Das Auge des Feinschmeckers - Frank Winter - E-Book

Das Auge des Feinschmeckers E-Book

Frank Winter

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Beschreibung

Unglaublich, was für ein abscheuliches Gericht man Angus MacDonald in einem mexikanischen Restaurant in Edinburgh serviert. Der bedeutendste Gastro-Journalist Großbritanniens, gleichermaßen gefürchtet wegen spitzer Feder und feiner Zunge, kann zum ersten Mal eine Fleischsorte nicht erkennen. Damit nicht genug. Nachdem er eine gepfefferte Kritik verfasst hat, fordert ein anonymer Anrufer ihn auf, seine Weisheiten in Zukunft für sich zu behalten. Mac Donald lässt sich nicht einschüchtern und wird kurzerhand niedergeschlagen. Als dann auch noch das Curry in seinem liebsten indischen Restaurant grauenvoll missraten ist, reicht es dem Gourmet: Er forscht nach, um den Kriminellen das Handwerk zu legen, denn nichts weniger als die kulinarische Kultur seiner Heimatstadt steht auf dem Spiel. Unterstützt wird er von seinem italienischen Freund Alberto Vitiello, einem quirligen Guest House-Betreiber. Die beiden Detektive folgen dem Restaurant-Besitzer Francis Drake bis auf die Äußeren Hebriden. Hinter der kulinarischen Bühne betreibt Drake höchst kuriose Geschäfte. Und wer sich ihm in den Weg stellt, hat um sein Leben zu fürchten ... "Das Auge des Feinschmeckers" ist der erste Fall von Angus Thinnson MacDonald, dem unermüdlichen Kämpfer für authentisches Essen und Trinken.

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Winter

Das Auge des Feinschmeckers

Schottland-Krimi mit Rezepten

Frank Winter

Das Auge des Feinschmeckers

Schottland-Krimi mit Rezepten

Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

© 2012 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Britta Gerloff

Umschlag: Thorsten Hartmann

unter Verwendung eines Fotos von wragg/istockphoto.com

Rezepte: Frank Winter

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-941895-26-3

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Inhalt

Die Personen

Mexiko ist hier nicht

Das Unglück beginnt

James Bond lässt grüßen

Herr Doktor / Frau Doktor

Die Qual der Wahl

Alles, was Sie mit Scotch kochen können – Teil 1: Cullen Skink

India, warum?

Liebe etc.

Francis Drake ist kein Sir

Eine Hausärztin hilft am besten

Alles, was Sie mit Scotch kochen können – Teil 2: Marinierte Kipper Fillets

Hyckill im Einsatz

Mrs Sinclair in Portobello

Unterschiedliche Pflichten

Gleich und Gleich

Zwei Detektive im Einsatz

Irgendwo in der Ferne

Mister Brodie leidet

Die Hebriden sind eine Reise wert

Die Spur verdichtet sich

Land in Sicht

Alles, was Sie mit Scotch kochen können – Teil 3: Warme Whisky-Sahne

Männer der Kirche und des Schwerts

Tradition verpflichtet

Tag der Tat

Finale

Warum das Leben ein großer Butterkeks ist / Rezept für Shortbread

Frittierte Pilze

Cullen Skink

Marinierte Kipper Fillets

Warme Whisky-Sahne

Glossar schottischer Begriffe

Die Personen

Angus Thinnson MacDonald

wird nicht nur bei Shortbreadkeksen und Single Malt Whisky schwach. Edinburghs gewichtigster Gourmet hat seine Passion zum Beruf gemacht. Ein höchst merkwürdiges Stück Fleisch in einem mexikanischen Restaurant zwingt ihn zu ausgedehnten Nachforschungen. Er ist fest entschlossen, für die Verteidigung des guten Essens alles zu wagen.

Alberto Vitiello

ein vor Jahrzehnten nach Edinburgh übergesiedelter Italiener.

»Take life as a joke« lautet seine Philosophie. Wenn er nicht gerade seinem besten Freund Angus bei den Ermittlungen hilft, führt er mit seiner Frau Maria sehr fidel ein Guest House.

Dr. Karen Miller

MacDonalds Leibärztin und eventuell zukünftige Dame seines Herzens rät ihm ebenso häufig wie dringend zum Abnehmen.

Leonard Hyckill

leidgeprüfter Forscher, der auch im gesetzten Alter noch bei seiner Frau Mutter wohnt. Führt seine Art von Leben, weil er nichts anderes kennengelernt hat.

Francis Drake

englischer Restaurant-Besitzer, der nur seine Geschäfte und keine Skrupel kennt.

Mrs Sinclair

eine reizende ältere Dame, deren Gesellschaft MacDonald zu schätzen weiß. Sie backt herausragende Butterkekse.

Father Michael

ein weiser Mann der Kirche, der entscheidende Hinweise liefert.

Herbert Mitchell

ein dubioser Geschäftspartner Drakes aus Glasgow.

… sowie einige weitere Personen in und um Schottlands Hauptstadt.

»Was erwarten Gäste mehr als alles andere, wenn sie ein Restaurant betreten? Aufmerksamkeit. Sie wollen ein Lächeln sehen, Anerkennung, ein freundliches Willkommen. Und das durchschnittliche Restaurant ist verdammt schlecht, wenn es um diese einfache Form der Höflichkeit geht.«

Gordon Ramsay in seinem Buch »Playing with Fire«

Mexiko ist hier nicht

Am allermeisten auf der Welt hasste MacDonald lieblos zubereitetes Essen. Der Edinburgher formte ein vulkangleiches Gesicht, aus dem ein zusammengepresster Mund eine Flut glühender Beschimpfungen auszustoßen drohte. Auf der Stirn tummelten sich Schweißperlen. Sein dichtes, graues Haar begann die Onduliertheit zu verlieren. Und die drei Zentner seines zwei Meter langen Körpers vibrierten. Wäre ein Katastrophenexperte zugegen gewesen, hätte er die nähere Umgebung evakuieren lassen. Das, was auf seinem Teller herumlag, war das Schlechteste seines bisher 43-jährigen schottischen Lebens, die Dosenmakkaroni an Chips mitgerechnet. Sie hatten sich trotz des Klebstoffkäses bemüht, aufreizend zu erscheinen. An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, hätte man das schwarze Etwas auf seinem Teller vielleicht einer fehlgeschlagenen Salve des großen mexikanischen Revolutionärs Zapata zuschreiben können, dem MacDonald ohne Zögern zugejubelt hätte – nicht unbedingt im Restaurant, sicherlich jedoch auf der Straße oder einem öffentlichen Platz. Aber er befand sich nicht im historischen Mexiko, sondern in Edinburgh, und einmal mehr verhängte er imaginär die Todesstrafe für schwerwiegende Küchenverbrechen. Obwohl das Restaurant behauptete, authentische Küche zu servieren, verpasste die Masse auf seinem Teller, »Fried Mushrooms« genannt, dem lateinamerikanischen Land eine eklatante Backpfeife. Der gewaltige Kulinarier konnte sich nicht darüber klar werden, was schlimmer war: eine derartige Schurkerei zu braten oder zu servieren. Versuche, der Sache etwas Gutes abzugewinnen, sprach er sich Mut zu, hob vorsichtig die Pilze und entdeckte zu seiner Überraschung in der Tat unversehrte Teile. Wahrscheinlich hatten diese nach dem Verlassen der Dose wenig Bekanntschaft mit der Hitze der Pfanne gemacht. Die Schandtat lümmelte auf fettigen Salatblättern, die jedes Kaninchen empört abgelehnt hätte. Er machte sich große Vorwürfe, denn als ausgewiesener Feinschmecker, Träger der »Goldenen Bratpfanne« und Food Journalist hätte er es besser wissen müssen. »Welcome to TexMex« ließ nicht gerade auf einen lateinamerikanischen Besitzer schließen. Kein Mexikaner hätte Gringos in seinen Restaurantnamen integriert, genauso wenig wie ein Schotte sein Restaurant »EnglishScot« getauft hätte. Das Leben war zu kurz für missraten Gebratenes! Am liebsten hätte er diesen Ort der Unwirtlichkeit stante pede verlassen, doch mahnte er sich zu gastronomischer Gerechtigkeit. Jeder Koch durfte hin und wieder verliebt sein und die Pilze verkohlen. Eine rechte Hand mit dem Hauptgang näherte sich bereits zwei Minuten später dem Tisch, um den hungrigen Gourmet eines Besseren zu belehren. Verhängnis Nummer zwei hieß »Alabama Fried Steak«. »Wünscht der Herr ein Steakmesser?«, fragte der satanische Kellner. MacDonalds Mund formte ein ›Ja‹, das nicht von seinen Lippen weichen wollte. Er löste die Panade und entdeckte ein Stück Fleisch, dem Charlie Chaplin seine Stiefel vorgezogen hätte. Seine mächtigen Finger umklammerten das Messer, todesmutig wie William Wallace und seine Mannen einst den Engländern entgegengetreten waren. Noch nie, selbst wenn er die in Öl ausgebackenen Schlangenhautspiralen in Vietnam in Betracht zog, war ihm ein derartiges Wesen auf den Teller gelegt worden. »Das ist unerhört!«, protestierte er und schlug mit der Faust weitaus zügiger auf das zarte Bistro-Tischchen, als man es bei seiner Körpermasse erwarten durfte. Die blasse Großfamilie am Nachbartisch hörte auf, ihr vorgezogenes Sonntagsessen zu bearbeiten. Angriffslustig schaute er zurück und drückte bebend die Handflächen auf die Oberschenkel. Sein spontaner Stoßseufzer, der sich ungefähr wie »hiehär« anhörte, versetzte ihn in die Realität zurück. Der Kellner schritt so langsam wie möglich heran.

»Wenn Sie mich umbringen wollen, dann tun Sie es bitte mit einer Gallone Talisker in Fassstärke!«

»Verstehe ich Sie richtig, Sie möchten auch unseren Hauptgang nicht essen?«, fragte der Ober in einem Ton, den er für freundlich hielt.

»Sie haben es erfasst, eine solche Untat werde ich meinem Organismus unter keinen Umständen aufbürden! Weder Mensch noch Tier haben so etwas in ihren schlimmsten Alpträumen verdient, geschweige denn in wachem Dasein. Wo bloß haben Sie dieses Ex-Lebewesen aufgetrieben, im Tierkrematorium?« Die Managerin hatte die Szene bereits von weitem missbilligt. Jetzt paradierte sie heran, nicht im Mindesten bemüht, ihre abgrundtiefe Verachtung zu verbergen. Sie baute ihre windschlüpfigen Einmeterundfünfzig vor MacDonalds Tisch auf und stemmte die schmalen Arme in die kaum breiteren Seiten. Ihre Fingerkuppen reflektierten gelb im Schein der Deckenlampen. Das Gesicht drückte eine tiefe Unzufriedenheit mit dem Leben aus, welches zu führen sie offensichtlich enorme Mühe kostete. Ein Ring an ihrem Finger bewies, dass auf Schottlands Boden noch eine andere Person wandelte, die schwer an ihr zu tragen hatte. »Warum stellt sich das dicke Ungetüm so an?«, las der Gast ihre Miene. Es war schwer vorstellbar, dass diesem Mund nach Erwerb des Sprachvermögens jemals ein gutes Wort entschwunden war, weder absichtlich noch aus einem Missgeschick heraus. MacDonald hatte es mit einem besonders stupiden Exemplar der menschlichen Spezies zu tun, dessen einzige Form von Spaß darin bestand, andere, am liebsten sich beschwerende Kunden, zu verhöhnen. Er nahm sich vor, wenigstens dem Wortgefecht etwas Schabernack abzugewinnen. »Die Pilze waren völlig in Ordnung, ebenso wie das Fleisch«, startete sie ihren Versuch, den bedeutendsten Feinschmecker Schottlands von seiner Unverfrorenheit zu überzeugen.

»Pilze haben nicht verbrannt zu sein, wenn sie serviert werden«, polterte das vermeintliche Scheusal aus der Tiefe seines Bauches, so heftig, dass die Kasserollen in der Küche zu zittern begannen. »Mögen Sie Science-Fiction-Filme, meine Dame?«

»Wie bitte?«, rief sie auf MacDonald hinab.

»Est-ce que vous aimez ... rede ich vielleicht spanisch oder sehe ich aus wie der Dalai Lama? Ob Sie Zukunftsfilme mögen? Sie klingen wie ein Roboter. Ich frage mich, ob Sie in irgendeinem Studio vermisst werden. Sie essen Ihre Peinigungen am besten selbst. Für diesen Abhub der Küchenwelt werde ich nicht einen Penny hinlegen!«

»Aber ...«

»Kein aber, halten Sie einfach nur Ihren Mund, denn Sie besitzen nicht das geringste Verständnis von Küche, Essen oder Gastfreundschaft. Ich bin verblüfft, dass mich Ihr Besteck nicht gebissen hat. Sie werden noch von mir hören. Verlassen Sie sich darauf! Kochverbrechern wie Ihnen lege ich das Handwerk!« Was MacDonald noch mehr als das rüde Benehmen der Managerin verblüffte, war die Tatsache, dass die anderen Gäste den gastronomischen Unrat überhaupt nicht registrierten. Zufrieden aßen sie zwischen Pappmaché-Wänden, der Imitation von mexikanischen Steinmauern, und tranken große Schlucke aus ihren Margarita-Gläsern, die jeden vorhandenen Rest von Geschmackssinn abtöteten. Er schleppte sich ins Freie und schnappte röchelnd nach Luft, froh, bei dem schrecklichen Anschlag mit dem blanken Leben davongekommen zu sein. Sein Magen drückte Verständnislosigkeit gegenüber der Leichtfertigkeit des Versorgers aus. MacDonald überlegte eingeschüchtert, wie er ihm am schnellsten etwas Gutes tun konnte. Glücklich über Henderson’s flexible Öffnungszeiten, überquerte er die Hanover Street, über die um neun Uhr abends nur noch wenige Autos glitten. Im Tempel der Vegetarier schlossen in seinem Magen folgende Köstlichkeiten Freundschaft: ein Sellerie-Apfel-Haselnusssalat, gefüllte Auberginen mit Wildpilzsauce und ein majestätischer Früchtetrifle. Mit einer Tasse starken, schwarzen Kaffees lehnte er sich zurück, entschlossen, alle drei Gänge demnächst exakt nachzuzaubern. Der Edinburgher Himmel hatte es sich in der Zwischenzeit nicht nehmen lassen, eine Vielzahl von dunklen Blautönen zu gruppieren. Und die Straßenlaternen tauchten die Backsteinhäuser in ein gutmütiges Braun. Besänftigt nach dem ekelhaften Erlebnis, überquerte er die Princess Street. Wieder einmal nickte er anerkennend zum Castle, das wie ein satter Wal auf seinem Felsen thronte, und zu den benachbarten Gebäuden der Old Town, die fast zu schön waren, um real zu sein. Es gab keinen Ort der Welt, an dem er lieber gelebt hätte als in Edinburgh. Eine Stadt, welche die einen »Athen des Nordens«, die anderen »Reykjavik des Südens« nannten. Den Rest des Weges sollte der Doppeldecker besorgen. Um zehn Uhr abends saßen die meisten Schotten zu Hause oder im Pub, und wer außer ihm dachte an die armen Familien der Busfahrer? Angetan von seiner karitativen Ader, beförderte er das nötige Kleingeld aus der Hosentasche und kullerte es in die Box. Der Bus verströmte den vertrauten Geruch nach Gummi. Er faltete die Hände vor dem mächtigen Bauch, glücklich wie ein Mönch, der gerade zum Wohle des Herrn einen Hektoliter süffigen Bieres gebraut hat. Zu seinem Bedauern endete die Fahrt schon nach wenigen Minuten. MacDonald lebte in Dean Village, einem Stadtteil mit dörflichem Charakter. Von seinem Haus aus verfügte er über einen bezaubernden Blick auf Water of Leith, jenes schmale Flüsschen, das sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit durch die Stadt schlängelte. Kollegen vom Kontinent glaubten MacDonald nicht so recht, dass man hier auf dem Lande leben und dennoch in fünf Minuten zur Innenstadt gelangen konnte. Fast alle Nachbarn hatten sich bereits ins Reich der Träume begeben. Nur die Musikstudentin schräg gegenüber war wach. Sie musste wohl am nächsten Tag eine Prüfung haben, denn nur dann übte sie so spät noch. Er wurde überschwänglich begrüßt von seinem Mitbewohner Robert the Bruce . Der fuchsrote, nicht unkluge Kater erhoffte sich durch seine Courtoisie ein Dessert für die Nacht, sozusagen als Anerkennung für die kleine Maus mit den spitzen Zähnen, die er in den Flur gelegt und welche offensichtlich schon Stunden zuvor zum letzten Mal gequiekt hatte. Sein Herrchen verwarf diese Interpretation, sodass selbst überlautes Brummen keinen Erfolg zeitigte. MacDonald zog es vor, schnurstracks zu seiner Bar zu wandeln, um sich einen geeigneten Schlummertrunk zu genehmigen. Unerfreulicherweise musste er feststellen, dass Mister Talisker mit vollem Körper der Flasche entwichen war. Die Vorbereitung für seine neue Fernsehserie hatte eine gute Menge an Treibstoff gefordert. Weil er kein Verlangen spürte, Wasser des Lebens zu trinken, das weniger oder mehr nach Torf schmeckte als dieser Scotch, goss er sich zum Wohle seiner Leber sowie seines Zahnarztes ein Milchglas randvoll mit Irn Bru ein, unsicher, ob er damit nicht einen eklatanten Regelbruch beging, denn die Limonade, welche ihn leuchtend und blubbernd zum Trinken lockte, wurde in der Regel als Kater-Kur am Morgen danach eingesetzt. Angenehm prickelte die süß-orange Essenz im Mund. Mit einer zweiten Füllung nahm er vor dem Fernseher Platz. Robert folgte ihm, zog es aber vor, sich auf den Boden zu legen. Als natürlicher Begleiter des zuckersüßen Getränks bewährte sich immer wieder ein Shortbread von Jenners. MacDonald schob einen der Butterkekse in den Mund und kaute genüsslich. Was war das nur für ein eigentümliches Fleisch gewesen heute Abend! Ganz und gar nicht einzuordnen. Mit freundlicher Unterstützung des besten Fernsehens der Welt, gemeinhin als BBC bekannt, fand er schon nach einer Viertelstunde zu Träumen, die ihm ganz und gar nicht behagten. Alpdrücke von skurrilen Tieren, die über eine Klippe getrieben wurden und in einem gewaltigen Kessel landeten.

»Ich kann mich nicht mehr darüber wundern, dass die Edinburgher zu poetischer Schwärmerei neigen. Gestern schweifte ich über Brücken und durch Calton Hill in einer verzauberten Stimmung. Ich habe währenddessen kein einziges öffentliches Gebäude besucht, sondern mich nur voller Staunen und Schwärmerei der romantischen Szenerie hingegeben.«

Washington Irving, Historiker und Schriftsteller, 1817

Das Unglück beginnt

Gegen zehn Uhr geruhte MacDonald aufzuwachen. Er reckte sich wie ein Murmeltier nach dem Winterschlaf, während der Fernseher weiter vor sich hinplapperte. Mit der Fernbedienung entzog er der Wetterfee die nötige Energie für ihre Prognose. Empört klappte sie den Mund zu. Der Sessel kommentierte das aus dem Grund seines hölzernen Gestells mit menschlichem Ächzen. Das Modell Churchill hatte er noch in seiner Studentenzeit gekauft und sich trotz dessen offensichtlicher Altersschwäche nie von ihm trennen können, denn wahre Liebe hielt sich nicht mit Äußerlichkeiten auf. Er streichelte die rechte Lehne des ehemaligen Premiers und dachte an seine Jugend, die sich aus finanziellen Erwägungen heraus kulinarisch bescheiden gestaltet hatte. Die Woche über hatte er sich wie ein Asket ernährt, um am Sonntag vom ersparten Geld in einem guten Restaurant ein Schlemmermahl zu sich zu nehmen. Einen Anfall von Schwermut, der sich spontan formierte, verscheuchte er mit lautem Händeklatschen. In der Küche würde er sich nach dem gestrigen Dinnerschreck ein passables Frühstück bereiten. Darunter verstand er Porridge, zwei Spiegeleier, vier Scheiben Schinken, feine Pilze, ein gegrilltes Tomätchen, Würstchen, Baked Beans und Black Pudding. Großzügig hievte er gesalzene Butter in eine Pfanne und beobachtete, wie sich die Enden des Schinkens unter dem Einfluss der blaugelben Gasflamme zu krümmen begannen. Zufrieden mit dem Garzustand, nahm er die Scheibchen aus der Pfanne und hielt sie im Backofen warm. Getreu den Weisungen seiner verstorbenen Mutter ließ er die Pfanne kurz abkühlen, um dann die Eier zu braten. Kochen lernte er vor dem Sprechen. Als Topf, Pfanne und Bratenwender noch auf der Höhe seiner Augen lagen, wurde er mit den Mysterien der guten Küche vertraut gemacht. Seine Mum zeichnete das potenzielle Verhängnis mit dem Finger in die Luft. »Angus, es ist ganz einfach. Wenn du die Eier in eine zu warme Pfanne gibst, dann brennt das Eiweiß an und wird sofort zäh. Brätst du aber den Toast, hat die Butter so heiß wie möglich zu sein, denn sonst saugt das Weißbrot sie zu schnell auf! Kannst du mir folgen?« Klein-Angus bewegte eifrig den Kopf von oben nach unten, denn mit dem Essen verstand Mrs MacDonald keinen Spaß. Ohne ihre Hilfe wäre es ihm niemals gelungen, eine Karriere als Journalist einzuschlagen. Als er genüsslich in eine Ecke des Dreispitztoastes biss, ärgerte er sich wieder über das eigentümliche Fleisch, das man ihm am Abend zuvor serviert hatte. Eilig beendete er sein Breakfast und erklomm die Treppe. Die Bibliothek im oberen Stockwerk beherbergte gut 5.000 Bücher. Wie viele es genau waren, wusste niemand, am allerwenigsten der Besitzer. Nach der Küche war sie ihm der zweitliebste Platz auf der Welt. Die Hälfte der Werke widmete sich Essen und Trinken. Im Laufe der Jahre hatte er Kochbücher, Weinbücher, Bierbücher, gewichtige Lexika und beleibte Anthologien versammelt. Von jedem Land der Erde fand sich mindestens eine Rezeptsammlung. Inmitten seiner papiernen Freunde konnte er vorzüglich entspannen, aber auch arbeiten. Um von der Außenwelt nicht abgelenkt zu werden, zog er die schweren Vorhänge zu und spannte einen Bogen hellgelbes Papier in seine Schreibmaschine, die mehr Jahre auf dem Buckel hatte als er. Sie benutzte er ausschließlich für fürchterliche Verrisse, denn die Tasten seines Computers hätten den hämmernden Fingern kaum Paroli bieten können. Das Grauen nistete noch so frisch in Gehirn und Magen, dass es ihm überaus leicht fiel, die Restaurant-Kritik für den »Scotsman« zu Papier zu bringen. »Schlimmer als jede Polizei erlaubt« lautete die Headline. »Edinburgh hat eine furiose Folterkammer bekommen. Das Kabinett des Grauens nennt sich ›Welcome to TexMex‹ und gibt vor, mexikanische Küche zu servieren. Nie hat sich ein Anspruch so weit von der Realität entfernt wie in diesem Fall. Wenn Sie jemals vorhatten, Ihren Gaumen mit etwas wirklich Außergewöhnlichem zu verwöhnen, dann sind Sie hier fehl am Platz. Alles, was Sie erhalten, ist ein vergraulter Magen. Geben Sie lieber Senf auf ihre Fish and Chips. Das verspricht und hält mehr, als es diese Stätte der Ungastlichkeit je tun wird. Ich bin gestern Abend noch einmal lebend davongekommen. Falls Sie mir nicht glauben und sich dennoch in diesem sogenannten Restaurant einfinden, dann probieren Sie bitte weder die fettigen Pilze noch das Alabama Fried Steak, das einen abartigen Fleischgeschmack bietet. Derartig miserabel wurde ich noch an keinem Ort der Erde behandelt, und ich habe schon an unzähligen Plätzen gespeist. Hier ist tatsächlich alles misslungen, das Personal eingeschlossen.« MacDonald zog den Bogen aus der Maschine und schwelgte in süßen Erinnerungen. Wie exquisit hatte er bei seinem Aufenthalt in Mexiko gespeist: cremige Maissuppe, Fisch in vielerlei Variationen und nicht zu vergessen der Mandelmilchpudding aus Morelos, eine Köstlichkeit, die er sich in der Zwischenzeit schon häufig kredenzt hatte. Das Leben konnte so herzhaft sein, wenn sich die Köche und Sauciers nur ein bisschen Mühe gaben. »Töpfe und Pfannen aller Länder, vereinigt euch gegen miserables Essen!« Mit energischen Ausrufezeichen beendete er seinen Artikel. Der erste Schritt zur Verbrechensbekämpfung war getan. Eher früher als später würde er nun herausfinden, was es mit dem so genannten Fleisch beim Pseudo-Mexikaner auf sich hatte.

»Ich bin, was ich immer gewesen bin, ein Schotte, vielleicht ein bisschen introspektiv. Ich erzähle keine Lügen und bin aufrecht.«

Sean Connery, Schauspieler

James Bond lässt grüßen

Die dunklen Häuser des Stadtteils Fountainbridge pfiffen auf gutes Aussehen, solange sie nur ihren Bewohnern eine sichere Zuflucht bieten konnten. Äußerlich ähnelten sie einer Ansammlung von Mini-Burgen, gebaut für die Stadtbewohner der Neuzeit. Besucher konnten durch die knappen Vorhöfe hindurch gut erspäht werden. Freilich mussten die Menschen des 21. Jahrhunderts weder eine Zugbrücke überqueren noch mit siedendem Pech rechnen. Die einzige heiße Essenz, die man ihnen offerierte, war eine gute Tasse Tee. Und obwohl man Sean Connery den Wegzug aus seinem Viertel nach Jahrzehnten noch übel nahm, käme auch er in diesen Genuss. Aus dem Guest House »Villa Buongiorno« trällerte eine Stimme unaufhörlich »I love you, I love you«. Der Papagei saß in einem Käfig und bewegte außer den künstlichen Stimmbändern rein gar nichts. Er würde sehr wahrscheinlich noch älter werden als ein leibhaftiges Tier. Sein Herz konnte nicht aussetzen, allenfalls die Batterie, die das integrierte Tonband antrieb. Die Dame seines Herzens, Maria Vitiello, schmunzelte und schüttelte den Kopf, während sie weiter die Kartoffeln schälte. Was für eine Zukunft hätte sie mit dem kleinen Stoff-Caruso auch haben können? Ihr Mann Alberto, den sie mitsamt seinem spitzbübischen Humor genießen konnte, seit sich die beiden als Jugendliche zufällig in Edinburgh getroffen hatten, schaltete das Band mit einem Grinsen ab und ging zur Haustür. An diesem Morgen bekam er Besuch von MacDonald, der sich aus dem Bus schwang, in die Leamington Terrace einbog und dabei ein wenig wie ein Seelöwe auf spontanem Landurlaub aussah, mit dem winzigen Unterschied, dass dieser keine glänzend polierten Schuhe tragen würde. Das Guest House offerierte den typischen Geruch von gebratenen Eiern mit Schinken. Tausende von herzhaften Frühstücken waren hier bereits serviert worden. »Ciao, Alberto, heute ist wieder ein herrlicher Tag, nicht wahr?«, rief er, sich des unerschöpflichen Erlebnisfundus des Hauses bedienend. In einer meteorologisch unerquicklichen Zeit hatte Alberto einst zwei reizende, ältere Damen aus den USA beherbergt. Dank ihrer extremen Kurzsichtigkeit merkten sie nicht, dass es Katzen hagelte und er begrüßte sie drei Tage hintereinander enthusiastisch mit demselben Satz. Heute war Alberto allerdings so in Gedanken, dass er das Zitat nicht erkannte. »Ciao, Angus. Wenn ich an die Evakuierung von gestern denke, geht’s mir in der Tat ausgesprochen gut.«

»Hattest du Bombenalarm?«

»Eher Heißmilchalarm. Ein Gast wollte sich Milch warm machen, im Wassererhitzer! Es hat drei Stunden gedauert, die Bescherung von der Decke zu kratzen. Kannst du dir das vorstellen?«

»Du meine Güte, der wollte wohl ›Under Milk Wood‹ von Dylan Thomas in die Tat umsetzen?«

»Es gibt Schlimmeres im Leben, zum Beispiel den Kommentar eines Kollegen. Er hat mich gefragt, worüber ich mich aufrege. Bei ihm hat letzten Monat ein Gast versucht, sich Baked Beans zu kochen, was der Wassererhitzer auch persönlich nahm. Er hat Fotos geschossen für die Versicherung. Wenn du jemandem gehörig Angst machen möchtest, leihe ich dir sie gerne aus. Vielleicht für Halloween? Auf Ideen kommen die Leute. Wie läuft es bei dir so?«

»Ich habe gestern Abend einen abscheulichen Imbiss serviert bekommen.«

»Das wundert mich gar nicht, Angus. Eure schottische Küche! Alles wird frittiert: Fisch, gekochte Eier, sogar Schokoriegel!«

»Es war beim Mexikaner«, erwiderte MacDonald, der sehr wohl wusste, dass Alberto nur Köche ernst nahm, die aus Italien stammten und eine professionelle Ausbildung absolviert hatten, so wie er.

»War das Personal mexikanisch?«, fragte Alberto, denn diese Küche war ihm fast so sehr zuwider wie die der Yanks.

»Nein, vermutlich eher schottisch.«

»Aha! Was hattest du denn?«

»Zunächst so einen unangenehmen Geschmack im Mund ...« »Ich meinte, was du zu essen hattest.«

»Wenn ich das nur wüsste. Der Fleischgeschmack war derart fremdartig und widerwärtig, dass er mich noch immer tyrannisiert. Als ob ich ständig an einem Abfallhaufen schnuppern würde.«

»Puh, dann muss es schlimm gewesen sein, denn das schaffen normalerweise nur ranziger Knoblauch oder Kohlblätter, die das Zeitliche gesegnet haben.« Alberto stemmte die Arme in die Seiten, ein Zeichen für angestrengtes Sinnieren.

»Was überlegst du, mein Freund?«

»Nun«, erwiderte er amüsiert, »vielleicht haben sie dir eines dieser großen, garstigen Tiere serviert. Sie werden gerne für die Herstellung von Handtaschen benutzt.«

»Du meinst, Alligatorenfleisch. Nein, das war es keineswegs.«

»Woher willst du das wissen?«

»Nun, ich habe bereits ...« MacDonald brach ab, weil er nicht wollte, dass sein Freund einen falschen Eindruck von ihm bekam. Er wusste, wie tierlieb Alberto war.

»Sag bloß, du hast schon Krokodilfleisch gegessen. Raus damit«, rief Alberto, der keinerlei Probleme damit hatte, belustigt.

»Nun, äh, in Südafrika aß ich einmal ein Crocodile Carpaccio. Das war es jedenfalls nicht.«

»Ich glaube dir aufs Wort. Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Erde, der am Geschmack eines Huhns erkennen kann, auf welchem Bein es nachts geruht hat.«

»Jetzt übertreibst du aber.«

»Viel hängt auch davon ab, wie die Tiere gehalten werden. Heute ist das meist eine einzige Quälerei.«

»Was gibt es bei euch zum Lunch?«

»Nichts Besonderes, einen kleinen Salat, Pasta und dann etwas Fisch.«

»Die Pasta stellst du selbst her, wie ich annehme?«

»Aber natürlich, Angus. Zufällig bin ich in der Gastronomie tätig und weiß, wie es gemacht wird.«

»Apropos, kannst du mir vielleicht ein gutes italienisches Restaurant in der Stadt nennen?«

»Leider nicht. Die kennen hier noch nicht mal die typischen Gerichte. Das letzte Mal, als ich an einem dieser unwirtlichen Plätze mein Geld verschleuderte, musste ich dem Kellner erklären, dass ein mit Wasser verpanschter Reis noch kein Risotto ist.«

MacDonald schüttelte irritiert den Kopf: »Das Problem ist, dass in den meisten Fällen noch nicht einmal der Koch aus Italien kommt.«

»Und wenn, dann hat er garantiert in meiner Heimat am Betonmischer gestanden. Angus, verrate mir mal, wie du es hier aushältst, wo du dich auch noch beruflich Tag für Tag damit herumschlagen musst.«

»Das frage ich mich selbst häufig.«

»Wie lautet die Antwort?«

»Keine Ahnung.«

»Ich weiß nicht, ob es dich tröstet, aber Edinburgh hat in kulinarischer Sicht extreme Fortschritte gemacht. Früher war Olivenöl zum Beispiel Mangelware. Das hast du nur in Miniaturfläschchen bekommen, in der Apotheke!« Alberto zuckte die Schultern und schaute sehnsüchtig in Richtung seiner grünen Oase, was MacDonald nicht unbemerkt blieb. »Was macht der Garten?«

»Mir vor allen Dingen eine Menge Arbeit«, stöhnte Alberto, »aber Maria hilft er, sich zu entspannen.«

»Lass dich nicht aufhalten, sonst schießt noch der Salat.«

»Im Moment muss ich mir eher irgendetwas ausdenken, was die Füchse vertreibt.«

»Du hast Füchse im Garten?«

»Oh ja, die schleichen von The Meadows rüber. Wenn du willst, erlege ich dir heute Nacht einen. Ich mag sie nicht allzu sehr. Richten nur Schaden an. Komisch, dass die sich plötzlich so vermehrt haben. Ich frage mich, ob man die Biester essen kann.« »Das würde ich an deiner Stelle bleiben lassen. Füchse schmecken vermutlich noch schlechter als das Fleisch beim ›Texmex‹.«

»Wirst du die Sache mit dem Restaurant weiter verfolgen, Angus?«

»Darauf kannst du dich verlassen! Meine gesamte freie Zeit werde ich investieren.«

»Weißt du, wem das Lokal gehört?«, fragte Alberto abwesend, bereits mit einem Bein im Garten.

»Noch nicht, aber ich habe eine Idee, wen ich darauf ansprechen kann.«

Nachdem Alberto seinen Freund zur Tür gebracht hatte, zwang er seiner Frau ein Gespräch auf. So stellten sich für sie mitunter seine langen Monologe dar. »Maria, hörst du mir überhaupt zu? Ich weiß gar nicht, warum du ständig die Nase in deinen Blätterwald stecken musst. In der Zeitung steht doch nie etwas Neues.«

»Woher willst du das wissen? Du liest doch höchstens die Überschriften.«

»Genügt völlig.«

»Und doch ist dein bester Freund Journalist.«

»Erstens schreibt er nicht über Mord und Totschlag, sondern über la cucina. Und zweitens sehe ich es kommen, dass ich dem Herrn auch dieses Mal wieder aus der Patsche helfen muss.«

»Solange du dich nur aus der Schusslinie hältst.«

Alberto legte die Hand auf die Brust. »Keine Sorge, so schnell mache ich dich nicht zur Witwe.«

»Das hast du das letzte Mal auch gesagt.«

»Nun? Steht etwa ein Geist vor dir?« In Wahrheit musste er sich zu Hause mehr fürchten als auf der Straße, so viele Kriminalgeschichten las seine Gattin. Weil sie früher oder später auf dumme Ideen kommen könnte, schlief er bereits mit einem offenen Auge.

»Ein Intellektueller ist für mich jemand, der die Ouvertüre zu Wilhelm Tell anhören kann, ohne dabei an den ›Lone Ranger‹ zu denken.«

Billy Connolly, Kabarettist und Schauspieler aus Glasgow

Herr Doktor / Frau Doktor

Heute stand er an, der mehrfach verschobene Besuch bei seinem Arzt. Den letzten Anruf der Sprechstundenhilfe hatte er mit der lapidaren Äußerung »Ja, selbstverständlich, ich komme auf jeden Fall, selbst wenn der Primeur in den nächsten zwei Stunden ausgeliefert wird« beantwortet. »Nein, Primeur, nicht Premier!« MacDonald befand sich seit Jahren in Behandlung wegen eines mutmaßlichen Übergewichts, das sich aus geheimnisvollen Gründen nicht in den Griff kriegen ließ. Und das, obwohl er bereits beim Anblick seines Trimmrades im Schlafzimmer Schweißfontänen vergoss. Er bewunderte das blaue Harris Tweed-Jackett, das sich seinem Oberkörper gefällig anschmiegte. Wie nach der Einnahme einer Wunderdroge kehrte die gute Laune in seinen Leib zurück. Zwei Dutzend der sündhaft teuren, handgewebten Werke, die nicht zufällig Namen trugen wie Gemälde – Hebridean Blue, Autumn Gold, Heather Green oder Oatmeal –, besaß er. Alle nebeneinander gelegt hätten einen wunderschönen Regenbogen ergeben und wären einer Ausstellung würdig gewesen. Kritische Kommentare von Freunden schmetterte er, sich seiner Sünde ein bisschen bewusst, ungefällig ab: »Was soll das heißen, zu teuer? Essen muss ich beruflich. Golf ist mein einziges Hobby. Da wird nebenher noch ein kleiner Spaß gestattet sein. Ist es etwa meine Schuld, dass ich ins Turnschuhzeitalter hineingeboren wurde?« Das maßangefertigte Vergnügen setzte seine eigenen Kilos zwar sehr vorteilhaft in Szene. Aber was geschah, wenn noch mehr mexikanische Restaurants in Edinburgh eröffneten und ihn mit Aushungerung bedrohten? So weit würde er es nicht kommen lassen! Er zeigte dem fragenden Spieglein ohne zu zaudern auch die rechte Schulter und entfernte graziös ein Staubflöckchen. Da ihn keine weiteren dringlichen Angelegenheiten im Haus beschäftigten, machte er sich seufzend auf den Weg. Vielleicht würde ihn der Arztbesuch ja etwas ablenken von der allzu grausigen Erinnerung. Um der lockenden Versuchung zu entgehen, drückte er, sowie seine Stammbäckerei zu erblicken war, fest die Augen zu. Die Versuchung war unerbittlich. Sie ereilte ihn in Gestalt von Mrs Patterson, die ein Werbeplakat im Schaufenster anbrachte: »Hallo, Mister MacDonald, warum so eilig? Wollen Sie nicht vielleicht unser Angebot begutachten?«, rief die freundliche Hüterin des Horts der Verführung. Es wäre ungemein unhöflich gewesen, einer netten Dame nicht zu antworten. Und Mrs Patterson war eine solche.

»Was haben Sie denn Schönes, meine Liebe?«

»Eine ganze Menge. Ich kann Ihnen die Chelsea Buns empfehlen. Allerdings sind die Scones heute auch wieder delikat, schauen Sie«, sagte sie und hob die süße Versuchung zum Beweis mit der Gebäck-Zange in die Luft, »sie schweben geradezu.«

»So, tun sie das? Wie immer glaube ich Ihnen aufs Wort. Gut, dass es noch Dinge gibt im Leben, auf die man sich verlassen kann. Packen Sie mir doch bitte von beiden je vier, nein, besser fünf ein, ja?« Schuldbewusst trug er die Tüte in möglichst großem Abstand neben sich her, so als ob sie ihm jemand aufgedrängt hätte. Leider lag die Arztpraxis im zweiten Obergeschoss, in einem Haus ohne Aufzug. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sich Treppensteigen als Disziplin für die Olympischen Spiele qualifiziert. Er versuchte, die Sprechstundenhilfe als unfreiwillige Helferin zu gewinnen und fragte sie demonstrativ laut: »Können Sie das bitte für mich aufbewahren? Es ist für meinen Wauwau.« Mrs Muir, der es keine besondere Mühe machte, die Umrisse der Kalorienbomben zu erspähen, fragte: »Sie besitzen einen Hund, Mister MacDonald. Was für eine Rasse ist es denn?«

»Ja, äh, das ist noch nicht so recht erforscht.«

»Jedenfalls scheint er aber ein ganz Süßer zu sein, nicht wahr?« MacDonald lief sehr rot an. Und gerade, als er wieder eine passable Gesichtsfarbe angenommen hatte, ereilte ihn der nächste Schreck. Die Tür des Sprechzimmers öffnete sich und in ihr stand eine fremde Person, bildhübsch und mit pechschwarzen Haaren, seiner Lieblingshaarfarbe bei Damen. »Mister MacDonald bitte«, sagte sie in einem Ton, der freundlich und fordernd zugleich klang und hervorragend zur kecken Nase und den Sommersprossen unter den Augen passte. »Mein Name ist Miller, Karen Miller. Ich habe die Praxis von meinem Vorgänger übernommen. Treten Sie bitte ein und nehmen Sie Platz.« Die Ärztin nahm nachdenklich die Brille vom Gesicht. Sie setzte die zarten Ellbogen auf den Tisch, verklammerte die Finger und sah zur Patientenakte auf der linken Seite des Schreibtisches. Als sie die Zahl in der Rubrik Blutdruck las, schüttelte sie heftig den Kopf, sah MacDonald bekümmert an und fragte dann: »Was wiegen Sie?«

»Ist ein Staatsgeheimnis. Es wird Ihnen aber ein Leichtes sein, mein Volumen zu berechnen, indem Sie Grundfläche mit Höhe multiplizieren und das Ergebnis durch drei teilen.«

»Bewegung ist das A und O.«

»Wissen Sie, Dr. Miller, ich habe nichts gegen Ihr Alphabet, aber es scheint mir zu wenig Buchstaben zu enthalten.«

»Sie wissen jedoch, wie ich es gemeint habe, oder?«

»Ich fürchte ja und gelobe baldige Besserung«, antwortete er und kreuzte die Finger hinter dem Rücken.

»Die meisten britischen Todesfälle sind auf Herz- und Kreislauferkrankungen zurückzuführen«, dozierte die Ärztin.

»Dann habe ich ja großes Glück gehabt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich bin Schotte, kein Brite.«

»Abgesehen davon ...«

»Ich weiß, ich soll nichts mehr essen.«

»... sollten Sie besonders kalorienreiche Kost meiden.«

»Das ist ungefähr so, als ob ich Ihnen riete, den Blutdruck Ihrer Patienten nur noch zur Hälfte zu messen.«

»Wenn Sie eines Tages tot umfallen, sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«

»Aber nein, Frau Doktor, spätestens, wenn ich einen Schlaganfall habe und ein Jahr auf einen Krankenhausplatz warten muss, werde ich abspecken.«

»Kann ich mich darauf verlassen?«

»Besser nicht«, brummte MacDonald angesichts dieser schrecklichen Vorstellung. »Eine Sache wäre da noch, Frau Doktor.«

»Ja bitte«, sagte diese erwartungsvoll.

»Der Hinweis an der Eingangstür, soll ich den ernst nehmen?«

»Wie meinen Sie das?«