Dicke Luft in der Küche - Frank Winter - E-Book

Dicke Luft in der Küche E-Book

Frank Winter

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Beschreibung

Angus Thinnson MacDonald soll endlich einige Pfunde purzeln lassen: Karen Miller, seine Ärztin und Dame des Herzens in Personalunion, lässt nicht locker! In dieser Angelegenheit ein wenig ratlos, konzentriert er sich gerne auf seinen neuesten Fall. Eine junge Frau und ihre kleine Tochter sind verschwunden. Die Spur führt zu einer Sekte, die ihren Mitgliedern unmenschliche Opfer abverlangt. Furchtlos ermittelt MacDonald und mimt sogar mehrfach den Duke of Edinburgh, besser bekannt als Prinz Philip. Doch was bitte hat der Fall mit der Kulinarik zu tun?, fragt er sich. Eine ganze Menge, stellt sich langsam, aber umso sicherer heraus. Mit von der Partie ist wieder Alberto Vitiello, italienischer Guest House-Besitzer und im Duo der Dottore Watson. Ständig im Clinch mit seinen Gästen, verdächtigt er sogar einige von ihnen. Feinschmecker MacDonald bleibt allerdings skeptisch. Als die beiden nicht mehr weiterkommen, bucht er einen teuren Kurs bei den Aerophiten, so nennt sich die Sekte, und wagt sich in ihr Zentrum. Dass seine Tarnung allzu schnell auffliegt, führt zu großen Problemen. Verglichen mit dem, was ihn zu Hause erwartet, ist das aber noch gar nichts …

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Winter

Dicke Luft in der Küche

Frank Winter

Dicke Luft in der Küche

Schottland-Krimi mit Rezepten

Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

© 2014 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Henrike Knopp

Umschlag: Thorsten Hartmann

unter Verwendung eines Fotos von Jodi Jacobson/istockphoto.com

Rezepte: Frank Winter

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-944369-17-4

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Inhalt

Die Personen

Mrs Sinclair in Not

Trubel im Guest House

The Duke of Edinburgh

Alles, was Sie mit Hafer kochen können – Teil 1: Cranachan

The Big Issue

Hausdrachen inklusive

Alles, was Sie mit Hafer kochen können – Teil 2: Vegetarischer Haggis

Full Breakfast

Tunnel Vision

Füllhorn der Region

Ein Rätsel wird gelüftet

Alles, was Sie mit Hafer kochen können – Teil 3: Orcadian Oatmeal Soup

Ein Anwalt auf Abwegen

MacDonald, der Furchtlose

Überfall in der Nacht

Eine unerwartete Wendung

Lug oder Trug?

Showdown auf dem Leith Walk

Dundee Cake

Cranachan

Vegetarischer Haggis

Traditioneller Haggis

Hafersuppe von den Orkney-Inseln

Malzbrot

Grapefruitmarmelade

Clootie Dumpling

Selkirk Bannock

Glossar schottischer (wie auch englischer) Begriffe

Die Personen

Angus Thinnson MacDonald

gefällt es überhaupt nicht, dass er abspecken soll. Sein neuester Fall kommt ihm da gerade recht …

Alberto Vitiello

hilft seinem Freund unermüdlich beim Ermitteln. Und dabei hätte er mit den anstrengenden Gästen in seinem Guest House bereits genug zu tun.

Maria Vitiello

ist der ruhende Pol in Albertos Leben. Häufiger als es ihr lieb ist, muss sie ihren Gatten auf den Boden der Tatsachen zurückholen.

Dr. Karen Miller

hat gewaltige Probleme mit einem ehemaligen Bekannten. MacDonald erzählt sie nichts davon und bereut das später bitter.

Major Lockhart

ist äußerlich ein Rauhbein, hängt aber sehr an Tochter und Enkelin.

Mrs Lockhart, die Erste

hält sich für Queen Elisabeth. Wie diese hört sie im privaten Kreis auch auf den Namen Lilibet.

Mrs Lockhart, die Zweite

will nicht so gut zu ihrem weitaus älteren Gatten passen.

Ann Lockhart

sucht seit Jahren vergeblich eine geistige Heimat.

Catriona Lockhart

ist Anns reizende kleine Tochter.

Maureen MacBeth

trägt nicht nur einen klangvollen Namen, sondern auch jede Menge Geheimnisse mit sich herum.

Paul Sangster

hat Ann nie geheiratet. Beide haben sich bereits vor Jahren getrennt.

Ailsa Craig

ist die fast gewaltsam fürsorgliche Nachbarin von Mrs Lockhart der Ersten und kann es an Ungeschliffenheit ohne Weiteres mit dem Major aufnehmen.

Mrs Sinclair

aus Portobello, eine nette ältere Dame, die ausgezeichneten Selkirk Bannock backt und MacDonald seinen neuen Fall verschafft.

… sowie weitere Personen in Edinburgh.

»… meine Freunde koste ich gerne, aber ich esse sie nicht auf. Mit anderen Worten, ich habe die altmodische Ansicht, dass jedwedes Ausfragen, jedwede Neugier vulgär ist und deshalb vermieden werden sollte.«

aus »A Plea for Better Manners« von Norman Douglas (1868-1952), Reiseschrifsteller, Essayist und Romanautor

Mrs Sinclair in Not

»Sie müssen mir unbedingt helfen. Es ist grässlich!« Mrs Sinclairs Stimme klang seltsam verzerrt. Besaß sie ein Unterwasser-Telefon? Möglich wäre es. Immerhin gab es ja auch Boote für diesen Teil der Natur.

»Meine Liebe, beruhigen Sie sich erst einmal. Was ist denn überhaupt geschehen?« MacDonald freute sich stets, wenn seine Bekannte ihn anrief. Heute hätte er aber fast einen archaischen Freudentanz vollführt, denn was konnte es Schöneres geben, als Bücher über die Atkins-Diät zur Seite zu schieben! Allerdings hatte er nicht ahnen können, dass sich das Gespräch derart turbulent gestalten würde. »Von wem sprechen Sie?«

»Major Lockhart! Er liegt auf dem Boden, hingestreckt wie ein Märtyrer.«

»Ist der Herr ein Bekannter von Ihnen, wenn ich fragen darf?«

»Aber ja, ein tapferer Mitstreiter meines Vaters! Gott habe ihn selig. Selbstverständlich auch den armen Major.«

MacDonald hätte schwören können, alle Bekannten von Mrs Sinclair zu kennen, ganz besonders Kameraden ihres verstorbenen Herrn Papa. Der Name dieses Gentleman war ihm jedoch nie untergekommen. Ein wenig sonderbar ist das schon, dachte er. »Sie haben keinen Schimmer, warum er gestrauchelt ist?«

»Ganz und gar nicht. Ich komme mir vor wie in einer griechischen Tragödie. Major Lockhart hat nur ein winziges Schlückchen Drambuie zu sich genommen und ist kollabiert, liegt auf meinem Bengali und rührt sich nicht mehr!«

»Das ist in der Tat ein Problem.« Und noch brenzliger würde es werden, wenn des Majors Unpässlichkeit mit dem Whiskylikör zusammenhinge. Oft schon hatte MacDonald sich gefragt, wie viele Lebensjahre die harmlos wirkenden Flaschen in Mrs Sinclairs Hausbar auf dem Buckel hatten. »Sicher haben Sie sich doch auch ein Gläschen gegönnt? Ich meine, angesichts der Umstände und so?«

»Zwei sogar, eines vor und noch eines nach seiner Ohnmacht. Ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen.«

»Selbstredend. Es wäre nun gut zu wissen, ob der Gentleman noch unter uns weilt.«

»Und wie soll ich das feststellen?«

»Sie könnten ihn beispielsweise leicht rütteln.«

»Unmöglich! So etwas schickt sich für eine Dame nicht. Was sollen denn die Nachbarn denken!«

»Sie haben noch weiteren Besuch?«

»Nein, aber es gehen doch fortwährend Menschen an meinem Wohnzimmer vorbei.«

Mrs Sinclair war, von gelegentlichen Ausrutschern wie einem Gläschen Alkohol abgesehen, eine strenge Presbyterianerin. Weil sie als solche nichts zu verbergen hatte, gab es im gesamten Haus keine Gardinen. »An Ihre ungeschmückten Fenster hatte ich nicht gedacht. Sie können demnach nur noch einen Krankenwagen rufen.«

»Dem Major würde das gar nicht behagen.«

Nicht, wenn er seine leibliche Hülle bereits verlassen hat, dachte MacDonald. »Und weshalb nicht?«

»Er ist sehr strikt, müssen Sie wissen, so wie ich auch. Seiner Ansicht nach muss jeder Mensch für sich selbst sorgen. Undenkbar, dass er wegen einer vorübergehenden Unpässlichkeit eine Ambulanz in Anspruch nähme.«

»Was ist denn vor seiner Ohnmacht geschehen? Ich meine, außer dass er ein Gläschen Drambuie trank?«

Mrs Sinclair hustete so laut, dass MacDonald hastig den Hörer vom Ohr zog. »Ich bin eine ehrbare Person!«, erwiderte sie mit Nachdruck.

»Natürlich sind Sie das. Aber Sie haben doch bestimmt über irgendetwas gesprochen, nicht wahr? Kommt Major Lockhart jeden Montag bei Ihnen vorbei?«

»Das tut er gewiss nicht! Er rief mich heute am frühen Morgen an. Wir kennen uns schon so lange und ich spürte gleich, dass etwas nicht stimmt mit ihm, so bedrückt, wie er klang.«

»Hat er Ihnen anvertraut, warum er so deprimiert ist?«

»Ich glaube, das wollte er, doch dann fiel er einfach um.«

»Könnte es um seine Familie gehen?«

»Möglicherweise, doch spricht er nicht gerne über sein Privatleben. Er hat, äh, seine Frau vor einigen Jahren verlassen.«

»Dergleichen Dinge kommen heutzutage in den besten Familien vor.«

»Aber er hätte doch nicht umgehend eine jüngere Dame ehelichen müssen!«, erwiderte sie entrüstet.

Was für ein Temperamentsausbruch! MacDonald salutierte verblüfft in sein Wohnzimmer. »Natürlich nicht.«

»Keine falsche Bewegung!«

»Ich sitze hier ganz gemächlich in meinem Sessel und lausche Ihnen, meine Liebe. Ohne ein Anzeichen unnützer Mobilität … hallo, Mrs Sinclair! So antworten Sie doch bitte!«

»Nein!«, rief jemand in den Hörer. Ein Schuss fiel und dann brach die Verbindung ab. MacDonald erhob sich ungestüm aus seinem Sessel und riss dabei eines der Beistelltischchen um. Die gesammelten Weisheiten mehrerer Generationen von Atkins-Exegeten purzelten auf den Teppich. Karen, seine Hausund Leibärztin, hatte ihm das Abnehmen wieder einmal dringlichst ans große Herz gelegt. Mit den schweren Bänden wollte er die Höllenqual, die ihm bevorstand, theoretisch untermauern, ehrlicherweise aber auch ein wenig hinauszögern. »Das mobile Telefon nicht vergessen, Angus«, mahnte er sich. Obwohl kein großer Anhänger dieser Gerätschaften, waren sie doch mitunter nützlich. Mrs Sinclair verfügte auch über diese Nummer. Vielleicht würde sie ihn ja unterwegs anrufen. Wer hatte bloß ›nein‹ in den Hörer gebrüllt? Es war nicht zu erkennen gewesen, zu welchem Geschlecht die Stimme gehörte. Aufgeregter Herr oder Dame in tiefer Tonlage? Und warum wurde eine Feuerwaffe benutzt? Sein treues Gefährt, ein feuerroter VW Käfer, sprang auf Anhieb an und er legte einen rasanten Start hin. Den Vögeln der Nachbarschaft, die sich gerade ein frugales Mahl zusammenpickten, behagte der Lärm überhaupt nicht. Entsetzt flatterten sie davon. MacDonald blickte durch die Windschutescheibe nach oben, auf das unübersichtliche Gemenge von Federn. Wenn das nur kein schlechtes Omen war. Verblüffend schnell gelangte er auf die Leith Street und nur eine Viertelstunde später läutete er bei Mrs Sinclair Sturm. In den Nachbarhäusern beobachtete man ihn scharf. Unter internatsgleicher Kuratel zu leben, war nicht einfach. »Was ist das, Angus?«, fragte er sich und wiegte die Nase rhythmisch hin und her. Ja, es musste ein Dundee Cake sein. Die Dame des Hauses war über die Stadtgrenzen hinaus für ihre Backkünste bekannt. Als sie sich hörbar der Haustür näherte und öffnete, wie immer ganz in schwarz gekleidet, erschrak sie. »Mister MacDonald, mit Ihnen hatte ich nicht gerechnet.« Besorgt blickte sie zu den Anwohnern, die sich ruckartig von ihren Posten zurückzogen, wie ein Regiment unter heftigem Beschuss.

»Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Sie erzählten mir doch, dass ein Gentleman auf Ihrem Bengali liegt. Ich wusste nicht, ob er noch am Leben ist und …«

»… ob ich ihm ein Glas Drambuie mit abgelaufenem Verfallsdatum eingeschenkt habe.«

MacDonald errötete. »… sich bei dem Schuss jemand verletzte, wollte ich sagen.«

»Major Lockhart geht es bereits besser. Der Schuss löste sich aus Versehen, als ich seine Pistole vom Boden auf den Tisch legte. Aber kommen Sie doch erst einmal herein.«

Sie führte ihn ins Wohnzimmer, einem hellen Raum mit wunderbaren, antiken Möbeln, durchweg Erbstücke und seit Generationen im Besitz der Familie Sinclair. Als MacDonald niemanden auf dem Boden ausmachen konnte, war er ein wenig konsterniert. »Wo ist denn Mister Lockhart?«

»Er wäscht sich nur kurz die Hände. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten? Es muss ja kein Drambuie sein. Wie wäre es mit einem kleinen Laphroaig?«

Pro forma zeigte MacDonald auf die mannshohe, Ehrfurcht gebietende Standuhr. »Es ist erst elf Uhr.«

»Ich weiß, ich weiß. Sie haben aber doch gewissermaßen ein professionelles Interesse an Speis und Trank.«

»Also gut, Sie haben mich überredet. Wenn ich schon als Berufstrinker bekannt bin, will ich meinem Ruf auch Ehre machen.«

»So einen Ausdruck habe ich noch nie gehört. Quartalsäufer ja, aber Berufstrinker?« Der Mann, der ins Zimmer trat, hatte dichtes schwarzes Haar und stahlblaue Augen. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, eher europäisch als britisch im Stil, ein weißes Hemd und eine hektische Krawatte. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er mochte achtzig Jahre gelebt haben, sah aber mindestens zehn Jahre jünger aus. Seine Haltung drückte kompromisslose Entschlossenheit aus. Nach Jahrzehnten des Befehlens kam er mit Widerspruch wohl nur schwer zurecht. Mrs Sinclair betrachtete ihn mit einem leichten Glitzern in den Augen. Diese Seite seiner Bekannten war MacDonald ebenfalls neu. Es war, als ob man ihn mit einer allzu avantgardistischen Speisenzubereitung konfrontierte. Er erhob sich im schnellsten Tempo, das ihm gegeben war. »Sehr angenehm, mein Name ist Angus Thinnson MacDonald.«

Der Major musterte ihn intensiv und schüttelte dann entschieden den Kopf. »Gebe kaum noch Hände. Ist meistens nicht persönlich gemeint.«

»Meinethalben«, grummelte MacDonald und setzte sich wieder.

Mrs Sinclair, in einer Familie von Hitzköpfen aufgewachsen, versuchte zu schlichten: »Der Major meint es nicht so.«

Lockhart verzog keine Miene. »Wollte gerade gehen. War nett, Sie kennen zu lernen, MacDuff.«

»Jetzt schon? Bleiben Sie doch noch ein bisschen. Mister MacDonald ist ein renommierter Journalist.«

»Und was hat das mit dem Trinken zu tun?«

MacDonald kam sich wie bei einer rigorosen Schulprüfung vor. »Es ist so einfach wie ein gekochtes Ei, Sir. Mein berufliches Sujet ist das Essen und Trinken.«

»Die Ernährung dient dem Überleben. Maßloses Spachteln und Picheln ist Sünde und deshalb zu verdammen.«

»Sie müssen es ja wissen!«

»Aber Gentlemen, so beruhigen Sie sich doch. Wir haben keinen Anlass, in Harnisch zu geraten.«

»Er hat mich vor den Kopf gestoßen! In meinem ganzen Leben war ich noch nie maßlos!«, sagte MacDonald verstimmt. Allzeit ein versöhnungswilliger Zeitgenosse, sollte man doch über seinen Beruf bitteschön keine unsachgemäßen Bemerkungen machen. Fairness war der ebenso dünne wie notwendige Grund der Zivilisation.

»Habe nur die Wahrheit gesagt.«

»Das ist Ihre Meinung. Eine sehr bescheidene, wie ich hinzufügen darf!«

»Meine Herren, ich schlage vor, wir nehmen einen Drink zu uns. Unser Landsmann Laphroaig wird uns wieder auf Vordermann bringen. Was meinen Sie?«

»Von mir aus gerne«, erwiderte MacDonald eine Spur ziviler.

»Normalerweise trinke ich um diese Zeit nichts«, erklärte Lockhart und klopfte mit dem Zeigefingerknöchel auf seine Armbanduhr.

Des Gourmets Gesicht verfärbte sich weihnachtsputerrot. Das wurde immer besser! Wenn er ihn auf den Drambuie hinwies, würde er wohl Likör zu Limonade erklären! »Ich doch auch nicht!«

Mrs Sinclair reichte den Herren kommentarlos einen doppelten Scotch und wartete, bis die Promille ihre Wirkung taten. »Möchten Sie vielleicht einen kleinen Imbiss dazu?«

Er sah sich bereits in ein generöses Stück des Dundee Cake beißen, doch der Major winkte mit den Händen ein Andreaskreuz. »Nein, so weit muss man nicht gehen.«

»Sie sollten Ihre Gesundheit nicht auf die leichte Schulter nehmen, John. Immerhin sind Sie in Ohnmacht gefallen.«

»Nach einem Gläschen Whiskylikör«, rutschte es MacDonald heraus.

»Harte Zeiten verlangen nach harten Geschützen«, sagte Mrs Sinclair. »Mister MacDonald, als Sie klingelten, wollte der Major gerade etwas erzählen.«

Lockhart nippte an seinem Scotch und sah MacDonald über das Glas hinweg an. »Tut mit leid, wenn wir auf dem falschen Fuß angefangen haben. Die Nerven sind etwas angespannt.«

»Halb so schlimm«, antwortete MacDonald und nahm noch einen Schluck. Als der Whisky wohlig seinen Körper durchfloss, wusste er, dass ein konstruktives Gespräch sehr viel wahrscheinlicher war.

»Ist außerdem nicht meine Art, Mitmenschen mein Herz auszuschütten, schon gar nicht solchen, die ich gerade erst kennen gelernt habe. Doch Christabel hat ein richtiges Loblied auf Sie gesungen. Sollen ein ausgezeichneter Spürhund sein. Hatte allerdings erwartet, dass Sie über Politik schreiben.«

MacDonald schüttelte den Kopf. »Was ist los?« Und warum nannten sie sich beim Vornamen? Das machte … Christabel niemals.

»Ich erwähnte, dass Sie ein Meister im Ermitteln sind, Mister MacDonald.«

»Herzlichen Dank. Wenn man das so sagen möchte. Aber um auf die unglückliche Vokabel Spürhund zurückzukommen …«

Mrs Sinclair streckte ihm die schlanke Whiskyflasche entgegen und sah ihn flehentlich an. »Darf ich nachgießen?«

»Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie alles, was ich Ihnen erzähle, für sich behalten, MacDuff?«

»Selbstredend, mein Herr. Das ist Ehrensache.«

Der Begriff schien dem Major zu gefallen, erinnerte ihn an vergangene Zeiten. Er nickte anerkennend. »Es geht um meine Tochter Ann und Enkelin Catriona. Sind wie vom Erdboden verschluckt.«

»Seit wann?«

»Vielleicht zwei Wochen. Bis vor einem Jahr hätte man es genau sagen können. Damals wohnte sie noch bei meiner Frau. Exfrau sollte ich besser sagen. Macht der Gewohnheit. Wie auch immer. Ann ist mit der Kleinen abgehauen. Ohne ein Wort! So etwas machen wir Lockharts nicht! Schande für den Familienstammbaum!«

War das schlimmer als die Tatsache, dass die beiden unauffindbar waren? »Ich kann Ihnen leider nicht folgen. Von wo ist sie abgehauen?«

»Von der komischen Freundin, bei der sie wohnte. Hielt sie bislang aber nicht davon ab, meine Exfrau regelmäßig zu besuchen. Von ihr habe ich auch erfahren, dass sie verschwunden ist.«

»Wissen Sie, wie die Freundin heißt?«

»Nein.«

»Wohnsitz?«

»Auch nicht.«

»Wie alt ist Ihre Frau Tochter?«

»Ann, lassen Sie mich überlegen, 34 Jahre, denke ich.«

»Und Catriona?«

»Fünf Jahre und vier Monate.«

»Darf ich fragen, wo sich der Vater des Kindes gegenwärtig aufhält?«

Mrs Sinclair schnäuzte demonstrativ in ihr besticktes Taschentuch.

»Verzeihen Sie, Major, ich möchte nicht indiskret sein, aber wenn ich den Fall aufklären soll, muss ich mitunter auch unbequeme Dinge aufrühren. Es liegt in der Natur der Sache.«

»Ist mir doch klar! Dieser Sangster ist ein Taugenichts, hat sich nach der Geburt der Kleinen einfach aus dem Staub gemacht, berappt nicht einen Penny Unterhalt! Zu meiner Zeit hätte man den Burschen standrechtlich erschossen! Vielleicht mache ich das noch!«

MacDonald nickte einfühlsam. Die schlimmsten Tragödien spielten sich wahrlich in Familien ab. »Kann Ihre ehemalige Gattin uns Hinweise liefern?«

»Eher weniger.«

»Und warum nicht?«

»Weil sie völlig gaga ist!«

»Was bitteschön heißt gaga?«

»Verrückt, versponnen.«

»Die Bedeutung des Wortes ist mir wohlbekannt. Ich meinte, wie sich das bei Ihrer Exfrau äußert?«

»Sie kennen doch Prinz Philip?«

»Von England? Wer täte das nicht«, antwortete MacDonald zögerlich, denn er war nicht sicher, ob man ihn vergackeiern wollte. Und wahrscheinlich würde der Herr eine falsche Antwort mit einer Backpfeife quittieren.

»Exakt. Meine Exfrau spricht nur noch mit ihm.«

»Der Gatte der englischen Königin verkehrt bei ihr?«

»Papperlapapp! Sie spricht mit ihm, obwohl er nicht da ist.«

»Sie führt Selbstgespräche?«

»Himmel! Nein! Sie redet nur mit Herren, die ihm ähnlich sehen oder wie er palavern. Hab doch gerade gesagt, dass sie gaga ist.«

»So ist das also. Haben Sie ihn auch schon imitiert?«, erkundigte MacDonald sich ein wenig schadenfreudig, denn der Kasernenhofton missfiel ihm zunehmend.

»Was sollte ich denn tun! Sonst hätte sie mir doch überhaupt nichts erzählt. Aber damit ist nun ein für alle Mal Schluss! Lasse mich nicht mehr zum Hampelmann machen. Mit ihrem Faible für den Knilch ist sie mir schon während unserer Ehe auf den Wecker gegangen. Ich muss jetzt aufbrechen.«

Bevor MacDonald etwas erwidern konnte, stand der Major bereits vor ihm und zerquetschte ihm fast die Hand. Welcher Mensch suchte derart schnell das Weite, wenn es um das Schicksal von Tochter und Enkelkind ging? Hier war etwas faul im Staate Schottland.

»Jeder Mann, der es zu etwas gebracht hat, denkt, dass das allein sein Verdienst war; seine Ehefrau lächelt und lässt ihn in diesem Glauben.«

aus Sir James Matthew Barries (1860-1937) »What Every Woman Knows« (1908), Akt vier

Trubel im Guest House

»So isst doch kein zivilisierter Mensch! Maria, du hättest sehen sollen, wie der Dicke seine doppelte Portion Porridge reingeschaufelt hat. Das grenzt an Fresssucht! Incredibile!« Alberto Vitiello führte sein Guest House in Fountainbridge seit Jahrzehnten. Dennoch fand der Italiener noch immer einen Anlass, um sich aufzuregen. Seine Echauffiertheit stieg mit der Entfernung, aus der die Gäste anreisten. »Ein Japaner im Schottenrock, mit passenden, langen Strümpfen und Messer! So etwas habe ich noch nie gesehen. Fehlt nur noch, dass er Gälisch mit mir reden möchte.« Gegen seine Frau und die Schwiegermutter hatte er nicht ganz so viel einzuwenden. Sie benahmen sich einigermaßen zivilisiert. Und irgendwie schien ihnen das Geschmatze auch peinlich zu sein, denn sie sahen den Dicken immer wieder besorgt an. Der Schwiegervater wiederum, so klein er war, stand ihm kaum nach. Sie hätten im Nachmittagsprogramm der BBC Scotland als Kinderschrecke auftreten können. Alberto beherbergte den seltsamen Tross nur, weil die hübsche, junge Dame im Tourist Board ihn darum gebeten hatte. Er konnte sich allerdings nicht verkneifen zu fragen, welcher Reisebus die Vier unterwegs verloren hatte, denn seines Wissens reisten Japaner nur in Großbusstärke um den Erdball. Sie hatte gelacht, ihm dann aber bestätigt, dass die beiden Ehepaare tatsächlich einer größeren Gruppe angehörten. In ihrem Hotel hatte man sich bei der Buchung der Zimmer vertan, so dass sie gewissermaßen auf der Straße standen. Seit Stunden schon regte er sich über diese Gäste auf. Und noch immer wollte er keine Ruhe geben. Von seiner Frau Maria konnte er keine moralische Unterstützung erwarten. Trotz seines heftigen Aufbegehrens dachte sie nicht im Traum daran, früh am Morgen unnötig Energie zu vergeuden und zog es vor, am Frühstückstisch zu sitzen und entspannt an einer Tasse Tee zu nippen. Der war so schwarz, dass er problemlos als Kaffee durchgegangen wäre. Sie trug blaue Wollhosen und einen fliederfarbenen Pullover. Auch im Alltag legte sie großen Wert auf elegante Kleidung. Alberto, der gerne ein einfaches Hemd und an besonders kalten Tagen zusätzlich eine Anglerweste anzog, bewunderte die Konsequenz seiner Frau, wenn es um Fragen des Stils ging. Maria hatte den »Scotsman« vor sich ausgebreitet. Angeblich wollte sie über die aktuelle weltpolitische Lage im Bilde sein. Doch Alberto hegte den Verdacht, dass sie mehr an spannenden Kriminalfällen interessiert war. Nachts schlief er oft unruhig, denn wer wusste schon, auf welch abenteuerliche Ideen seine Frau nach der Lektüre ihrer Zeitungen und Kriminalromane kam? An diesem grau-kalten Tag, in Schottland »a dreich day« genannt, verweilte sie allerdings noch immer auf der ersten Seite der Tageszeitung. Und für diese Verzögerung war ganz allein ihr Mann verantwortlich.

»Maria«, insistierte er, »du musst doch irgendeine Ansicht dazu haben?«

Nach einem weiteren Schluck Tee stellte sie die Tasse ab und blickte ihrem Ehemann tief in die haselnussbraunen Augen.

»Schau doch nur, was diese Typen für ein Spektakel in unserem schönen Diningroom veranstalten!«

»Du willst meine Ansicht dazu hören?«

Alberto nickte angestrengt.

»Andere Länder, andere Sitten, kann ich nur sagen. Außerdem hat sich von den übrigen Gästen keiner beschwert. Sieh mich nicht so entsetzt an. So ist es doch.«

»Was soll das bedeuten?«

Maria strich sich die Pulloverärmel in Form und erwiderte: »Ich denke, dass vier erwachsene Japaner in einem europäischen Land, fern von ihrer gewohnten Umgebung, verständlicherweise auffallen.«

Alberto las seiner Frau die Worte von den Lippen ab. »Aber darum geht es doch gerade! Wir sind hier nicht in Peking …«

»Tokio, wenn schon«, korrigierte Maria.

»… sondern in Edinburgh. Und dass sich die anderen Gäste noch nicht beschwert haben, ist mehr als ungewöhnlich. Aber glaube mir, ewig wird das nicht gut gehen.«

Maria wusste, dass sie ihrem Mann Einhalt gebieten musste, denn sonst würde sich das Zetermordio bis zum Lunch hinziehen. Sie antwortete nicht mehr, blickte ihn nur sehr streng an.

Alberto schaute aus dem Fenster. »Hast du Charles schon gefüttert?«

»Wie käme ich dazu, deinen geliebten Pfau zu versorgen? Das macht doch der Herr des Hauses, oder?«

»Gut. Du erinnerst dich aber vielleicht noch, wie es den Iren erging? Was wäre wohl geschehen, wenn ich ihnen seinerzeit nicht beigestanden hätte?«

»Möglicherweise hätten sie die Polizeistation erst zehn Minuten später gefunden und den Diebstahl der Handtasche mit dieser Verzögerung gemeldet.«

»Das ist nicht dasselbe!«

»Stimmt«, sagte Maria, »du hast den armen Menschen in einer schweren Stunde ihres Lebens beigestanden. Dennoch finde ich, dass wir die Überwachung unserer Gäste reduzieren müssen.«

»No! Das wäre sträflicher Leichtsinn!«

»Ich verstehe immer noch nicht, warum er inmitten der Konversation davongerannt ist! So verhält sich kein Gentleman. Schon gar nicht im Beisein einer Dame. Welcher Einheit gehörte er denn an?«

»Sie dürfen nicht so streng mit ihm sein, mein lieber Mister MacDonald. Der Schock steckt ihm noch in den Gliedern. Er hängt sehr an der Kleinen. Sie ist sein Ein und Alles.«

MacDonald bemerkte durchaus, dass sie die Frage nach des Majors Einheit nicht beantwortete. »Sie beziehen sich auf seine Enkeltochter?«

»Ja, Catriona ist wirklich reizend.«

»Haben Sie sie schon gesehen?«

»Ein paar Mal sogar.«

»Im Rahmen einer Verabredung?«

»Was sollte ein schneidiger Herr wie er von einer alten Fregatte wie mir denn wollen? Wir sind uns immer rein zufällig begegnet, im botanischen Garten, mehrfach im Ocean Terminal, auf diversen Spielplätzen.«

»War er alleine mit Catriona?«

»Manchmal. Oft war aber auch seine zweite Frau dabei. Sie scheint ebenfalls sehr an des Majors Enkelin zu hängen.«

»Wie alt ist Mrs Lockhart, die Zweite?«

»Man wagt es kaum auszusprechen. Sie ist 30 Jahre jünger als der Major. Und er geht auf die Siebzig zu.«

»Ein großer Altersunterschied. Gibt es, äh, Probleme in der Ehe?«

»Wie meinen Sie das?«

Genau diese Frage hatte er befürchtet. »Ich meine es nur so ganz, äh, allgemein. Möchte die zweite Gemahlin Nachwuchs haben?«

»In dem Alter? Wie kommen Sie denn darauf?«

»Heutzutage ist es doch fast schon an der Tagesordnung, wenn eine Frau nach dem dreißigsten Lebensjahr noch Kinder bekommt. Versteht Ann sich gut mit ihrer Mutter?«

»Sie waren ein Herz und eine Seele. Der Major sagte, sie hätten sich nach seinem Auszug sogar regelrecht gegen ihn verschworen. Ihm tat es leid, denn er mochte seine Tochter sehr. Ich glaube, dass es immer noch so ist. Auch wenn er es sich nicht anmerken lässt.«

»Meinen Sie, die Geschichte mit Prinz Philip stimmt?«

»Major Lockhart ist ein aufrechter Mann! Niemals würde er lügen.«

»Natürlich nicht. Aber er machte doch eine Andeutung, dass seine Gattin ihn ehemals mit dieser Marotte aufzog. Es könnte ja sein, dass sie das nun wieder macht?«

»In einer schlimmen Situation wie dieser? Nein, ich denke, dass die ehemalige Mrs Lockhart noch immer ein Fan des Duke of Edinburgh ist. Wie steht es übrigens mit Ihrem Privatleben? Fühlt Doktor Miller sich wohl?«

»Pudelwohl sogar«, stotterte er. »Meinen Sie, ich könnte ein weiteres Gespräch mit dem Major führen? Möglicherweise in einer weniger sprengstoffartigen Stimmung?«

»Ich hoffe es.«

Vor Ort gab es noch einen doppelten Dram aus dem Hause Laphroaig. Und als er dann über wenig befahrene Straßen in formschönen Schlangenlinien heimwärts tuckerte, war er sehr froh, dass sein Wagen den Weg kannte. Über die Princess Street hatte er für seine Route nicht nachdenken müssen. Seit man in Edinburgh mit dem Bau der Straßenbahn begonnen hatte, versank die Innenstadt im Chaos. Nur die Mäuse hatten unaufhörlich Kirchtag. Sie krochen aus allen Löchern, besetzten sogar Teile des Polizeireviers in Fettes. Über die Kantine der Ordnungshüter hatte man bereits Quarantäne verhängen müssen. Und so hatten die Edinburgher bei all den Verkehrsbehinderungen wenigstens die Gewissheit, dass alle Menschen gleich waren, jedenfalls, wenn es nach der Weisheit der grauen Mäuse ging. Zu Hause braute er sich einen starken Tee und ließ sich in seinen Winston-Churchill-Sessel sinken. Mrs Sinclair hatte wahrlich und wahrhaftig ein Auge auf den Major geworfen, auch wenn sie das nicht zugeben würde. Ob sie wohl einst eine Liaison mit ihm gehabt hatte? War dem noch immer so? Wenn er so darüber nachdachte, wusste er mit Ausnahme der Geschichten über ihren Herrn Vater und wenige Bekannte kaum etwas über ihr Privatleben. Hatte sie jemals geheiratet? Existierten Kinder und Enkelkinder?

Alberto empörte sich. »Von Überwachung kann keine Rede sein! Mir liegt das Wohlergehen unserer Gäste am Herzen. Ist das etwa ein Verbrechen?«

»Überhaupt nicht. Komisch ist nur, dass wir im Hotelbetrieb so lange überleben konnten, ohne dass unser Haus zum Hochsicherheitstrakt wurde.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, Maria.«

»Dann will ich dir mal auf die Sprünge helfen. Neben deiner persönlichen Supervision kommen unsere Gäste und ich seit Kurzem auch noch in den Genuss von Kameras und Bewegungsmeldern.«

Alberto schluckte kräftig. »Dabei handelt es sich um eine sehr nützliche Hilfe im Hotelbetrieb und …« Er wurde von einem durchdringenden Quak-Laut aus seinem Plädoyer gerissen.

»Nützliche Hilfe Nummer eins schlägt Alarm«, sagte Maria.

»Was folgern wir daraus?«

»Dass die Japaner in ihre Zimmer gegangen sind.«

»Eben nicht, denn sie bekämpfen immer noch ihr Frühstück. Schau auf den Monitor. Ich habe ihn nicht ohne Grund auf die Fensterbank gestellt.«

»Wir benötigen also dringend noch eine Überwachungskamera für den Flur?«, fragte Maria mit aller möglichen Ironie.

Alberto schaute seine Frau bewundernd an. »Jetzt, wo du es sagst, kann ich dir ja anvertrauen, dass ich selbst bereits daran gedacht habe.«

Nachdem alle Gäste mit Frühstück versorgt waren, begannen die Vitiellos wie üblich mit der Reinigung des Hauses. Alberto polierte gerade das Schränkchen vor der Eingangstür, als sich ein gewaltiger Schatten darauf legte. »Porca miseria«, rutschte es ihm heraus.

MacDonald trat ein und zog einen imaginären Hut vom Kopf. »Buon giorno, signore.«

»Buon giorno, Angus.«

»Habe ich dich erschreckt?«

»No. Was führt dich zu uns?«

Der Geruch deiner wohlschmeckenden Suppen, hätte MacDonald gerne geantwortet. Doch wollte er sich nicht als Gast aufdrängen. Stattdessen stammelte er: »Ich komme von Mrs Sinclair.«

»Sie wohnt nicht gerade in unserer Nachbarschaft.«

»Unbestritten, aber ich wollte dir unbedingt gleich von meinem neuesten Fall erzählen.«

»Was, schon wieder einer?«, fragte sein Freund ein wenig zu gleichgültig.

MacDonald wusste genau, welche Klaviatur er beim Familienmenschen Alberto spielen musste. »Eine junge Frau und ihre kleine Tochter sind verschwunden.«

»Pfui Teufel! Wer eine Mutter und ihr Kind entführt, gehört für den Rest seines Lebens weggesperrt. Sind es Verwandte von Mrs Sinclair?«

»Nein, Tochter und Enkeltochter eines gewissen Major Lockhart. Es ist übrigens nicht sicher, dass sie entführt wurden.«

»Kennst du den Herrn?«

»Ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen und leider nur kurz sprechen können. Denn er ist abrupt aufgebrochen.«

»Was hat der Fall mit der Kulinarik zu tun?«

»Meines Wissens nichts. Doch dem flehentlichen Blick Mrs Sinclairs konnte ich einfach nichts entgegensetzen.«

»Ich nehme an, du möchtest, dass ich dir wieder bei den Ermittlungen unter die Arme greife?«, fragte Alberto feierlich.

»Thank you, das wäre zu viel des Guten. Du bist schließlich ein vielbeschäftigter Mann und hast ein renommiertes Guest House zu führen.«

»Aber ich fühle mich in meinem eigenen Haus nicht mehr sicher und wäre deshalb für jede Ablenkung dankbar.«

»Jetzt hast du mich gedanklich verloren.«

»Ich rede von den japanischen Gästen, die unter meinem Dach wohnen. Komische Gestalten sind das. Sie führen etwas im Schilde.«

»Ist das so?«

»Certo. Ich werde dir alles erzählen.«

Albertos nicht enden wollenden Geschichten über schlimme Gäste wollte MacDonald sich heute gerne ersparen. »Oh, wie gerne täte ich das, doch ruft mich die Pflicht.«

»Wovon redest du?«

»Ich muss meine neue Fernsehsendung vorbereiten.«

»Capito. Worum geht es denn dieses Mal?«

»Um einen der Grundpfeiler der schottischen Küche, den Hafer.«

»Und unser neuer Fall?«

»Ich hole dich morgen früh ab, dann legen wir los. Apropos, was weißt du über Prinz Philip?«

»Was alle wissen.«

»Würdest du dir zutrauen, ihn zu imitieren?«

»Für ein Stück im King’s Theatre?«

»Eher für eine Laienaufführung.«

»Seit wann interessierst du dich für das englische Königshaus?«

»Ich mache es notgedrungen für den Fall. Die Mutter der vermissten Frau befindet sich in einer Blase, gefüllt mit ihrer überbordenden Phantasie. Sie reagiert nur noch auf den Duke of Edinburgh.«

»Molto bene! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr mich das freut.«

Angus hütete sich nachzufragen, wie sein Freund das meinte. Denn dann würde er das Haus erst gegen Abend wieder verlassen.

Zu Hause versuchte er mehrfach, Mrs Sinclair anzurufen, um sie noch einmal um die Vermittlung eines zweiten Gesprächs mit dem Major zu bitten. Doch sie hob einfach nicht ab. Wo konnte sie jetzt, so kurz nach dem Vorfall nur stecken? Ging sie doch selten aus dem Haus. Mittlerweile fragte er sich, ob sie mehr über den Fall wusste, als sie zugab.

Längst bereute MacDonald, dass er Alberto die Geschichte mit der Prinz-Philip-Imitation erzählt hatte. Nicht dass er ihm das Talent zu Imitation und Komik abspräche. In diesem Fach war er ein ungekrönter König. Unvergessen zum Beispiel die Tüte mit Scherzartikeln, die er seinen Verwandten in Italien präsentiert hatte: Bleistifte, die beim Schreiben umknickten, Blumen, die auf Knopfdruck Wasser verspritzten und weitere kurzweilige Dinge des absurden Lebens. Misslich war nur, dass Prinz Philip nicht mit italienischem Akzent redete. Und wie sollte er das Alberto schonend beibringen? Der stand bereits vor der Haustür und wartete auf ihn. MacDonald hielt mangels eines Parkplatzes mitten auf der Straße und ließ ihn einsteigen.

»Da brat mir einer einen Storch. Der Herr trägt nach langer Zeit wieder einmal sein Röckchen.«

»Deine Witzeleien fechten mich nicht an. Ein Schotte steht zu seinem Land.«

»Sag, wie kommt es zu dieser Kostümierung?«

»Ich verkörpere Prinz Philip, auch unter dem Namen Duke of Edinburgh bekannt.«

»Wer hat dir seinen spärlichen Haarwuchs verpasst?«

»Eine Kollegin vom Maskenbildnerteam der BBC war mir freundlicherweise behilflich.«

»Eccellente. Angus, ich muss dir etwas beichten. Leider hatte ich überhaupt keine Zeit, mich vorzubereiten. Aber wie ich dich kenne, hast du wieder ein komplettes Drehbuch verfasst.«

»In der Tat habe ich einiges Material gewälzt und mir auch Stichworte notiert. Vorbereitung ist oft die halbe Schlacht.«

»Allora, wie gehen wir vor?«

»Meine Idee war, zuerst einen Monolog zu halten, genauer gesagt ein Potpourri einiger der lustigsten Äußerungen des Prinzen. Dann könnten wir zu einem dialogischen Teil übergehen.«

»Va bene. Was mache ich dabei?«

»Du, mein Freund, könntest mir bei der Konversation zur Seite stehen, denn ich kann sie schwerlich alleine bestreiten.«

»Hm. Was hältst du davon, wenn ich Sean Connery imitiere?«

MacDonald schwante Schlimmes. »Warum denn das?«

»Maria ist doch ein großer Fan von ihm. Aber sie behauptet immer, ich könne ihn nicht gut nachmachen. Deshalb habe ich den Burschen in der letzten Zeit studiert, heimlich seine Filme angesehen und sogar über ihn gelesen.«

Deswegen hatte er sich bei ihrem letzten Gespräch also so sehr über den Termin gefreut, dachte MacDonald. »Das ist alles ganz vorzüglich, aber vielleicht lieber ein anderes Mal.«

MacDonald fädelte den Volkswagen in eine schmale Lücke.

»Respekt. Angus, das war eine Meisterleistung. Ein Parkplate direkt vor einer Buchhandlung.«

»Angenehm, doch völlig zufällig. Mrs Lockhart wohnt nur einige Häuser weiter.«

MacDonald öffnete den Kofferraum auf der Vorderseite des Wagens und nahm ein kleines Köfferchen an sich. »Folge mir unauffällig, Alberto.«

»Was hast du da drin?«

»Eine Überraschung.« Er schlug den gewaltigen, schmiedeeisernen Griff gegen die massive Holztür.

»Die würde einer Burg gut stehen. Mir ist nie aufgefallen, dass es auf der George Street solche Häuser gibt. Wohnen die Lockharts alleine hier?«

»Mittlerweile nur noch die Mutter.« Bevor MacDonald dem noch etwas hinzufügen konnte, wurde die Tür geöffnet. Eine ältere Dame mit Mittelscheitel und dickem mausgrauem Zopf starrte sie an. Im Hochland des 19. Jahrhunderts, eine Laterne in der Hand, wäre sie besser aufgehoben gewesen. »Die Gentlemen wünschen?«

»Mein Name ist Angus Thinnson MacDonald. Der Herr zu meiner Rechten ist mein guter Freund Alberto Vitiello. Wir möchten bitte mit Mrs Lockhart parlieren.«

Die Frau sah nur MacDonald an und behandelte Alberto wie Luft. »Sie hatten sich angemeldet? Mrs Lockhart fühlt sich gar schlecht!«

»Ich bin ein Freund von Mrs Sinclair.«

»Eine Dame dieses Namens kenne ich nicht.«

»Hören Sie, wir wollen Licht ins Dunkel des Verschwindens von Mrs Lockharts geliebter Tochter Ann und Enkeltochter Catriona bringen. Wenn Ihnen das nicht behagt, gehen wir besser wieder.«

Die Frau deutete drohend auf sein Köfferchen. »Sie wollen doch nicht etwa hier einziehen?«

»Keineswegs. Mir kam zu Ohren, dass Mrs Lockhart ausschließlich auf den Duke of Edinburgh reagiert. Deshalb habe ich einige Accessoires mitgebracht.«

»Treten Sie ein«, sagte sie sehr höflich.

MacDonald und Alberto sahen sich verdutzt an. Sollte sich hinter dem ruppigen Kern eine weichere Schale verbergen?

»Ich heiße Ailsa Craig.«

»Ailsa Craig? Wie die schöne einsame Insel im Firth of Clyde?«

Mrs Craig taute über der Bemerkung noch etwas auf. Der Herr schien sein Land gut zu kennen. »So ist es. Wissen Sie, in diesen ruppigen Zeiten weiß man nie, wer einem Übles will tun.«

»Aber ja, man kann nicht vorsichtig genug sein.«

»Sind Sie die Haushälterin?«, wollte Alberto wissen.

»Wahrlich bin ich das nicht! Eine gute Freundin nur, die in Zeiten der Not aushilft. Wenn Sie mir bitte in den hinteren Trakt des Hauses folgen möchten. Mrs Lockhart ist sehr lichtempfindlich.«

»Bevor wir eintreten, hätte ich noch eine Frage, Gnädigste.«

»Und die wäre?«

»Verfügt der Raum über einen roten Teppich?«

»Unfassbar! Woher nur wissen Sie es?«

Mrs Abercromby ging Doktor Karen Miller an diesem Vormittag wieder einmal gehörig auf den Geist. Nicht nur, dass sie vergesslich und schusslig war, jetzt hatte sie auch noch den Tick entwickelt, alles zwei Mal zu sagen. Der Tag begann mit »guten Morgen, guten Morgen« und endete mit »schönen Abend, schönen Abend«. Wenn sie nicht von einem Freund ihrer Eltern empfohlen worden wäre, hätte sie schon längst den Hut, in ihrem Fall die Kappe, nehmen und für immer nach Hause gehen können. »Knock, knock«. Hatte sie die Tür geöffnet, ohne vorher anzuklopfen und in der offenen Tür »knock, knock« gesagt? So langsam wurde es absurd. Karen Miller blinzelte. In der letzten Zeit hatte sie nicht gut geschlafen. Zu viele Gedanken kreisten durch ihren Kopf. Alle hatten mit Veränderung zu tun. »Was gibt es, Mrs Abercromby?«

»Dieser Herr hat schon wieder angerufen.«

»Welcher Herr?«

»Na, Sie wissen schon.«

»Wenn ich es täte, würde ich doch nicht fragen. War es Mister MacDonald?«

»Der Dicke? Verzeihung, das sollte ich ja nicht mehr sagen. Nein, der war’s nicht. Mir fällt gerade auf, dass er sich schon lange nicht mehr gemeldet hat. Es wird ihm doch nichts passiert sein?«

Angus rief fast ausschließlich zu Hause an. Doch das musste sie ja nicht auch noch erfahren. »Also, wer war es?«

»Er hatte viele ›a‹ im Namen.«

»Tannahill?«

»Ja, woher wissen Sie das?«

»Das spielt keine Rolle. War das alles?«

»Bitte, was, bitte?«

»Haben Sie weitere wichtige Fragen für mich?«

Mrs Abercromby stützte das Kinn mit der Hand ab und schüttelte dann den Kopf. »Ich denke nicht.«

»Bis später. Sie können die Tür schließen. Von außen bitte sehr.«

Nachdem die Sprechstundenhilfe gegangen war, stand sie auf und ging durch das Zimmer. Bei ihrem energischen Schritt musste sie oft kehrtmachen. Doch die Bewegung beruhigte sie ein wenig. Tannahill also. Sie hatte sich in Edinburgh auch deshalb niedergelassen, weil sie ihre Ruhe haben wollte. Und nun tauchte er wie aus dem Nichts wieder auf. Theoretisch konnte Mrs Abercromby sich natürlich verhört haben. Doch diesem frommen Wunsch wollte sie sich gar nicht erst hingeben. Tannahill war kein Name, den man an jeder Ecke hörte. Gerne hätte sie etwas Kräftiges getrunken, um die Nerven zu beruhigen. Einen guten Single Malt, wie Angus ihn in seiner Hausbar hatte. Es hatte sich alles so gut angelassen, die Praxis, Kollegen, die sie kennenlernte und natürlich der liebe Angus, ein wahrer Gentleman. Bis die Vergangenheit sie abrupt einholte. Als sie Mrs Abercromby um den nächsten Patienten bitten wollte, klingelte das Telefon. Das würde er doch hoffentlich nicht sein. Ein Blick auf das Display versicherte ihr, dass es nicht so war. »Hallo Dad, lange ist es her.«

»Guten Morgen, Liebes. Alles klar bei dir?«

»So weit, so gut. Und bei euch?«

»Alles bestens.«

»Was ist, Dad?«

»Bitte was?«

»Dich bedrückt doch etwas?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ich merke es an deiner Stimme.«

»Und ich dachte, mein Töchterchen studierte Medizin und nicht Psychologie.«

»Um das zu erkennen, muss man keine Universität besucht haben.«

»Tannahill ist auf dem Weg nach Edinburgh.«

»Das darf doch nicht wahr sein! Woher weißt du es?«

»Seine Mutter rief an, um uns zu warnen. Er ist doch noch nicht da?«

»Nein, aber hat schon zwei Mal angerufen.«

»Von wo aus?«

»Das weiß ich nicht.«

»Habt ihr dermaßen alte Telefone?«

»Nein, nur Sprechstundenhilfen.«

»Verzeihung?«

»Nichts, ich habe eine gehässige Bemerkung gemacht. Kannst du bitte einen Moment dranbleiben?«

Sie rannte ins Vorzimmer, schob Mrs Abercromby, die protestierte, mit ihrem fahrbaren Stuhl zur Seite und rief die Liste der Anrufe ab.

»Hat nach Tannahill noch jemand angerufen?«

»Wie meinen?«

»Kommen Sie mir jetzt bloß nicht auf die Tour!«

Mrs Abercromby zog ihren Kopf entsetzt aus der Gefechtslinie. »Nein, er war der Letzte.«

»Sehr gut.« Sie ging in ihr Zimmer zurück und schloss die Tür. »Dad, bist du noch dran?«

»Ja, Liebes.«

»Wie es aussieht, ist er nicht mehr weit weg.«

»Doch nicht in Edinburgh?«

»Nein, aber definitiv irgendwo in der Nähe.«

»Das gefällt mir nicht. Der Bursche soll sich mit zwielichtigen Personen eingelassen haben. Soll ich zu dir kommen?«

»Auf keinen Fall. Ich werde schon mit ihm fertig. Wie ist denn seine Stimmung?«

»Er scheint sehr wütend zu sein, psychisch nicht mehr stabil. Du bist sicher, dass du es alleine schaffst?«

»Aber ja. Mach dir keine Sorgen.«

Doch Karen Miller war überhaupt nicht klar, ob sie mit Tannahill fertig würde. Schon früher war das oftmals keine einfache Aufgabe gewesen.

»Um eine Sache beneide ich die Mitglieder der königlichen Familie. Und das sind ihre niedlichen Kinnpartien. Rasieren muss sehr einfach für sie sein, whoosh, und mit einem Schlag ist alles getan.«

The Duke of Edinburgh

»Ich versichere Ihnen, niemals in diesem Hause geweilt zu haben. Wenn kein roter Bodenbelag vorhanden gewesen wäre, hätte ich einen kleinen Handteppich aus meinem Köfferchen gezaubert und ihn ausgelegt. Nur deshalb habe ich gefragt. Dürfen wir eintreten?«