Das Archiv der Geschichten - Edwin Dillmann - E-Book

Das Archiv der Geschichten E-Book

Edwin Dillmann

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Verrat, Terrorbanden, Rivalität mit der Handelsnation Mantiana drohen das Königreich Arriana in den Abgrund zu reißen. Menschen verschwinden. Die Bruderschaft von Metarchon verliert ihre Zauberkraft. Dem Archiv von Orplid, welches geheimnisvoll Schicksale verwebt, droht Vernichtung. Eine Welt gerät aus den Fugen. In den uralten Vier Büchern wird ein Auserwählter prophezeit. Wird er in Erscheinung treten? Auf einem farbenprächtigen Tableau entfaltet sich eine Geschichte von Verrat und Widerstehen, von Fest und Krieg, von wahrer Liebe, wahrer Ehre, von fantastischen Begebenheiten. Vom Wiederfinden eines Menschen, der verlorenging. Immer wieder, teils augenzwinkernd, blitzen Motive aus der fantastischen Tradition auf – der Roman erzählt nicht nur von einem Archiv der Geschichten, er ist selber eines.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 551

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Als das Kind Kind war,

warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum,

und sie zittert da heute noch.

Peter Handke, Lied vom Kindsein,

aus: Der Himmel über Berlin,

Film von Wim Wenders

Wir sind solcher Zeug wie der zu Träumen,

und dies kleine Leben umfasst ein Schlaf.

William Shakespeare, Der Sturm

Bei großer Willensstärke vermag der Operierende, wenn er von Gott die Macht dazu erhält, durch die Weltseele und den Stand der Gestirne mit himmlischer Kraft auf eine mit Sorgfalt und magischer Kunst in die gehörige Form gebrachte Materie zu wirken.

Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim,De occulta philosophia (1510)

Inhalt

Vorrede des Herausgebers

KAPITEL 1

Eine unerhörte Tat

KAPITEL 2

Die Reise

KAPITEL 3

Das Jahrmarktsfest

KAPITEL 4

Die Bergfeste

KAPITEL 5

Die Geisterwelt

KAPITEL 6

Reichtum

KAPITEL 7

Das Archiv

Vorrede des Herausgebers

Ich führe ein einförmiges Leben. Meine Tage kommen und gehen, wie sie eben kommen und gehen, ein Tag reicht dem nächsten die Hand, und die Hand ist immer leer. Vor Jahren habe ich jeden Versuch aufgegeben, Aufhebens von mir zu machen. Und dabei wäre es auch geblieben, hätte sich nicht jene unvorhergesehene Begebenheit ereignet, von der ich am Anfang dieses Buches kurz berichten muss. Eine unscheinbare Begebenheit im riesigen Getriebe unserer Zeit, sicherlich. Aber doch nicht gänzlich ohne Bedeutung, wie mir scheint.

Die Begebenheit betrifft unmittelbar die Seiten, die den Leser, die Leserin erwarten, sofern er oder sie gewillt ist, ihnen Lesezeit zu widmen.

Dieses Buch ist mit Mühe zum Druck gelangt. Immerhin: So verkörpert sich doch die Hoffnung auf Leserschaft.

Ich rechne zuverlässig damit, dass in absehbarer Zeit kein Mensch mehr ein Buch zur Hand nehmen wird. Dass es nicht nur keine auf Papier gedruckte Buchstaben mehr geben wird: dass es überhaupt keine Buchstaben von Belang mehr geben wird, wie es ja schon längst keine Geschichtenerzähler mehr gibt, jedenfalls keine leibhaftigen, die inmitten einer Runde von Zuhörern sitzen. Und auch keine Geschichten mehr, jedenfalls keine solchen, wie sie mir vorschweben: magische Geschichten. Also solche, die davon erzählen, wie die Seele und die Gestirne sich berühren, die von den Elementen erzählen, die Geist und Stoff verbinden, die erzählen von den ewigen Gauklern und Zauberern, den ewigen Königen, Königssöhnen und Königstöchtern, von den ewigen Händlern und Geschäftemachern, den Bettlern und Gaunern, den Helden und Verrätern, die alle in der Tiefe der Seele wohnen, die erzählen von den sich kreuzenden und verschlingenden Fäden des Schicksals, die sich durch die Welt weben, von den Momenten, in denen der Mensch vor dem erbebt, was er tun oder lassen muss, von der Möglichkeit, ein für allemal zu unterliegen, aber selbst in diesem Unterliegen noch groß sein zu dürfen. Geschichten, in denen der Krug Wein der Inbegriff eines Kruges Wein und ein saftiger Pfirsich der Inbegriff eines saftigen Pfirsichs ist. Kurz: wo nicht nur ein hohles Geklapper der Worte, ein hohles Geklapper der Charaktere und Emotionen, ein hohles Geklapper der Effekte und eine resignierte oder abgefeimte Abgebrühtheit herrscht. Wo der Klappermann herrscht.

Magische Geschichten eben. Aber damit ist es so ziemlich vorbei.

Stattdessen wird das kulturelle Gedächtnis restlos gelöscht werden, und wir werden es nur noch mit Eintagsfliegerei zu tun haben. Den Menschen dieses Zeitalters wird es schlechterdings unerträglich sein, auch nur eine Minute still zu verweilen, ohne über einen Bildschirm zu wischen, still zu verweilen, zu hören und, wie es vor langer Zeit einmal hieß, das Gehörte in ihrem Herzen zu bewegen. Einen fortlaufenden Text zu lesen, der wesentlich über eine Gebrauchsanweisung hinausgeht, wird ihnen undenkbar erscheinen.

Dieses Zeitalter ist längst angebrochen.

Es gab aber einmal Zeiten – sie werden ganz und gar der Vergessenheit anheimfallen –, in denen die Geschichtenerzähler unter uns waren. Und auf die Spur jener Geschichtenerzähler hat mich das Manuskript geführt, das Sie jetzt in gedruckter Form in bequemer Augennähe, sitzend in einem bequemen Sitzmöbel, wie ich mir vorstellen möchte, vor sich halten.

Um es kurz zu machen, ich fand das Manuskript in den Nachlasspapieren meines Onkels mütterlicherseits, eines ehemaligen Archivars am Landesarchiv in K., der unlängst im Alter von einundachtzig Jahren verstarb und mich als alleinigen Erben hinterließ. Mein Kontakt zu ihm war, wie der Kontakt zu fast allen Menschen, über Jahre hin abgerissen, bis mich vor etwa sechzehn Monaten zu meinem großen Erstaunen die Testamentseröffnung des Nachlassgerichtes in K. erreichte. Mein Onkel hatte seinen letzten Willen in einem notariellen Testament niedergelegt, und dem eigentlichen, sehr kurzen Testament war ein an mich adressierter Brief beigegeben. Dieser Brief, offenbar nicht lange vor seinem Tod verfasst, riss mich in seinem ganzen Ton dunkler Andeutung und schmerzvoller Erinnerung in grenzenlose Aufregung, Verstörung und Traurigkeit, ein Zustand, der sich durch das Auffinden des Manuskripts noch steigerte. Zuletzt aber auch mit einer Spur von Euphorie anreicherte.

Der Inhalt des Briefes war folgender:

»Mein lieber A.,

lange haben wir nichts voneinander gehört, sodass Dich dieser Brief und mein Testament einigermaßen überraschen werden. Dass wir uns aus den Augen verloren, wo Du doch als Kind so gerne bei mir in den Ferien warst und ich eine Verwandtschaft zwischen uns auszumachen meinte, die tiefer ist, als offen zu Tage liegt, schmerzt mich mehr, als Dir bewusst sein dürfte. Aber so ist es nun einmal geworden: Die einander verbunden sein sollten, erkennen sich nicht mehr. Auch Dein Lebensweg – Du wirst dich wundern, dass ich darüber Bescheid weiß – hat nicht die Richtung zu einem glücklichen Geschick genommen. Sei aber gewiss, dass im Verborgenen eine Lebensspur wirkte, die Dein und mein Schicksal trotz allem verband. Diese rätselhaften Andeutungen werden dir verständlich werden, wenn Du in meinem Nachlass mehrere Manuskripte finden wirst, vor allem ein gebundenes, das den Titel ‚Das Archiv der Geschichten‘ trägt.

Ja, ich rede von meinem Nachlass, denn ich habe nur noch kurze Zeit zu leben, und ich habe es so eingerichtet, dass Dich dieser Brief erreichen wird, wenn ich nicht mehr bin. Ich habe ein Testament errichtet, obwohl das ganz überflüssig ist, weil Du ja ohnehin mein einziger lebender Erbe bist. Es war mir dennoch wichtig, dass mein Nachlass nicht sang- und klanglos übergeht. Fürchte nicht, dass ich in diesem Manuskript etwa meine Berufserfahrungen als Archivar niedergelegt haben möchte, was keine Menschenseele interessieren dürfte. Vielmehr beinhaltet es eine alte, eine sehr alte Geschichte, immer wieder vorgetragen, immer wieder abgeändert und erneuert. Eine lange Reihe von Altvorderen hat daran gesponnen.

Ihre Spur kann man noch aus manchen Randnotizen ablesen, die sich auf den Blättern finden. Sie geben schlaglichtartig Einblick in ihre momentane Lebenssituation, Stimmungslage, in das Handwerk des Erzählens, in die Umarbeitung des Textes, die Resonanz der Zuhörer. Die älteste reicht zurück in das Jahr 1636, in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Zum Glück ist nämlich häufig eine Jahreszahl mit vermerkt. Der Inhalt oder Teile des Inhalts reichen aber gewiss sehr viel tiefer in die Vergangenheit zurück. Die verschiedenen Schichten des Textes sind leider kaum im Einzelnen zu greifen, die Blätter waren ursprünglich nur lose verbunden, und nicht mehr benutzte Fassungen wurden weggeworfen. Die Bindung in der jetzigen Form hat das Konvolut erst im Jahr 1958 erhalten, durch mich. Die Geschichte ist zwar in schriftlicher Form auf uns gekommen, aber ich zweifle nicht daran, dass sie, wenigstens in den Grundzügen, ursprünglich mündlich erzählt wurde. Im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts ist sie dann wohl noch hie und da vorgelesen worden, bis sie im zwanzigsten in Vergessenheit fiel.

Einiges hätte ich auch aus der Erinnerung an Erzählungen meines Großvaters und Vaters beisteuern können, aber es ist zu spät, irgendwann muss ein Ende sein. Die Kette ist abgerissen, was nie hätte in Vergessenheit geraten dürfen, fiel der Vergessenheit anheim.

Mir ist im Übrigen unergründlich, warum ich das Manuskript nicht auch vernichtete, wie so vieles vernichtet worden ist – eine unsichtbare Hand fiel mir in den Arm, es reicht zu sagen: Es war mir unmöglich. Vielleicht kannst Du – als letzter Erbe – etwas mit dem Manuskript anfangen, was Dir und sogar auch anderen noch zum Nutzen gereicht. Ich meinerseits begrub die Hoffnung daran schon vor Langem. Ich wünsche es jedenfalls von Herzen, und nicht nur um Deinetwillen, wie Du, so hoffe ich, noch verstehen lernen wirst.

So lebe denn wohl. Dein L.«

Mir traten Tränen in die Augen, als ich den Brief sinken ließ, ein Strom von Tränen, der doch schon vor so langer Zeit versiegt zu sein schien.

Helle, zukunftsfrohe Tage der Kindheit, immer wieder vom Schutt der trübseligen Jahre verdeckt, immer wieder als Wegzehrung in karger Zeit hervorgeholt, traten einmal mehr und intensiver denn je vor mein inneres Auge: das Wühlen in den Schätzen des verwunschenen alten Hauses, das Vorlesen in der Laube des kleinen, aber vielverbergenden, vielenthüllenden Gartens, das Niederrauschen des Regens vor den Sommerfenstern, das Rieseln des Schnees vor den Winterfenstern. Den Fenstern! Fenster in eine Welt, die ersehnt und niemals ergriffen werden würde.

Ich höre die klugen Leute sagen: Eine heile Kindheit ist bloß Frucht eines schlechten Gedächtnisses. So dumm bin ich nun auch nicht, die Augen davor zu verschließen, dass die Kindheit nicht aus lauter »holdseligen« Momenten besteht und dass es schon gar nicht bei allen Menschenkindern eine annehmbare Kindheit gibt und dass vielleicht das Gedächtnis ein Schönfärber ist. Und wenn es auch schönfärbt: Es gibt Schönfärbereien, die lebensnotwendig sind.

Ich machte mich also daran, die Hinterlassenschaft des Verstorbenen zu ordnen und aufzulösen. Das Haus machte zwar den Eindruck des Überlebten, aber erstaunlicherweise durchaus nicht den der Vereinsamung. Es verströmte gewissermaßen den Duft eines Lebendig-Musealen, nicht den des Staubig-Toten. Das genannte Manuskript war natürlich das Erste, worauf sich mein Augenmerk, meine gespannte Neugier richtete, und es fiel nicht schwer, es auf Anhieb zu finden. In rotes Leinen gebunden, lag es auf der antiken Birnbaumkommode im Wohnzimmer, dem kostbarsten Möbelstück des Verstorbenen.

Ich durchstreifte das Haus, vom Keller bis zum Speicher. Etliche Erinnerungsstücke aus der Kindheit fielen zurück in meine Hände, ich meinte, in die innerste Schatzkammer meines Bewusstseins hinabzusteigen: zwei Kartenspiele, alte Kalender, Sammelbücher mit Klebebildchen, Kreisel, Knöpfe, Murmeln, ein Damespiel, Gerätschaften aus lange vergangenen Zeiten, Stifte, ein Kaleidoskop, viele Bücher natürlich, noch weiterer Kram, den ich nicht im Einzelnen aufzählen will, und – wahrhaftig! – ein Notizbuch mit Kritzeleien von mir und kleinen von mir erfundenen Geschichtchen.

Es war keine Rückkehr in irgendeine Heimat, die gibt es nicht für mich. Aber es war ein Aufwecken von Bewusstseinsschichten, die unter der Oberfläche, sonst fest versiegelt, schlummerten. Und das Erwecken halte ich letzten Endes für das wichtigste, das letzte Lebenselixier.

Aber es geht ja um das Manuskript. Soll ich beschreiben, mit welchen Gefühlen, mit welcher Neugierde ich es aufschlug (einer Neugierde, der es buchstäblich um alles geht)? Wie mich die Lektüre von der ersten Seite an nicht mehr losließ, weit aus dem Alltagsbewusstsein wegriss, aus den Verstrickungen in das Öde und Widrige? Wie sie mich emporriss aus den furchtbaren Niederungen meines Lebens, aber auch umso schmerzlicher mich mit ihnen konfrontierte? Soll ich den Weg aufzeigen, den das Manuskript zum Druck genommen hat, ein steiniger, verzweiflungsvoller? Nein, das lasse ich.

Das alles spielt keine Rolle. Um die Geschichte geht es nur noch, nicht mehr um mich, den letzten Erben.

Mögen die, die sie lesen, wie ich eine allumfassende Erfahrung dessen machen, was es heißen mag: eine Geschichte zu hören.

KAPITEL 1
Eine unerhörte Tat

Vier der Entführer waren zurückgeblieben, um etwaigen Verfolgern einen Hinterhalt zu legen, wie Joleen den Unterhaltungen der Männer entnommen hatte, die sich keine Mühe gaben, ihre Absichten vor den Frauen zu verbergen. Während der Wagen über den Waldweg rumpelte, überlegte Joleen fieberhaft, wie sie die Situation ausnutzen könnten, dass nur noch zwei Bewacher, Thirial und Darian, übrigblieben. Thirial saß auf dem Kutschbock, während Darian vorausritt. Thirial und Jaron waren die jüngsten, zumindest sahen sie so aus, fast noch Knaben. Furchteinflößend jedenfalls nicht. Darian war von anderer Statur: drahtig, männlich, wenn auch der kleinste von allen, wortkarg. Das Aussehen eines Verbrechers hatte er aber eigentlich auch nicht.

Am späten Vormittag war die Horde fremder Männer zu Pferde in das Dorf eingefallen und bis zu dem Platz geprescht, wo die jungen Frauen Tänze übten, mit denen sie zu dem Fest der Vier Bücher am morgigen Tag beitragen wollten. Die Eindringlinge hatten sich die Gesichter mit Asche schwarz gefärbt. Sie fuchtelten den schreckensstarren Frauen und der kleinen Schar sie begleitender Musikanten mit ihren Schwertern vor der Nase herum und zwangen die Frauen in einen Wagen, den sie mit sich führten. Bevor sich die Musikanten und die Handvoll Dorfbewohner, die den Aufruhr miterlebt hatten, von ihrer Überrumpelung und ihrem Schrecken erholen konnten, jagten die Männer schon wieder zum Dorf hinaus.

Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als der Wagen anhielt. »Hier rasten wir!«, rief Thirial vom Kutschbock und lenkte den Wagen zur Seite, da, wo sich der Wald zu einer Wiese lichtete. Am Rand der Wiese plätscherte ein kleiner Bach, dahinter stieg das Gelände an, und der Wald wurde wieder dichter. Joleen musterte aus dem Wagenfenster aufmerksam die Örtlichkeit.

Der Riegel wurde zur Seite geschoben, und die Wagentür ging auf. »Aussteigen!«, sagte Thirial, wobei er seiner Stimme einen möglichst bestimmten, männlichen Ton gab. Leicht durchschaubar. Aha, dachte Joleen, willst hier nur den Rabauken spielen. Er war sogar den Frauen beim Aussteigen behilflich, was geradezu komisch wirkte.

Was führte die Truppe eigentlich im Schilde? Von welchem Menschenschlag war sie denn nun eigentlich? Rätselhaft.

Dass der Sohn des Königs aufgrund einer mutwilligen Wette das Unternehmen anführte, hätte zu diesem Zeitpunkt jenseits der Vorstellungskraft der Mädchen gelegen. Die Entführer hatten sich jedenfalls keine ernsthaften Übergriffe zuschulden kommen lassen, und ihre äußere Erscheinung war keineswegs die von Räubern.

»Ist es wohl möglich«, fragte Joleen mit fester Stimme, »dass wir hier einmal kurz für uns sein können, ohne bei Schritt und Tritt von Männeraugen beobachtet zu werden?« Sie war die Älteste, und ihr war wie von selbst die Rolle der Wortführerin zugefallen.

»Na, meinethalben«, entgegnete Thirial, »hier würdet ihr ohnehin nur den Luchsen und Bären in die Arme laufen.« Zu seinem Kumpan gewandt sagte er: »Lass uns den Dreck vom Gesicht waschen.« Sie begaben sich zum Bach.

Joleen ging mit den anderen Mädchen ein Stück weit entfernt über die Wiese ebenfalls zum Bach. »Ich kenne mich hier aus«, flüsterte sie. »Im nächsten Dorf wohnt ein entfernter Ohm von mir. In der Nähe haust ein Köhler. Wir fliehen durch den Wald. Über Nacht können wir in der Köhlerhütte bleiben.«

»Gibt es hier wirklich Bären?«, fragte Sinja zaghaft.

»Keine Sorge«, entgegnete Joleen, »nicht am helllichten Tag so dicht an der viel begangenen Straße.«

Sie nahmen einen Schluck Wasser aus dem Bach, dann sprangen sie über ihn hinweg und verteilten sich hinter die nächstgelegenen Bäume. Auf ein Zeichen von Joleen suchten sie den Schutz von dichterem Unterholz auf.

»He, lauft nicht so weit in den Wald hinein!«, hörten sie rufen, aber da fingen sie schon an zu rennen.

Sie kamen nicht weit. Man hörte es in den Bäumen rascheln, und Annika und Madita stießen einen spitzen Schrei aus.

»Hier fliegen einem ja die gebratenen Gänse direkt ins Maul!«, rief eine widerliche raue Stimme höhnisch, der man es anmerkte, dass ihr stets eine Portion Spucke nachfolgte. Ein Mann war von einem Baum heruntergesprungen, zwei weitere tauchten aus dem Dickicht auf. Annika, Madita und Ronja wurden von derben Händen gepackt und sahen sich von langen Dolchen bedroht. Den Gestalten stand ihr Gewerbe nur allzu deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Zurück zum Wagen!«, befahl eine Stimme.

»Wir sind selbst entführt worden«, rief Joleen verzweifelt, »es gibt nichts zu stehlen in dem Wagen!« Sie erntete nur höhnisches Gelächter.

Jetzt sahen sie Thirial am Waldrand, der ihnen nachgegangen war. Einer der Spitzbuben ließ Ronja los, griff nach seinem Bogen und richtete ihn auf Thirial. »Los, Bürschchen!«, schrie er, »mach kehrt und geh zurück zum Wagen. Aber langsam. Mal sehen, was die hochwohlgeborene Gesellschaft hier spazieren fährt.«

Joleen dachte an die zurückgebliebenen vier Männer. Es ist total verrückt, ging ihr durch den Kopf, jetzt hoffen wir darauf, dass wir von unseren Entführern gerettet werden. Aber wie können wir sie verständigen, dass hier etwas nicht stimmt? Ihr fiel ein, dass im Wagen ein Horn hing. Wer von ihnen konnte ein Horn blasen? Ronja konnte es. Sie drängte sich an ihre Seite, und in einem günstigen Moment flüsterte sie ihr zu: »Das Horn!« Ronja schloss kurz die Augen zum Zeichen, dass sie verstanden hatte.

Darian stand abgewandt in der Nähe des Wagens, er bemerkte erst spät, was auf ihn zukam. Sofort griff er zum Schwert.

»Wirf das Ding weg!«, befahl der Anführer der Banditen. Mehr musste er nicht sagen – das drohende Blutbad war nur zu offensichtlich.

Darian warf das Schwert zur Seite. Ronja sah zu, dass sie sich möglichst nahe am Wagen hielt. Thirial musste sein Schwert ebenfalls ablegen, der Mann, der seinen Bogen auf ihn gerichtet hatte, ließ ihn sinken, behielt ihn aber schussbereit. Der zweite bedrohte Madita mit dem Dolch.

Der Anführer riss die Wagentür auf und durchsuchte den Wagen. »Hier ist nichts!«, sagte er finster, als er wieder ausstieg. Er zückte seinen Dolch. »Wollen also sehen, was die Herrschaften bei sich tragen.« Er trat auf Ronja zu, die am nächsten stand, und riss ihr Oberkleid auf. Dann griff er mit einer Hand zu und tastete sie grob am ganzen Körper ab, hier und da genüsslich verweilend.

»Dass du’s weißt, du machst das hier nicht alleine!«, lachte einer seiner Kumpane. »Wir wollen auch unseren Spaß.«

»Halt’s Maul!«, bekam er zur Antwort.

Der Mann hatte keine Geldbörse bei Ronja gefunden. Unwillig stieß er sie zurück und wandte sich der Nächsten zu. Ronja wartete noch eine kleine Weile, und beobachtete, wie die gierigen Augen der Männer die Leibesvisitation verfolgten. Dann plötzlich schlüpfte sie in den Wagen und griff nach dem Horn. Es gelang ihr, es loszureißen und hineinzublasen. Vor Aufregung brachte sie nur einen ziemlich kläglichen Ton heraus. Eben setzte sie nochmals an, diesmal kräftiger, aber der Ton brach gleich wieder ab, weil der Mann, der sie befingert hatte, hinzustürzte, sie aus dem Wagen riss und ihr eine schallende Ohrfeige verpasste, sodass sie zu Boden stürzte. Er riss ihr das Horn aus der Hand und warf es in hohem Bogen über die Wiese.

»Beeil dich!«, rief sein Kumpan. »Bevor hier noch alles mögliche Volk zusammenläuft.«

»Hab dich nicht so«, sagte der andere unwillig. »Es ist weit genug bis zum nächsten Dorf.« Dann setzte er seine Arbeit fort. Er wurde immer ärgerlicher. »Verdammter Dreck! Die haben wirklich nichts.« Zuletzt nahm er sich die beiden Männer vor. Bei ihnen konnte er zwar Geldbörsen finden, deren Inhalt ihn aber offenkundig nicht zufrieden stellte.

»Was soll das hier?«, schrie er wütend. »Fahrt ihr zum Vergnügen spazieren?« Er stand vor Darian und stieß ihn vor die Brust. »Los, ausziehen – jetzt will ich meinen Spaß haben! Ausziehen!«

»Was?« Darian schlug ihm den Arm weg.

Der Bandit holte aus und stieß Darian die Faust ins Gesicht. Die Haut platzte auf, Blut lief aus der Nase. »Ich will, du gottverdammter Hurensohn, dass du dich hier vor allen Weibern ausziehst, das will ich!«

»Lass das!«, rief jetzt wieder sein Kumpan. »Wir wollen hier verschwinden. Hier kommen zu oft Leute durch.«

»Ja, er hat Recht. Lass uns abhauen«, pflichtete der andere bei.

Aber der Angesprochene war außer sich geraten vor Wut. Er wandte den Kopf. »Wollt ihr wohl endlich das Maul halten!« Mit dem Dolch zielte er jetzt auf Darians Kehle und zischte noch einmal: »Ausziehen!«

»Warum denn nicht die Weiber?«, murrte der zweite Kumpan. »Wenn schon.«

»Die kommen auch noch dran!«

Darians Gesicht war feuerrot geworden. Langsam fing er an, das Wams aufzuknüpfen. Er legte es ab. Gerade wollte er damit beginnen, die Tunika über den Kopf zu streifen, als ein schneidendes Sirren zu hören war. Dann schnell nacheinander noch eines und noch eines. Die Frauen schrien auf.

Zwei der Banditen gaben ein keuchendes, dann gurgelndes Geräusch von sich. Der dritte riss die Augen auf und starrte sie entgeistert an. In jedem der beiden stak ein Pfeil, dem einen im Bauch, dem anderen im Rücken. Sie knickten ein und fielen dann einfach um. Der erste von ihnen krümmte sich, der zweite bewegte sich nicht mehr. Der Dritte war vor Verblüffung einen kurzen Moment gelähmt, machte sich aber sehr schnell klar, dass der Pfeil, der fehlgegangen war, ihm gegolten hatte. Er drehte sich, panisch geworden, um und setzte an, mit allen Kräften wegzurennen, als es wieder durch die Luft sirrte. Er stürzte im vollen Lauf und blieb, sich überschlagend, liegen.

Hinter den Bäumen traten die Schützen hervor. Sie hingen sich die Bogen um und kamen langsam näher. In ihrer Begleitung befand sich ein weiterer, unbekannter Mann. Darian raffte sein Wams auf, warf es über und zog den Gürtel fest.

»Da seht ihr die Bescherung«, sagte Arvin, der Anführer. »In unseren Landen halten die Spitzbuben aller Herren Länder fröhliche Urständ, und niemand gebietet dem Treiben Einhalt.« Anscheinend kam ihm gar nicht in den Sinn, dass man etwas Ähnliches ohne Weiteres von ihm und seinen Freunden hätte sagen können.

Joleen war zornig genug, um sich vor ihm aufzubauen, die Hände in die Hüften gestemmt, und ihn anzufauchen: »Können wir jetzt endlich wissen, was ihr mit uns vorhabt? Und können wir endlich wissen, wer ihr seid?«

»Ich bin Arvin von Arriana, Ulmons Sohn.«

Blankes ungläubiges Erstaunen malte sich in den Gesichtern der Frauen ab, er ignorierte es geflissentlich. Mit dem Daumen zeigte er auf einen seiner Begleiter. »Der da, der seine Bogenübungen von nun an verdoppeln wird, damit er sein Ziel im Ernstfall auch trifft, ist Silas, Sohn des Truchsessen. Thirial und Darian sind Sohn und Neffe des Kämmerers. Jaron und Eomund stammen ebenfalls aus bestem Hause. Aber das hat sie so wenig wie mich und meine anderen Jugendfreunde hier vor dem Schicksal bewahrt, langsam im Müßiggang zu verfaulen und sich zu guter Letzt jeden Zeitvertreib recht sein zu lassen, der sich nur immer bietet. Auch wenn er sogleich schal wird. Das wisst ihr nun. Und wenn wir uns den albernen Ruß aus dem Gesicht gewaschen haben, werdet ihr uns schon wieder ein Stück weit besser kennengelernt haben. Wohin die Reise geht, erfahrt ihr nachher, wenn wir beim Essen sitzen.« Er winkte seinen drei Begleitern. Mit einem Blick auf die zerrissenen Kleider fügte er noch hinzu: »Und in der nächsten Stadt gibt es neue Kleider.«

»Ein Glück, dass ihr das Horn hören konntet und gewarnt wart«, sagte Ronja.

»Dummes Zeug!«, gab Arvin zurück und deutete auf den bislang unbekannt gebliebenen Begleiter. »Der Jagdpfleger hatte die Lumpen bereits im Visier gehabt.« Damit wandten sie sich in Richtung des Baches.

»Sollten wir uns nicht um den einen kümmern, der noch zu leben scheint?«, fragte Mirelle.

Arvin antwortete, ohne sich umzudrehen. »Lasst ihn liegen, lange wird er es ohnehin nicht mehr machen. Den Rest sollen die aus dem Dorf erledigen, wenn wir dort angekommen sind.«

»Er hat auf einmal verdammt schlechte Laune«, bemerkte Thirial.

»Er ist ein abscheulicher Mensch«, sagte Joleen.

Werte Zuhörer!

Da wird euch wohl gehörig der Schreck in die Glieder gefahren sein bei dieser aufregenden Begebenheit, wenngleich ein durchaus angenehmer Schreck, will ich meinen. Recht so!

Sowie ihr ein wenig zu Atem gekommen seid, werdet ihr mir jedenfalls den alten Kniff gerne zugutehalten, mit dem ich euch mitten hinein in die wild bewegten Geschehnisse gestoßen habe, von denen hier zu erzählen sein wird. Doch sachte! Wie es sich gehört, könnt ihr euch nun sogleich bei einer geruhsameren Episode wieder etwas erholen. Ein bisschen ungehörig war es ja auch, gebe ich zu, euch so ganz und gar im Unklaren zu lassen, worum es sich bei all dem eigentlich dreht. Nur Geduld! Auch dies soll nun nachgeholt werden.

Als ich überlegte, wie ich es wohl am besten anstelle, in die Geschichte mit allem Drum und Dran einzuführen, habe ich mich darauf besonnen, dass es immer noch am besten ist, man macht es so, wie es schon viele andere gemacht haben, denn das ist bewährt und das Bewährte erntet gewöhnlich den meisten Beifall. Folglich lässt man am besten irgendwen irgendwo ankommen – schon ist man mittendrin im Schauplatz des Geschehens! –, aber nicht Herrn Hinz oder Herrn Kunz, sondern vorzugsweise einen ausgemachten Zauberer.

Ich weiß wohl, was ihr von einem passablen Zauberer erwartet, dass er einen besonderen Hut trägt und einen besonderen Stab mit sich führt und was derlei Einzelheiten mehr sind. Ich weiß auch sehr wohl, was ihr von dem Ort erwartet, wo er anlangt. Die Erwartungen werden somit erfüllt und alle sind zufrieden. Aber Obacht! Manche Dinge müssen so sein, wie sie sind, andere dagegen sind keineswegs das, was sie zu sein scheinen.

Wie dem auch sei, fahren wir nun fort, indem wir gewissermaßen noch einmal von vorne anfangen.

Als sich Cornelius auf seinem Pferdekarren, den langen spitzen Hut ins Gesicht gedrückt, den weiten Umhang über den Sitz gebreitet, dem Dorf näherte, nahm sein Gesicht einen behaglich schmunzelnden Ausdruck an.

Soeben war er aus seinem Sinnen aufgewacht. Er hatte sich seinen letzten Aufenthalt vergegenwärtigt – vier Jahre waren vergangen –, und wie stets erfüllte ihn der Gedanke an das Volk von Orplid mit tiefer Befriedigung, und, da sein Magen knurrte, mit der Aussicht auf köstlich gebratene Schweinelenden, sämige Soßen, die sich über dicke Knödel ergossen, herrlichen Fenchel und Blumenkohl und feinste Süßspeisen. Alle Erwartungen wären zu seinem allergrößten Wohlbehagen zusammengeflossen, wäre da nicht, ja, wäre da nicht dieser eine Punkt gewesen, dieser winzige Riss im Weltgefüge, der einen Schatten von Besorgnis in sein Gemüt warf und von dem man nicht wusste, welche Bedeutung ihm noch zuwachsen würde – eine Regung, die er aber rasch verscheuchte.

Fünf Tage war er durch meist dichten Wald gezogen, hatte seine Vorräte an Datura, Digitalis und Aconitum aufgefrischt, zuletzt noch ein wenig Zwiesprache mit Sylphen und Salamandern gehalten und dann die Schwelle des Waldes überschritten, indem er seinen Blick im Kreis schweifen ließ und dreimal mit seinem Stab auf den Boden klopfte.

Am Ausgang des Waldes war er auf ein kleines Gemäuer aufmerksam geworden, das ihn hatte stutzen lassen. Es handelte sich um eine kleine Treppe, aus Sandsteinbrocken schief und krumm zusammengeschustert. Sie war ihm von seinem letzten Besuch nicht in Erinnerung. Einige Augenblicke hatte er innegehalten. Ein breites Grinsen war auf sein Gesicht getreten. Sie stellten, wenn ihnen danach war, auf einer Lichtung, am Waldrand, am Rain eine kleine Treppe auf! Oder einen steinernen oder hölzernen Sitz. Oder ein gemauertes, rund gewölbtes Fenster. Oder sie legten einen kupfernen Krug an einen Bach. Alles Dinge, die zu rein gar nichts nütze waren, außer eben – betrachtet zu werden.

Der Zauberer hatte Mittel, sich auch ungesehen und ungehört bemerkbar zu machen, und erwartete beim Weiterfahren, dass Anselm, sein Patensohn, plötzlich aus einem Gestrüpp am Rand des Hohlweges auf ihn zufliegen würde. Dass eine Horde Kinder johlend auf ihn zugelaufen käme, in Erwartung der Sensationen, die er zu bieten hatte. Er sah die Schornsteine rauchen, bevor er die Häuser selber erblickte. Er tat ein paar kräftige Züge aus seiner Pfeife, und dicke Schwaden quollen über die Krempe seines Hutes. Nach einer Zeit drückender Hitze war jetzt, Mitte August, nach heftigen Gewittern die erhoffte Abkühlung eingetreten, und ein leichter, frischer Wind wehte um seine stattliche Nase und bauschte von Zeit zu Zeit seinen Umhang. Gemächlich trottete sein Pferd dem Dorf entgegen. Nichts tat sich.

Die Sonne des späten Nachmittags ließ etwas im Gras aufblitzen. Der Zauberer stutzte und zog die Zügel an.

Er verließ sein Gefährt und bückte sich. Aus dem Gras klaubte er eine kleine goldglänzende, metallene Figur, ein Wappensymbol in der Form eines Kreises, durchschnitten von zwei gekreuzten Linien, an deren Enden je ein kleiner Kreis saß: das Jupiterzeichen, das ihm wohlbekannt war. Er fuhr sich mit der linken Hand über den Bart, blickte nachdenklich auf, schüttelte den Kopf, steckte dann den kleinen Gegenstand in eine Tasche seiner Tunika und kletterte in den Wagen zurück, um seine Fahrt fortzusetzen.

Bald würde der Hohlweg sich öffnen, eine Biegung nach rechts machen und den Blick auf den Eingang des Tales mit den ersten Häusern des Dorfes freigeben. Zur linken Seite, jetzt noch hinter einem Buckel verborgen, lag ein kleiner See, im Halbkreis umstanden mit Buchen und Erlen.

Er seufzte auf, nun doch im vollen Vorgefühl großen Wohlbehagens.

Anselm hatte kürzlich sein achtzehntes Lebensjahr vollendet und war damit volljährig geworden. In Orplid wurden die jungen Leute früher volljährig gesprochen als bei den umliegenden Völkern. Aber es war gar nicht in erster Linie der Geburtstag, der Cornelius hergeführt hatte, sondern mehr noch das Fest der Vier Bücher, sozusagen das Gründungsfest des Volkes von Orplid, ein Ereignis, das sich in seltenen Augenblicken mit der feierlichen Einsetzung des Ersten Geschichtenerzählers verbinden konnte. Dieser Moment war jetzt wieder gekommen.

Es stellte für einen jungen Mann die höchste Ehre dar, die das Volk von Orplid zu vergeben hatte: Erster Geschichtenerzähler und Hüter des Archivs, ein Amt, das man womöglich lebenslang innehatte. Und sie würde seinem Patenkind Anselm zuteilwerden.

Geschichtenerzähler waren sie mehr oder weniger alle, die Leute von Orplid. Doch hatte man es vor unvordenklichen Zeiten für wünschenswert befunden, ein solches symbolisches Amt zu schaffen. Überhaupt liebte man solche Ämter über alles. Es gab eine Maikönigin, eine Königin der Geschichten, einen Erntedankkönig und viele andere mehr. Der Erste Geschichtenerzähler repräsentierte sie bei der Schutzmacht von Arriana, insbesondere bei den dortigen Krönungsfeiern, und nur er hatte Zugang zu dem innersten Bereich des Archivs.

Und ebendas war die Störung im Weltgetriebe, der Stachel im Leben des kleinen Volkes, der Schatten, der sich auf seine Existenz legte, von dem noch nicht abzusehen war, wie er sich auf seine Lebensweise (und vielleicht sogar weit darüber hinaus) auswirken würde: Der letzte Hüter des Archivs war am Vorabend seiner Einsetzung verschwunden, sein hochbetagter Vorgänger unglücklicherweise kurz zuvor verstorben, und so trat eine Situation ein, die es noch niemals zuvor gegeben hatte: Der Zugang zum Innersten des Archivs blieb versperrt. Das war vor sieben Jahren.

Cornelius blickte auf. Als er immer noch kein Anzeichen einer Bewillkommnung wahrnahm, schweiften seine Gedanken wieder ab.

Seine Bruderschaft hatte eine Zeitlang in großer Zurückgezogenheit verbracht, um sich dem Studium der geheimen Wissenschaften und der Selbsterforschung zu widmen. Nun waren einige von ihnen in verschiedene Richtung in die Welt gezogen. Sein erster Weg führte ihn nach Orplid. Was ihm freilich von anderen Weltgegenden an Neuigkeiten zu Ohren kam, erfüllte ihn mit nicht geringer Besorgnis. Der flackernde Schatten wollte sich wieder in seine Gedanken schleichen, er hielt in Versunkenheit den Kopf gesenkt, als er plötzlich aufschreckte und sich schüttelte, als wolle er sich aus einer Betäubung erwecken: Hörte er eine fröhliche Musik?

Nein, er erwartete sie zu hören, es war bloße Einbildung. Stattdessen schlug ihm von Ferne ein ununterscheidbares Stimmengewirr entgegen, vermischt mit dem Geläut einer hellen Glocke, die er gut kannte. Nun denn! Seine Ankunft war endlich bemerkt worden.

Eben passierte er die Kastanien, die sich vor dem Eingang des Kirschblütentals wie vor dem Eingang aller Täler fanden, in denen das Volk von Orplid siedelte. Insgesamt waren es fünf: außer dem Kirschblütental das Heckenrosental, das Thymiantal, das Holundertal und das Liliental.

Er klopfte seine Pfeife aus.

Beinahe erschrak er, als plötzlich ein Mann aus dem Schatten eines Kastanienbaums heraustrat, ein Mann Mitte fünfzig, hager, mit fuchtelnden Gebärden und noch zerzauster wirkend, als er ihn ohnehin kannte: Efraim war es, der Arzt und Mechanicus, Ziehvater des elternlosen Anselm, dem Zauberer in vielen Jahren bewährter Freundschaft verbunden. Seine Züge hellten sich auf. Ihn hatte er freilich nicht als Ersten erwartet.

Efraim breitete die Arme aus. »Willkommen! Willkommen, Cornelius, alter Freund, und nochmal herzlich willkommen! Du kommst zu rechter Zeit, ja, zu rechter Zeit, weiß der Himmel!«

Cornelius machte die Zügel fest, stieg aus dem Wagen und umarmte den Freund. Obwohl Efraims Augen wie immer funkelten, hatte Cornelius auf Anhieb bemerkt, dass etwas nicht stimmte. »Was ist los, Efraim?«, fragte er, indem er ihn an den Schultern packte.

»Man hat uns einen Prolog zum Fest beschert, der zu der Dramaturgie des Ganzen zwar eine scharfe Würze beigesteuert hat, aber wenig amüsant ist.«

Cornelius schaute fragend.

Efraim wischte sich fahrig über das Gesicht, auf dem ein galliges Grinsen stand, Cornelius ließ ihn los, und nun sprudelte der Bericht über die Ereignisse aus ihm heraus, die sich am Morgen zugetragen hatten und von denen wir bereits wissen. Die Überrumpelung durch die Horde der Entführer war so vollkommen gewesen, dass man nachher noch nicht einmal ihre genaue Anzahl mit Bestimmtheit anzugeben wusste. Efraim bemühte sich während seines Berichts redlich, die von ihm gewohnte spöttische Abgeklärtheit wenigstens durch die eine oder andere sarkastische Wendung aufblitzen zu lassen.

»Sie gingen sehr zielstrebig vor. Sie kannten sich aus«, murmelte Cornelius. »Sie haben keine Nachricht hinterlassen, keine Lösegeldforderung oder sonst etwas?«

»Nein.«

»Was habt ihr dann unternommen?«

»Das Dorf wurde mit der Sturmglocke zusammengetrommelt, soweit die Leute erreichbar waren. Einige arbeiteten auf den Feldern, viele waren in den Nachbartälern, um Einladungen zum Fest auszusprechen und Vorkehrungen dazu zu treffen. Mattis und ein paar des Rates waren jedoch da.«

Anselm und seine gleichaltrigen Freunde Tonda und Tammo nahmen zusammen mit ein paar anderen jungen Männern die Verfolgung auf. Ihre Freundinnen befanden sich unter den Entführten. Sie mussten Mattis versprechen, vorsichtig zu sein, Erkundigungen einzuziehen und die Fährte zu verfolgen, ansonsten aber sich zurückzuhalten, bis Verstärkung aus Anif eingetroffen wäre, auf alle Fälle aber vor Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren. Gleichzeitig wurde eine Abordnung nach Anif losgesandt, der nächstgelegenen Burg im Herrschaftsbereich der Schutzmacht Arriana, die unter dem Befehl des Gaugrafen Theobert stand.

»Das war vernünftig gehandelt«, bemerkte Cornelius. »Es wäre höchst unklug von den jungen Leuten gewesen, weiß Gott wo in den arrianischen Landen herumzustreifen, die Straßen sind in letzter Zeit in manchen Gegenden unsicher geworden. Und es war genau der richtige Entschluss, das Einvernehmen mit dem örtlichen Befehlshaber Arrianas zu suchen. Ich kenne Theobert als einen rechtschaffenen Mann, deshalb bin ich in dieser Hinsicht beruhigt. Und schließlich: Euer morgiges Fest sollte trotz allem nicht gefährdet werden, oder habt ihr etwa erwogen, es zu verschieben?«

Efraim verneinte.

»Was hat die Abordnung in Anif ausgerichtet?«

Efraim schluckte. »Sie sind ohne Hilfe zurückgekehrt.«

»Was?«

»Graf Theobert war selbst betrübt darüber. Aber er hatte Anweisungen. Die Täter kamen von ganz oben.«

»Aha.« Cornelius nickte mit dem Kopf und ließ die Kinnladen mahlen. Dann kramte er das goldglänzende Wappensymbol aus seiner Tasche und zeigte es Efraim. »Hier, das habe ich vorhin im Gras gefunden. Das Zeichen des Königshauses. Jetzt lässt sich eins und eins zusammenzählen. Aber was hat das um Himmels willen zu bedeuten?«

Der Graf hatte eine Nachricht für die Abordnung, berichtete Efraim weiter. Bei der Bande handelte es sich um Arvin, den Königssohn, und eine Handvoll Kumpane. Sie hatten zuvor den Grafen aufgesucht und instruiert. Das Ganze beruhte auf einer übermütigen Wette im Verlauf eines Zechgelages. Sie ging darum, die jungen Frauen von Orplid aus der kleinen Welt ihres beschaulichen Tales herauszureißen und auf die Probe zu stellen: Würden sie der Verlockung der großen Welt und des Abenteuers widerstehen und zurückkehren wollen oder aber der Verlockung nachgeben und freiwillig bei ihren Entführern bleiben? Die Probe sollte bis zum nächsten Frühjahr dauern, als ferneres Reiseziel hatten sie die Bergfeste Amras bezeichnet.

Ah ja, die Frauen von Orplid, dachte Cornelius. Aus denen niemand im Umkreis schlau wird (noch weniger als aus den Leuten von Orplid ohnehin). Die allesamt lesen und schreiben können, und wie sie das können! Denen die Fama wahlweise die Schönheit, aber auch die Zimperlichkeit von Königinnen nachsagt, die Lieblichkeit von Maiblumen und die Eigensinnigkeit von Karottenziegen. Weil eben niemand aus ihnen schlau wird.

Cornelius legte beruhigende Gelassenheit in seine Worte: »Na, gottlob! Dann besteht wenigstens keine unmittelbare Gefahr für sie, sosehr es auch ein übler Bubenstreich ist. Ich habe den Königssohn einmal kennengelernt. Da war er freilich noch ein paar Jahre jünger. Ich habe ihn als keinen ungeraden Burschen in Erinnerung. Möchte wissen, was in ihn gefahren ist. Sei aber erst einmal beruhigt: Wir werden schon Rat zu schaffen wissen. Nun steig zu mir auf den Wagen.«

Efraim kletterte zu Cornelius auf den Sitz.

In diesem Moment hörten sie das Geräusch näherkommender Pferde in ihrem Rücken und wendeten die Köpfe.

Anselm und seine Begleiter kehrten just von ihrer Mission zurück, und man konnte an ihren hängenden Köpfen und ihren Gesichtern auf Anhieb deren Ergebnis ablesen. Am Ausgang des Hohlwegs angelangt, blickte Anselm auf und erkannte seinen Paten. Er schwang sich vom Pferd und rannte auf ihn zu. Tammo und Tonda taten es ihm nach.

Anselm sprang auf das Trittbrett und umarmte Cornelius. Tränen standen in seinen Augen. »Sie haben unsere Mädchen entführt. Mirelle haben sie auch mitgenommen.«

»Mirelle ist ...?«

»Die, die ich liebe.«

»Ich bin bereits im Großen und Ganzen unterrichtet«, sagte Cornelius, »und ich kann euch versichern, dass ihnen keine Gefahr droht. Alles wird sich zum Guten wenden. Aber nun berichte: Wie ist es euch ergangen?« Mit einer Kopfbewegung bezog er Anselms Begleiter, die jetzt alle herangekommen waren, in seine Frage ein.

Die Röte schoss Anselm in die Wangen. Er war vom Trittbrett herabgestiegen.

Sie hatten in den umliegenden Dörfern auf arrianischem Boden nachgefragt und Auskunft erhalten, wo die Entführer mit den Entführten gesichtet worden waren. Dann waren sie ihnen auf dem bezeichneten Weg nachgeritten, in einem kleinen Hain aber in einen Hinterhalt geraten. Die Entführer hatten ihnen offenbar aufgelauert. Sie wurden kurzerhand überwältigt; es wurden ihnen Säcke übergestülpt und diese zugebunden. Eine Weile dauerte es, bis sie sich selbst daraus wieder befreien konnten. Die Entführer waren unterdessen lachend weitergeritten.

Anselm hatte mit abgewandtem Gesicht erzählt, und Cornelius schmerzte es, sich vorzustellen, was in seinem Innern vorging. Immerhin hatten sie, außer an ihrem Stolz, bis auf einige derbe Püffe keine weiteren Verletzungen davongetragen.

»Fahren wir zu Mattis«, schaltete sich jetzt Efraim, an Cornelius gewandt, wieder ein, »dort ist der Rat versammelt, und es gibt ein Essen zu deinen Ehren, man darf die guten Sitten auch in aufgewühlten Augenblicken nicht verabsäumen – gerade dann nicht.«

Cornelius schob die Unterlippe vor, kniff ein wenig die Augen zu und nickte seinen Begleitern aufmunternd zu, dann schwang er die Zügel. Anselm und seine Begleiter führten ihre Pferde am Halfter weiter.

Als sie den Dorfrand erreichten, brauste ihnen wie ein Bienenschwarm eine Schar Kinder entgegen.

»Ich habe sie nur mit größter Mühe hier festhalten können«, lachte Efraim.

Cornelius hielt an und ließ das Gewimmel und die ausgestreckten Hände an seinen Wagen heranbranden.

»Na, nun ist es aber gut, ihr Rangen«, übertönte er nach einer Weile das vielstimmige Geschrei ringsum, »sollen wir hier anwurzeln und dabei Hungers sterben?«

»Zeigst du uns ein Feuerwerk, Cornelius?«, tönte es hell aus vielen Kehlen, denn das hatte man ihnen angekündigt, wenn sie sich auch keine rechte Vorstellung davon machen konnten.

»Nein«, gab Cornelius mit gespielter Strenge zurück und amüsierte sich über die enttäuschten Gesichter und offenen Münder. »Aber«, rief er lachend, »ich habe etwas anderes vor, und das wird euch sicher genauso gut gefallen.«

Abrupt wechselte der Ausdruck in ihren Gesichtern, und sie klatschten johlend in die Hände.

»Und nun ab mit euch!«

Sie passierten die ersten Häuser und erreichten bald den kleinen Marktplatz. Seinen Mittelpunkt bildete ein Brunnen mit schwarzem schmiedeeisernem Ziergestänge. Aus einem Ausguss, der als Vogelschnabel gestaltet war, floss ein dünner, aber stetiger Wasserstrahl. In seiner Nähe stand eine alte, breitkronige Linde. Cornelius hielt für einen Moment an und blickte in die Runde.

Das Bild war immer eine Freude für das Auge. Die Häuser waren meist aus einem fein marmorierten, vorwiegend gelblichen, aber auch mit grünen und violetten Maserungen durchsetzten Buntsandstein errichtet, der nicht weit entfernt in Steinbrüchen gewonnen wurde. Die Fachwerkbauweise hatte sich bei einer geringeren Anzahl von Häusern erhalten. Weniger am Marktplatz, aber sonst häufig fand sich bei den Häusern ein kleiner Vorgarten mit Blumen, Zier- und Nutzpflanzen, besonders Kräutern. Nach der rechten Seite stieg das Gelände sanft an, nach der linken kräftiger. Würde er dem Weg auf der anderen Seite des Marktes weiter folgen, so wusste er, dann stieße er rechter Hand auf eine Wiese, die als Festplatz diente. Auf ihr würde er Zelte für die Geschichtenerzähler, eine Bühne für die Musiker und Tänzer und zahlreiche Tische und Sitzbänke vorfinden. Linker Hand, zurückspringend und etwas erhöht, würde sich das Gebäude des Archivs sehen lassen, direkt an den Sandsteinfelsen gebaut, oder besser gesagt: die Gebäude, da immer wieder angebaut und aufgestockt worden war.

Cornelius spürte plötzlich – in Begleitung von Blumendüften – einen Hauch der Erwartung zu sich hinwehen, froher, festlicher Erwartung, trotz der Geschehnisse des Tages.

Die Leute, die in den Vorgärten beschäftigt waren oder in den Werkstätten und in den Stuben arbeiteten und an die Fenster traten, winkten zur Begrüßung, und Cornelius winkte zurück.

Einen Moment lang durchströmte ihn ein warmes Gefühl der Zuneigung. Dann ein sehr warmes von Zorn. Und wenn er unnachsichtig in sich hineinschaute, dann bezog sich dieses – wider seinen Willen – auch auf die so verteufelt friedfertige und hilflose Lebensform des Völkchens, das vor seinen Augen seinen Alltagsverrichtungen nachging. Unwillig über sich selbst schüttelte er die Regung von sich ab.

Er suchte sich den Gemütszustand seiner Freunde zu vergegenwärtigen, die ihn als Mitglieder des Rates bei Mattis und Lovis erwarteten. Owe, dachte er, es wird sie hart getroffen haben. Nicht nur die Angehörigen der Entführten. Sicher, für Timus und Luana, die Eltern Joleens, war es besonders schlimm. Sie waren zugleich die Zieheltern Jonathans, des verschwundenen Ersten Geschichtenerzählers. Als Säugling war er in einem Körbchen vor ihrer Haustür abgelegt worden; seine leiblichen Eltern konnten nie ausfindig gemacht werden. Timus und Luana nahmen es damals als einen Wink des Himmels, da ihnen im Jahr zuvor ein kleiner Sohn kurze Zeit nach der Geburt gestorben war. Nun war ihnen auch ihre Tochter verloren gegangen, wenn auch, wie zu hoffen stand, nur für kurze Zeit. Cornelius seufzte.

Den Übrigen wird es jedoch ebenfalls an die Nieren gegangen sein, führte er seine Gedanken fort. Sie waren keine ausgemachten Hasenfüße, seine Orplider, aber Erschütterungen wie diese brachten leicht den Grund ihrer Existenz in Aufruhr. Zumal noch das Beben nachwirkte, das sich mit dem Verschwinden des letzten Archivhüters unter ihnen ausgebreitet hatte. Dazu kam weiter die von den Garamanten ausgehende, für das friedliebende Volk zutiefst verstörende Gewalttätigkeit, auch wenn diese noch weit von ihren Türschwellen entfernt war. Und jetzt also der Anschlag aus der Mitte derjenigen, denen eigentlich ihr Schutz aufgetragen war. Cornelius war sehr geneigt, diese Entführung als ein mutwilliges, aber harmloses Abenteuer einzuordnen, das ihm keine übergroßen Sorgen bereitete. Aber seine Freunde würden das verständlicherweise erst einmal ganz anders sehen.

Sie hatten das Haus von Mattis, dem Goldschmied, und seiner Frau Lovis, der Heilerin, erreicht. Beide traten auf die Schwelle ihres Hauses, um den Gast zu begrüßen. Anselm, Tonda und Tammo kümmerten sich unterdessen um die Pferde und das Gefährt des Zauberers, spannten aus, brachten die Pferde in den Stall hinter dem Haus und versorgten sie.

»Ihr seid ein wahrlich ersehnter Gast in dieser Stunde, Cornelius«, sagte Mattis, nachdem er ihn umarmt hatte, »und Ihr kommt zu rechter Zeit.«

Aus dem Inneren des Hauses drang ein lebhaftes Stimmengewirr, zugleich ein Duft, der dem Zauberer überaus verführerisch in die Nase stieg.

»Seid willkommen«, sagte Lovis und umarmte den Gast ebenfalls, »von den Ereignissen werden Euch Efraim und Anselm in Kenntnis gesetzt haben. Ihr werdet hungrig sein wie ein Wolf nach Eurer Reise durch die Großen Wälder. Guter Rat kommt gern bei gutem Essen, sagt ein altes Sprichwort.« Sie strich eine ungebärdige Haarsträhne zurück und machte eine einladende Geste in Richtung der großen Stube.

Cornelius sah sie einmal mehr mit Staunen an, ihre weiten, tiefdunklen Augen, ihre jugendlich wirkenden Bewegungen, obgleich ihr Haar längst ergraut war. »Und Eure Person sowie Eure Schüsseln lohnen jede weite Reise«, erwiderte er lächelnd; es wärmte sein Herz, dass immer noch bei dem Lob ein freudiger Ausdruck über ihre Miene huschte.

An dem großen schweren Tisch saßen vier Männer und drei Frauen, die sich erhoben, als der Zauberer in die Stube trat. Efraim begab sich zu dem für ihn freigelassenen Platz.

Dies waren die anwesenden Gäste: Efraim haben wir bereits kennengelernt. Zu seiner Charakterisierung kann vielleicht noch gesagt werden, dass er nicht nur (häufig genug spöttisch) funkelnde Augen hatte, seine ganze Gestalt schien gewissermaßen zu funkeln, und beständig floss er vor Einfällen über, die sich hauptsächlich um seine unzähligen, mehr oder weniger sinnreichen mechanischen und chemischen Erfindungen drehten. Neben ihm stand Jesper, der Meistermusicus des Dorfes und Erfinder vieler Stücke des musikalischen Repertoires von Orplid, der seine Schlaksigkeit (im buchstäblichen wie übertragenen Sinne) seit seiner Jugendzeit nie gänzlich abgelegt hatte. Dann war da Myrtilla, die Weberin, füllig von Gestalt und stets ein wenig entrückt wirkend. Weiter Marlin und seine Frau Elfrida, beide Puppenspieler. Der Steinmetz, Baumeister und Bildhauer Birk und seine Frau Jonna, die weitgerühmte Zuckerbäckerin. Schließlich Snorre, der wirklich nur bei dem Volk von Orplid in eine Ratsversammlung gelangen konnte und sonst nirgendwo auf der Welt, denn bei ihm würde man niemals mit Bestimmtheit entscheiden können, ob er ein ausgemachter Narr oder ein vollendeter, wenn auch kindhafter Weiser wäre.

Anselm mit seinen beiden Freunden hatte man hinzugebeten. Sie traten kurz darauf in die Stube.

Cornelius nickte herzlich grüßend in die Runde; er überließ das Wort zunächst Mattis.

»Erheben wir das Glas«, sagte Mattis, als alle Platz genommen hatten, »auf die Bande der Freundschaft und den wachen Sinn, der sie stets erneuert, und auf den Geist der Poesie, der alle Herzen zusammenführt, so wie es in unserem schönen alten Symbol der Vier Bücher ausgedrückt ist. Trinken wir darauf in einer Zeit, die es offenbar besonders angeraten sein lässt, daran zu erinnern. Und auf unseren Freund und Ehrengast, Großmeister Cornelius, den ich geradezu als einen Schutzpatron in dieser Stunde begrüßen will. «

Ojeoje, wie ich vermutete, dachte Cornelius. Wenn er diesen Ton anschlägt, dann ist es ihnen allen gewaltig in die Glieder gefahren.

Mattis entschuldigte Timus und Luana, die Eltern von Joleen, die zu mitgenommen wären von den Ereignissen, um an der Runde teilzunehmen. »An sie wollen wir besonders denken, haben Sie doch bereits zum dritten Mal ein Kind verloren. Dieses Mal hoffentlich nicht für lange.«

Die Gläser klangen.

Cornelius dachte: Nun, dann werde ich ebenfalls das kräftigste Register ziehen müssen. Er erhob sich. »Es mag die Zeit kommen, da niemand mehr den Geist respektiert und ehrt, der die Grundfeste des Volkes von Orplid bildet, eine Zeit, da aller Freundschaft Bande brechen und das Archiv für immer geschlossen und zerbrochen ist, aber, meine Freunde, diese Zeit ist noch fern. Und solange noch Leben ist in einem von uns, solange meine Bruderschaft besteht und solange der Geist, der uns eint, an unsere Nachkommen übergeht, wird nicht eintreten, was in den alten Büchern prophezeit ist: die Zeit der Düsternis, die Zeit, da die Welt schrumpft und in den giftigen Dünsten der freudlosen Missgunst untergeht.«

Er bemerkte den dankbaren Ausdruck in den Augen und hob sein Glas, nahm einen Schluck und setzte sich wieder. Erneut klangen die Gläser. Da fiel ihm etwas ein, und er stand noch einmal auf. Er hatte beschlossen, etwas zu tun, was er sonst niemals tat vor den Augen anderer außer seiner Mitbrüder von Metarchon.

»Lasst mich, bevor wir mit dem Essen beginnen, zu eurer Beruhigung den Beryll befragen.« Ein leises Raunen wurde hörbar. »Mein Mitbruder Albus befindet sich gegenwärtig in Arriana. Er verfügt über beste Beziehungen zum Königshaus, und gewiss wird er mir, was nötig ist zu wissen, mitteilen können. Ich werde Anselm und die Abordnung zum Krönungsfest begleiten. Ich gehe davon aus, dass wir gleich morgen aufbrechen. Und wir müssen auf alle Fälle zuerst nach Arriana, bevor wir uns zu der Bergfeste begeben.« Letzteres betonte er, als er die Unruhe bemerkte, die sich erhoben hatte, als er die Gesandtschaft erwähnte.

Anselm holte die Kristallkugel aus Cornelius’ Wagen auf sein Geheiß hin herbei. Sie war in einem Stoffbeutel verwahrt. Cornelius entnahm sie dem Beutel und legte sie vor sich hin. Alle waren ganz still geworden. Cornelius beugte sich etwas zum Tisch nieder, legte die Hände um die Kugel und schloss für einen Moment die Augen. Sie sahen seine Lippen sich stumm bewegen. Dann öffnete er die Augen wieder. Die Kugel begann von innen heraus zu leuchten. Das Innere war trüb, Schleier von blasser Farbe zogen darin herum, wie Dämpfe, sie bildeten wechselnde Muster, zogen sich in die Mitte zurück, dehnten sich zur Oberfläche hin aus, pulsierten. Mehr konnten die Anwesenden nicht erkennen. Der Zauberer hielt die Augen starr darauf gerichtet. Wieder bewegten sich seine Lippen Das mochte beinahe eine Viertelstunde dauern. Schließlich nahm er die Hände weg, das Licht in der Kugel erlosch, er richtete sich auf und verstaute sie wieder in dem Beutel.

»Es ist, wie ich dachte. Albus teilt mir mit, dass sich der König und sein Sohn in bitterem Zerwürfnis getrennt haben. Der Streit habe sich über das richtige Verhalten Mantiana gegenüber entzündet, das an den König mit dem Angebot eines Handelsvertrages herangetreten sei. Dahinter stehe aber die schwelende Entfremdung der beiden, der König halte Arvin von den Regierungsgeschäften fern, weil er ihn für zu unstet und unreif halte, Arvin dagegen sei erbittert darüber, immer noch als Kind behandelt zu werden. Also das alte Lied. Arvin sei dann, berstend vor Wut und Trotz, mit seinen Kumpanen ohne ein Wort auf und davon geritten. Über die Meldereiter lasse sich der König jedoch über jeden ihrer Schritte unterrichten. Ich gehe davon aus, dass auch von Anif bereits ein Reiter unterwegs ist. Albus wird den König gleich morgen in der Frühe aufsuchen und meine Nachricht überbringen. Er rechnet fest damit, dass der König eine Gesandtschaft zusammenstellen wird, die nach dem Krönungsfest sogleich zur Bergfeste aufbricht. Er begrüßt es sehr, dass ich die Abordnung von Orplid begleite und mich auch der Gesandtschaft nach Amras beigeselle.«

»Auf den König ist Verlass, ich zweifele nicht daran«, sagte Mattis. »Wir können fürs Erste einigermaßen ruhig schlafen. Die Dinge sind, so gut es nur geht, gerichtet, zumal durch Euren Beistand, Cornelius, und den Eurer Brüder. Ich denke, wir dürfen davon ausgehen, dass alles eine aufgeregte Episode bleiben wird und wir spätestens in ein paar Wochen unsere Mädchen zurückhaben.«

Cornelius gab den Beryll Mattis in Verwahrung, und nun wurde aufgetragen.

Die Deckel wurden gelüpft, aus den Schüsseln dampfte es: köstliche Pasteten, im Teigmantel gekochter Schinken, Ochsenbraten, dazu Klöße, Erbsen, Möhren, Blumenkohl, Salat, Rübenmus und Apfelmus.

Das Gespräch kreiste zwangsläufig um die Geschehnisse des Tages und die in Unordnung geratenen Zeitläufte.

»Dass sich der Königssohn ausgerechnet den Vorabend des Krönungsfestes für seinen Schurkenstreich ausgesucht hat: es ist nicht zu fassen«, sagte Lovis kopfschüttelnd.

»Ihr habt Recht, wenn Ihr auf der Reise nach der Hauptstadt besteht«, wandte sich Mattis an Cornelius. »Wir haben Pflichten gegenüber unserem Schutzherrn, die gerade in der jetzigen Situation nicht vernachlässigt werden dürfen. Ich gestehe, dass ich darauf gehofft hatte, dass Ihr Euch der Abordnung anschließt, und bin sehr beruhigt darüber. Wir müssen die Nähe des Königs suchen. König Ulmon war uns nicht nur stets wohlgesonnen, er hat sich uns gegenüber als wahrhaft väterlich erwiesen, beinahe mehr noch als seine Vorfahren.«

»Ja, aber gilt das auch für seinen Sohn?«, warf Marlin ein. Sein kleines, rundliches Gesicht war bereits gerötet, was bei ihm immer sehr schnell der Fall war, sei es vom Essen, Trinken oder vor Aufregung. »Anscheinend nicht. Man hörte ja schon des Längeren, dass das Verhältnis von Vater und Sohn nicht das beste ist. Und der König ist kränklich in letzter Zeit. Wie es scheint, ist er seiner Regierungspflichten müde geworden. Er lässt den Dingen mehr und mehr ihren Lauf, auch wenn es kein guter ist.«

»Das ist leider wahr«, pflichtete Mattis ihm bei. »Die Macht Arrianas schwindet. An Reichtum wird es von Mantiana mittlerweile bei Weitem übertroffen. Die Herren von Mantiana haben es verstanden, den angehäuften Reichtum einzusetzen und mit Handelsverträgen ihren Einfluss überall im Umkreis auszudehnen, was wiederum ihren Reichtum weiter vergrößert. Und nicht nur das: Sie sind dabei, eine sich von Jahr zu Jahr vergrößernde Armee von Söldnern zusammenzukaufen.«

»Keiner blickt dahinter, wie sie das alles anstellen«, bemerkte Jesper. »Für die musische Seite des Lebens haben sie jedenfalls nicht viel übrig, diese Barbaren.«

»Ulmons Kraft und Lebensmut schwand, als Almissa von ihm ging«, sagte Jonna.

»Ja«, sagte Lovis, »sie war ein Teil von ihm. Er hat es niemals verwunden.«

»Wann war das nochmal, als sie starb?«, fragte Marlin.

»Vor sieben Jahren«, antwortete seine Frau Elfrida.

»Vor sieben Jahren«, wiederholte Cornelius nachdenklich.

Efraim reckte den Hals. »Ich sage es unverblümt: Ulmon bekommt nicht mehr wirklich mit, was um ihn herum vor sich geht. Was die Mantianer treiben, wie sie sich überall Vorteile verschaffen, und was an der Nordostgrenze los ist: er begreift es nicht, er ist wie mit Blindheit geschlagen. Wenn das Zerwürfnis mit seinem Sohn in dessen Ungeduld begründet ist, kann ich diesen weiß Gott verstehen.«

»Wenn ihm aber kein besserer Zeitvertreib einfällt, als die Töchter friedliebender Leute zu entführen«, schnaubte Marlin, »dann gute Nacht. Dieser kindische Lump ist gewiss nicht die Person, das Land zu neuer Blüte zu führen.«

»Das ist aber nur zu schade«, rief Efraim sarkastisch, »denn eine Auswahl hat die Welt nicht. Ein weiterer Sohn steht jedenfalls meines Wissens nicht zur Verfügung. Nicht einmal eine Tochter, wenn es denn die weibliche Thronfolge gäbe.«

Einen Moment lang schwieg die Runde.

»Und dann die Garamanten«, sagte Jonna beinahe flüsternd. »Sie waren schon immer ein unruhiges und wildes, unstetes Volk, immerhin aber mit einem Funken solider Ehre, auf die man sich verlassen konnte. Was man aber neuerdings von ihnen hört, lässt einen das Blut in den Adern gefrieren. Die Nordostgrenze scheint so durchlässig zu sein für sie wie ein löcheriges Sieb, sie fallen wahllos hier ein und dort ein, morden und rauben, und sind so schnell verschwunden, wie sie gekommen sind.«

»Das Gewebe der Dinge wird zerrissen, es franst und blutet an allen Ecken und Enden«, flüsterte Myrtilla vor sich hin.

»Davon habe ich ebenfalls mit Sorge gehört«, sagte Cornelius. »Und auch davon, dass sie sich angeblich auf eines der Vier Bücher berufen, das sie zu ihrem Götzen gemacht haben.«

»Sie bilden sich ein«, sagte Efraim mit Schärfe in der Stimme, »im Besitz des einzig wahren Buches zu sein, seine auserwählten Hüter, und nehmen sich heraus, die anderen als Minderwertige zu betrachten, denen man beliebig an den Hals gehen kann. Wollen sie der Welt ihre eingebildete Überlegenheit mit Feuer und Schwert aufbrennen? Ich weiß es nicht. Was bezwecken sie am Ende? Niemand weiß es. Herzlose Eiferer anscheinend; es gibt kaum etwas Gefährlicheres. Dabei hat man bis vor nicht allzu langer Zeit von ihnen kaum noch etwas gehört. Sie hatten sich in ihre Wälder und Berge verkrochen, und die Welt kam gut ohne sie aus.«

»Ja, vor Zeiten war das wohl anders, wie Jonna schon bemerkte. Sie waren als kriegerisches, aber hochgesinntes Volk bekannt, von dem viele Heldenlieder die Runde machten. Im Archiv lagern etliche davon«, sagte Mattis. »Ist es nicht so, Anselm?«

Dieser nickte.

Die Dämmerung setzte langsam ein, Kerzen wurden angezündet. Dampf und mannigfaltiger fülliger Duft zogen umher; die ganze Stube schien an dem Schmaus Anteil zu nehmen. Wollten nicht die schwarzen Balken selbst am liebsten dunkle Soße ausschwitzen?

Cornelius bemerkte mit Freude, wie mehr und mehr das Mahl seine wohltuende Wirkung entfaltete. Seine Freunde fanden Mittel und Wege, mit den Erschütterungen des Lebens fertig zu werden, und ein Gaumen und Gemüt gleichermaßen entzückendes geselliges Mahl gehörte auf jeden Fall dazu. Er hatte sich nur mäßig an dem Gespräch beteiligt; lieber beobachtete er genießerisch sich schließende Augen, genüsslich sich spitzende Lippen, bedachtsam mahlende Kinnladen. Er kniff ein wenig die Augen zusammen und ließ die Eindrücke von den vertrauten Gebärden und Eigenheiten seiner Freunde sich zu einem fast traumähnlichen Gespinst verweben: wie Mattis sich den kurzen schlohweißen Bart strich, Lovis ihre Strähne aus dem Gesicht vertrieb, Efraim spöttisch den Mund verzog oder eine Braue hob. Die rührend sorgsamen, beinahe schüchternen Handreichungen von Marlin und Elfrida, er von rundlicher Gestalt, sie fast einen Kopf größer als er, dabei zart und zerbrechlich wirkend, beide, wenn auch in ihrer Gestalt kontrastierend, so doch in anderer Hinsicht sich wie ein Ei dem anderen gleichend. Den stets in Bewegung befindlichen und doch nichts wirklich festhaltenden, sondern in sich versunkenen Blick Jespers. Die wiegenden, traumartigen Bewegungen Myrtillas. Die kantige, aber nicht grobschlächtige Statur Birks, seine strahlend blauen Augen, die geschickten Hände seiner Frau Jonna, übrigens, anders als ihr Beruf hätte vermuten lassen, eine gertenschlanke Frau. Snorre, an allen Gliedern dünn bis auf ein kugelrundes Bäuchlein, seine staksigen, bizarren Bewegungen, seine wild abstehenden, ungebändigten Haare.

Eben fasste Marlin die geäußerten Sorgen zusammen. »Die Beschützer kündigen ihren Schutz auf. Die Reichen trumpfen mit ihrem Reichtum und ihrer Macht auf, und die Verblendeten ergeben sich dem Hass. Man könnte in der Tat auf die Idee kommen, die Zeitenwende stünde bevor, die in den alten Büchern vorhergesagt wird, und es sei nicht bloß eine symbolische Rede. Die Zeit, da alles Schöne im Wüten der gierigen, hasserfüllten Elemente unterzugehen droht. Die Zeit, da die Geschichten ihre Kraft verlieren und das Gemeine und Widrige obsiegt. Eine Zeit, in der für Menschen des Friedens und der Poesie kein Platz mehr ist. In der für uns kein Platz mehr ist.«

Die Tafelnden waren freilich zu diesem Zeitpunkt dem Apokalyptischen schon etwas entrückt, und die weiteren Wortbeiträge gestalteten sich allmählich wunderlicher und wunderlicher.

»Lasst sie nur kommen!«, rief Jesper mit überhöhter Stimme und wild gestikulierend, wobei seine spitze Nase noch spitzer zu werden schien, als sie ohnehin schon war. »Ich gedenke sie mit einem höllischen Kontrapunkt in die Flucht zu schlagen, einem Kontrapunkt, wie er ihnen ihr Lebtag noch nicht zu Ohren gekommen ist.« Bei ihm wusste man nie so genau, wann er so etwas ernst meinte oder sich bloß mit einem gehörigen Theaterdonner Luft verschaffte. »Falls sie denn wissen, womit sie es bei einem Kontrapunkt zu tun haben, diese verdammten Barbaren.«

»Und ein schönes Zuckerwerk, das werden sie doch immerhin zu würdigen wissen?«, rief Jonna. »Daran kommt doch kein Mensch vorbei, das gehört doch zwingend zur Natur des menschlichen Gaumens. Da wird doch jeder milde gestimmt.«

Efraim entgegnete unbarmherzig: »Ich bezweifle, Jonna, ob diese Teufel mit Zuckerwerk in die Flucht zu schlagen sind, es sei denn, man schmeißt sie mit kandierten Früchten tot. Nein, ich werde mich an die neuen Zeiten halten und mir eine künstliche Schutzwehr ausdenken müssen, unter Verwendung der ungemein segensreichen Erfindung des Schwarzpulvers.« Er sah sich von erschrockenen Augen umringt. »Na, erschreckt bloß nicht. Ich weiß ja selbst, dass auch damit nicht weit zu kommen ist.«

»Ganz davon abgesehen, dass wir alle unsere Überzeugungen über Bord werfen müssten«, sagte Mattis.

Efraim konnte darauf aber nicht erwidern, weil sich Snorre in einem merkwürdigen singenden Tonfall vernehmen ließ: »Das magische Kaleidoskop! Ich beschwöre das magische Kaleidoskop!«

Die Anwesenden blickten erst zu Snorre, dann blickten sie sich untereinander an, zuckten die Achseln, was soviel bedeuten mochte wie: Nun gut, warum nicht, jetzt erst recht, wenn die Welt schon aus den Fugen gerät – und nun kam etwas in Gang, worauf sich Cornelius im Vorhinein freute. Snorre hatte das Stichwort geliefert, auf das eine Wechselrede einsetzte, bei der einer den anderen an fantastischen Einfällen zu übertrumpfen suchte.

Marlin begann: »Der Ruf erging. Aus den Augen des Geistes schossen Strahlen und durchdrangen die Räume, schneller als das Licht und zugleich unendlich sorgsam wie die geduldige Liebe.«

Seine Frau Elfrida fiel ein: »Das Licht seiner Augen fasste, was Stoff werden sollte, und schuf die Gestalten, flüchtige, luftige, vergängliche Erscheinungen, zart wie das Licht des Frühlingsmorgens.«

Lovis fuhr fort: »Bläuliche Dünste entströmten einem grundlosen Grund – aber da waren es gar keine Dünste, sondern behändes Quecksilber, schimmernd floss es die Bahn hinab und hinauf. Elektrische Entladungen zuckten durch das Blau, das Rot, das Grün – aber da waren es gar keine Entladungen, sondern ungezählte Sterne, die aus dem Universum herabregneten.«

(Währenddessen gestikulierte Snorre in einer Weise, als wolle er ein Orchester dirigieren.)

Mattis: »Aber da waren es gar keine Sterne, sondern Edelsteine und Kristalle – der grüne Smaragd – der blaue Saphir – der rote Rubin – der violette Amethyst – und der König, der klare, strahlende Diamant. Das Auge des Geistes durchmaß die Räume, die Kreise des Unendlichen, er war glücklich und schaute und schaute, und die Dinge erschienen ihm wie Kulissen – aber da bemerkte er auf einmal, dass nicht die Schauseite, sondern die Rückseite das Entscheidende und Köstliche war. Und er gewahrte erbebend, dass er die Dinge gar nicht schaute, sondern dass die Dinge er selber waren.«