Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Stockholm gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Signe und die etwas jüngere Alice haben ein schwesterliches Verhältnis zueinander. Sie wuchsen beide unter ärmlichen Verhältnissen in einem Kinderheim auf und sind seitdem unzertrennliche Freundinnen. Als Signe eine Stelle als Magd außerhalb der Stadt bekommt, muss sie das Kinderheim verlassen. Ihr Schmerz über die Trennung ist groß, doch in diesen schweren Zeiten, muss man jede Chance, die einen weiterbringen könnte, ergreifen. Die Bedingungen auf dem Bauernhof sind hart und Signe arbeitet bis zur Erschöpfung. Und so kommt es, dass die beiden Freundinnen sich aus den Augen verlieren, der Kontakt bricht ab und Signe glaubt Alice schon tot. Doch Alice lebt. Tragische Umstände führen die beiden jungen Frauen wieder zusammen. Gezeichnet vom Leben und im stetigen Kampf ums Überleben versuchen beide erneut ihr Glück. Doch das Schicksal spielt ihnen weiter erbarmungslos entgegen. DAS APFELSINENMÄDCHEN ist ein kraftvoller und ergreifender Roman über zwei Frauenschicksale im ausgehenden 19. Jahrhundert. Ohne Beschönigung und mit viel Realismus beschreibt Kallenberg die Verhältnisse junger Frauen im Armenviertel Stockholms und liefert zugleich ein bewegendes und ergreifendes Zeit- und Sittenbild Schwedens im Umbruch zur Moderne. Eine empfehlenswerte Lektüre!"Lena Kallenberg entwirft ein Sittenbild in kräftigen Farben und mit oft drastischen Details: da sind etwa die Flohstiche und Läusebisse, unter denen Signe leidet; das immer gleiche Essen beim Bauern – Hering und Kartoffeln –, Signes selbstverständliche Königstreue, der lungenkranke, vernachlässigte Nachbarsjunge oder die Abtreibung auf dem Abort mit Phosphorstäbchen." Süddeutsche Zeitung-
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2016
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Lena Kallenberg
Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch
Das Apfelsinenmädchen
Schwedisch Angelika Kutsch
Apelsinflickan: en berättelse från åren 1882-1883 © 1997 Lena Kallenberg
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711493724
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Eine Erzählung aus den Jahren 1882-1883
Für die Armen, die keinen Anwalt haben
Alices Finger streicheln Signes Haare, drehen die hellen Ringel zu einem luftigen Wulst oben auf dem Kopf. Ziehen die dünnen Haare über den Ohren zu sich kringelnden Locken. Sie berührt Signe mit dem Kinn an der Schulter. Ihre Augen begegnen sich im bauchigen Spiegelglas.
„Du bist jetzt erwachsen und das ist die neueste Mode“, sagt Alice energisch. Ihr herzförmiges und Signes schmales Gesicht scheinen ineinander zu gleiten. Werden zu einem Spiegelbild. Täuscht der Schleier von Tränen das Auge?
Signes hohe Wangenknochen und die gerade Nase treten durch die neue Frisur deutlicher hervor, lassen sie sichtbar werden. Sie rutscht auf dem Stuhl hin und her.
„Das ist doch unpassend für eine Magd“, flüstert sie.
Alices Finger greifen fester zu, reißen an den Haarsträhnen und flechten sie mit ruckartigen Bewegungen zu einem strammen Zopf auf dem Rücken.
Die Hand wird kalt von der Eisenklinke, als Signe die Holztür hinter sich schließt. Sie bindet die Zipfel des weißen Kopftuchs unterm Kinn zusammen und richtet den langen Zopf.
Nur nicht anfangen zu weinen wie ein kleines Kind, das hat sie sich geschworen. Aber in ihrem Zwerchfell wütet Traurigkeit nach dem Abschied von Alice.
Alice hat ihre Hand steif in die ihre genommen.
„Dann also adé, Magd“, hat sie gesagt, sich auf den Fersen umgedreht und den Kopf verächtlich in den Nacken geworfen.
Alice und sie, die so unzertrennlich gewesen sind.
Sie sind zur selben Zeit in das Kinderheim der Bibelfrauen gekommen. Haben Brotkanten geteilt, Zucker gestohlen, vor den Schenken am „Säuferhügel“ gebettelt. Im selben Bett geschlafen. In den letzten Jahren haben sie sich allerdings für unterschiedliche Dinge interessiert. Alice stand gern vorm Spiegel und probierte neue Frisuren aus. Machte sich über Signe lustig, die dasaß und Schönschreiben mit dem Federhalter übte. Aber Freundinnen waren sie immer gewesen. Doch als sie sich eben in dem niedrigen Holzhaus verabschiedeten, hat Alice nicht einmal traurig ausgesehen, obwohl sie nicht wissen, wann sie sich wiedersehen werden.
Signe steht im Schnee. Sie zieht sich das Umschlagtuch über das Kopftuch und schaut zu den windschiefen Hütten und Schuppen von Vitabergen hinauf, die sich auf den Felsen drängen, dort, wo sich Schneematsch mit Spülwasser mischt. Kinder laufen barfuß durch den Schmutz und Frauen schleppen Wassereimer vom Neuen Marktplatz herauf. Einen Brunnen gibt es nicht in den Vitabergen, obwohl hier so viele Leute wohnen. Arme Leute, denkt Signe.
Die Märzluft ist rau und duftet nach Erde, Schneeflocken taumeln vom Himmel. Ein Schneestern legt sich auf Signes Fäustling. Sein Muster zeichnet sich einen Augenblick gegen die graue Wolle ab, ehe er sich in einen dunklen Fleck verwandelt.
Tränen sickern bis zu ihren Mundwinkeln. Sie schmecken salzig und Signe wischt sich rasch über die Wange. Die Haut brennt von der derben Wolle.
Das halbe Leben ist vergangen, seit Vater mich bei den Bibelfrauen in den Vitabergen abgegeben hat, denkt sie.
Damals war sie acht Jahre alt, als eine magere Bibelfrau sie in der Garderobe des Kinderheims einzufangen, sie festzuhalten versuchte.
„Kleine Kratzbürste“, wurde sie genannt. Gespuckt und gekratzt hat sie wie eine Katze. Sich an Vaters Bein festgeklammert. Aber Vater hat sich gelöst und ist hinausgelaufen ohne sich umzusehen.
Sie hat die Frau in den Arm gebissen. Ist hin und her gelaufen in dem Raum und hat mit ihren schmutzigen Fäusten gegen die Wände gehämmert. Erst gegen Abend hat sie sich beruhigt. Sie erinnert sich, dass Fräulein Åberg sie auf den Schoß genommen und sie mit Brei gefüttert hat wie ein kleines Kind.
Signe schüttelt sich den Schnee ab. Sie – Signe Gustavsdotter – ist jetzt erwachsen und auf dem Weg zu ihrer ersten Stellung als Magd, um eigenes Geld zu verdienen. Niemand soll ihr mehr „Waisenhausbalg“ nachrufen. Niemals mehr.
Sie zieht das Tuch enger um sich. Wühlt in ihrem Bündel. Unter dem Leibchen und den Wollstrümpfen berührt sie die glatte Seide mit den Fingern. Die rosa Seidenschleife, die Vater ihr zur Konfirmation im letzten Jahr geschickt hat. Wenn sie genügend Geld gespart hat, will sie nach ihm suchen. Sie will, dass er stolz auf sie ist.
„Sieh, Vater, was ich ehrlich verdient habe“, wird sie sagen.
Von der Hammarbybucht weht ein scharfer Wind. Signe zittert. Hält nach einem Schlitten unten am Winterzoll Ausschau. Der Bauer hat sich verspätet. Meint wohl, sie könne warten. Sie wird eine rote Nase haben und jämmerlich aussehen. Die neuen schwarzen Stiefel sind zu groß und wirken bestimmt plump an ihrem mageren Körper. Aber um so etwas darf man sich nicht kümmern. Man muss dankbar sein, dass man überhaupt Kleider am Körper hat. Den grauen Rock hat sie mit schwarzen Bändern oberhalb der Säume aufzuputzen versucht.
An der Ecke einer Gasse stehen ein paar alte Frauen und reden. Die eine zeigt mit dem Finger auf sie und gluckst laut. Signe beißt die Zähne zusammen. Sie ist es gewöhnt, begafft zu werden.
Sonntags, wenn die Kinder aus dem Heim in einer Reihe hintereinander zur Katharinakirche gingen, sind die Leute stehen geblieben und haben neugierig geguckt. Die Kinder haben zu Boden geschaut und sich geschämt, unehelich oder verlassen zu sein. Außer Alice. Sie hat allen frech ins Gesicht gestarrt.
„Brrrr!“, mahnt eine Männerstimme.
Ein kräftiges Zugtier schüttelt den Kopf, dass die helle Mähne flattert.
Signe hat das Pferd nicht gehört. War ganz und gar versunken in ihren Gedanken wie gewöhnlich, und der Schnee hat die Hufschläge gedämpft.
Das Pferd schnaubt, hebt den Schwanz und lässt Pferdeäpfel in den weißen Schnee plumpsen. Der Kutscher strafft die Zügel.
„Komm her, du bist wohl die Magd, die ich gedungen habe?“, ruft er.
Signe läuft auf das Fuhrwerk zu, hofft, dass die alten Weiber es sehen.
Ein Lächeln breitet sich unter dem dicken Schnurrbart des Mannes aus.
„Einar Karlsson aus Fredriksberg.“
Er reicht ihr die Hand und zieht sie neben sich auf den Schlitten. Das Gesicht ist viereckig und seine hellblauen Augen schauen einen Augenblick geradewegs durch sie hindurch.
„Willkommen.“
Er schnalzt und das Pferd zieht an.
„Ist das dein ganzes Gepäck?“
Signe nickt schüchtern.
„Jaha, dann geht es jetzt nach Värmdö!“
Das Pferd trottet mit dem Schlitten davon und kehrt um zum Winterzoll. Signe muss den Kopf drehen und zum hohen Holzzaun des Kinderheims zurückschauen. Vielleicht zum letzten Mal.
Dahinter ist Alice zurückgeblieben. Die kampfeslustige, waghalsige Alice. Und Fräulein Åberg, die Lieblingslehrerin aller Mädchen. Sie, die Signe einmal auf den Schoß genommen hat.
„Es war nicht meine Absicht, dass du so lange warten solltest. Bestimmt bist ganz durchgefroren. Aber Grålle hat es langsam angehen lassen, wahrscheinlich hatte er Angst, auf dem Eis auszurutschen. Kälte macht mir sonst nichts, aber heute muss ich wohl einen Kaffee mit Schuss trinken, wenn wir nach Hause kommen. Ja, du kriegst natürlich Kaffee ohne Schuss.“
Einar Karlssons blaue Augen gleiten über sie hin. Die Anspannung lässt nach. Sie versucht zurückzulächeln. Der Bauer wirkt nett und fröhlich. Sie hat Glück gehabt, jetzt muss sie versuchen, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Sich nicht in Träumereien verlieren. Aber ihr fällt nichts ein, was sie sagen könnte, da öffnet der Bauer schon wieder den Mund.
„Das Handgeld muss ja beim Bauern abgeliefert werden, aber das nehmen wir nicht so ernst. Du bist doch froh, aufs Land zu kommen und dir ein bisschen Fett anzufuttern, was? Bist du schon sechzehn?“
Signe schüttelt den Kopf. „Das werde ich in diesem Jahr.“
Endlich sagt sie etwas.
„Aha, dann habe ich also noch das Züchtigungsrecht.“
Signe schaudert, guckt zu ihm. Aber er sieht ihren besorgten Blick und lacht auf.
„Ich hab nur Spaß gemacht, nur ein bisschen Spaß, Signe. Wir beide werden schon miteinander auskommen. Du bist ja wohl vom Kinderheim daran gewöhnt zu gehorchen?“
„Ja.“
„Und weißt, was die Gesindeordnung über die Magd sagt“, fährt er fort. „Sie soll fleißig, nüchtern, sittsam sein und sich nicht den Aufgaben entziehen, die der Hausherr ihr aufträgt. Ja, gottesfürchtig auch, aber mit der Gottesfürchtigkeit nehmen wir es nicht so genau in Fredriksberg. Davon hast du vielleicht ein gehöriges Teil bei den Bibelfrauen bekommen?“
Signe weiß nicht, was sie antworten soll. Nickt nur. Sie glaubt wohl daran, dass es Gott gibt, aber die ewigen Gebete und Danksagungen wird sie nicht vermissen. Es stört sie also nicht, dass der Bauer nicht besonders religiös ist. Jedes Mal, wenn jemand dem Kinderheim etwas spendete, und seien es nur fünf Öre gewesen, dann mussten sie beten und Gott für seine Gnade danken. Die meisten, die etwas spenden, haben vermutlich ein gutes Auskommen, hatte Signe manchmal gedacht. Und sich im selben Augenblick gefürchtet. Vielleicht konnte Gott geradewegs in sie hineinschauen. Sah alle Gedanken und würde sie bestrafen.
„Ich weiß, dass es dir gefallen wird“, sagt der Bauer lächelnd und treibt das Pferd an. „Ich brauche also kaum hinzuzufügen, dass ich und die Polizei dich holen können, wenn du vor dem Ziehtag im Oktober davonläufst. Du wirst auf Fredriksberg bleiben, wie die Tochter im Haus sein. Eine arbeitende Tochter natürlich. Die Frau ist kränklich, weißt du. Deshalb musst du auch Kindermädchen sein. Aber dagegen hast du wohl nichts.“ Er lächelt sie an.
Das versetzt ihr einen Stich in den Bauch. Wie die Tochter im Haus sein, hat er gesagt. Laut antwortet sie:
„Nein, Herr, ich mag Kinder.“
„Wenn du tüchtig bist, stehst du in einem Jahr an meinem Tisch und ich bezahle dir die einhundert Kronen.“
Einhundert Kronen! Signe schnappt nach Luft. So viel Geld hat sie ihr ganzes Leben noch nicht besessen. Natürlich kann sie zupacken. Der Bauer soll es nicht bereuen. Im Kinderheim haben sich die Mädchen bei allen Hausarbeiten abgewechselt. Sie hat Brot backen gelernt und einfache Mahlzeiten zuzubereiten. Waschen und mangeln. Die Vorsteherin hat mit ihrer schönen Handschrift ins Zeugnis geschrieben, dass „Signe Gustavsdotter gute Voraussetzungen hat, eine ordentliche Magd zu werden“.
Sie haben den Winterzoll erreicht. Die ausgefahrenen Schlittenspuren führen hinaus aufs Eis. Einige Besen kennzeichnen Löcher. Obwohl es Sonntag ist, knien zwei Wäscherinnen auf dem Steg und spülen Laken im Eisbrei. Der Himmel über Värmdöland bezieht sich immer mehr.
„Ja, ja, es gibt noch mehr Leute, die nicht gottesfürchtig sind und am Ruhetag waschen“, sagt der Bauer schmunzelnd.
Aber er sieht nicht böse aus.
Signe ist noch nie in einem Schlitten übers Eis gefahren. Sie ist davon in Anspruch genommen, die Ufer zu betrachten und nach Morsholm hinüberzuschauen. Dorthin, haben sie vom Kinderheim einmal einen Sommerausflug im Ruderboot unternommen. Der Bauer nickt hin und wieder ein. Verlässt sich darauf, dass Grålle den Weg findet. Und Grålle trottet voran, er kennt den Winterweg der Bauern von Värmdö.
Signe dreht den Kopf. Hinter dem Fåfänganhügel verbirgt sich der Hafen von Tegelvik. Dorthin hat sie Vater einmal begleitet, als er Arbeit suchte. Zwar durfte er einen Salzkahn entladen, aber ein paar Tage nur. Vater. Entfernt sie sich jetzt für alle Ewigkeit von ihm? Er hat sie nie im Kinderheim besucht, aber sie glaubt, dass er noch in der Stadt ist. Und Mutter, wenn sie ein Engel ist, kann sie Signe dann jetzt sehen? Signe erinnert sich nicht an sie. Doch, vielleicht an einen süßlichen Duft. Die Schwindsucht hat sie geholt, als Signe ungefähr ein Jahr alt war. Sie trägt den Namen ihrer Mutter und glaubt, dass sie ihr auch ähnlich sieht.
Signe denkt an die rote Seidenschleife. Die Vorsteherin, Fräulein Märta Qvennerstedt, hat sie ihr gezeigt und dabei den Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
„Das ist wahrhaftig echte Seide. Dafür also hat dein Vater Geld.“
Signe hat die Schleife nicht einmal berühren dürfen. Fräulein Qvennerstedt hat sie an sich genommen und weggelegt. Gesagt, das sei kein passendes Geschenk zur Konfirmation.
In der Nacht hat Signe sich in den Schlaf geweint und Alice mit ihrem Schluchzen geweckt. Alice hat ihren roten Lockenkopf geschüttelt und verächtlich geschnaubt.
„Heul doch nicht, nur weil die Qvennerstedtsche gemein ist! Sie ist eine alte Elster, das weiß doch jeder. Und von alten Elstern muss man sich den Silberlöffel einfach wieder holen.“
Ohne Zögern war Alice mitten in der Nacht in das Zimmer der Qvennerstedt geschlichen, hatte die Kommodenschubladen durchwühlt und die Seidenschleife gefunden. Signe hatte starr in ihrem Bett gelegen, sich in die Fingerknöchel gebissen und gehofft, dass Gott nichts sah.
„Jetzt versteck sie aber ordentlich, du Zimperliese“, hatte Alice gesagt, als sie die Schleife zurückbrachte und in das gemeinsame Bett kroch.
Es war das letzte Mal, dass sie einander richtig nah waren, Alice und sie.
„Danke, allerliebste Alice“, flüsterte Signe und streichelte ihr über die Wange. Alice hatte sich ihr zugewandt und Signe fand, dass sie für einen Augenblick kindlich und unsicher aussah. In einem der energischen Mundwinkel zuckte es. Die selbstbewusste Alice, die ein Jahr älter war.
Signe hatte sich nicht getraut, sich an der breiten Seidenschleife zu erfreuen. Hatte sie in einer Blechschachtel versteckt, die sie hinterm Abtritt vergrub. Jetzt lag sie zuunterst im Bündel, eingewickelt in den Unterrock. Dies eine Mal hatte Vater an sie gedacht. Wusste sogar von ihrer Konfirmation. Aber wie sollte er erfahren, dass sie bei Bauer Einar Karlsson auf Fredriksberg als Magd gedungen war? Auf Fräulein Qvennerstedt konnte man sich nicht verlassen. Vielleicht wollte sie gar nicht erzählen, wo Signe war. Wenn Vater es wirklich wissen wollte?
„Ich habe deiner Mutter auf dem Totenbett versprochen für dich zu sorgen, aber ich weiß mir keinen Rat mehr“, hatte er gesagt, als sie acht war, und auf das Zeugnis des Pfarrers mit dem roten Stempel der Armenpflege gepocht.
„Dieser verdammte Armenstempel!“, hatte er geschrien.
Vater mit seinen langen Armen, die Jackenärmel waren immer zu kurz, die großen Hände baumelten herunter. Vater, ein großer, kräftiger Arbeiter, wirkte hilflos. Er hatte getrunken, aber richtig betrunken war er nicht. Signe, die auf dem Küchenfußboden zu Hause in der Bergsprängargasse gesessen und mit ein paar Holzscheiten gespielt hatte, guckte zu ihm auf.
„Ich geh jetzt los und such mir eine Arbeit“, hatte er gebrummt, redete wie mit sich selbst: „Vielleicht muss ich weit weggehen, das Mädchen kann sich nicht auf den Straßen herumtreiben. Für dich ist es am besten, wenn du zu den Bibelfrauen kommst. Deine Mutter war religiös. Und du sollst mir kein Apfelsinenmädchen werden.“
Das waren seine letzten Worte an sie. Die Worte, an die sie sich erinnert. Damals hat sie nicht verstanden, was er meinte. Aber jetzt weiß sie es. „Apfelsinenmädchen“ ist eine andere Bezeichnung für „so eine“. Sie schaudert. Die Mädchen halten sich oft an der Stora Glasbruksgatan auf. Tragen breitrandige Hüte mit Krimskrams drauf und lachen den Männern frech ins Gesicht. Sind häufig betrunken. Nein, so eine will sie nie werden. Was für eine Schande, seinen Körper für einige Kronen oder ein paar Schnäpse zu verkaufen.
„Jetzt sind wir auf Värmdölandet“, sagt der Bauer gähnend und wird wieder munter.
Signe lässt ihre Blicke über die schneebedeckten Felder und Waldränder gleiten. Auf einem Hügel thront ein prächtiges gelbes Haus mit einer großen Glasveranda, umgeben von Pferdekoppeln und Äckern. Die Sonne ist hervorgekommen und lässt das gelb gestrichene Haus in ihrem Licht glänzen.
„Oh, was für ein schöner Hof“, ruft sie aus.
„Das ist Tuna. Auf ganz Värmdö gibt es keinen prächtigeren Hof. Von seinem Besitzer hab ich Fredriksberg gepachtet. Vor ihm müssen sich neue Mägde in Acht nehmen. Du verstehst doch, was ich meine?“
Macht der Bauer wieder Scherze mit ihr? Unsicher sieht sie ihn von der Seite an. Seine hellblauen Augen haben einen strengen Ausdruck angenommen.
„Der Gutsbesitzer von Tuna hält es mit den alten Sitten, wenn neue Frauen kommen. Ist schon in den Jahren, aber immer noch ein strammer Kerl.“
Signe starrt ihn an. Hat sie den Bauern richtig verstanden?
„Wenn nötig, nimmt er sie mit Gewalt“, fährt der fort. Sieht ihre Angst und fügt hinzu: „Nu, nu, mach dir keine Sorgen. Du wohnst ja nicht unterm selben Dach mit ihm, sondern eine Viertelmeile entfernt. Und ich verspreche dir, ich werde auf dich aufpassen.“
Der Weg macht eine starke Biegung und sie wirft einen letzten Blick auf das gelbe Haus. Eine Sonnenspiegelung in den großen Fenstern blendet sie, dann schließt sie der Wald ein. In der Dämmerung sieht sie den mächtigen Gutsbesitzer von Tuna vor sich. Er reitet einen dunklen wilden Hengst und vor ihm her läuft eine Gruppe fliehender Frauen. Sie selbst ist eine von ihnen. Die Frauen versuchen schneller zu laufen, aber ihre langen Röcke wickeln sich um ihre Beine und der Gutsbesitzer holt sie bald ein. Er schwingt sich vom Pferd und knallt mit der Peitsche gegen seine schwarzen Lederstiefel. Die Frauen stehen still, wagen sich nicht vom Fleck zu rühren. Der Gutsbesitzer nähert sich ihnen mit einem unheimlichen Lächeln. Leckt sich gierig die Lippen und wirft seinen Zylinder weg. Die Frauen schreien schrill und Signe schreit am lautesten von allen.
Der Schlitten schlingert. Signe atmet auf, sie darf ihrer Fantasie keinen freien Lauf lassen. Der Bauer hat versprochen auf sie aufzupassen. Mit breitem Rücken sitzt er neben ihr auf dem Kutschbock. Zeigt auf einen kleinen eisbedeckten See mit Schilfröhricht.
„Hier kannst du im Sommer baden, wenn du ordentlich sauber sein willst. Denn sauber soll ein junges Mädchen sein.“
„Ja, ich bade sehr gern“, antwortet sie rasch.
Sauber sein, das hat sie im Kinderheim gelernt. Ist mit Bürste und grüner Seife im Bottich geschrubbt worden, bis die Haut brannte.
Arm, aber sauber. Und: „Die Haut muss brennen, das vertreibt das Ungeziefer“, pflegte Fräulein Qvennerstedt zu sagen.
Und was Ungeziefer ist, Kopfläuse und Wanzen, das weiß Signe. Sie war voller roter Flecken, als man sie das erste Mal in den Waschzuber steckte. Aber damals kannte sie nichts anderes, so sahen die meisten Kinder von Vitabergen aus.
Der Bauer biegt in einen kleineren Weg ab. Sie nähern sich einem ungestrichenen Holzhaus. Ein struppiger Hund hat ihre Witterung aufgenommen, er bellt ungestüm und reißt an der Leine. Der Bauer brüllt ihn an und der Hund krümmt sich winselnd.
„Du brauchst keine Angst vor Ludde zu haben“, sagt er.
Sie hofft, dass Ludde immer angebunden ist und niemals ins Haus kommt. Findet, er sieht einem Wolf ähnlich. Aber sie wird sich verhalten, wie der Bauer es ihr empfohlen hat. Niemals Angst vorm Hund zeigen. Sie überqueren einen ausgetretenen Pfad, der in den Wald führt, und fahren auf den Hof, der von Wacholder- und Birkenhainen umgeben ist.
Die Haustür wird von einer alten Frau mit Kopftuch und einer riesigen Schürze geöffnet. Sie schlägt die Hände zusammen und kommt auf die Vortreppe gehumpelt.
„Oh, oh, oh“, jammert sie.
Signe spürt, wie ihr das Blut in die steif gefrorenen Wangen steigt. Weswegen jammert die Alte? Taugt sie, Signe, nicht? Ist die Alte etwa die Hausfrau?
Signe bleibt wie festgewachsen sitzen und wirft dem Bauern, der Grålle von den Schlittendeichseln losbindet, einen erschrockenen Blick zu. Er lacht so sehr, dass man die Schuppen vom Kautabak zwischen seinen Zähnen sieht.
„Kümmre dich nicht um die alte Kata. Sie ist nicht an Fremde gewöhnt.“ Rasch packt er sie um die Taille und hebt sie vom Schlitten. Seine Hände sind klebrig. Zwei kleine Mädchen spähen hinter der jammernden Kata hervor. Das Kleinste kann sich nicht beherrschen und stürmt in Strümpfen auf den Bauern zu.
„Vaters kleiner Wildfang!“, sagt er lachend und schwenkt sie durch die Luft. „Das ist Signe, die schöne Signe.“
Die „schöne Signe“ hat sie noch nie jemand genannt. Sie versucht zu lächeln, aber ihre Mundwinkel widerstreben und das Lächeln wird zu einer Grimasse. Die Kleine tippt gegen die Westentasche des Bauern. Signe versetzt es einen Stich, als sie das Kind so selbstverständlich auf dem Arm des Vatrs sieht. Sie – Signe – ist jetzt erwachsen. Hier, beim Kleinbauern Einar Karlsson, wird sie wohnen und arbeiten. Unterm selben Dach schlafen mit Menschen, die sie noch nie gesehen hat. Niemand weiß etwas über sie. Sie ist das Mädchen aus dem Kinderheim, das hier als Magd dienen soll.
Wie wird es auf Fredriksberg? Bei Fräulein Qvennerstedt hatte das Leben seinen gewohnten Ablauf. Dort hatte jeder seine Aufgabe. Alles spielte sich nach dem Datum ab, an dem sie ins Heim gekommen waren. Sie saßen nach der Datumordnung am Esstisch, sie stellten sich nach der Datumordnung in Reihen auf. Sein Datum konnte man nie vergessen. Nie konnte man vergessen, dass man ein Kinderheim-Kind war. Manchmal hatte sie sich eingesperrt gefühlt. Aber das Heim bedeutete Geborgenheit und die Sicherheit, Kleidung und Essen zu bekommen. Eine Lehrerin hatte sie im Katechismus, in Rechnèn, Schreiben und Nähen unterrichtet.
Jetzt beginnt ein neues Leben, und die Sehnsucht nach der gewohnten Geborgenheit brennt in ihrer Magengrube.
Signe drückt das Bündel an ihren Körper. Spürt die Hand des Bauern in ihrem Rücken. Wie eine Schlafwandlerin bewegt sie sich auf ihr neues Zuhause zu.
Schon am ersten Abend hat Signe ein Stück Speck von ihrem Abendbrot versteckt. Sie schleicht sich hinaus in den hellen Märzabend. Der Wind raschelt in Espen und Birken. Ludde knurrt, als er ihre Schritte hört, doch der Duft nach dem Speck bringt ihn zum Schweigen. Er ist an seiner Hütte festgebunden. Wittert mit gespitzten Ohren in der Luft.
Signe hat noch nie einen Hund gekannt. Die Bibelfrauen hielten sich nur ein Küchenschwein. Mit dem konnte man sich einfach nicht anfreunden, wie viele Kartoffelschalen und Reste es auch bekam. Es grunzte bösartig und konnte beißen. Signe hat begriffen, dass es am besten ist, sich von Anfang an gut mit Ludde zu stellen. Sonst wird sie immer Angst haben, wenn sie an ihm vorbei muss.
Sie hält das Stück Speck gut sichtbar in der Hand. Versucht sanft zu sprechen:
„Luuudde!“
Er frisst ihr aus der Hand. Leckt ihr die Fettreste von den Fingern. Schnuppert an ihren Kleidern. Dann darf sie ihn im Nacken kraulen. Und als sie sich aufrichtet, winselt er ein bisschen.
„Gute Nacht, Ludde, kleiner Ludde“, flüstert sie.
Bückt sich und bohrt ihre Nase in sein dichtes Fell. Sie spürt, dass sie ihren ersten Freund auf Fredriksberg gefunden hat.
Das ältere Mädchen, Kristina, stiehlt Zucker aus dem Zuckerschrank und leugnet es hinterher ab. Das macht sie, damit Signe die Schuld bekommt. Die Hausfrau hat keine Kraft, sich um die Kinder zu kümmern. Ihr Magen bereitet ihr Schmerzen. Sie liegt mager und blass in der Kammer und bekommt kaum Essen hinunter. Aber Kaffee kann sie trinken. Süßen Kaffee. Signe schlägt gerade Stücke vom Zuckerhut, der durch Kristina immer weniger wird, als die Hausfrau nach einem Schluck Kaffee ruft.
„Na, hat sich die Zuckermagd mal wieder selbst bedient?“, gluckst die alte Kata.
Signe schüttelt den Kopf. Die Hausfrau seufzt, ist zu schwach, um zu schimpfen. Kristina ist wie vom Erdboden verschluckt. Signe hat sie mehrere Male mit großen Zuckerstücken im Mund erwischt.
Die kleine Lisa ist flink wie ein Eichhörnchen und krabbelt gern auf Signes Schoß. Der kleine Körper wärmt so schön. Signe genießt die kurzen Augenblicke, wenn Lisa auf ihrem Schoß sitzt. Steckt ihre Nase in Lisas Haar und atmet den süßen Kleinkind-Duft ein.
Es ist Samstag. Samstags findet großer Hausputz statt. Signe gießt Wasser auf die Holzdielen des Hauses: Küche, Wohnraum und Schlafplatz für sie und die alte Kata. Die Flickerlteppiche hat sie schon auf die Vortreppe hinausgetragen. Sie streut Scheuersand auf die Nässe und fängt an zu scheuern.
Signe ist barfuß, den einen Fuß auf dem Birkenbesen, scheuert und scheuert sie. Sie spielt, dass sie übers Eis rutscht. Dann geht es leichter. Manchmal ist es schwer, das Gleichgewicht zu halten, und sie muss sich am Schrank oder einer Wand festhalten. Dann scheuert sie weiter.
„Aua!“ Sie schreit vor Schmerz auf.
In ihrem rechten Fuß brennt es wie Feuer. Sie muss sich auf einen Schemel setzen und ihre Fußsohle untersuchen. Ein langer Splitter ist in den Fuß gedrungen.
Kristina hat den Schrei gehört und kommt aus der Kammer gestürzt, in der sie sich aufhalten sollte, während Signe putzt. „Faule, faule Signe!“, schreit sie begeistert.
Der Fuß tut zu weh, als dass Signe sich jetzt um sie kümmern könnte.
Auf der Vortreppe poltert es. Die alte Kata kommt aus dem Schuppen mit dem Arm voller Weißmoos. Aber sie lässt es fallen, als sie Kristina herumhüpfen sieht.
„Raus mit dir in die Kammer, Mädchen!“, schimpft sie.
Und Kristina hat es eilig. Die alte Kata kneift, und sie kann man nicht mit Petzen beeindrucken.
„Der Fußboden wird auch nicht sauberer, wenn du dahockst und glotzt“, sagt die Alte im selben Atemzug.
Signe richtet sich auf, kann aber nicht aufhören mit Jammern. Ohne ein Wort drückt die alte Kata sie auf den Schemel und legt sich ihren Fuß auf den Schoß. Ihre Hände sind sanft, obwohl die Haut rau wie Kiefernrinde ist. Sie legt die Lippen an die Fußsohle und saugt. Kata saugt und knabbert, bis der blutige Splitter zwischen ihren Lippen steckt. „Pfui, was für ein hässliches Ding!“ Sie spuckt es in den Scheuersand und legt Weißmoos auf den Klapptisch. Und Signe scheuert weiter mit dem Besen.
Die alte Kata hat zu fast allem eine Meinung. Außerdem kennt sie Heilmittel gegen viele Krankheiten. Aber sie hält es für gefährlich, sich zu waschen.
„Man friert sich Zehen und Finger ab“, sagt sie, „kriegt den Brand oder alle möglichen Krankheiten“, wenn Signe Waschwasser fürs Bad wärmen will.
Signe schaut auf den schmutzigen Fußboden, wo sich Essensreste, Asche, Rattendreck und Speichel vom Bauern mischen. Während sie mit dem Birkenbesen herumfährt, schielt sie zu König Oskar. Sein Porträt hängt als Öldruck über der Ausziehbank, die heute hoch beladen ist mit Matratzen und Bettzeug. König Oskar folgt Signe mit dem Blick. Er sieht sie an der Tür und er sieht sie, wenn sie hinterm Herd vorguckt. Der Blick des Königs ist herrisch, er möchte, dass sie ihr Bestes gibt. Glitzernde Orden schmücken seine Brust, und die Schulterklappen sind mit Gold verziert. Ob das richtiges Gold ist? Wie das in der Sonne glänzen muss! Manchmal hat sie Angst, der König könnte aus dem ovalen Rahmen an der Wand steigen, so intensiv verfolgt er ihre Tätigkeiten.
Majestät ist streng. Das rabenschwarze Haar und die aufgezwirbelten Schnurrbartspitzen deuten darauf hin. Bestimmt gefällt es ihm nicht, dass sie Rutschbahn spielt.
Signe versucht mit ihrem nackten Fuß auf dem Besen würdiger zu schrubben. Schiebt eine Haarsträhne zurück, die sich aus dem Zopf gelöst hat. Eine fleißige Untertanin will sie sein. Kann dem König sogar zeigen, wie hübsch sie knicksen kann. Signe stellt den einen Fuß hinter den anderen und verneigt sich tief vor König Oskar, den Blick auf den Scheuerboden gerichtet.
Auf der Vortreppe poltert es. Die alte Kata steht wieder auf der Schwelle und tut so, als würde sie besonders an einem Kaffeefleck reiben.
„Oh, oh!“, jammert sie. „Lass fallen, was du in den Händen hast. Such nach dem Hund. Er hat sich losgerissen. Und du wirst doch so gut mit ihm fertig.“
Signe wischt sich die Hände an der Schürze ab, zieht eilig Strümpfe und Stiefel an. Der Bauer ist draußen zum Fischen und Ludde gehorcht nur ihm und Signe.
„Ludde!“, ruft sie in den Wald.
Sie biegt in den Pfad ab, den der Hund und der Bauer gehen, wenn sie Hasen oder Waldvögel jagen. Vom Himmel fällt mit Schnee gemischter Regen und sie zieht Katas verschlissenen Lodenmantel enger um sich.
„Lieber Ludde!“
Nur Signe nennt ihn so. Die anderen lachen über den Kosenamen. Für sie ist Ludde ein Wachhund, dem sie sich nicht zu nähern wagen. Aber Ludde ist Signes Trost geworden. Ihm hat sie von ihrer Sehnsucht nach Alice erzählt. Und von ihrem geheimen Plan, ihren Vater zu suchen. Ludde versteht sie. Er wackelt mit seinem spitzen Kopf und winselt ein bisschen. Die grauen Augen sehen in sie hinein. Und er sagt niemandem etwas weiter.
Bei einer großen krummen Kiefer bleibt sie stehen. Legt die Hände wie einen Trichter um den Mund und ruft über die Heidelichtung. Sie wartet mucksmäuschenstill und lauscht. Es tropft von den Bäumen und ein Rabe schreit. Bald darauf antwortet der Rabenpartner und der schwarze Vogel fliegt über die Tannenwipfel zu einem Felsen. Sie verfolgt seinen Flug mit dem Blick.
„Unserm Herr gefällt der Ruf der Raben nicht“, pflegt Kata zu sagen, wenn der Rabe ruft. Sie ist der Meinung, es sei der Vogel des Teufels und dass der Rabe Unheil ankündige. Signe schaudert. Will jetzt nicht an Schreckliches denken.
Wasser dringt ihr in den einen Stiefel. Ihre Zehen werden starr vor Kälte. Sie bückt sich und sieht einen Spalt zwischen Leder und Schuhsohle. Dort, im Blaubeerreisig, hängt ein graues Haarbüschel. Sie nimmt es und schnuppert daran. Doch, die derben Strähnen riechen streng und bekannt. Von irgendwo kommt ein winselnder Laut und sie späht in alle Richtungen. Der Wind hat zugenommen und das Tropfen von den Bäumen wird stärker. Die Haare kleben ihr in nassen Strähnen im Gesicht und ihre Nase läuft. Hat nur der Wind geheult?
„Lieber Ludde!“
Signe wendet sich ab und schnäuzt sich in die Schürze. Für so eine Sünde hat Fräulein Qvennerstedt sie im Kinderheim an den Haaren gerissen. Aber jetzt ist sie erwachsen und wird nicht mehr von einem Kinderheimfräulein überwacht. Sie spuckt in den Schneematsch. Das hätte sie sich früher nie getraut. Im Schnee leuchtet ein Blutfleck. Und noch einer. Sie macht einen Schritt hierhin und dahin. Und dort hinten beim Rabenberg sieht sie eine kleine Figur herumschnüffeln.
„Ludde!“
Signe stürmt auf ihn zu und er kommt ihr hinkend entgegen. Sein graues Fell ist zerrauft und eine Vorderpfote ist verletzt. Sie legt die Arme um seinen Hals und er leckt ihr begeistert über die Nase.
„Der Rabe hat nicht Recht bekommen. Wenn du etwas erzählen könntest, Ludde! Hast du mit einem Fuchs gekämpft oder …“ Sie schaudert und klaubt ein paar lose Haarbüschel aus seinem Fell. „War es der Wolf?“
Ludde heult glücklich als Antwort, er will nach Hause und etwas zu fressen haben.
Überm Rabenberg wird es dunkel. Und darüber stößt das Rabenpaar laute Schreie aus, während Signe und Ludde den Pfad zurück nach Fredriksberg wandern.
Obwohl Signe erschöpft ist nach den Strapazen im Wald, muss sie Wasser aus dem Brunnen holen. Nachdem sie den Fußboden gespült hat, fegt sie den Sand mit dem Besen zusammen. Als Letztes bleibt der lustige Teil, das trockene Weißmoos über den ganzen Fußboden zu verstreuen. Das wird dort liegen bleiben bis zum Sonntagmorgen und die Feuchtigkeit aufsaugen.
Wasser holen, den Spüleimer hinter der Hausecke ausgießen, in der kleinen Blechwanne abwaschen, Kata beim Essenkochen helfen und auf die Kinder aufpassen, das sind ihre sich wiederholenden Aufgaben. Abgesehen davon, dass sie immer bereit sein muss zu helfen, wenn jemand sie darum bittet. Ein Monat ist vergangen, seit sie nach Fredriksberg gekommen ist und die alltäglichen Arbeiten gelernt hat. Jeden Tag dasselbe.
Signe teilt die schmale Ausziehbank mit Kata und wird oft von Knüffen in den Rücken wach. In den ersten Nächten meint sie überhaupt kein Auge zugetan zu haben. Kata schnarcht laut und die Unebenheiten der Strohmatratze schaben am Körper. Aber die größte Plage sind die Flöhe. Am schlimmsten beißen sie in der Nacht. Am Körper flammen rote Stellen auf, obwohl sie beide jeden Abend Flöhe fangen, bevor sie zu Bett gehen. Die Begleiter des Bösen, nennt die alte Kata sie. Und Signe seufzt. Als sie kam, war sie frei von Floh- und Läusebissen.
Jeden Morgen um halb sechs kocht Signe Kaffee. Der Hausherr trinkt den Kaffee in der Küche. Signe muss der Hausfrau die volle Kaffeetasse bringen und die volle Spucktasse wieder hinaustragen. Die Hausfrau ist groß und hat dunkle Ringe unter den Augen. Sie sagt nicht viel, aber sie kann starren mit ihren grauen Augen. So sehr starren, dass Signe nervös wird und fallen lässt, was sie in der Hand hält. Die Hausfrau sitzt mit ausgebreitetem langem Haar über den Schultern aufrecht im Bett. Wärmt ihre Hände an der Kaffeetasse. Signe bückt sich nach der Spucktasse. Versucht nicht hinzugucken, aber der Blick wird von dem gelbschaumigen Inhalt angezogen. Die Hausfrau beobachtet ihre Bewegungen genau. Am meisten fürchtet Signe sich davor zu stolpern und den Auswurf der Hausfrau aufwischen zu müssen. Die Krankheit schwappt in dieser Tasse, die Krankheit, die die Frau von innen her auffrisst.
Gegen acht bereiten Signe und die alte Kata das Frühstück. Es besteht genau wie das Mittag- und das Abendbrot aus gesalzenem Hering, Kartoffeln und manchmal aus Grütze. Am Abend kocht die alte Kata immer Grütze. Bleibt welche übrig, wird sie am nächsten Tag gebraten. Es riecht angebrannt, und obwohl Signes Magen nach Essen schreit, kriegt sie die braun angebrannten Grützreste nur schwer hinunter.
Der Frühling ist unterwegs und Signe lässt sich Zeit auf dem Weg zum Vorratshaus. Die Meisen läuten in den Birkenhainen. Stellenweise ist der Schnee geschmolzen und die duftende Erde ist zu sehen. Sehnsuchtsvoll schaut sie zur Landstraße. Versucht einen Blick auf den Badesee zu erhaschen. In einigen Monaten kann sie durch den Wald gehen und sich einen schönen Badeplatz suchen. Sie sehnt sich danach, sich am ganzen Körper zu waschen. Seit sie nach Fredriksberg gekommen ist, hat sie keine Zeit für eine richtige Wäsche gehabt. Hände, Hals und Gesicht müssen reichen, findet die alte Kata, die das Waschen von Signe und den Kindern beaufsichtigt.
Nein, jetzt muss sie sich beeilen und Mehl holen. Heute will Kata Pfannkuchen backen.
Signe löst den Holzpflock des Eisenbeschlages, der die Schuppentür geschlossen hält. Die Dunkelheit springt sie an. Hier ist eine Petroleumlampe zu teuer und überflüssig, findet der Hausherr. Durch die Türritzen fällt ein wenig Tageslicht herein, aber Signe muss trotzdem einen Augenblick stillstehen, damit sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnen.
Dann muss sie die Mehlkiste finden. Im Vorratsschuppen stehen mehrere Kisten und Behälter mit Mehl, gesalzenem Hering, gepökeltem Fleisch und Speck. Im Dunkeln kann wer weiß was geschehen. Wenn es wirklich böse Wesen gibt, dann verstecken sie sich in dunklen Schuppen und Kellern. Niemand, nicht einmal Fräulein Qvennerstedt, hat Signe dazu bringen können, allein in einen dunklen Raum zu gehen. In der Dunkelheit verändern sich die Laute, niemand kann ganz genau wissen, ob das Rascheln aus der Baumkrone, von einem Vogel oder vom Wind kommt. Es könnte das Böse sein, das da lauert, sie verlocken will, dem Säuseln und Rascheln zu folgen, sie im Wald in die Irre locken will. Dort wartet etwas Entsetzliches, was sie sich nicht recht vorstellen kann. Plötzlich sieht sie den Gutsherrn von Tuna vor sich. Er lacht dröhnend …
Signe fährt herum. Ein Kasten mit Butter ist auf dem Erdboden gelandet. Sie bückt sich rasch danach, macht ein paar Schritte ins Schuppeninnere und stellt den Kasten ins Regal zurück. Ein schriller Pfiff lässt sie zusammenzucken. Unter dem Butterregal sitzt eine große Ratte auf der Mehlkiste. Die Ratte faucht und stemmt ihre Krallen in den Holzdeckel. Ihr Schwanz ist kräftig wie ein Seil. Signe begegnet dem Blick der Ratte. Sie hat schon viele Ratten gesehen. Einmal ist eine Maus in der Ausziehbank über das Gesicht der alten Kata gesprungen, aber schnell hinter dem Herd verschwunden. Diese Ratte bleibt sitzen. Duckt sich zum Sprung. Signe kommt zur Besinnung. Macht ein paar vorsichtige Schritte zur Seite, dreht sich hastig um und stürzt zur Tür hinaus. Sie kann das Entsetzen nicht mehr zurückhalten, schreit wie ein Schwein vor der Schlachtung, läuft, stolpert durch die Schneeflecken aufs Wohnhaus zu ohne aufzusehen. Bis ein Paar starke Fäuste sie bei den Schultern packen.
„Was ist los, zum Teufel!“
Sie starrt auf die behaarte Brust des Hausherrn, die unter dem offenen Arbeitshemd bloßliegt.