und diese Freude würde sie ihm nicht nehmen. Nein, sie würde sich den Schatten der Vergangenheit allein stellen.
»Wow! Du kannst von hier aus den Sternenhimmel sehen.« Jasmin deutete auf das große Dachfenster und setzte sich neben ihren Sohn auf das Bett. Tim rückte etwas näher und kuschelte sich an sie. »Mann, bin ich k. o. Der Umzug hat mich geschafft.«
»Frag mich mal. Es ist noch nicht halb neun, und mir fallen schon die Augen zu.« Jasmin strich ihm schmunzelnd eine Locke aus der Stirn. »Du warst mir eine große Hilfe heute. Hast du alles, was du brauchst, in deinem neuen Reich?« Nichts wies mehr darauf hin, dass dieser Raum noch vor Kurzem ein Gästezimmer gewesen war. Lily und Martha hatten ganze Arbeit geleistet. Unter der Zimmerdecke schwebte eine Lampe in Form eines Heißluftballons. Der Teppich sah aus wie ein Schachfeld, und die Bettwäsche war mit Schachfiguren bedruckt. Tims heißgeliebter Schaukelstuhl, das letzte Weihnachtsgeschenk seiner Großmutter, stand unter dem Dachfenster neben dem Fernrohr des Großvaters.
Ihr Sohn gähnte herzhaft. »Der Schreibtisch ist ein bisschen mickrig, da passt nur mein Laptop drauf. Aber das eigene Bad finde ich cool.«
»Soll Simon deinen Schreibtisch aus der Wohnung holen?« Sie kraulte ihm den Nacken. »Du weißt, dass du das Büro für die Hausarbeiten nutzen kannst. Lily hat dir extra ein Regalfach für die Schulbücher freigeräumt.«
»Mmh«, brummte er und rollte sich auf die Seite. »Weiterkraulen, Ma.«
»Du kleiner Nimmersatt.« Sie lachte und ließ ihre Finger wie Ameisen über seinen Rücken laufen. Jasmin liebte dieses Abendritual. Seit Tim in einem eigenen Zimmer schlief, lag sie vor dem Einschlafen immer eine halbe Stunde neben ihm im Bett. Gemeinsam ließen sie den Tag Revue passieren. All seine großen und kleinen Sorgen teilte er ihr dann mit und hörte geduldig zu, wenn sie von ihren Problemen im Büro erzählte. Dieser Moment gehörte ihnen allein. Ihr Herz quoll über vor Mutterliebe.
Tim hatte die blauen Augen seines Vaters, seine Neigung zu Sommersprossen. Doch die Statur und die krausen braunen Haare hatte er von der Brown-Familie.
Jasmin linste zu dem Familienfoto auf dem Nachttisch. Ein Selfie, dass sie Weihnachten geschossen hatte. Ihre Mutter saß zwischen ihr und Rose auf der Couch in der Bibliothek. Lily und Tim hockten davor auf dem Teppich. Wie ähnlich sich doch alle waren. Groß gewachsen und breitschultrig mit kastanienbraunen Locken und braunen Augen. Nur Lily hatte eindeutig mehr Gene vom Vater abbekommen. Sie war knapp ein Meter sechzig und hatte das gleiche verschmitzte Lächeln wie er.
Neben ihr zuckte Tim im Schlaf. Jasmin beugte sich über ihren Sohn und küsste ihn zärtlich auf die Stirn. »Träum was Schönes, mein Schatz«, flüsterte sie und lauschte einen Moment seinem gleichmäßigen Atem. Er schlief tief und fest. Nicht einmal das zänkische Geschrei zweier Möwen vor dem Fenster schien ihn zu stören.
Vorsichtig rutschte sie aus dem Bett. Auf Zehenspitzen tapste sie zur Tür und knipste das Deckenlicht aus. Wie besprochen schloss sie von außen seine Zimmertür ab. Tim brauchte nur an dem Türknauf zu drehen, um sie von innen zu öffnen.
Im Hausflur erklangen Stimmen. »Bonne nuit, gute Nacht«, tönte es mehrfach. Die Gäste waren von ihrer Abendrunde im Hafen zurückgekehrt. Die alten Holzdielen knarrten unter ihren Schritten. Eine der Frauen kicherte. Dann fielen die Türen ins Schloss, und Ruhe kehrte ein.
Jasmin hatte das betagte Ehepaar Belot und ihre drei erwachsenen Enkelinnen am Nachmittag kennengelernt. Die sympathische Familie stammte aus Lille. Verständigungsprobleme würde es also nicht geben, denn wie fast jeder auf Jersey sprach Jasmin fließend Englisch und Französisch. Lily, die die Sprachenschule besucht hatte und lange Zeit durch Europa getrampt war, parlierte ohne Probleme auch Deutsch und Spanisch mit den Gästen. Ihre Sprachbegabung und die unbändige Reiselust waren ein Vermächtnis des Vaters. Umso mehr freute es Jasmin, dass die umtriebige Schwester jetzt ihrer Leidenschaft als Dolmetscherin und Sprachlehrerin nachging und endlich auf Jersey sesshaft würde.
Die Hände auf dem Rücken verschränkt wanderte Jasmin durch das alte Kapitänshaus. Ihr neues Reich umfasste fünfzehn Gästezimmer. Die geräumige Küche lag im Untergeschoss. Von der Bibliothek und dem angrenzenden Frühstücksraum im Parterre hatten die Gäste den besten Blick in den weitläufigen Terrassengarten und über die Bucht.
Sehnsüchtig schaute sie durch die verglaste Hintertür in den von kleinen Kugelleuchten in stimmungsvolles Licht getauchten Garten. Bilder aus der Kindheit tauchten vor ihr auf. Lily, die lärmend aus dem Haus rannte und sich zwischen den mannshohen Rhododendren versteckte. Rose mit ihrem Puppenhaus im Wintergarten. Würde Tim sich hier trotz der ständig wechselnden Gäste heimisch fühlen? Sie hoffte es sehr.
Nachdenklich stieg sie die Treppe hinauf und eilte in das einstige Schlafzimmer der Eltern. Sie schloss die dunkle Ebenholztür hinter sich, atmete tief durch und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Hier hatte sich seit Mutters Tod nichts verändert. Den Mittelpunkt des lichtdurchfluteten großen Erkerzimmers bildete das breite Boxspringbett. Auf der Biedermeierkommode lagen griffbereit ihre Haarbürsten und die Kämme. Obwohl der Samtbezug von Dads Ohrensessel an einigen Stellen abgewetzt war, hatten sie es nicht übers Herz gebracht, ihn auszutauschen. Das Schlafzimmer ihrer Eltern war immer der private Rückzugsort der Familie gewesen, das sollte auch so bleiben.
Jasmin schob den Koffer zur Seite, den sie am Nachmittag vor dem Kleiderschrank abgestellt hatte. Um den Inhalt würde sie sich später kümmern. Sie schnupperte, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Lilys Lieblingsduft, eine Mischung von Lilie und Rose, hing noch in der Luft.
Erst jetzt bemerkte sie das Geschenk auf dem Kopfkissen. Die Schwester hatte ihr als Willkommensgruß eine Schachtel Konfekt dagelassen. Auf dem Nachttisch lag der neue Roman von Nora Roberts, Jasmins Lieblingsautorin. Lily wusste genau, womit sie ihr eine Freude bereiten konnte. Gerührt bedankte sich Jasmin per WhatsApp bei ihr und kauerte sich mit dem Smartphone in der Hand in den Ohrensessel, um Rose anzurufen. Das älteste der Brown-Mädchen lebte seit sechs Jahren in London, wo sie als Investmentbankerin arbeitete. Bereits nach dem dritten Klingeln nahm die große Schwester ab.
»Na endlich, Jass. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Wie verlief dein erster Nachmittag mit den Gästen, und vor allem, wie kommt mein Liebling Tim mit dem Umzug klar?« Rose redete schnell und abgehackt, was darauf hindeutete, dass sie einen stressigen Tag in der Bank und wie üblich zu viel Kaffee gehabt hatte. Im Hintergrund klackerte jemand auf der Tastatur eines Computers. Ein Mann fluchte lautstark über die fallenden Aktienkurse.
»Bei uns ist alles okay. Tim schläft schon. Aber was ist mit dir? Sag nicht, du bist noch in der Bank?« Jasmin schlug fröstelnd die Beine unter und wickelte sich in die zerschlissene Wolldecke ihres Vaters. »Es ist gleich neun«, fügte sie vorwurfsvoll an.
»Mach bitte die Tür zu, Charly«, rief Rose und stöhnte gequält. »Was soll ich machen? Hier brennt momentan die Hütte. Die Aktienkurse spielen verrückt. Wenn wir nicht zeitnah handeln, verlieren unsere Kunden Millionen. Schuld daran ist dieser verdammte Brexit.«
Jasmin schluckte. Bisher war ihr nie bewusst gewesen, mit welch hohen Summen die Schwester jonglierte. Ihr wurde ganz flau im Magen. Nicht auszudenken, wenn Rose eine falsche Entscheidung treffen würde. »Aber du hast doch hoffentlich alles im Griff?«, fragte Jasmin vorsichtig nach.
»Moment.« Rose klapperte mit der Tastatur und fluchte leise vor sich hin. »Geschafft! Die Kuh ist vom Eis!«, freute sie sich und atmete hörbar auf. »Jetzt erzähl mal, Jass. Wie kommst du mit den Gästen klar? Lily schrieb mir gestern, dass sie trotz des nieseligen Novemberwetters drei Zimmer belegen konnte. Unsere Kleine hat sich in den letzten Monaten richtig ins Zeug gelegt für das Gästehaus. Aus der Streunerin ist eine verantwortungsvolle, taffe Frau geworden«, schwärmte sie.
»Ma wäre stolz auf ihr Nesthäkchen. Ich hoffe, ich fülle die Fußstapfen aus, die unsere Jüngste hinterlassen hat.« Jasmin kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe.
Rose lachte ihr warmes, kehliges Lachen. »Das stelle ich mir gerade bildlich vor. Lily und große Fußspuren. Die Kleine hat doch höchstens Schuhgröße siebenunddreißig. Wir dagegen …« Sie unterbrach abrupt und schluckte schwer.
»Was ist mit dir? Hast du wieder Migräne?«, fragte Jasmin besorgt. »Fahr den Computer runter, und geh endlich nach Hause. Dort lässt du dir ein warmes Lavendelbad ein, trinkst eine Tasse Melissentee und …« Sie bremste sich aus. Jetzt hörte sie sich schon an wie ihre Mutter. »Ach, übrigens: Meine ersten Gäste sind sehr sympathisch. Ein betagtes Ehepaar und ihre knapp zwanzigjährigen Enkelinnen. Die jungen Frauen haben den Großeltern zur goldenen Hochzeit eine Woche Jersey geschenkt. Gemeinsam wollen sie die Insel erkunden. Ich denke, mit den Belots komme ich gut klar. Mir graut jedoch schon vor nächster Woche«, gestand sie seufzend. »Soweit ich Lily verstanden habe, steht mir der Besuch einer exzentrischen Künstlergruppe aus Madrid ins Haus. Hoffentlich sprechen die wenigstens Englisch oder Französisch.«
»Mach dir nicht so viele Gedanken, Jass. Ma konnte auch keine Fremdsprachen. Du schaffst das schon«, versicherte Rose. »Ich muss jetzt Schluss machen. Mein Kollege will noch etwas mit mir besprechen. Bis bald«, sagte sie und beendete das Gespräch.
Jasmin starrte kopfschüttelnd auf das Display des Handys. Sie hatte das ungute Gefühl, dass die Schwester ihr etwas verheimlichte. Sie lauschte. Täuschte sie sich, oder tapste jemand durch den Flur?
Ein spitzer Schrei hallte durch das Haus. Es polterte, dann hörte Jasmin lautes Stöhnen. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie aus dem Sessel, stürzte aus dem Schlafzimmer und die Treppe hinunter.
»Merde!«, hörte sie eine Frau fluchen, und Jasmins Puls beschleunigte sich. »Lass es nicht das sein, was ich denke«, betete sie stumm und sah sich in Gedanken schon den Notarzt rufen. Sie hastete ins Erdgeschoss und in die Bibliothek, aus der aufgeregte Stimmen zu hören waren.
Die Tür zum Lesezimmer stand weit offen. Vor der Glasvitrine knieten die drei Cousinen Belot und tuschelten miteinander. Jasmin starrte ungläubig von einer zur anderen. »Kann ich helfen?«
Wie ertappt sprangen die jungen Frauen auf die Beine, bauten sich vor der Vitrine auf und schauten sie zerknirscht an. Nicole, die Älteste, stupste ihre Cousine Claudine an. »Nun sag schon, was du angerichtet hast«, zischte sie und deutete mit dem Kopf hinter sich auf den Teppich.
»O nein!« Stöhnend raufte sich Jasmin die Haare. Dort lag Mutters Lieblingsstück aus ihrer Teekannensammlung. Die zarte Tülle war abgebrochen. Ein Haarriss zog sich quer über den Bauch der Kanne. Wie durch ein Wunder waren der filigrane Deckel und der Henkel heil geblieben. »Das war eine echte Teekanne aus der Ming-Dynastie«, jammerte sie. »Mein Vater hatte sie von einer Chinareise mitgebracht. Wie konnte das passieren?« Fassungslos schaute sie auf die offenstehende Glastür der Vitrine. Sie biss sich auf die Zunge, um nicht laut zu fluchen, mahnte sich, höflich zu bleiben, schließlich handelte es sich hier um zahlende Gäste. Eine unbedachte Bemerkung, ein falsches Wort, und sie riskierte eine negative Bewertung im Internet.
Jasmin atmete tief durch. »Der Schaden lässt sich sicher beheben. Gott sei Dank hat der weiche Teppich Schlimmeres verhindert«, zwang sie sich zu sagen und lächelte gequält. »Im Stadtmuseum von St. Helier arbeitet ein Restaurator. Dort frage ich gleich morgen nach, ob er mir weiterhelfen kann.«
Die drei Cousinen standen mit hängenden Schultern vor ihr und nickten nur stumm. Jasmin räusperte sich lautstark und deutete zum Sofa. »Reichen Sie mir bitte das Plaid. Ich möchte die Teekanne und die abgebrochene Tülle darin einwickeln.«
Endlich kam wieder Leben in die drei. »Bien sure, sofort«, beeilte sich Fanny, eine zierliche Brünette, zu sagen, und drückte ihr die Wolldecke in den Arm. »Wir kommen selbstverständlich für den Schaden auf.« Mit strenger Miene wandte sie sich an ihre Cousinen. »Ich habe euch doch gleich gesagt, dass ihr die Finger von den Teekannen lassen sollt. Die stehen nicht ohne Grund in der Vitrine.«
Schuldbewusst zuckte Claudine mit den Schultern. »Ich wollte sie mir nur von der Nähe anschauen und fotografieren, um für Großmutter ein ähnliches Stück im Internet zu bestellen. Sie steht doch auf dieses chinesische Porzellan.«
»Ja, genau«, pflichtete Nicole ihr bei. »Das wäre ein perfektes Geschenk zu ihrem achtzigsten Geburtstag.«
»Warum haben Sie mich nicht gefragt? Ich hätte Ihnen die Kanne gern aus der Vitrine geholt.« In Jasmin brodelte es, doch sie schluckte tapfer den Fluch hinunter, der ihr auf der Zunge lag.
Behutsam wickelte sie die Teekanne samt Tülle in die Wolldecke und hielt die kostbare Fracht fest in den Händen. Gleich morgen früh würde sie den Glaser anrufen und ihn bitten, ein Schloss in die Vitrinentür einzubauen. Mutters Teekannensammlung war auf der ganzen Insel berühmt. Oft kamen andere Sammler vorbei, um sich die seltenen Stücke anzuschauen. Niemals in all den Jahren, in denen dieses Haus fremde Menschen beherbergte, hatte es jemand gewagt, eine Teekanne aus der Vitrine zu nehmen, weshalb Mutter es nicht für nötig gehalten hatte, ihre Sammlung einzuschließen. Jasmin drückte die Wolldecke mit dem kostbaren Inhalt an sich und straffte den Rücken.
»Wenn Sie mir versprechen, für den Schaden aufzukommen, sage ich Ihnen zu, dass dieser Vorfall unter uns bleibt.« Der Reihe nach schaute sie den zierlichen Französinnen fest in die Augen. »Und jetzt wünsche ich Ihnen eine angenehme Nachtruhe.« Sie lächelte versöhnlich. »Morgen soll es laut Wettervorhersage ein sonniger, wolkenloser Tag werden. Perfekt für einen Ausflug zum Leuchtturm.«
»Danke für Ihre Diskretion«, stammelte Nicole und reichte ihr die Hand. »Sie können sich auf uns verlassen.«
Die Cousinen schlossen sich ihr an, trauten sich jedoch nicht, etwas zu sagen. Betreten schauten sie vor sich und tapsten in den Flur.
Jasmin folgte den Französinnen aus der Bibliothek und knipste das Licht aus. »Gute Nacht«, rief sie ihnen hinterher und wartete, bis sie in ihren Zimmern verschwunden waren.
Sie war froh, dass Tim im Dachzimmer schlief, wo er kaum etwas von den Vorgängen im Haus mitbekam. Vorsichtig trug sie ihre zerbrechliche Fracht ins Schlafzimmer und verstaute die Wolldecke samt Inhalt im Kleiderschrank. Im Schein der Nachttischlampe zog sie sich aus und schlüpfte in den Schlafanzug. Der Schreck saß ihr noch in den Gliedern. Schlotternd krabbelte sie nach einer Katzenwäsche unter die Bettdecke. Scherben bringen Glück, sagte das Sprichwort. Doch sie beschlich das ungute Gefühl, dass die zerbrochene Teekanne nur der Auftakt einer Reihe von Herausforderungen war, die ihr bevorstanden.
Erbarmungslos riss der Handywecker sie punkt halb sechs aus dem Tiefschlaf. Jasmin brauchte eine Weile, um sich zu orientieren, so fest hatte sie geschlafen. Gähnend warf sie die Bettdecke zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett.
Im Dachzimmer über ihr rauschte die Klospülung. Tim war schon wach. Normalerweise musste sie ihn mindestens dreimal ermahnen, aufzustehen. Ihr kleiner Langschläfer kämpfte um jede zusätzliche Minute. Nur wenn eine Klassenarbeit anstand, saß er schon vor ihr am Frühstückstisch und steckte den Kopf ins Schulbuch. Da dies heute nicht der Fall war, wurde sie stutzig. Was hatte ihn so früh aus dem Bett getrieben?
Ihre inneren Alarmglocken schrillten. Aus Sorge, er könne sich beim Lauftraining in der feuchten Novemberluft erkältet haben, streifte sie den Pullover vom Vortag über, stieg barfuß in ihre Sneakers und eilte die Treppe hinauf. Mit bangem Herzen klopfte sie an seine Zimmertür.
»Komm rein, Ma. Die Tür ist offen«, meldete er sich gut gelaunt. Sie betrat sein »Adlernest« und rieb sich verwundert die Augen, denn Tim hüpfte mit Boxershorts, Unterhemd und Socken bekleidet auf einem Bein vor dem Bett herum und versuchte, in die dunkelblaue Stoffhose der Schuluniform zu schlüpfen. Seine Verrenkungen sahen so komisch aus, dass sie an sich hielt, um nicht zu lachen. »Warum setzt du dich nicht zum Anziehen?«
»Keine Zeit«, teilte er ihr kurz angebunden mit. »Ich muss gleich zum Bus.«
Jasmin starrte ungläubig auf den gepackten Schulranzen. »Aber doch nicht so früh. Wir haben noch nicht mal sechs. Wenn du zur ersten Stunde Unterricht hast, genügt es völlig, den Schulbus um halb acht zu nehmen.«
»Ja, schon. Aber …« Ihr Sohn hatte es endlich in die Hose geschafft und kämpfte mit den Knöpfen des weißen Schulhemdes. »Shit!« Fluchend drückte er ihr das Oberhemd in die Hand. »Ich bin bei Sarah zum Frühstück eingeladen. Das habe ich dir doch gestern erzählt.«
»So?« Sie durchforstete ihr Gedächtnis. »Sorry, das habe ich in der Hektik des Umzugs wohl vergessen.« Jasmin knöpfte routiniert die obersten drei Knöpfe des Hemdes auf und reichte es ihm. Ihr Sohn überraschte sie immer wieder. Die Freundschaft zu Sarah bestand seit der Kindergartenzeit. Bisher hatte Tim den kleinen Blondschopf aber nie zu Hause besucht. Sie verkniff sich eine Bemerkung, als er sich zum wiederholten Mal durch die Locken fuhr. »Möchtest du euch zum Frühstück ein paar Muffins mitnehmen? Die hat Murad gestern frisch gebacken.«
»Nö.« Energisch schüttelte er den Kopf. »Sarah isst doch nichts Süßes. Ich habe schon was anderes eingepackt.« Grinsend tippte er mit der Fußspitze an den Schulrucksack und deutete dann auf die Lücke in seinem Regal. Dort fehlte die größte Wellhornmuschel in seiner Sammlung.
»Ein wundervolles Mitbringsel. Sarah wird sich bestimmt über dieses Prachtexemplar von Muschel freuen«, lobte sie ihn und wechselte rasch das Thema, als sie die leichte Röte auf seinen Wangen bemerkte. Geschäftig schlug sie die Bettdecke zurück und zog das Bettlaken glatt. »Wie war deine erste Nacht im ›Adlernest‹?«
»Ganz okay«, lautete seine knappe Antwort. Tim flitzte zwischen Schreibtisch und Kleiderschrank hin und her. In Windeseile zog er seinen Schulpullover, die Boots und den Winterparka an und hängte sich den Rucksack über die Schultern. »Hab einen schönen Tag, Ma.« Er verpasste ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und stürzte aus dem Zimmer.
Nicht die Treppe runterpoltern. Die Gäste schlafen noch, wollte sie ihn ermahnen, da hörte sie, wie er bedächtig jede Stufe nahm. Für ihn schien es das Selbstverständlichste der Welt, Rücksicht zu nehmen, denn er hatte von klein auf miterlebt, wie das Leben in einem Gästehaus tickte. Jasmin folgte ihm die Treppe hinunter und eilte in das Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
Eine halbe Stunde später betrat sie die geräumige Küche. Der Duft von frischgebackenem Brot umschmeichelte ihre Nase. Schmunzelnd blieb sie neben dem Buffetschrank stehen und beobachtete Murad bei der Arbeit. Trotz seiner Spätschicht im Boat House, wo er als Tellerwäscher arbeitete, wirkte der rundliche Syrer ausgeschlafen und bester Laune. Er knetete pfeifend Brötchenteig und wiegte sich dabei im Takt einer Melodie, die aus dem alten Küchenradio von der Fensterbank erklang.
»Guten Morgen, Meister der Pfannen«, rief sie ihm zu und schlenderte zur Spüle, um den Wasserkessel zu füllen.
Sie hatte den quirligen Koch auf der Einweihungsparty in seiner neuen Wohnung besser kennengelernt. Er wohnte nur wenige Schritte entfernt über dem ehemaligen Milchladen. Zur Feier des Tages hatte er im leerstehenden Verkaufsraum Tapeziertische aufgestellt und die Gäste mit Spezialitäten aus seiner syrischen Heimat und Variationen der Jersey-Küche verwöhnt. Er war ein begnadeter Koch. Wenn seine Fähigkeiten sich erst mal herumsprachen, würde er sicher Angebote von den Restaurants bekommen. Dann bliebe die Küchenarbeit an ihr hängen, bis sie Ersatz gefunden hätten. Gil, ihre ehemalige Lehrerin, die schon zu Mutters Zeiten das Frühstück für die Gäste zubereitet hatte, war mit ihrem siebzigsten Geburtstag in den Ruhestand gegangen.
»Trinkst du eine Tasse Tee mit mir? Anna müsste auch jeden Moment auftauchen. Ich dachte, wir starten meinen ersten Arbeitstag im Kapitänshaus mit einer gemeinsamen Teepause. Die Familie Belot möchte das Frühstück erst um neun im Wintergarten einnehmen. Bleibt uns also noch etwas Zeit zum Quatschen.« Vielleicht wäre das die perfekte Möglichkeit, ihn auf seine Zukunftspläne anzusprechen.
Murad wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und strahlte sie an. »Prima Idee, Chefin. Wo hast du meinen kleinen Freund Tim gelassen?«
»Der ist schon aus dem Haus. Er frühstückt heute bei seiner Freundin«, erklärte sie augenzwinkernd. Jasmin deckte den Tisch für drei. »Wenn das Körnerbrot abgekühlt ist, hätte ich gern eine Scheibe.«
Sie hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Gleich darauf stürmte Anna, das Zimmermädchen, in die Küche, rief: »Hey, Murad«, und stürzte zur Kaffeemaschine. Jasmin tippte ihr grinsend auf die Schulter. »Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Die Neunundzwanzigjährige arbeitete seit acht Jahren im Kapitänshaus. Sie war für die Brown-Schwestern längst eine Freundin.
»Mensch, Jass. Ich habe komplett vergessen, dass du ab heute der Boss im Haus bist.« Lachend knuffte sie Jasmin in die Seite. »Der Tag wird easy. Du kannst dich auf die Belots konzentrieren. Ich kümmere mich um die Gästezimmer.« Sie schob eine Espressotasse unter den Ausguss der Maschine und drückte auf den Startknopf. »Möchtest du auch einen?«
Jasmin schüttelte den Kopf. »Nicht vor dem Frühstück, sonst bekomme ich Herzstolpern.« Mit einer einladenden Geste deutete sie auf den gedeckten Tisch. »Setz dich zu uns. Ich würde gern mit euch reden, bevor die Gäste auftauchen.«
Murad wusch sich die bemehlten Hände am Spülstein, trocknete sie an seiner Schürze ab und rutschte auf die Eckbank. »Greift zu«, sagte er und hielt den Frauen den Brotkorb hin. »Ich bin gespannt, wie es euch schmeckt.«
»Nicht für mich«, winkte Anna ab. »Ich bin noch pappsatt vom Müsli, das mein Freund für mich gemixt hat.«
»Da entgeht dir aber etwas. So ein ofenfrisches Brot bekommst du nicht alle Tage.« Jasmin bestrich eine Scheibe messerdick mit gesalzener Butter und biss herzhaft hinein. Genüsslich verdrehte sie die Augen. »Was hast du an der Rezeptur verändert, Murad? Es schmeckt phänomenal.«
Er deutete im Sitzen eine Verbeugung an. »Danke für das Kompliment. Das ist aber immer noch das Rezept deiner Mutter. Ich habe den Teig lediglich einen Tag lang gehen lassen.« Er räusperte sich und atmete tief ein. »Ist vielleicht ein bisschen früh, dich zu fragen. Aber besser heute als morgen, wie meine Lulu immer sagt.«
Jasmin schnappte nach Luft. »Bitte teil mir jetzt nicht mit, dass du bei uns aufhörst, weil dir ein renommiertes Restaurant ein Angebot gemacht hat, das du nicht ausschlagen kannst.« Der Bissen Brot lag ihr quer im Magen. Sie stöhnte leise und griff nach Annas Arm, um sich daran festzuhalten.
»Wie kommst du denn darauf?« Murad rollte mit den Augen und lachte. »Ich lasse euch nicht im Stich. Ihr seid doch wie Familie für mich.«
Vor Erleichterung bekam Jasmin Schluckauf. Sie langte über den Tisch und drückte dem kleinen Syrer dankbar die Hand. »Jetzt ist mir aber ein Stein vom Herzen gefallen. Ich sah mich schon selbst am Herd stehen.«
»Mach es doch nicht so spannend«, mischte sich Anna ein. »Ich würde auch gern erfahren, was dich umtreibt.«
Murad knetete die Hände, schaute aus dem Fenster und seufzte. »Okay. Um das Haus zu rennen, hilft nicht, wenn drin die Arbeit wartet.« Seine großen dunklen Augen strahlten. »Ich möchte aus dem alten Milchladen ein Restaurant machen.«
»Aber –«, wandte Jasmin ein. Da hob er die Hand und schaute sie bittend an, woraufhin sie nickte. »Ich höre dir zu.«
»Ich auch«, bestätigte Anna und schenkte Tee aus. »Bitte die Kurzfassung. Ich muss noch den Tisch im Wintergarten decken.«
»Heute Nacht habe ich den Laden ausgemessen. Es passen sechs Zweiertische rein. Die alte Theke kann bleiben. Dahinter ein Gasherd, die Spüle und der Kühlschrank. Show-Cooking ist doch voll angesagt.« Murad hielt es nicht länger auf der Eckbank. Er marschierte in der Küche auf und ab und gestikulierte wild. »Ein kleines, feines Speisenangebot, je nach Saison. Für zwölf Leute zu kochen, ist wie Kochen für Familie. Ist nicht anstrengend.« Abrupt blieb er vor Jasmin stehen und fuhr sich durch die schwarzen, krausen Haare. »Unsere Hausgäste könnten beim Frühstück schon reservieren. Sie beschweren sich doch immer, dass sie nur schwer einen Tisch in den Lokalen am Hafen bekommen. St. Aubin könnte noch ein Restaurant gebrauchen.«
»Das stimmt natürlich. In der Hauptsaison reichen die Plätze kaum aus, um alle Gäste im Ort zu bewirten.« Jasmin sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete und er nach den richtigen Worten suchte. »Aber wie willst du die Ausstattung des Lokals finanzieren? Und wirst du dann überhaupt noch Zeit und Kraft haben, bei uns zu arbeiten?«, gab sie zu bedenken.
Murad zupfte an seiner Schürze und lächelte sie zaghaft an. »Meine Arbeit hier ist mir wichtig, und das Geld, das ihr mir zahlt, natürlich auch. Und wenn ich nicht mehr als Tellerwäscher arbeiten muss, habe ich genug Power. Ich möchte das Restaurant nur von achtzehn bis einundzwanzig Uhr öffnen. An zwei Abenden bleibt es geschlossen. Da kann ich mich ausruhen.«
»Wo er recht hat, hat er recht«, stimmte Anna ihm zu. »Im eigenen Laden zu arbeiten, macht sicher mehr Spaß, als sich vom Küchenchef des Boat House herumkommandieren zu lassen.«
»Genau.« Murad tippte sich an die Stirn. »Ist schon alles da drin, der ganze Plan. Fehlt nur noch das Geld für die Küchengeräte. Tische und Stühle bekomme ich günstig vom Gebrauchtmöbelhändler. Geschirr auch.« Er marschierte zum Herd und strich über die verchromte Front. »So ein Profigasherd müsste es schon sein. Auch ein richtig guter Kühlschrank. Eine Spüle ist noch vorhanden. Die tut es fürs Erste.« Seufzend wandte er sich an Jasmin. »Könntest du nicht mal mit Rose reden? Die arbeitet doch bei einer Bank. Vielleicht kann sie mir einen günstigen Kredit besorgen. Oder ihr streckt mir das Geld vor, und ich zahle es euch in Raten ab.«
»Jetzt brauche ich doch einen Espresso.« Jasmin rieb sich die Schläfen. »Am besten einen doppelten.« Ihr schwirrte der Kopf von dem morgendlichen Angriff. So viele Fragen und Probleme, dabei hatte der Tag gerade erst angefangen. »Erinnere mich bitte daran, dass ich den Glaser anrufen muss«, bat sie Anna.
»Kaffee kommt sofort.« Übereifrig flitzte Murad zur Maschine und brachte ihr keine zwei Minuten später den gewünschten Muntermacher. »Rede bitte mit deinen Schwestern. Ihr müsst nichts überstürzen, ich möchte das Restaurant erst im Frühjahr aufmachen. Ist sicher viel Schreibkram beim Amt zu erledigen. Könntest du mir vielleicht helfen? Du arbeitest doch da.« Er schien nicht mehr zu bremsen zu sein, sein Entschluss längst festzustehen.
Jasmin trank vorsichtig einen Schluck Kaffee, wechselte einen Blick mit Anna. »Was denkst du?«
»Murads Idee ist klasse. Unsere Gäste wären sicher begeistert, wenn sie zum Abendessen nur über die Straße müssten.« Ihre Freundin runzelte nachdenklich die Stirn. »In den ersten Wochen, bis der Laden läuft, könnte ich dort den Service übernehmen. Umsonst natürlich. Sobald der Umsatz stimmt, kann Murad sich eine neue Kraft suchen.«
»Mit dem Kapitänshaus als Partner kann doch nichts schiefgehen.« Murad schob Jasmin einen Schokomuffin zu, legte den Kopf schräg und schaute sie so treu an wie Anthonys Terrier. »Bitte sag Ja.«
Jasmin erhob sich von der Eckbank und nickte Murad zu. »Je länger ich über deine Idee nachdenke, desto besser gefällt sie mir. Ich bin schon gespannt, was Lily und Rose dazu sagen.«
»Was wohl? Sie werden begeistert sein. Sind schließlich deine Schwestern.« Murad lachte und drehte übermütig eine Pirouette.
»Warte mit dem Freudentanz bis zur Eröffnung deines Restaurants. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg«, bremste sie ihn aus. »Wenn meine Schwestern ihr Okay geben und die Finanzierung steht, setzen wir beide uns zusammen und planen die einzelnen Schritte. Der Sprung in die Selbstständigkeit will gut durchdacht sein.« Nachdenklich rieb sie sich das Kinn. »Es wäre sicher hilfreich, Simon mit ins Boot zu holen. Er als Jurist kennt sich mit den Fallstricken von Firmengründungen aus.«
Murad rollte mit den Augen und stöhnte. »Muss das sein? Ich kann mir keinen Anwalt leisten.« Seine anfängliche Euphorie schien sich zu verabschieden. Mit hängenden Schultern stand er vor ihr und schluckte schwer. »Das habe ich mir alles leichter vorgestellt. War vielleicht doch keine gute Idee, das mit dem eigenen Restaurant.«
»Jetzt gib doch nicht gleich bei den ersten Hürden auf. Du wirst für Simons fachlichen Rat sicher nichts bezahlen müssen, jetzt, wo er quasi zur Familie gehört«, versuchte sie, ihn aufzubauen.
Anna tippte ihr auf die Schulter. »Könnt ihr das nicht später bequatschen? Und außerdem wolltest du nicht den Glaser anrufen?«
»Danke, dass du mich daran erinnerst. Das steht ganz oben auf meiner To-do-Liste.« Jasmin lächelte Murad, der unschlüssig am Herd stand, aufmunternd an. »Kopf hoch. Mich hast du schon überzeugt. Jetzt muss es mir nur noch gelingen, Lily und Rose für dein Restaurant zu begeistern.« Nachdenklich folgte sie Anna aus der Küche. »Ich möchte dir etwas zeigen.« Jasmin schob die Freundin in die Bibliothek und schloss die Tür hinter sich. »Fällt dir etwas auf?« Sie deutete auf die Lücke in der Vitrine.
Anna runzelte die Stirn und sog scharf die Luft ein. »Da fehlt die chinesische Teekanne. Haben wir etwa einen Dieb im Haus?«
»Ganz so schlimm ist es nicht«, winkte Jasmin ab. »Die Kanne liegt sicher in meinem Kleiderschrank.« Mit gedämpfter Stimme erzählte sie von dem gestrigen Abend. »Wie begossene Pudel standen die drei jungen Frauen vor mir. Die älteste hat mir versichert, dass sie für den Schaden aufkommen werden. Im Gegenzug habe ich versprochen, ihren Großeltern nichts zu sagen.« Nachdenklich schob Jasmin die Glastür der Vitrine zur Seite. »Ich hoffe, der Glaser kann uns zeitnah ein Schloss einbauen. Nicht, dass so etwas noch einmal passiert.«
Ihre Freundin ging in die Hocke und inspizierte die Schiene, in der die Glastüren liefen. »Wie willst du die Teekannen sichern, falls der Glaser das Schloss nicht vor Ort einbauen kann und die Türen mitnimmt?«
»Darüber mache ich mir Gedanken, wenn ich mit ihm geredet habe. Für solche Fälle wird der Fachmann sicher eine Lösung haben.« Entschlossen nahm Jasmin das Smartphone zur Hand und wählte die Nummer der Glaserei in St. Helier. Nach dem fünften Klingeln sprang der Anrufbeantworter an. Mit wenigen Worten schilderte sie ihr Problem und bat um einen schnellen Rückruf. »Hoffen wir mal, dass der sich heute noch meldet.« Sie nahm sich vor, spätestens zu Mittag nachzuhaken, und begleitete Anna durch die Hintertür in den Garten.
Ein frischer Nordostwind trieb die letzten Wolken vor sich her auf die offene See. Im Hafenbecken schaukelten die Boote sanft in den Wellen. Für Mitte November war es angenehm mild. Sie klopfte an das alte Barometer an der Hauswand und lächelte zufrieden. »Das wird ein schöner Tag heute. Wir können die Belots getrost zum Leuchtturm schicken.«
»Bist du dir sicher, dass die zarten Frauen dort nicht vom Wind verweht werden?«, witzelte Anna. Mit großen Schritten marschierte sie über den Rasen und winkte Jasmin, ihr in den Wintergarten zu folgen. Gemeinsam stellten sie zwei Bistrotische zusammen und breiteten eine weiße Damastdecke darüber aus.
»Guten Morgen, meine Damen«, tönte hinter ihnen die raue Stimme von Madame Belot. Fast gleichzeitig wirbelten sie herum.
»Bonjour, Madame.« Jasmin verschlug es beim Anblick der betagten Frau fast die Sprache. Sie trug einen rosa Hausanzug und hatte ihre silbergrauen Haare auf dicke Wickler gerollt. Ihr Gesicht glänzte fettig. Anscheinend hatte sie noch keine Zeit gefunden, die Nachtcreme zu entfernen. Sie rieb die Hände aneinander und schüttelte sich. »Ist ganz schön frisch heute Morgen. Wenn es nicht allzu viele Umstände macht, möchten wir deshalb doch lieber im Speiseraum frühstücken.« Sie tapste in ihren rosa Pantoffeln zu Jasmin und zupfte sie am Ärmel der Bluse. »Dürfte ich Sie unter vier Augen sprechen?«
»Ich habe keine Geheimnisse vor Anna«, wandte sie ein.
Doch die Freundin schob sie sanft Richtung Tür. »Ist schon okay. Nimm Madame mit ins Büro. Ich decke in der Zeit im Frühstücksraum ein.«