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Chan Ho-kei

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Beschreibung

Inspector Kwan ist der Sherlock Holmes von Hongkong. Chan Ho-kei erzählt das Leben dieses Masterminds anhand seiner spektakulärsten Fälle und entwirft damit ein faszinierendes Panorama vom Leben und Sterben in der erstaunlichsten Stadt der Welt. Hongkong, heute: Inspector Kwan, der aus Respekt vor seiner Kombinationsgabe nur "Das Auge von Hongkong" genannt wird, liegt im Sterben. Kwan hat sein Leben lang Verbrecher gejagt und ist darüber nicht nur in Polizeikreisen zu einer Legende geworden. Da stürmt sein alter Schüler Sonny herein. Er bittet Kwan um Hilfe bei der Lösung eines bizarren Mords, der mit einer Harpune verübt wurde. Vom Sterbebett aus knackt Kwan ein vermeintlich unlösbares Rätsel – und löst damit den letzten der insgesamt sechs Fälle, die dieser außergewöhnliche Kriminalroman erzählt. Die Geschichte der sechs Fälle des Inspector Kwan ist zugleich die Geschichte einer erstaunlichen Stadt, die einst von China an Großbritannien abgetreten wurde, um dann hundert Jahre später wieder an die Kommunisten zurückzufallen. Im Schatten der Weltgeschichte, die in Hongkong Volten schlug, lauerte stets auch das Verbrechen: Erpresser, Mörder, Räuber, die im Dunkeln agieren, sichtbar nur für einen genialen Polizisten mit gefürchteter Hellsicht: Inspector Kwan, Das Auge von Hongkong.

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Chan Ho-Kei

Das Auge von Hong Kong

Die sechs Fälle des Inspector Kwan

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld

»Ich werde Ihrer Majestät, ihren Thronerben und Nachfolgern nach bestem Wissen und Gewissen und getreu dem Gesetz als Polizeibeamter dienen. Ich werde die Gesetze der Kronkolonie Hongkong befolgen, wahren und hüten, ich werde die Befugnisse und Pflichten meiner Dienststelle ehrlich, treu und redlich ausüben, furchtlos und ohne Ansehen der Person, und ich werde gewissenhaft alle rechtmäßigen Befehle jener befolgen, die im Range über mir stehen.«

 

Diensteid der Polizei Hongkong

(in der bis 1980 verwendeten Version)

I Die Wahrheit zwischen Schwarz und Weiß 2013

1

Inspector Lok war der Geruch von Krankenhäusern schon immer verhasst gewesen.

Dieser penetrante antiseptische Gestank, der auch jetzt wieder in der Luft lag. Nicht, dass der Inspector schlechte Erinnerungen an Orte wie diesen hatte; der Geruch erinnerte ihn einfach zu sehr ans Leichenschauhaus. Lok war seit siebenundzwanzig Jahren bei der Polizei und hatte zahllose Leichen gesehen, doch an den Geruch würde er sich nie gewöhnen – aber wer, abgesehen von Nekrophilen, findet schon etwas an toten Körpern?

Lok seufzte. Sein Herz war ihm schwerer als bei jeder Autopsie.

In seinem ordentlichen blauen Anzug stand er neben dem Krankenbett und blickte niedergeschlagen auf den Patienten hinunter: einen weißhaarigen Mann, die Augen geschlossen, das faltige Gesicht unter der Atemmaske gespenstisch bleich. Feine Nadeln durchbohrten die altersfleckige Haut der Hände und verbanden den Mann mit mehreren Überwachungsgeräten. Ein Siebzehn-Zoll-Monitor über dem Bett zeigte seine Vitalparameter an. Die Linien, die sich gemächlich von links nach rechts durchs Bild bewegten, waren das einzige Anzeichen dafür, dass der Patient noch am Leben und kein wohlpräparierter Leichnam war.

Dieser Mann war jahrzehntelang Inspector Loks Mentor gewesen, derjenige, der ihm alles beigebracht hatte, was er über die Aufklärung von Verbrechen wusste.

»Lass dir eines gesagt sein, Sonny. Man löst keine Fälle, indem man sich stur an die Regeln hält. Natürlich ist das Befolgen von Befehlen in der Truppe ehernes Gesetz, doch für uns als Polizisten ist der Schutz der Zivilbevölkerung die oberste Pflicht. Falls die Regeln dazu führen, dass ein unschuldiger Mitbürger zu Schaden kommt, oder falls der Gerechtigkeit nicht Genüge getan wird, ist die Missachtung dieser Regeln ein Gebot der Vernunft.«

Mit einem traurigen Lächeln erinnerte Lok sich an die Worte, die dem alten Mann in allen möglichen Variationen so oft über die Lippen gekommen waren. Seit seiner Beförderung vor vierzehn Jahren nannten ihn alle Inspector Lok, nur sein Mentor benutzte weiter diesen albernen Spitznamen, Sonny. In seinen Augen war Lok immer noch ein Kind. Vor seiner Pensionierung war Superintendent Kwan Chun-dok Leiter der Abteilung B des Central Intelligence Bureau gewesen, des internen Informationsdiensts der Polizei von Hongkong. Das CIB war für die Sammlung und Analyse der Polizeiberichte aus den sechs Regionalkommissariaten zuständig. War das CIB das Gehirn des Polizeiapparats, so war die Abteilung B der Frontallappen, jener Teil, der für die Auswertung zuständig war, dafür, die Informationen zu sieben und zu sortieren, um aus allen verfügbaren Hinweisen Erkenntnisse zu gewinnen, die womöglich selbst Augenzeugen verborgen geblieben waren. Kwan hatte 1989 die Leitung dieser Kerngruppe übernommen und war schnell zum Spiritus Rector des CIB geworden. Constable Sonny Lok war 1997 in die Abteilung B versetzt und bald Kwans »Schüler« geworden. Kwan war nur ein halbes Jahr lang Loks Vorgesetzter gewesen, setzte aber auch nach seiner Pensionierung die Arbeit bei der Polizei als Sonderberater fort, was ihm immer wieder die Möglichkeit verschaffte, den zweiundzwanzig Jahre jüngeren Sonny Lok unter seine Fittiche zu nehmen. Für den kinderlosen Kwan war Sonny wie ein Sohn.

»Sonny, die psychologische Kriegsführung gegen einen Verdächtigen gleicht dem Pokerspiel – man muss den Gegner täuschen. Sagen wir, du hättest zwei Asse auf der Hand; in dem Fall musst du deinen Gegner glauben lassen, du hättest nur Ramschkarten; ist die Lage jedoch aussichtslos, musst du bluffen wie ein Weltmeister. Du lässt ihn glauben, dein Sieg sei greifbar nahe. Damit bringst du ihn dazu, sich zu verraten.« Wie ein Vater, der seinen Sohn das Leben lehrt, gab Kwan alle seine Tricks an Sonny weiter.

Nach vielen gemeinsamen Jahren behandelte auch Lok Kwan wie seinen Vater, und er kannte seinen Mentor in- und auswendig. Während alle anderen Kwan nur mit »Sir« ansprachen, nannte Lok ihn »Shifu«, was im Kantonesischen »väterlicher Meister« heißt. Seine Kollegen bei der Truppe hatten für Kwan alle möglichen Spitznamen: »Aufklärungsmaschine«, »Das Auge von Hongkong«, »Superermittler«, »Das Genie«. In Loks Augen traf das, was Kwans verstorbene Frau einst über ihn gesagt hatte, am ehesten auf ihn zu: »Im Grunde ist er ein fürchterlicher Erbsenzähler. Wie wäre es, ihn Onkel Dok zu nennen?«

Im Kantonesischen ist »Onkel Dok« die Bezeichnung für den geizigsten aller Geizkragen. Außerdem stimmte »Onkel Dok« zufällig mit dem zweiten Teil von Kwans Rufnamen überein. Dass er ausgerechnet jetzt an dieses alte Wortspiel denken musste, entlockte Lok ein stilles Lächeln.

Erschreckend kompetent, erbittert autark, obsessiv detailversessen – all das kennzeichnete den schrulligen Charakter, der die Arbeiteraufstände Ende der Sechziger überstanden hatte, die Korruption bei der Polizei in den Siebzigern, die brutalen Verbrechen der Achtziger, den Übergang der Staatshoheit in den Neunzigern, die gesellschaftlichen Umwälzungen zur Jahrtausendwende. Über viele Jahrzehnte hinweg hatte er still und leise Hunderte von Kriminalfällen gelöst und sich ebenso leise in der Geschichte der Polizei von Hongkong verewigt.

Doch nun stand diese Legende mit einem Fuß im Grab. Das Hochglanzimage des von ihm wesentlich geprägten Polizeiapparats von Hongkong hatte längst begonnen zu verblassen, und jetzt, im Jahr 2013, litt der Ruf seiner Profession sichtlich.

Nachdem es der Polizei von Hongkong Ende der Siebziger gelungen war, sich von der Korruption zu befreien, hatte sie sich den Ruf einer uneigennützigen, zuverlässigen Behörde erworben. Es mag auch danach noch das ein oder andere schwarze Schaf gegeben haben, doch der überwiegende Teil der Bevölkerung sah in diesen eine Ausnahme. Den großen Wandel brachte die Politik. 1997, nach der Übergabe der Kronkolonie von England an China, wurde eine Gesellschaft, die zuvor stets in der Lage gewesen war, die verschiedensten Wertesysteme friedlich in sich zu vereinen, allmählich in einzelne politische Lager zerrissen. Die Demonstrationen und Proteste wurden zunehmend hitziger, und der harte Kurs gegen Demonstranten warf die Frage auf, auf wessen Seite die Polizei in Wirklichkeit stand. Von der Polizei wurde Neutralität erwartet, doch als bei den Zusammenstößen auch Regierungseinrichtungen angegriffen wurden, schien die Polizei sich zurückzuhalten, anstatt mit der gewohnten Effizienz zu agieren. Erste Stimmen wurden laut, in Hongkong würden die Mächtigen die Gerechtigkeit mit Füßen treten und die Polizei sei deren Handlanger, die immer dann ein Auge zudrückten, wenn es um regierungsnahe Gruppierungen ging, und die nur noch den Politikfunktionären dienten.

Früher hatte Inspector Lok solche Kritik stets zurückgewiesen. Inzwischen fing er allerdings selbst an zu argwöhnen, an den Vorwürfen könnte etwas dran sein. Es gab immer mehr Kollegen, die ihre Position nur noch als Job betrachteten und nicht mehr als höhere Berufung. Sie hielten sich stur an die Regularien wie jeder andere Lohnempfänger auch.

Immer wieder vernahm Lok den Satz: »Je mehr du tust, desto mehr Fehler machst du, also halt lieber die Füße still.« Als er 1985 der Truppe beitrat, war das Ansehen eines Polizeibeamten für ihn die wesentliche Motivation gewesen – ein Polizist war jemand, der sich dazu verpflichtet hatte, den Frieden zu bewahren und für Gerechtigkeit zu sorgen. Für die Beamten der neuen Generation waren Vorstellungen wie Gerechtigkeit offensichtlich nur noch theoretische Größen. Ihre Ziele bestanden darin, sich ein einwandfreies disziplinarisches Führungszeugnis zu bewahren, möglichst schnell die Leiter hinaufzuklettern, trockenen Fußes die Pensionierung zu erreichen und sich dann auf ihrer üppigen Pension auszuruhen. Weil die Öffentlichkeit allmählich Wind von dieser immer weiter um sich greifenden Haltung bekam, sank das Ansehen der Polizei in den Augen der Bevölkerung immer weiter.

»Sonny, selbst … selbst wenn die Öffentlichkeit uns hasst, wenn unsere Vorgesetzten uns zwingen, gegen unser Gewissen zu handeln, und wir von allen Seiten unter Beschuss stehen … vergiss nie, was unsere Pflicht ist, unsere Mission … triff die richtige Entscheidung …«, hatte der Superintendent erst neulich nach Atem ringend gekeucht, ehe er wieder einmal das Bewusstsein verlor, und sich dabei an Loks Hand gekrallt.

Lok wusste sehr wohl, was mit »Pflicht« und »Mission« gemeint war. Als Leiter des Regionalkommissariats Ost-Kowloon hatte er nur einen einzigen Auftrag: die Bevölkerung zu beschützen, indem er Verbrecher fing. Wenn die Wahrheit verborgen war, bestand seine Aufgabe darin, Ordnung ins Chaos zu bringen, Ordnung als letzten Verteidigungswall der Gerechtigkeit.

Heute würde er seinen Mentor darum bitten, den letzten Funken Leben, der noch in ihm steckte, darauf zu verwenden, ihm bei der Lösung eines Falls zu helfen.

Weit unten funkelte das Licht der Nachmittagssonne auf der azurblauen Bucht und fiel blendend durch die raumhohen Fenster. Außer den gleichmäßigen Geräuschen der Apparate, die besagten, dass der Patient noch lebte, war im Zimmer nur das Klappern einer Tastatur zu hören. Es kam von der jungen Frau, die konzentriert in einer Ecke saß.

»Sind Sie so weit, Apple? Sie werden bald hier sein«, sagte Inspector Lok.

»Bin gleich fertig. Hätten Sie mir früher gesagt, dass Sie noch Änderungen an dem Programm wünschen, gäbe es jetzt nicht ein solches Durcheinander. Es ist zwar nicht schwer, die Schnittstelle zu verändern, aber die Programmierung ist zeitaufwendig.«

»Ich verlasse mich auf Sie.« Inspector Lok hatte wenig Ahnung von Computern und viel Vertrauen in Apples Fähigkeiten.

Apple sprach mit ihm, ohne dabei den Blick zu heben. Sie war ganz auf ihre Tastatur konzentriert. Sie trug eine alte schwarze Baseballkappe, unter der braune Locken und ein ungeschminktes Gesicht zu sehen waren. Auf ihrer Nase thronte eine dicke, schwarz gerahmte Brille, sie trug ein schwarzes T-Shirt unter einer uralten Latzhose und außerdem Flip-Flops, die schwarz lackierte Zehennägel sehen ließen.

Dann klopfte es.

»Ich komme«, rief Inspector Lok. Augenblicklich nahm sein Gesicht den gewohnten Ausdruck an, die Wachsamkeit eines Falken, der seine Beute erspäht hat – der Gesichtsausdruck eines hochprofessionellen Kriminalkommissars.

2

»Sir, sie sind da«, sagte Ah Sing, Inspector Loks Assistent, und öffnete die Tür. Hinter ihm betrat im Gänsemarsch und mit zweifelnden Gesichtern eine ganze Horde Menschen das Krankenzimmer.

»Mr Yue, ich bin sehr dankbar, dass Sie Zeit gefunden haben herzukommen.« Der Inspector verließ seinen Posten an Kwans Krankenbett und durchquerte das Zimmer. »Wie gut, dass Sie alle fünf kommen konnten. Wäre nur einer verhindert gewesen, hätten sich die Ermittlungen wieder ein paar Tage länger hingezogen. Ich danke Ihnen.«

Seine höflichen Worte waren, wie die Anwesenden nur zu gut wussten, nur freundliche Fassade. Schließlich ermittelte er in einem Mordfall.

»Es tut mir leid, Inspector Lok, aber ich verstehe wirklich nicht, was wir hier sollen.« Yue Wing-yee ergriff als Erster das Wort. In einem Mordfall wurden Augenzeugen oder Verdächtige üblicherweise auf dem Kommissariat verhört oder aber am Tatort selbst, aber in einem Privatzimmer im fünften Stock des Wo Yan Hospital in Tseung Kwan O? Es war purer Zufall, dass sich diese Privatklinik im Besitz der Familie Yue befand, und hatte, soweit Wing-yee das beurteilen konnte, nichts mit dem Fall zu tun. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, weshalb man sie ausgerechnet hierher gebeten hatte.

»Bitte beachten Sie die Verbindungen dieser Einrichtung zu Ihrer Familie gar nicht, das ist purer Zufall. Das Wo Yan ist nun einmal das bestausgestattete Krankenhaus in Hongkong – und so ist es kein Zufall, dass unser hochgeschätzter Polizeiberater vor einiger Zeit hierher verlegt wurde«, erklärte Inspector Lok gelassen.

»Ach so. Verstehe.« Yue Wing-yee wirkte immer noch nicht überzeugt, stellte aber keine weiteren Fragen. Der zweiunddreißig Jahre alte Mann mit dem grauen Anzug und der rahmenlosen Brille hatte etwas Jungenhaftes an sich, auch wenn er inzwischen zum Kopf des Familienimperiums aufgestiegen war. Wing-yee hatte zwar immer vermutet, dass er die Geschäfte des Fung-Hoi-Konsortiums eines Tages übernehmen würde, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass diese Last so plötzlich auf seinen Schultern landen würde. Nach dem Tod seiner Mutter vor einigen Monaten und dem soeben erfolgten Mord an seinem Vater war ihm jedoch keine andere Wahl geblieben, als seine Rolle zu akzeptieren und in den Gesprächen mit der Polizei die Führung zu übernehmen.

Seit er in der vergangenen Woche die blutüberströmte Leiche seines Vaters gefunden hatte, ging ihm der Unfalltod seines älteren Bruders Wing-lai vor über zwanzig Jahren auch nicht mehr aus dem Kopf. Ständig hatte er sein Gesicht vor Augen, und jedes Mal schnürte es ihm die Kehle zu. Er hatte Jahre gebraucht, um dem Sargtuch zu entfliehen, das dieser frühe Tod über seine eigene Jugend geworfen hatte, und um sich an die Welle der Übelkeit zu gewöhnen, die ihn jedes Mal überkam, wenn er sich daran erinnerte.

Das Aufflackern des alten Grauens brachte Wing-yee zu der Überzeugung, dass er Wing-lais Tod wohl nie verwinden würde. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich stumm in seine Verantwortung zu fügen. Wäre Wing-lai noch am Leben, dachte Wing-yee, er wäre definitiv in der Lage, mit dieser Situation entschieden gelassener umzugehen als ich.

Obwohl es ihn nervös machte, mit Inspector Lok sprechen zu müssen, fühlte Wing-yee sich in der vertrauten Umgebung von Wo Yan entschieden wohler als auf dem nüchternen Kommissariat. Er war kein Arzt, trotzdem war die Klinik ihm bestens vertraut – nicht wegen des Vorstandspostens im Konsortium, sondern weil er seine Mutter, als sie im Sterben lag, alle paar Tage hier besucht hatte.

Davor hatte er das Haus höchstens ein Mal im Jahr betreten. Das Fung-Hoi-Konsortium besaß viele weitere Immobilien und Unternehmen, um die man sich kümmern musste; genauer gesagt, bildeten diese das Rückgrat des Geschäfts. Das Wo Yan Hospital war keine besonders lukrative Geldanlage, aber es verlieh dem Konsortium ein gewisses Prestige und war führend, was den Import innovativer Medizintechnik aus dem Ausland betraf – minimalinvasive Chirurgie, DNA-Bestimmungen für Erbkrankheiten, Bestrahlungsbehandlung bei Krebs.

Trotzdem hatte Wing-yee wie in einer drittklassigen Fernseh-Soap feststellen müssen, dass der Besitz dieser Klinik mitsamt ihrer fortschrittlichen Ausstattung und dem tadellosen Personal seiner Mutter rein gar nichts nutzte, als sie mit neunundfünfzig Jahren ihrem Krebsleiden erlag.

»Inspector Lok, Sie und Ihre Kollegen behelligen uns nun schon seit einigen Tagen. Ich vermute, Sie müssen diesen Wirbel veranstalten, wenn Sie in einem Fall nicht weiterkommen, um Ihren Vorgesetzten zu beweisen, dass Sie sich Mühe geben?« Dieser Vorwurf kam von dem jungen Mann direkt hinter Wing-yee – seinem acht Jahre jüngeren Bruder Yue Wing-lim. Im Gegensatz zu seinem weltgewandten Bruder gab Wing-lim sich leichtfertig, trug auffällige, teure Kleidung und hatte grellrot gefärbte Haare. Selbst wenn er mit einem Polizeibeamten sprach, tat er es furchtlos – er wirkte, als könnte ihm rein gar nichts Angst machen.

Wing-yee drehte sich um und starrte seinen jüngeren Bruder an, obwohl er, ehrlich gesagt, das Gleiche gedacht hatte, genau übrigens wie die drei anderen Anwesenden – Wing-yees Ehefrau Choi Ting, die Haushälterin der Familie Nanny Wu und der Privatsekretär Wong Kwan-tong, besser bekannt als Old Tong. Sie alle waren bereits vor ein paar Tagen auf dem Kommissariat gewesen, um eine detaillierte Aussage zu machen, und niemand konnte sich vorstellen, wie die Beantwortung weiterer Fragen die Ermittlungen voranbringen sollte.

»Die Familie Yue ist sehr bekannt und Fung Hoi für Hongkongs Wirtschaft von überragender Bedeutung, daher nehmen die Medien jedes noch so kleine Detail dieser Tat unter die Lupe«, sagte Inspector Lok gelassen. Offensichtlich nahm er Wing-lims Bemerkung nicht persönlich. »Dieser Fall wird auf allerhöchster Ebene als außerordentlich wichtig eingestuft, und wir hoffen, den Mord an Ihrem Vater so schnell wie möglich aufklären zu können, um einen wirtschaftlichen Skandal zu verhindern. Aus diesem Grund sehe ich mich gezwungen, auf die Hilfe meines Mentors zurückzugreifen, und deshalb habe ich Sie darum gebeten, ein wenig Zeit zu investieren, um den Fall noch einmal gemeinsam durchzugehen.«

»Über welche Superkräfte verfügt er denn, Ihr Mentor?«, fragte Wing-lim bissig.

»Ich spreche von unserem Superintendent Kwan Chun-dok, einstiger Direktor des Regionalkommissariats Hong Kong Island. Er ist inzwischen als Sonderberater tätig. Wo er involviert ist, gibt es keine unlösbaren Fälle. Seine Erfolgsquote in über dreißig Dienstjahren liegt bei einhundert Prozent.«

»Einhundert Prozent?«, stieß Wing-yee erstaunt aus.

»Richtig. Einhundert Prozent.«

»Sie … Sie übertreiben doch. Wer hat schon eine perfekte Bilanz?« Wing-lims Selbstgefälligkeit bekam erste Risse.

»Dürfte ich erfahren, wo sich dieser Superintendent Kwan befindet?«, fragte Old Tong, der weißhaarige Sekretär. Er warf Apple einen Blick zu, die still in ihrer Ecke saß und vor sich hin tippte. Bei diesem Mädchen von Mitte zwanzig handelte es sich jedenfalls ganz offensichtlich nicht um die genannte Person.

Inspector Lok drehte sich um und blickte zum Bett hinüber. Die Anwesenden brauchten ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass dieser Blick die Antwort war.

»Dieser alte Mann ist Superintendent Kwan?«, japste Yue Wing-yee.

»Ja.«

»Was … was fehlt ihm denn?« Wing-yee bereute seine Worte, sowie er sie ausgesprochen hatte. Krankheit wurde als Privatangelegenheit betrachtet, und eine derart direkte Frage könnte diesen Polizisten, den er dringend auf seine Seite ziehen wollte, ernstlich verärgern.

»Leberkrebs. Im Endstadium.«

»Und dieses … dieser alte Sack da soll den Mord an meinem Vater aufklären?« So respektlos Wing-lims Frage auch war, in Wirklichkeit hatte er sich Mühe gegeben, denn er hatte sich die Worte »abgehalftertes Wack« verkniffen.

»Wing-lim, ein wenig mehr Respekt, bitte!« Die Worte kamen nicht von seinem großen Bruder, sondern von Old Tong. Wing-yee schürzte missbilligend die Lippen, sagte jedoch nichts.

»Inspector Lok, haben Sie uns herzitiert, damit wir unsere Aussagen für diesen … für Superintendent Kwan wiederholen?«, fragte Choi Ting. Sie war die Rolle als Herrin des Hauses offenbar noch nicht gewohnt, und ihre Stimme verriet die Angst, etwas Falsches zu sagen.

»Exakt.« Inspector Lok nickte. »Mein Mentor ist nicht in der Lage, sich zur Villa Fung Ying oder aufs Kommissariat zu begeben, also musste ich Sie herbemühen.«

»Aber … kann er denn sprechen?« Choi Ting starrte den Patienten zweifelnd an. Sie war Ärztin gewesen, ehe sie in die Familie Yue eingeheiratet hatte, und der Anblick der Schläuche in Mund und Nase des Patienten, ganz zu schweigen von dem Beatmungsgerät, sagten ihr, dass das unmöglich war.

»Nein, er kann nicht sprechen, und er kann sich auch nicht bewegen. Er liegt im Koma«, sagte Inspector Lok ungerührt.

»Dann kommen wir zu spät!«, stieß Wing-yee aus.

»Welches Stadium?«, fragte Choi Ting.

»Drei.« Das hieß kaum Augenbewegung, keine Sprache, keinerlei gezielte physische Aktivität.

»Wenn Superintendent Kwan weder sprechen noch sich bewegen kann, wie soll er Ihnen dann helfen?«, fragte Old Tong. »Das soll wohl ein Witz sein, Inspector Lok.«

»Er kann immer noch hören«, sagte Lok düster.

»Na und?«, entgegnete Choi Ting. »Wie soll er uns mitteilen, was er denkt? Der Mann liegt im Koma!«

»Solange er uns hören kann, erledigt sie« – Inspector Lok deutete auf die junge Frau in der Ecke – »den Rest.«

Apple reagierte nicht. Sie hackte weiter auf ihre Tastatur ein und ignorierte die fassungslosen Blicke der fünf Besucher.

»Ihr Name ist Apple. Sie ist Computerexpertin.«

»Ach was!« Die Erklärung war in Wing-yees Augen gänzlich überflüssig, denn Apple saß in einem Gewirr bunter Kabel, ein mit Comicstickern übersätes Laptop auf dem Schoß und drei Bildschirme unterschiedlicher Größe vor sich.

»Was will eine Computerexpertin denn hier ausrichten? Soll sie etwa dem Typen das Gehirn anzapfen und es an ihren Prozessor anschließen?«, spottete Wing-lim.

»Ja, so in etwa.«

Diese Antwort hatte niemand erwartet, und schon gar nicht, dass Inspector Lok sie mit derart ungerührtem Gesicht von sich gab.

»Es ist ein bisschen kompliziert zu erklären – am besten, Sie versuchen es selbst. Wir haben das Programm modifiziert, um Ihnen diese Erfahrung zu ermöglichen.« Der Inspector wandte sich an Apple. »Ist alles bereit?«

»Ja, so gut wie.« Apple reichte ihm einen etwa zwei Zentimeter breiten schwarzen Gummistirnreif, welcher über ein graues Kabel mit ihrem blauen Laptop verbunden war.

»Mit diesem Gerät werden wir das Gehirn von Superintendent Kwan anzapfen, wie Sie es formuliert haben«, erklärte der Inspector. »Mr Wong, darf ich Sie bitten, sich zu einer Demonstration zur Verfügung zu stellen?«

Old Tong trat zögernd vor.

Inspector Lok platzierte ihn auf dem Besuchersofa und legte ihm das Stirnband an. Es sah aus wie der goldene Reif des Affenkönigs. Die beiden offenen Enden klemmten an seinen Schläfen, und Old Tong spürte, wie sich zahllose winzige Ausbuchtungen in seine Haut drückten. Behutsam rückte der Inspector den Reif zurecht.

»Okay. Es sollte funktionieren«, sagte Apple, den Blick immer noch fest auf ihren Bildschirm geheftet.

»Wissen alle, was ein EEG ist?«, fragte Inspector Lok.

»Elektroenzephalogramm«, antwortete Choi Ting.

»Ganz genau. Unser Gehirn besteht aus Nervenzellen, und wenn wir denken, bewegen sich winzige elektrische Impulse zwischen diesen Zellen hin und her – und das ist messbar, und zwar mit der Hilfe eines EEG. Die Wissenschaft nennt diese Bewegungen Hirnströme.«

»Und das Ding da kann Hirnströme in Sprache verwandeln?« Wing-yee war sehr erstaunt.

»Nein, so weit ist die Wissenschaft derzeit noch nicht, aber wir sind seit einigen Jahren in der Lage, den Zustand des Gehirns zu messen, und dank jüngster bahnbrechender Erfolge genügt hierzu eine äußerst simple Ausstattung.«

»Die größte Schwierigkeit besteht darin festzustellen, welche Ablesungen von Hirnströmen stammen und welche nicht«, mischte Apple sich ein. »Nehmen Sie beispielsweise dieses Zimmer – allein die medizinische Ausstattung produziert riesige Mengen an Interferenzen. Bis jetzt war eine ganz besondere Umgebung nötig, um ein EEG anfertigen zu können, aber inzwischen kann man dieses Netzbrummen am Computer herausfiltern. Ich habe das Programm selbst geschrieben, mithilfe der Formel aus der Bibliothek eines Forschungsteams in Berkeley. Was die Schnittstelle betrifft …«

»Einfach ausgedrückt, diese Apparatur ist in der Lage, den Gedanken eines Menschen zu registrieren, sobald er gedacht wird«, fiel der Inspector ihr ins Wort. Er deutete auf einen der drei Bildschirme. Apple drehte den Bildschirm herum, und die Anwesenden sahen ein zweigeteiltes Rechteck. Die obere Hälfte war weiß und mit dem Wort JA in schwarzen Lettern beschriftet, die untere Hälfte schwarz mit dem Wort NEIN in weißen Lettern. Auf der Grenzlinie zwischen beiden Feldern befand sich ein kleines blaues Kreuz.

»Mr Wong? Bitte konzentrieren Sie sich nun und stellen Sie sich vor, das blaue Kreuz würde sich bewegen«, sagte Inspector Lok. Old Tong hatte zwar keine Ahnung, was hier vor sich ging, doch er tat, was man ihm sagte.

»Es bewegt sich!«, rief Wing-lim aus. Und tatsächlich: Das Kreuz bewegte sich aufwärts und traf mit einem akustischen Signal auf das Wort JA: Ping.

»Es besteht ein eklatanter Unterschied zwischen einem entspannten Gehirn und einem Gehirn, das sich konzentriert.« Der Inspector deutete auf den Bildschirm. »Sobald Mr Wong seine Aufmerksamkeit fokussiert, produziert sein Gehirn … äh …«

»Beta-Wellen, und zwar zwischen zwölf und dreißig Hertz.« Apples Kopf tauchte zwischen den Bildschirmen auf. »Ist das Gehirn entspannt, produziert es Alpha-Wellen von etwa acht bis zwölf Hertz.«

»Stimmt, Beta-Wellen«, kicherte Inspector Lok und dachte, was für einen miserablen Wissenschaftler er abgeben würde. »Mr Wong, ich bitte Sie, Ihren Geist zu beruhigen – vielleicht sehen Sie einfach zum Fenster hinaus aufs Meer? –, dann wird der Zeiger wieder stehen bleiben. Sie können die Bewegung des Kreuzes kontrollieren, indem sie zwischen Konzentration und Entspannung wechseln.«

Die Anwesenden starrten skeptisch auf den Monitor, während der Zeiger sich langsam auf und ab bewegte. Doch Old Tongs Gesicht verriet ihnen, dass das Ganze kein Humbug war.

»Es stimmt! Wenn ich versuche, ihn nach oben zu bewegen, geht er tatsächlich rauf. Und wenn ich aufhöre zu denken, geht er wieder runter«, rief er erstaunt.

»Sie können es alle einmal ausprobieren, wenn Sie möchten.« Inspector Lok nahm dem Sekretär das Stirnband ab.

Wing-yee war von Haus aus neugierig, was neue Technologien betraf, und hätte sich normalerweise sofort freiwillig gemeldet, doch er wollte auf keinen Fall mehr Aufmerksamkeit als nötig auf sich lenken.

»Moment mal«, sagte Old Tong. »Die junge Dame sagt, sie hätte das Programm geschrieben, aber was ist mit der Hardware? Dieses Gummidingsda sieht aus wie eine Spezialanfertigung.«

»Das habe ich gekauft«, sagte Apple.

»Wo kann man denn so etwas kaufen?«

»Bei Toys ’R’ Us.« Apple zog einen Karton hervor. »Mit Hirnwellen gesteuertes Spielzeug ist schon seit ein paar Jahren auf dem Markt – das ist nichts Neues. Ich habe lediglich ein Produkt von der Stange für unsere Bedürfnisse modifiziert. Mir ist es außerdem gelungen, 3-D-Kameras in VR-Induktoren zu verwandeln …«

»Und Sie schlagen ernsthaft vor, Superintendent Kwan mit diesem Ding auszustatten, damit er seine Schlussfolgerungen mitteilen kann?«

»Ganz richtig.«

»Aber damit kann er doch nur ›Ja‹ oder ›Nein‹ sagen – wie soll man so einen Fall lösen?«

Inspector Lok warf einen strengen Blick in die Runde. »Auch ›Ja‹ und ›Nein‹ können Aussagen von großer Bedeutung sein. Außerdem beherrscht der Superintendent diesen Apparat besser als wir alle zusammen.«

Behutsam schritt Inspector Lok zum Bett, befestigte das Gummiband sanft an der Stirn des alten Mannes und rückte es zurecht, bis Apple »Okay« sagte.

»Können Sie mich hören, Sir?« Der Inspector hatte auf einem Stuhl am Kopfende zwischen Bett und Wand Platz genommen.

Der Computer gab ein fröhliches Ping von sich, und das blaue Kreuz sprang blitzschnell auf JA.

»Warum ist es denn so gesprungen? Ist das Ding kaputt?«, wollte Yue Wing-lim wissen.

Ein dumpfes Klacken – Tock-tock – ertönte, und der Zeiger sprang auf NEIN.

»Wie ich schon sagte, der Superintendent ist inzwischen sehr versiert im Umgang mit diesem Gerät«, erklärte der Inspector. »So kommuniziert er mit uns, seit er im Koma liegt – er hat jetzt etwa einen Monat Praxis. Das System hat inzwischen so viele Daten über sein Gehirn gesammelt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums gegen null geht.«

»Ist es tatsächlich möglich, in so kurzer Zeit seine Konzentration in diesem Maße zu schulen?« Choi Tings Blick ging staunend zwischen dem alten Mann und dem Monitor hin und her.

Ping. Der Zeiger sprang auf JA.

»Blinde sind in der Lage, Entfernungen anhand von Klang abzuschätzen, und Taube lernen, von Lippen abzulesen – erst unter extremen Umständen erkennt der Mensch sein volles Potenzial.« Inspector Loks Hände lagen verschränkt in seinem Schoß. »Außerdem ist dies für ihn derzeit die einzige Möglichkeit, mit seiner Umgebung zu kommunizieren – er hatte keine andere Wahl, als den Umgang mit der Apparatur möglichst schnell zu erlernen.«

Der Zeiger kehrte langsam auf die Trennlinie zurück und verharrte dort, als wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass er zu einem Teil von Kwans Körper geworden war und sich verbat, seine Genauigkeit anzuzweifeln.

»Um die Ermittlungen endlich voranzutreiben, habe ich Sie heute hierhergebeten, damit Superintendent Kwan die Situation vollständig erfassen kann. Wir wollten die Befragungen eigentlich erst fortsetzen, wenn er wieder bei Bewusstsein ist, aber angesichts des übergroßen Interesses meiner Vorgesetzten an der Aufklärung dieses Falls sehe ich mich gezwungen, zu außergewöhnlichen Maßnahmen zu greifen. Angesichts der Umstände werde ich die Befragung durchführen, und der Superintendent wird sich, wann immer nötig, mit Einwänden und Vorschlägen zu Wort melden.«

Ping.JA.

»Weshalb verhören Sie ausgerechnet uns? Mein Vater wurde doch von einem Einbrecher ermordet, oder etwa nicht? Ich dachte, das stünde außer Frage«, blaffte Wing-lim ungehalten.

»Zu all diesen Details komme ich gleich, wenn ich Superintendent Kwan den Fall darlege«, sagte der Inspector ungerührt. »Würden Sie bitte Platz nehmen?«

Old Tong saß bereits. Wing-yee, Wing-lim und Choi Ting setzten sich zu ihm auf das Besuchersofa und ließen Nanny Wu, die noch kein einziges Wort gesagt hatte, einfach stehen. Nach einem kurzen Zögern setzte sie sich auf den Holzstuhl neben der Tür. Von seinem Platz in der Mitte des Sofas war Wing-yee die Sicht auf das Bett von einem Tisch verstellt – er konnte das Gesicht des bewusstlosen Patienten nur zur Hälfte sehen. Doch die allgemeine Aufmerksamkeit ruhte sowieso auf Apple beziehungsweise auf dem Siebzehn-Zoll-Monitor direkt neben ihr, der Superintendent Kwan den Mund ersetzte.

3

»Ah Sing, zeichnen Sie bitte auf«, ordnete der Inspector an. Sein Assistent, der auf einem Hocker noch hinter Apple saß, schaltete eine kleine Digitalkamera an und vergewisserte sich mithilfe des Monitors, dass er alle Beteiligten im Bild hatte. Dann nickte er seinem Vorgesetzten zu.

»Sir?«, sagte Inspector Lok zu Superintendent Kwan. »Ich beginne jetzt mit der Übersicht über den Fall.« Er nahm ein Notizbuch aus der Tasche und schlug es auf. »In der Nacht von Samstag, den 7. September 2013, auf Sonntag, den 8. September 2013, nach Mitternacht, ereignete sich in der Villa Fung Ying, Chuk Yeung Road 163 in Sai Kung, ein Mord. Es handelt sich um den Familienwohnsitz des Direktors des Fung-Hoi-Konsortiums, Yuen Man-bun. Das Mordopfer ist der Hauseigentümer selbst, Yuen Man-bun.«

Als er den Namen seines Vaters vernahm, fing Wing-yees Herz heftig zu pochen an.

»Der Ermordete war siebenundsechzig Jahre alt. 1971 heiratete er Yue Chin-yau; weil sie das einzige Kind der Familie Yue war, willigte Yuen Man-bun ein, den Kindern ihren Familiennamen zu geben. 1986 übernahm er von seinem Schwiegervater Yue Fung die Leitung des Familienunternehmens, und als Yue Fung im darauffolgenden Jahr starb, auch den Familienvorstand.« Inspector Lok blätterte um. »Yuen Man-bun hatte drei Kinder. Der älteste Sohn, Wing-lai, starb 1990 bei einem Autounfall. Der Zweitgeborene Wing-yee und der dritte Sohn Wing-lim leben bis heute unter oben genannter Adresse. Wing-yee heiratete im vergangenen Jahr, und seine Frau Choi Ting zog ebenfalls in das Haus seiner Eltern. Die Frau des Opfers, Yue Chin-yau, verstarb dieses Jahr im Mai. Abgesehen von den vier bereits erwähnten Personen leben in der Villa Fung Ying außerdem ein Privatsekretär, Mr Wong Kwan-tong, und eine Haushälterin, Miss Wu Kam-mui. Außer diesen sechs Personen war in der Nacht des Geschehens niemand anwesend. Möchten Sie, dass ich etwas wiederhole, Sir?«

Tock-tock. NEIN.

»Dann zu den Umständen und Ereignissen des Verbrechens selbst.« Inspector Lok räusperte sich und fuhr langsam und unbeirrt fort. »Bei der Villa Fung Ying handelt es sich um ein dreistöckiges Gebäude, das zusammen mit dem umliegenden Gelände etwa einen halben Morgen Land an der Chuk Yeung Road umfasst, in direkter Nachbarschaft zum Ma On Shan Country Park. Das Herrenhaus befindet sich seit den frühen Sechzigerjahren im Besitz der Familie Yue und beherbergte seither drei Generationen dieser Familie.«

Der Inspector warf einen Blick in die Runde und bemerkte Nanny Wus versonnenes Nicken, so als erinnerte sie sich zurück an die goldenen Zeiten der Sechziger- und Siebzigerjahre, als ihr alter Dienstherr das Imperium aufbaute.

»Am Sonntag, den 8. September, um halb acht Uhr morgens bemerkte Yue Wing-yee, dass sein Vater nicht wie üblich im Wohnzimmer saß und die Zeitung las, und fand ihn bei anschließender Suche im Arbeitszimmer im ersten Stock auf dem Fußboden liegend tot auf. Im Zuge der umgehend eingeleiteten kriminalpolizeilichen Ermittlungen wurde anfänglich angenommen, der Verstorbene hätte einen Einbrecher ertappt und wäre von diesem angegriffen und getötet worden.«

Wing-yee durchfuhr ein Schaudern.

»Die Fensterscheibe des Arbeitszimmers war eingeschlagen, und der Raum wies sämtliche Anzeichen eines Raubüberfalls auf.« Inspector Lok ließ das Notizbuch sinken und musterte das regungslose Gesicht des alten Ermittlers. Er war die Szene in Gedanken bereits so oft durchgegangen, dass er sie aus dem Kopf schildern konnte. »Die Flammenbäume im Garten stehen nahe genug am Haus, um einem Eindringling Zugang zum Fenster zu gewähren. Auf der Außenseite der Glasscheibe waren Klebstreifen angebracht, um sicherzustellen, dass die Scheibe lautlos zerbrach – was auf einen routinierten Einbrecher schließen lässt. Auf dem Rasen unter dem Fenster fanden wir eine Rolle wasserfestes Klebeband, und das Labor hat bereits bestätigt, dass die Streifen am Fenster von dieser Rolle stammen.«

Das blaue Kreuz auf dem Bildschirm verharrte reglos – wie ein aufmerksamer Zuhörer.

»Yuen Man-buns Arbeitszimmer maß knapp vierzig Quadratmeter. Abgesehen von den üblichen Möbeln befand sich dort noch ein relativ ungewöhnlicher Einrichtungsgegenstand: ein über zwei Meter hoher Stahlschrank von etwa einem Meter Breite. Dieser Schrank enthielt diverse Harpunen – Mr Yuen benutzte diese Waffen auf seinen Tauchgängen zur Jagd und besaß dafür eine Lizenz. Direkt neben dem Schrank befand sich ein Styroporbehälter, etwa einen Kubikmeter groß, gefüllt mit alten Zeitungen und Zeitschriften. Nach Angaben der Familie des Verstorbenen benutzte er diesen in seiner Freizeit für Schießübungen.«

»Nein, Inspector Lok, das waren keine Übungen«, platzte Wing-yee heraus.

»Keine Übungen? Aber Mr Wong sagte …«

»Der Boss hat die Kiste als Ziel benutzt«, erklärte Old Tong. »Aber nicht zur Übung. Er litt seit einigen Jahren unter Arthrose, und sein linkes Bein war nicht mehr stark genug zum Tauchen. Er konnte nicht mehr auf Harpunenjagd gehen. Ich musste ihm im Arbeitszimmer diesen Aufbau hinstellen, damit er mit seinen Harpunen die alten Zeiten wiederaufleben lassen konnte. Eine Harpune sollte an Land nicht benutzt werden. Das ist sehr gefährlich.«

»Ach so, dann hatte ich das falsch verstanden. Jedenfalls war dies die Auffindesituation im Arbeitszimmer, Sir.«

Ping. Kwan schien ihn dazu anzutreiben weiterzumachen.

»Sowohl Tresor als auch Waffenschrank waren den Spuren nach mit einem Meißel bearbeitet worden, und während der Tresor unversehrt blieb, war es dem Eindringling gelungen, den Waffenschrank zu öffnen. Bücher und Unterlagen waren aus den Regalen geworfen worden und lagen über den Fußboden verstreut, der Computer auf dem Schreibtisch war zertrümmert worden, und sämtliche Schubladen waren entleert. Alles in allem wurden aus dem Zimmer in etwa zweihunderttausend Hongkong-Dollar in bar entwendet, doch sowohl der Ring des Toten als auch der juwelenbesetzte Brieföffner auf dem Schreibtisch verblieben an Ort und Stelle, ebenso eine antike goldene Taschenuhr im Wert von etwa dreihunderttausend Hongkong-Dollar.«

Der Bericht seines Vorgesetzten erinnerte Ah Sing an den ersten Tag der Ermittlungen. Als er erfahren hatte, dass die fehlenden zweihunderttausend Dollar aus dem Arbeitszimmer als »Portokasse« bezeichnet wurden, war ihm bewusst geworden, wie weit sein eigenes Leben von dem der Elite Hongkongs entfernt war.

»Die Ermittler fanden weder Fußspuren noch Fingerabdrücke im Raum und gehen davon aus, dass der Eindringling Handschuhe trug.« Der Inspector schlug das Notizbuch wieder auf. »So viel zum Tatort. Nun zum Vorfall selbst.«

Ping.

»Laut Gerichtsmedizin liegt der Todeszeitpunkt zwischen halb drei und vier Uhr morgens. Der Verstorbene wurde neben dem Bücherregal auf dem Fußboden aufgefunden. Der Hinterkopf wies zwei schwere Prellungen auf, doch die tödliche Wunde befand sich in seinem Bauch – er wurde mit einer Harpune erschossen und verblutete.«

Der dünne, glänzende Metallspeer erschien flackernd vor Wing-yees Augen.

»Ich werde nun detailliert die Mordwaffe beschreiben.« Inspector Lok blätterte ein paar Seiten weiter. »Die Harpune hat eine Länge von 115 Zentimetern, an der Spitze mit einigen Widerhaken von je drei Zentimetern versehen. Diese Haken durchdrangen mehrere innere Organe und verursachten massiven Blutverlust. In der Mitte des Raums fanden wir ein Harpunengewehr aus Karbonfiberglas, hergestellt von der südafrikanischen Firma Rob Allen, Modell Nummer RGSH115, Rohrlänge 115 Zentimeter, ausgestattet mit einem Gummizug von dreißig Zentimetern Länge. Die Fingerabdrücke auf der Waffe stammen ausnahmslos vom Mordopfer.«

Als der Inspector den Fall übernommen hatte, hatten die Fachausdrücke ihn verwirrt, und er hatte sich intensiv mit dem Mechanismus einer Gummizugharpune auseinandergesetzt. Die Harpune nutzt die Elastizität des Gummizugs, um den Pfeil abzuschießen – so wie eine Steinschleuder. Der Pfeil selbst wird von einem Abzugsmechanismus zurückgehalten, der Taucher spannt den Gummizug und verhakt ihn mit der Munition. Wird der Abzug betätigt, wird der gespannte Gummizug gelöst und schleudert den Pfeil über die auf dem Rohr aufliegende Führungsrille aus der Harpune heraus.

»Wir haben den Waffenschrank untersucht und uns vergewissert, dass die verwendete Harpune aus den Beständen des Verstorbenen stammt. In dem Schrank waren Haltevorrichtungen für drei Waffen, er enthielt jedoch lediglich zwei Harpunen unterschiedlicher Länge, eine RGSH075 und eine RGSH130. Das mittlere Fach war leer. Außerdem befanden sich noch eine extralange RGZL160 – Modell Rob Allen Zulu – und eine fünfundsiebzig Zentimeter lange RABITECHRB075 aus Aluminium im Schrank, beide Waffen zerlegt und in Koffern verstaut. Daneben enthielt der Schrank diverse Pfeile in Längen von 115 bis 160 Zentimetern, welche, wie unsere Ermittler bestätigten, von derselben Machart waren wie der Pfeil im Körper des Opfers.«

»Die Zulu hat Vater nie benutzt«, warf Wing-yee bewegt ein. »Er sagte, er hätte sie für die Haijagd gekauft, doch bevor er damit auch nur ein Mal ins Wasser gehen konnte, machte die Arthrose ihm das Tauchen unmöglich.«

Inspector Lok setzte seine Ausführungen fort, ohne die Bemerkung zu kommentieren. »In dem Schrank befand sich außerdem jede Menge Ausrüstung zum Tauchen und Fischen – Masken, Neoprenhauben, Lungenautomaten, Handschuhe, Einholleinen, Schraubenzieher, diverse Taschenmesser und ein Tauchmesser mit einer Klingenlänge von fünfundzwanzig Zentimetern. Erste Untersuchungen legen nahe, dass der Mörder den Schrank aufbrach und das Opfer mit seiner eigenen Harpune erschoss.«

Ah Sing musste schlucken. Er hatte in den zwei Jahren als Loks Assistent genug Leichen gesehen, doch wenn er an den langen Metallpfeil mit den Widerhaken dachte, der sich durch weiches Gewebe gebohrt und aus Innereien Hackfleisch gemacht hatte, stellten sich ihm die Haare auf.

»Die beiden Prellungen am Hinterkopf werfen Fragen auf«, fuhr der Inspector fort. »Laut Gerichtsmedizin erfolgte der zweite Schlag eine ganze Weile nach dem ersten. Die Blutspuren auf dem Kragen des Opfers und die Verletzungen selbst lassen auf einen zeitlichen Abstand von etwa dreißig Minuten schließen. Die genauen Umstände, die zu diesen Verletzungen führten, sind noch unklar, aber wir konnten die Tatwaffe identifizieren – eine Messingvase, die normalerweise auf dem Schreibtisch stand. Auch hier fanden sich keinerlei Fingerabdrücke, was wiederum nahelegt, dass der Mörder sie nach dem Angriff auf sein Opfer sorgsam abgewischt hat.«

Inspector Lok sah von seinen Notizen auf und ließ den Blick über die Anwesenden schweifen, ehe er ihn schließlich auf dem reglosen Patienten ruhen ließ.

»Die meisten Fragen wirft für mich jedoch die Lage der Leiche selbst auf.« Der Inspector runzelte die Stirn. »Der Tote lag vor dem Bücherregal, neben sich ein Fotoalbum mit Familienbildern, von welchem die Ermittler ein paar blutige Fingerabdrücke sichern konnten. Die Blutspuren auf dem Fußboden beweisen, dass das Opfer nach dem tödlichen Schuss noch etwa fünf Meter weit vom Schreibtisch zum Bücherregal kroch und sich dort das Album ansah. Laut Gerichtsmedizin verstarb er, ungefähr zwanzig Minuten nachdem der Pfeil ihn getroffen hatte. Ich dachte zuerst, er hätte versucht, uns einen Hinweis zu geben, doch die Blutspuren in dem Album weisen keinerlei ersichtliche Muster auf. Es scheint, als wollte er sich einfach noch einmal die alten Fotos ansehen. Noch seltsamer ist der Umstand, dass das Opfer offenbar an Händen und Füßen mit Isolierband gefesselt worden war und auch damit geknebelt wurde. Doch als der Tote aufgefunden wurde, war kein Klebeband mehr vorhanden und auch nirgendwo zu finden.«

Als die Erkenntnisse über das Isolierband vor ein paar Tagen hereingekommen waren, hatte Ah Sing laut die Vermutung geäußert, die Fesselung sei eventuell gar nicht das Werk des Mörders gewesen – was, wenn der Verstorbene gewisse SM-Praktiken betrieben hatte und die Klebespuren von einer Bondage-Session stammten? Er hatte sich damit sofort missbilligende Blicke seiner Kolleginnen eingefangen, so als wäre er der Perversling. Inspector Lok hatte seine Theorie lachend vom Tisch gewischt. »Sie gehören wohl auch zu denen, die glauben, reiche Menschen wären grundsätzlich verdorben und würden alle geheimen Fetischen frönen?«

»Von diesen Anomalien abgesehen«, fuhr Lok fort, »legte die Auffindesituation den Schluss nahe, dass ein Einbrecher das Fenster einschlug, um sich Zugang zum Arbeitszimmer zu verschaffen, und sein Opfer, nachdem er von ihm überrascht worden war, mit der Vase bewusstlos schlug und fesselte, um seinen Raubzug fortzusetzen. Er fand den Tresor, konnte ihn jedoch nicht öffnen, bedrohte sein Opfer mit der Harpune, forderte die Kombination für den Safe, und als der Hausherr sich weigerte, erschoss er ihn. Der Raubmörder schnappte sich die Zweihunderttausend in bar und floh …«

Tock-tock. Wieder ertönte der Negativton, und der Zeiger sprang auf NEIN. Die Zeugen sahen einander erschrocken an.

»Wollen Sie sagen, der Mörder kam nicht von außen, Sir?«

Ping. Ohne Hast glitt der Zeiger auf JA.

Inspector Lok machte ein überraschtes Gesicht. »Ja, Sie haben recht, Sir. Weitere Untersuchungen machten es zunehmend unwahrscheinlich, dass der Mörder ein Einbrecher war. Wir fanden vor dem Fenster keinerlei Kletterspuren und auch keine Fußabdrücke in dem darunterliegenden Blumenbeet. Ich habe mich gefragt, ob er auf anderem Wege an das Fenster gelangt sein könnte, beispielsweise über das Dach, aber auch dort fanden sich keinerlei Spuren. Natürlich besteht immer noch die vage Möglichkeit, dass er mit dem Hubschrauber kam …«

Tock-tock. Der alte Ermittler schien seinen Zögling zu rügen, weil er das Offensichtliche übersah.

»Sir, können Sie anhand des bisher Gesagten bereits schließen, dass es sich um jemanden aus dem Haus handelte?«

Ping. Wieder ein geschmeidiges JA.

»Warum? Wegen der Art und Weise, wie die Scheibe eingeschlagen wurde? Weil die Mordwaffe eine Harpune war? Wegen der Art, wie das Zimmer verwüstet wurde?«

Der Zeiger verharrte unbeweglich auf der Trennlinie.

»War es der Schreibtisch? Das Bücherregal? Die Vase? Die Bodendielen?«

Ping.

»Die Bodendielen«, wiederholte der Inspector, und der Zeiger reagierte erneut.

»Die Bodendielen? Aber da gab es doch gar nichts – keine Fingerabdrücke, keine Fußspuren. Der Fußboden war völlig sauber«, sagte Ah Sing.

Inspector Lok drehte sich abrupt zu seinem Assistenten um, sah ihn an und wandte sich dann mit begeisterter Miene erneut seinem Mentor zu. »Stimmt!« Er schlug sich gegen die Stirn.

»Was?« Ah Sing sah ihn unsicher an, genau wie der versammelte Yue-Haushalt.

»Ah Sing, ist uns schon jemals ein derart klinisch reiner Tatort begegnet? Keine Fingerabdrücke, gut und schön, das ist leicht, schließlich tragen die meisten Einbrecher Handschuhe. Aber Fußabdrücke lassen doch eigentlich kaum Rückschlüsse zu, und die wenigsten Einbrecher versuchen, Fußabdrücke zu vermeiden. Es ist viel einfacher, die alten Schuhe nach einem Einbruch zu verbrennen und sich neue zu kaufen.«

»Trotzdem ist es möglich, dass ein Mörder den Fußboden mit besonderer Sorgfalt reinigt, um seine Spuren zu verwischen«, hielt Ah Sing dagegen.

»Wäre das der Fall gewesen, wie erklären Sie sich dann die über den ganzen Fußboden verstreuten Unterlagen und Bücher? Wenn wir davon ausgehen, dass der Mörder durchs Blumenbeet kam, in ein leeres Zimmer einbrach und Mr Yuen umbrachte, als dieser ihn überraschte, hätte er dann den Fußboden nicht aufgeräumt, ehe er ihn von seinen Spuren befreite? Wieso sollte er die Beweise für den Mord beseitigen und das Zimmer trotzdem so hinterlassen, dass es durchwühlt wirkte, anstatt so schnell wie möglich die Beine in die Hand zu nehmen? Das ergibt keinen Sinn.«

Während er dem Gespräch lauschte, wurde Wing-yee klar, weshalb Lok sich die Hilfe dieses Superintendent a. D. geholt hatte. Nur indem er der Schilderung der Umstände gelauscht hatte, hatte der regungslose Mann eine Schlussfolgerung gezogen, zu der die Polizei auch mit einem enormen Personalaufwand nicht in der Lage gewesen war. Wing-yee schauderte. Was, wenn dieser alte Fuchs, der nicht einmal den kleinen Finger rühren konnte, ihn durchschaute? Einfach so?

Wing-yee war angesichts dieser gnadenlosen Einsicht so entsetzt, weil Wing-yee ein Mörder war.

4

»Wenn es kein Einbrecher war …«, sagte Choi Ting plötzlich und riss Wing-yee aus seinen Gedanken.

»… muss der Mörder einer der fünf sein, die sich zum Zeitpunkt des Mordes außer dem Opfer noch im Haus befanden«, erwiderte Inspector Lok ungerührt.

In diesem Augenblick begriffen die fünf Zeugen – jetzt Verdächtigen –, was hinter den Ermittlungen steckte, die Inspector Lok in den vergangenen drei Tagen angestellt hatte. Er hatte sich mit jedem von ihnen einzeln getroffen, ihn über sein Verhältnis zur Familie befragt, über die Vergangenheit des Verstorbenen und so weiter. Und deshalb hatte er ihnen auch diese seltsame Frage gestellt: »Wenn der Mörder kein Eindringling gewesen wäre, wer hätte es Ihrer Meinung nach getan?«

»Sie Schwein – das hier ist eine Falle, ja?«, spie Wing-lim ihm entgegen. Diesmal versuchte Old Tong nicht, ihn zu maßregeln.

»Mr Yue Wing-lim, ich möchte eines klarstellen.« Inspector Lok richtete seinen Habichtblick auf den jüngeren Mann. In seiner Stimme lag große Bestimmtheit. »Meine Aufgabe ist es, die Wahrheit ans Licht zu bringen und dem Ermordeten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie müssen mich nicht mögen, keiner von Ihnen. Die Polizei steht auf der Seite der Opfer und spricht für die, die keine Stimme mehr haben.«

Ah Sing war die Betonung auf »keiner von Ihnen« nicht entgangen.

Die Raumtemperatur schien schlagartig um ein paar Grad zu sinken. Inspector Lok kehrte zu seinem gelassenen Tonfall zurück. »Wenn es keine weiteren Einwände gibt, werde ich jetzt mit den Informationen fortfahren, die wir im Laufe der vergangenen Woche hinsichtlich einzelner Individuen sammeln konnten.«

Ping. Niemand widersprach, und der alte Detective ließ sie wissen, dass er einverstanden war.

»Zuerst das Mordopfer selbst.« Inspector Lok schlug die entsprechende Seite in seinem Notizbuch auf. »Yuen Man-bun, siebenundsechzig, männlich, Direktor des Fung-Hoi-Konsortiums. Laut diverser Aussagen galt der Verstorbene als rücksichtsloser Geschäftsmann, der kleine Firmen aufkaufte und dabei, sagen wir, extreme Taktiken gegen seine Mitbewerber einsetzte, in einem Ausmaß, dass ihm der Spitzname ›Fung-Hoi-Hai‹ verliehen wurde. Dieses Verhalten stand im krassen Gegensatz zum Ethos des Konsortiumsgründers Yue Fung. Trotz der asiatischen Finanzkrise von 1997 und der globalen Wirtschaftskrise von 2008 stiegen die Gewinne von Fung Hoi unbeschadet weiter, was den Schluss nahelegt, dass Mr Yuens Strategie womöglich nicht die verkehrteste war. Abgesehen davon galt er bei den meisten Angestellten als freundlicher Chef, auch wenn seine Ansprüche höher waren als die des Durchschnitts.«

In Ah Sings Ohren klangen solche Lobhudeleien auf einen Firmenchef grundsätzlich heuchlerisch. Selbst wenn der Boss tot war, sein Sohn würde die Nachfolge antreten, und wenn dem eine kritische Äußerung zu Ohren kam, musste man mit Konsequenzen rechnen. Einen »Hai« als »freundlich« zu bezeichnen war jedenfalls der Witz des Tages.

»Yuen Man-bun war einst Yue Fungs Assistent gewesen. Fung Hoi startete ursprünglich als kleine Fabrik für Kunststoffartikel und wandte sich in den Sechzigerjahren dem Immobiliengeschäft zu. Yue Fung ergriff die Gelegenheit, die Wertpapiere des Unternehmens auf den Finanzmärkten Hongkongs so breit wie möglich zu platzieren. Damals stellte Yue Fung vorzugsweise junge Männer ein, und der dreiundzwanzig Jahre alte Yuen Man-bun mit seinem scharfen Verstand machte großen Eindruck auf ihn. Ursprünglich ein einfacher Angestellter, stieg er schnell zu Yue Fungs persönlichem Assistenten auf. Und noch einer weiteren Person schenkte er damals seine Gunst: dem zweiundzwanzigjährige Wong Kwan-tong, heute vierundsechzig und einer unserer Verdächtigen.«

Als Old Tong seinen Namen vernahm, richtete er sich unwillkürlich auf.

»Nach Aussagen einiger ehemaliger Angestellter, welche die Familie gut kannten, existierte das hartnäckige Gerücht, Yue Fung sei damals nicht nur auf der Suche nach einem tüchtigen persönlichen Assistenten gewesen, sondern auch nach einem ›Schwiegersohn und Thronfolger‹. Er war damals schon sechzig Jahre alt und hatte bis auf eine halbwüchsige Tochter keine Erben. Selbst als Einzelkind geboren, befürchtete er, die Familie Yue könnte aussterben. Seine Lösung bestand darin, einen fähigen Mann zu finden, der in die Familie einheiraten und das Konsortium, wenn die Zeit gekommen war, fortführen würde. Einige Aussagen deuten darauf hin, dass seine Tochter Yue Chin-yau sich damals eigentlich besser mit Wong Kwan-tong verstanden hatte, der ihr auch vom Alter her noch näherstand, doch schließlich heiratete sie Yuen Man-bun.«

»Inspector Lok, das können Sie mir doch unmöglich als Mordmotiv unterstellen«, fiel Old Tong ihm ins Wort. »Nicht Old Boss hat ihr den Ehemann ausgesucht, sondern die Dame selbst, und auch wenn Yue Chin-yau und ich uns nahestanden, waren wir nie ineinander verliebt. Außerdem ist das vierzig Jahre her. Wer würde nach so langer Zeit noch seinen Rivalen ermorden? Ich habe all die Jahre für ihn gearbeitet.«

»Ich fasse nur zusammen. Es hat keine tiefere Bedeutung. Mein Mentor wird seine eigenen Schlüsse ziehen.«

»Das stimmt.« Zum ersten Mal ergriff Nanny Wu das Wort. »Tong kann nicht der Mörder sein. Er war immer gut mit Boss-Man und der jungen Missy befreundet. Die beiden wurden im April 1971 getraut, in dem Jahr, als die Kam-Ngan-Börse eröffnete. Die Firma wurde dort aufgenommen, und damit Boss-Man und die Missy in Flitterwochen fahren konnten, hat Tong ohne Murren die ganze Verantwortung übernommen und den Alten glauben lassen, sein Schwiegersohn hätte sich zwischen den ganzen Hochzeitsvorbereitungen auch noch um den Börsengang gekümmert. Die beiden standen sich nahe wie Brüder. Etwas so Grausames würde Tong niemals tun.«

Mit »Boss-Man« meinte Nanny Wu Yuen Man-bun. Obwohl Yue Chin-yau damit bei der Heirat logischerweise ihre Boss-Lady geworden war, blieb sie für Nanny Wu dagegen trotzdem ihre »Missy«.

Der Inspector sah sie kurz an und wandte sich wieder seinen Notizen zu. »Das ist richtig; alles, was Miss Wu Kam-mui soeben sagte, ist zutreffend. Mal sehen, was wir über Miss Wu wissen.«

Nanny Wu hatte nicht damit gerechnet, dass sie mit ihrer Bemerkung den Pfeil in ihre eigene Richtung gelenkt hatte. Sie geriet in Panik.

»Miss Wu Kam-mui, fünfundsechzig Jahre alt, übersiedelte 1965 illegal vom Festland nach Hongkong. Sie begegnete Yue Fung und seiner Frau und begann für sie zu arbeiten. Obwohl Schuldknechtschaft zu jener Zeit in Hongkong bereits illegal war, hatten viele Haushalte eine amah oder mui tsai. Im Alter von nur siebzehn Jahren wurde Miss Wu Yue Chin-yaus Kindermädchen. 1965 – das bedeutet, Miss Yue war damals erst zwölf … nein, dreizehn …«

»Elf«, sagte Nanny Wu verhalten und knetete ein Taschentuch zwischen den Händen.

»Richtig. Elf.« Der Inspector nickte freundlich. »Miss Wu wurde damals Miss Yues persönliche Zofe und hat den Haushalt über vierzig Jahre lang bis zum heutigen Tag begleitet. Laut Aussage der anderen Zeugen war das Verhältnis zwischen Miss Wu und dem verstorbenen Ehepaar immer sehr gut.«

Nach Aussage der anderen hätte man Nanny Wu für eine ganz normale Angestellte halten können, doch für Chin-yau war sie eher wie eine große Schwester gewesen, die sich immer um sie kümmerte und der sie ihre intimsten Geheimnisse anvertraute. Als Yue Chin-yau vor vier Monaten gestorben war, hatte Nanny Wu ebenso um sie getrauert wie der Rest der Familie und hatte mehr schlaflose Nächte durchlitten als irgendjemand sonst im Haus.

»Yuen Man-bun und Yue Chin-yau heirateten 1971 und bekamen noch im selben Jahr ihren ersten Sohn Wing-lai. Er starb bei einem Autounfall, doch das hatten wir bereits erwähnt …«

Tock-tock.

Bei dem Nein-Geräusch zuckten alle Anwesenden zusammen.

»Nein? Sir, möchten Sie, dass ich bezüglich Yue Wing-lai noch weiter ausführe?«

Ping.JA.

Inspector Lok kratzte sich etwas hilflos am Kopf.

»1990 kam der von Yue Wing-lai gesteuerte Wagen von der Clear Water Bay Road ab und stürzte den Abhang hinunter. Der Fahrer fiel schwer verletzt ins Koma. Er starb zwei Tage später im Krankenhaus, ohne noch einmal zu Bewusstsein gekommen zu sein. Mehr habe ich dazu nicht. Ah Sing, Sie waren für die Recherchen der Familienzusammenhänge zuständig. Haben Sie dem noch etwas hinzuzufügen?«

Verdattert zog Ah Sing einen braunen Notizblock aus der Tasche und fing nervös zu blättern an, bis er schließlich das richtige Blatt gefunden hatte. »Ah ja, Yue, Yue, Yue Wing-lai, zum Zeitpunkt seines Todes erst achtzehn. War im Alter von dreizehn bis siebzehn Jahren in Australien, doch seine Schulnoten waren so schlecht, dass sein Vater ihn zwang, nach Hongkong zurückzukehren, wo er sich zum Grundstudium an der St. George’s School einschrieb. Weil er im Ausland bereits die Führerscheinprüfung abgelegt hatte, bekam er in Hongkong, sobald er achtzehn war, ohne weitere Tauglichkeitsprüfung den Führerschein ausgehändigt. Freunde der Familie sagen, Yue Wing-lai hätte im Gegensatz zu seinem ehrgeizigen Vater nur fürs Vergnügen gelebt. Er geriet regelmäßig in Schwierigkeiten und entfremdete sich von seinen Eltern. Oh, das ist interessant. Er wurde am Mittherbstfest geboren und starb am 1. April …«

Inspector Lok räusperte sich vernehmlich. Ah Sing hob den Blick und sah, dass sämtliche Verdächtigen ihn entsetzt anstarrten.

»Mein Assistent ist unerfahren und noch ungeübt, was seine Ausdrucksweise betrifft«, sagte der Inspector. »Falls er sich dem Verstorbenen gegenüber respektlos verhalten hat, so möchte ich Sie in seinem Namen um Verzeihung bitten.«

Ah Sing nickte eilig zur Entschuldigung.

Als keine weiteren Reaktionen kamen, fuhr Inspector Lok fort. »Dann würde ich jetzt gern mit Yue Wing-yee fortfahren. Darf ich, Sir?«

Ping. JA.

»Yue Wing-yee, Alter zweiunddreißig, ist der zweitgeborene Sohn von Yuen Man-bun und Yue Chin-yau. Wie sein älterer Bruder besuchte auch Wing-yee die St. George’s School und ging im Anschluss zum Betriebswirtschaftsstudium nach Amerika, um nach seiner Rückkehr den Posten als geschäftsführender Direktor des Fung-Hoi-Konsortiums zu übernehmen, also in der Hierarchie an zweiter Stelle nach seinem Vater. Mehrere Zeugen haben bestätigt, dass Wing-yees Charakter sich sehr von seinem Bruder unterscheidet, er nimmt seine Arbeit ernst und ist ebenso tüchtig wie Vater und Großvater. Sein Vater respektierte ihn in hohem Maße – die beiden hatten ein sehr gutes Verhältnis.«

Ungeachtet des Kompliments blieb Wing-yees Gesicht angespannt. Inspector Lok musste glauben, er sei verstimmt wegen Ah Sings unangebrachter Bemerkung über seinen Bruder, doch in Wirklichkeit plagten ihn unerträgliche Schuldgefühle. Er kam allmählich zu dem Schluss, was für eine Erleichterung es für ihn bedeuten würde, wenn dieser komatöse Detective tatsächlich der Wahrheit auf die Spur käme, selbst wenn das bedeutete, dass er ins Gefängnis wanderte.

»Yue Wing-yee heiratete letztes Jahr Choi Ting. Choi Ting, vierunddreißig, ist die jüngste Tochter von Choi Yuan-sam, Gründer von Choi Electronics. Ehe sie heiratete und ihren Beruf aufgab, arbeitete sie als Allgemeinärztin am Cedar Medical Centre.« Inspector Lok richtete den Blick auf die Schwiegertochter des Hauses und fuhr fort. »Gerüchte besagen, Choi Tings Verbindung mit Yue Wing-yee sei notwendig geworden, weil die Firma Choi Electronics sich in den letzten Jahren hoch verschuldet hatte und dringend eine Finanzspritze vom Konsortium benötigte …«

»Wagen Sie es nicht, mich mit Schmutz zu bewerfen, Inspector Lok!« Choi Ting war dunkelrot angelaufen vor Zorn. »Sie unterstellen mir, ich hätte Wing-yee des Geldes wegen geheiratet …«

»Ich verlese lediglich den Bericht und habe auch betont, dass es sich nur um Gerüchte handelt«, erwiderte der Inspector gelassen. »Allerdings haben Sie von den fünf Anwesenden tatsächlich das stärkste Motiv. Wing-yee und Wing-lai standen zwar in der Erbfolge ihres Vaters, doch beide waren nicht in finanziellen Schwierigkeiten. Ihre Familie hingegen benötigt dringend Geld. Es heißt, Choi Electronics hätte in diesem Jahr bereits Verluste in Höhe von einhundertachtzig Millionen Hongkong-Dollar gemacht – und wenn Wing-yee endgültig Direktor von Fung Hoi wird, ist es viel einfacher, Ihrem Vater entsprechende Mittel zu …«

»Sie … Sie Schwein! Was für infame Lügen! Ich, ich …« Choi Ting war völlig aus dem Gleichgewicht. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu schreien. Sie sprang auf und starrte den Inspector mit wilden Augen an.

»Inspector Lok, Sie irren sich.« Old Tong tätschelte beruhigend Choi Tings Arm und bedeutete ihr, sich wieder hinzusetzen. »Choi Electronics ist in finanziellen Schwierigkeiten – das ist eine bekannte Tatsache. Aber Boss-Man wusste, welches Potenzial in dem Unternehmen steckt. Es gab schon länger eine Kooperation, und er unterstützte die Firma, schon bevor Master Wing-yees Frau in die Familie einheiratete, immer wieder mit Finanzspritzen. Bei einer dieser Transaktionen sind sich Master Wing-yee und Miss Choi auch zum ersten Mal begegnet. Inspector, Sie erwähnten vorhin, Old Boss wäre als ›Fung-Hoi-Hai‹ bekannt gewesen – aber er hat nie einen schlechten Deal gemacht. Ich habe viele Unterlagen, die belegen, dass er vor seinem Tod plante, in Choi Electronics zu investieren. Wenn die junge Mistress tatsächlich die Mörderin wäre, würde sie damit nicht ihre eigenen Interessen torpedieren?«

Ohne ein Wort wandte sich Inspector Lok wieder seinen Notizen zu. Choi Ting hatte nicht unbedingt das Gefühl, als wäre dies ein Zeichen von Unsicherheit – sie deutete sein Schweigen nicht als Zustimmung zu dem, was Old Tong gesagt hatte. Wie ein versierter Pokerspieler hielt der Inspector sein Blatt verdeckt. Er ließ sich nicht in die Karten sehen.

»Schließlich der dritte Sohn des Opfers, Yue Wing-lim. Vierundzwanzig Jahre alt, studiert Ingenieurwesen an der Chinesischen Universität Hongkong, nimmt sich aber momentan eine Auszeit. Nach allem, was wir wissen, stand er dem Verstorbenen nicht sonderlich nahe, hatte aber immer eine sehr enge Bindung zu seiner Mutter und besuchte sie, als sie im Sterben lag, beinahe täglich im Krankenhaus. Das Mordopfer verlangte von Wing-lim, sein Studium zu beenden und ebenfalls für das Konsortium zu arbeiten, doch sein Sohn wollte lieber Fotograf werden, weshalb es zwischen den beiden immer wieder Spannungen gab.«

Dieser Umstand war erst am Vortag ans Licht gekommen, als der Inspector Old Tong die Frage gestellt hatte, wer, wenn nicht ein Einbrecher, der Mörder hätte sein können – auch wenn der Privatsekretär darauf bestanden hatte, dass Wing-lim auf keinen Fall der Mörder sein könne.

»Ha!«, war der einzige Kommentar, den Wing-lim von sich gab – er würde kein solches Theater veranstalten wie seine Schwägerin.

»Das ist alles an Hintergrundinformationen, die wir zu den Mitgliedern des Haushalts Yue sammeln konnten. Ich werde jetzt mit dem Verbleib der einzelnen Verdächtigen vor und nach …«

Tock-tock. NEIN.

»Was?« Es folgte eine kurze Pause, als hätte Inspector Lok kurzzeitig vergessen, dass sein Gegenüber nicht sprechen konnte. »Möchten Sie, dass ich weitere Fragen stelle, Sir? Bezüglich dieser Informationen?«

Tock-tock.

»Oh. Also … möchten Sie, dass ich bezüglich einer bestimmten Person nachhake?«

Ping.

»Handelt es sich um einen Mann?«

Tock-tock.

»Meinen Sie Choi Ting?«

Tock-tock. Nanny Wu machte ein erschrockenes Gesicht.

»Meinen Sie Wu Kam-mui?«

Tock-tock.

Verblüfft, weil beide anwesenden Frauen ein Nein provoziert hatten, wollte Choi Ting gerade das Wort ergreifen, als sie Inspector Lok sagen hörte: »Dann … wollen Sie noch mehr über Yue Chin-yau erfahren?«

Ping. Die fünf Verdächtigen stießen unisono einen Seufzer der Erleichterung aus, obwohl es natürlich verwirrend war. Weshalb interessierte sich der alte Ermittler derart für die Toten? Erst Wing-lai, jetzt seine Mutter.

»Sir, Chin-yaus Vorgeschichte ist recht überschaubar, es gibt da nicht sehr viel mehr zu sagen.« Trotzdem blätterte Inspector Lok in seinem Notizbuch und suchte nach der entsprechenden Seite. »Einzige Tochter von Yue Fung, Ehefrau von Yuen Man-bun, drei Kinder – all das wissen wir bereits. Starb im Mai dieses Jahres im Alter von neunundfünfzig an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Abgesehen von einer vorübergehenden postnatalen Depression ein Jahr nach der Hochzeit gab es keine nennenswerten Ereignisse. Glauben Sie, sie hat etwas mit dem Fall zu tun, Sir?«

Der Zeiger wählte weder JA noch NEIN, sondern schwang rhythmisch zwischen beiden hin und her.

»Heißt das ›Vielleicht‹?«

Ping.

»In dem Fall möchte ich die Frage an Sie richten – haben Sie noch irgendetwas hinzuzufügen?« Inspector Lok wandte sich an die fünf Verdächtigen. Sie sahen sich an, aber niemand wollte zuerst das Wort ergreifen.

»Nein?«

»Es ist nur …« Nanny Wu zögerte. »Wahrscheinlich hat es keine Bedeutung, aber der Mord geschah am hundertsten Tag nach dem Tod von der Missy, und ich hatte ein wenig Höllengeld und andere Opfergaben zum Verbrennen vorbereitet.«

»Ja, richtig. Das hat Mr Wong bereits erwähnt«, sagte der Inspector. »Er erzählte uns außerdem, Sie hätten eigens für sie ein Geisterhaus nach dem Vorbild der Villa Fung Ying anfertigen lassen.«

»Die Missy hat ihr ganzes Leben in diesem Haus verbracht. Ich hatte Angst, es könnte ihr schwerfallen, sich an ein neues Haus zu gewöhnen …« Nanny Wu bekam rote Augen.

Ah Sing fiel der süßliche Duft von brennendem Spielgeld wieder ein, der während der Ermittlungen überall im Haus in der Luft gehangen hatte. Er hatte vermutet, die Familienmitglieder seien gläubige Buddhisten oder Taoisten, die jedes Wochenende zu ihren Ahnen beteten.

»Der alte Knacker behauptet jetzt aber nicht, dass Mom aus dem Jenseits zurückgekommen ist, um unseren Dad zu ermorden, oder?«, stieß Wing-lim spöttisch hervor. Ehe Old Tong ihn für seinen geschmacklosen Witz zurechtweisen konnte, wurde sämtliche Aufmerksamkeit wieder vom Monitor vereinnahmt, wo der Zeiger schon wieder auf und ab schwebend ein »Vielleicht« signalisierte.

»Was ist das denn für ein Blödsinn?«, kicherte Wing-lim, doch man sah ihm an, dass sein Lächeln gespielt war.

»Sir! Wollen Sie damit sagen … Yu Chin-yau wäre die Mörderin?«

Der Zeiger verharrte regungslos auf der Mittellinie, weder JA noch NEIN.

»In Ordnung, Sir … Ihre Intuition hat Ihnen noch keine Antwort geliefert, und Sie brauchen mehr Beweise?«

Ping. Ein eindeutiges JA.

»In diesem Fall werde ich mit meinem Bericht fortfahren, und Sie erteilen uns im Anschluss weitere Instruktionen?«

Ping.

Wing-yee versuchte verzweifelt zu kaschieren, wie sehr ihn dieser Austausch beunruhigte. Jeder Ton, den dieser Computer von sich gab, bohrte sich direkt durch ihn hindurch, als würde sich der Geist des alten Detective direkt in seinen Schädel fressen und dort nach dem verborgenen Geheimnis wühlen.

Er hatte das Gefühl, jeden Moment zusammenzubrechen.

5

»Kommen wir nun zum Tag der Tat.« Inspector Loks Tonfall blieb gelassen. »Mehreren Zeugenaussagen zufolge verlief der Samstagabend wie immer – es war ein ganz normales Wochenende. Die sechs Bewohner des Hauses aßen gemeinsam zu Abend. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie im Anschluss die Opfergaben für Yue Chin-yau verbrennen wollten, was gewissermaßen die Speisen in ihrem Mund in Asche verwandelte.«

Dies war ein direktes Zitat von Old Tong gewesen.

»Nach dem Abendessen und der Opferzeremonie, so gegen elf Uhr, zogen sich alle in ihre Zimmer zurück. Wong Kwan-tong und Wu Kam-mui bewohnen Zimmer im Erdgeschoss. Arbeits- und Schlafzimmer des Ermordeten befinden sich im Stockwerk darüber, während Wing-lims Zimmer und das von Wing-yee und seiner Frau sich im obersten Stockwerk befinden. Zu unserem Bedauern kann keiner der Erwähnten seinen Aufenthalt beweisen, denn alle geben an, allein in ihrem Zimmer gewesen zu sein – abgesehen von Yue Wing-yee und Choi Ting, die zusammen waren. Doch auch sie gaben an, dass es möglich sein könnte, dass der andere unbemerkt das Zimmer verlassen habe, weil sie beide nachts ab und zu rausmüssen.«

Nach einer Kunstpause sagte Inspector Lok: »Mit anderen Worten: Keiner der Verdächtigen hat ein Alibi.«

Selbst dem Grünschnabel Ah Sing entging nicht, wie sehr diese Feststellung die Versammelten beunruhigte.