Das Ausgleichskind - Kirsten Boie - E-Book

Das Ausgleichskind E-Book

Kirsten Boie

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Beschreibung

Margret ist ein Ausgleichskind. Sie soll ausgleichen, was in ihrer Familie schief läuft. Je schiefer der Haussegen hängt, desto besser muss bei Margret alles klappen. Dabei findet Margret andere Probleme viel wichtiger, zum Beispiel die zunehmende Umweltzerstörung. Ihr bester Freund Akki ruft gegen den ganzen Verpackungsmüll sogar eine Protestaktion ins Leben. Margret soll bei der Aktion mitmachen. Doch wer fragt Margret eigentlich, was sie selber will? Feinfühlig und mit viel Humor schreibt Kirsten Boie davon, wie schwierig und wichtig es ist, als Kind nicht nur das zu tun, was andere erwarten, sondern seinen ganz eigenen Weg zu gehen.Mit Vignetten von Philip WaechterWeitere Titel von Kirsten Boie bei Sauerländer:Mit Kindern redet ja keinerManchmal ist Jonas ein LöweChaossommer mit Ur-Otto

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Seitenzahl: 156

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Kirsten Boie

Das Ausgleichskind

 

 

Biografie

 

 

Kirsten Boie wurde 1950 in Hamburg geboren, wo sie noch heute lebt. Sie studierte Deutsch und Englisch und war Lehrerin, bevor sie für Kinder und Jugendliche zu schreiben begann. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Großen Preis der Akademie Volkach und dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr Gesamtwerk.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Inhalt

Vorbemerkung

Ich bin in [...]

Ich gehe gerne [...]

Als ich nach [...]

Marthe wohnt seit [...]

Ich kam schon [...]

Als ich am [...]

Ich trödelte nicht [...]

Ich übte auch [...]

Wenn der Sommer [...]

Entweder hatte Elenors [...]

Am Dienstag in [...]

Ich könnte wetten, [...]

Papa machte mir [...]

Ich hatte nicht [...]

Tatsächlich«, sagte ich. [...]

Mamas Geburtstag wird [...]

An diesem Abend [...]

Inzwischen ist Mama [...]

Vorbemerkung

Als ich neulich dieses Buch, das über dreißig Jahre alt ist, in die Hand genommen habe, war ich verblüfft, was sich in unserem Alltag in der Zwischenzeit so alles geändert hat. Schallplatten, ach du je! Und wie die Leute alle so heißen! Und wieso hat die Hauptperson Margret eigentlich kein Smartphone, warum schicken ihre Eltern der verschollenen Schwester in London nicht einfach eine Nachricht per WhatsApp? Und vor allem: Worüber, um Himmels willen, regt Margrets Klasse sich bei ihrer Müllaktion im Supermarkt denn bloß so auf? Muss doch längst sowieso zurückgenommen werden, der ganze Verpackungsmüll, kein Supermarkt ohne Behälter für die Mülltrennung, und Pfand auf Plastikflaschen und auf Dosen gibt es schließlich auch! Ja, ja, ja, das stimmt. Aber ist in der Klimapolitik darum auch schon alles in Ordnung? Na!

Bestimmt würden Akki und Margret und Ellie sich heute eine andere Aktion ausdenken, von Fridays for Future haben wir alle ja viel gelernt. Aber irgendeine Kampagne würden sie bestimmt veranstalten, darauf möchte ich wetten. Denn sich für die Umwelt einzusetzen ist doch heute alles kein bisschen weniger wichtig als vor dreißig Jahren – im Gegenteil! Die Zeit drängt!

Und für Margret, das Ausgleichskind, wäre das sowieso nicht das Wichtigste. Denn was sich ganz sicher nicht geändert hat in diesen dreißig Jahren, das sind die Familien, Eltern und Kinder. Eltern sind nach wie vor manchmal nicht ganz einfach für ihre Kinder; und dass es auch heute noch genügend Jugendliche gibt, die mit ihren Müttern die gleichen Probleme haben wie Margret mit ihrer Mutter, davon bin ich überzeugt. Auch wenn wir inzwischen nicht mehr mit DM bezahlen, sondern mit Euro, unsere Musik streamen und die Bundeshauptstadt schon lange nicht mehr Bonn ist, sondern Berlin. Die wirklich wichtigen Dinge nämlich, das weiß ja jeder, ändern sich nicht so schnell.

 

Kirsten Boie, 2022

Ich bin in unserer Familie das Ausgleichskind. Natürlich bin ich da nicht selber drauf gekommen, Akki hat es mir gesagt, als ich ihm von Papas Beförderung erzählt habe, oben auf Akkis Balkon.

»Vielleicht wird mein Vater Abteilungsleiter«, sagte ich. Unten rauschte der Verkehr vorbei, und am Balkongeländer hingen Kästen mit leuchtend roten Geranien. In der Ecke, in einem girlandengeschmückten Topf aus Terrakotta, blühte ein Margeritenbaum. »Der Weidemann geht doch jetzt vorzeitig in Rente. Lange genug an seinem Stuhl geklebt hat er ja, sagt mein Vater.«

»Dann wollen wir hoffen, dass es klappt, mein Schatz«, sagte Akki und goss die Pflanzen mit einer zierlichen Messingkanne, eine nach der anderen. »In deinem Interesse.«

»In meinem Interesse?«, fragte ich. »Weil er dann so viel mehr verdient, dass ich ständig neue Klamotten kriege, oder was?«

Akki ließ sich beim Gießen nicht stören. »Pelargonien«, sagte er. »Statt Geranien kann man auch Pelargonien sagen. Wusstest du das? Es klingt so edel. So nach englischem Landhaus. Fenstertüren, weite, sattgrüne Rasenflächen …«

»Wieso in meinem Interesse?«, fragte ich noch einmal. »In seinem, würde ich doch denken. Er wartet schon ewig darauf, sowieso macht er längst die Arbeit, sagt er. Weidemann ist nur noch eine Attrappe.«

»Wie schön«, sagte Akki und setzte die Gießkanne ab. »Aber es geht nicht um die Klamotten, unschuldige Margarete, das wäre mir ja viel zu trivial. Um dich geht es, Margarete, ganz allein um dich.«

»Kannst du mal aufhören, so blöd Margarete zu sagen?«, sagte ich wütend.

Ich überlegte, was ich mit Papas Beförderung zu tun haben könnte. Das mit den Klamotten leuchtete mir ein, und vielleicht war dann auch jedes Jahr ein Zweiturlaub drin. Aber sonst konnte ich nicht sehen, warum Akki so sehr betonte, dass die Beförderung in meinem Interesse war.

»Du bist nämlich in eurer Familie das Ausgleichskind«, sagte Akki und setzte sich auf einen weißen Korbstuhl. Der Stuhl knarrte. »Noch gar nicht gemerkt? Du bist ihr Trost in schweren Tagen, ihre Sonne bei Kummer und Regen, und dass du so genial bist, hilft ihnen über einiges hinweg.«

Ich überhörte die Anspielung auf Marthe.

»Hör auf mit dem Scheiß!«, sagte ich.

»Die Familie«, sagte Akki und schenkte aus einem Tonkrug frisch gepressten Zitronensaft in sein Glas, »ist ein System. Jedes Mitglied hat seine Rolle zu spielen. Verändert sich die Situation des einen, muss sich notwendig auch die aller anderen verändern. Verstehst du?«

»Ich will auch Saft«, sagte ich.

Akki hielt mir den Krug hin. »Und deine Rolle, kluge Margarete«, sagte er, »ist es, in eurer Familie auszugleichen. Je mehr bei euch schief geht, desto mehr bist du gefordert. Nur wenn alles einigermaßen gut läuft, lassen sie dich in Frieden. Mehr oder weniger.«

»Du spinnst doch total«, sagte ich. »Der Saft ist schon ganz warm.«

Akki lehnte sich mit geschlossenen Augen in seinem Stuhl zurück und ließ das Glas in der Hand leise kreisen, als gäbe es Eisstücke darin, die gegeneinander klirren könnten.

»Psychologe«, sagte er träumerisch. »Das könnte man auch noch werden. Die Familie als System. Das Kind …«

»Ach, lirum, larum«, sagte ich und stand auf. »Ich muss noch Klavier üben.«

»Da hast du’s«, sagte Akki zufrieden. »Bitte sehr.«

Er kam nicht mit, um mich zur Tür zu bringen. Dafür kannten wir uns zu lange, und ich wusste ja den Weg.

So hörte ich zum ersten Mal, dass ich das Ausgleichskind war.

 

Akki und ich kennen uns schon ewig. Als seine Eltern noch nicht geschieden waren und bevor er zu seinem Vater zog, waren wir Nachbarn gewesen. Unsere Mütter hatten uns gemeinsam in der Karre geschoben, wir hatten zusammen Krabbeln und Laufen gelernt und waren zuerst zusammen in den Kindergarten gekommen und dann in die Schule.

Wenn man einen Jungen so gut kennt, dann ist er irgendwie kein Junge mehr. Ich meine, man gibt sich keine Mühe, nett zu lächeln und pfiffig auszusehen, wie man das bei anderen Jungs vielleicht tun würde. Akki war sozusagen meine beste Freundin.

Natürlich habe ich manchmal schon gedacht, dass eine echte Freundin besser wäre, manche Sorgen kann man eben doch nur mit Mädchen besprechen. Aber es hat sich nie so ergeben.

Genauso wenig, wie es sich jemals ergeben wird, dass Akki nicht mehr meine Freundin ist, sondern wirklich mein Freund. Das kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen. Allein schon wegen der Größe! Natürlich sind das Äußerlichkeiten, und jeder behauptet, dass man darauf überhaupt nicht achten soll. Aber zwanzig Zentimeter Unterschied!

Schuld ist wahrscheinlich Akkis Mutter, die ist auch ziemlich klein. »Petite«, sagt Akki immer zärtlich. »Könntest du dir vielleicht angewöhnen, petite zu sagen? Das klingt nicht halb so unzulänglich.«

»Und du bist petit?«, frage ich dann. »Das gefällt dir besser?«

Akki wird nicht sehr oft wütend, aber wenn es um seine Größe geht, schon.

»Warum interessiert dich das überhaupt?«, sagt er böse. »Mein Vater ist sehr froh darüber, dass er mir nicht ständig neue Hosen kaufen muss, weil ich aus den alten rausgewachsen bin! ›Von mittlerer Größe‹, wie wäre es damit? ›Nicht groß, aber sehnig‹? ›Von napoleonischer Statur‹? ›Von …‹«

»Okay, okay«, sage ich. Vielleicht ist Akki eines Tages nicht mehr meine beste Freundin, sondern mein bester Freund. Aber mein Freund wird er jedenfalls nie.

Als ich zu Hause ankam, lag im Treppenhaus neben der Wohnungstür ein zusammengefalteter Wischlappen, das Signal dafür, dass ich meine Schuhe bitte schon vor der Wohnung ausziehen sollte. Ich stellte sie sorgfältig genau parallel nebeneinander. Meine Füße waren vom Sommer noch ganz braun.

»Margret?«, rief Mama aus der Küche.

Ich warf einen kurzen Blick in den Flurspiegel. Konnte ja sein, dass Akki nur von napoleonischer Statur war, aber ich war ganz einfach langweilig. Ich hatte vielleicht die richtige Größe, ich hatte vielleicht sogar die richtige Figur, aber was mir fehlte, war ganz einfach die Ausstrahlung. An mir war alles normal, die Haare, die Augen, die Nase. Meine Haare waren nicht blond und nicht braun, meine Augen waren langweilig blau, ohne zu strahlen, und meine Nase war weder edel geformt noch besonders stupsig. Nichts, weswegen jemand ein zweites Mal hingucken würde.

Vielleicht konnte nicht nur ich mir Akki als Freund nicht vorstellen, sondern Akki mich auch nicht als Freundin.

»Hallo, Mama«, sagte ich und öffnete die Kühlschranktür. Wenn ich nach Hause komme, muss ich immer als Erstes was trinken. Akki behauptet, das ist psychologisch und bedeutet, dass ich mir mit diesem Akt mein Heim aneigne, etwa so, wie Hunde überall ihre Duftmarke hinsetzen, um ihr Territorium zu markieren, aber ich glaube, es ist einfach Durst.

»Sei vorsichtig!«, sagte Mama. »Ich hab heute alles auf Hochglanz! Die Elmshorner haben vorhin angerufen. Sie kommen morgen natürlich.«

Ich setzte mich auf die Küchenbank und zog die Beine an. Papa hatte morgen Geburtstag, und Mama war schon seit Tagen dabei, Kuchen zu backen und einzufrieren. Jetzt gerade schnitt sie Rindfleisch.

»Gulasch?«, fragte ich.

Mama schüttelte den Kopf. »Schaschlikspieße«, sagte sie. »Für den Grill am Abend. Die Soßen habe ich schon.«

Ich machte ein schmatzendes Geräusch. Es gibt nicht viele Sachen, die mir so schmecken wie Schaschlik vom Grill.

»Wusstest du, dass man kein Rindfleisch essen soll?«, fragte ich. »Wusstest du, dass bei der Massentierhaltung in den Rindermägen Methan entsteht, das zu vierzehn Prozent an der Entstehung der Treibhausglocke beteiligt ist, die zu Klimaveränderungen auf der Erde führt? Wusstest du, dass man mit den Anbauflächen, die man braucht, um die Rinder zu füttern, zehnmal so viele Menschen ernähren könnte, wenn da Getreide angebaut würde? Und dass wir also, wenn wir Rindfleisch essen, indirekt zum Hunger in ärmeren Ländern beitragen?«

»Ich nicht«, sagte Mama. Sie hatte das Fleisch in Streifen geschnitten, jetzt schnitt sie die Streifen in Würfel.

»Natürlich du auch!«, sagte ich ungeduldig. Manchmal hatte ich wirklich das Gefühl, dass Mama viele Dinge nicht verstand. »Das haben wir gerade in Erdkunde gehabt!«

»In Erdkunde?«, fragte Mama verblüfft. »Da sollen sie euch beibringen, wo New York liegt und der Himalaja! Ich finde sowieso, dass sie euch in der Schule heutzutage lauter Zeugs erzählen, mit dem sie sich in das Familienleben mischen! Keine Spraydosen mehr kaufen, kein Schweinefleisch und jetzt plötzlich auch kein Rindfleisch mehr! Hat das noch was mit Schulunterricht zu tun? Früher hätten wir das Indoktrination genannt, aber das gilt heute ja wohl nicht mehr!« Und sie hackte so wütend auf ihrem Rindfleisch herum, dass jeder sehen konnte, für Schaschlik waren die Stücke, die dabei herauskamen, viel zu klein. Aber ich hütete mich, es ihr zu sagen. Das hätte sie nur noch mehr in Rage gebracht.

»Was ist mit Klavierüben?«, fragte Mama böse. »Oder rotten wir damit auch die Bevölkerung der Dritten Welt aus, indirekt?«

Ich stand auf und stellte das Apfelsaftpaket zurück in den Kühlschrank. Ich hasse es, wenn Mama immer gleich so unsachlich wird. Kein Mensch kann jemals eine vernünftige Diskussion mit ihr führen, auch der sachlichste nicht, auch der sanfteste nicht. Was ihr nicht passt, macht sie wütend, und dann wird sie unsachlich.

»Knall die Küchentür nicht so!«, rief Mama mir nach.

Aber da war ich schon fast im Wohnzimmer, um zum hundertsten Mal das Impromptu Es-Dur von Schubert zu üben.

Ich gehe gerne zur Schule. Natürlich würde ich das nie laut sagen, nicht mal zu Akki, aber es stimmt. In der Schule fühle ich mich wohl.

Ich kann schon verstehen, dass es Schüler gibt, die die Schule hassen, weil sie nichts verstehen; ich erlebe sie ja jeden Tag in unserer Klasse. Aber ich habe damit eben keine Schwierigkeiten, mir fällt alles ganz leicht. Wenn wir etwas Neues in Mathe durchnehmen, dann weiß ich eigentlich schon immer, bevor der Mathe-Mensch mit dem Erklären fertig ist, worauf es hinausläuft, und mit den Fremdsprachen hab ich sowieso keine Schwierigkeiten. Warum das so ist, habe ich keine Ahnung. Ich muss schon so geboren sein. Und Mama macht zu ihren Freundinnen auch immer so Andeutungen, dass es geradezu unheimlich ist mit mir und dass bestimmt noch mal was Großes aus mir wird. Ihre Freundinnen haben mehr so normale Töchter.

Ich weiß nicht, ob ich mir auf meine Noten etwas einbilde. Eigentlich sind sie mir ziemlich gleich, ich habe mich daran gewöhnt. Nur einmal habe ich in Französisch eine Drei geschrieben, das war schon fürchterlich. Vor allem, weil keiner Mitleid mit mir hatte und ich in der Klasse nicht mal heulen durfte. Dafür waren da zu viele, die sich über eine Drei regelrecht gefreut hätten.

Normalerweise schreibe ich aber keine Dreien, und normalerweise interessiert mich auch das meiste, was wir durchnehmen. Zumindest kann ich mich dazu bringen, dass es mich interessiert.

»Klimaveränderungen, Teil IV«, sagte Regensburger am Morgen von Papas Geburtstag, kaum dass er in der Klasse war. Wir hatten ein Geburtstagsfrühstück mit Kerzen gemacht, und ich war gerade noch vor dem Läuten gekommen. »Lasst uns mal ein bisschen ranklotzen heute. Ich hab auf den Klassenarbeitsplan geguckt, und für die Arbeit bleibt uns nur nächste Woche Mittwoch. Bis dahin sollte das schon sitzen.«

»Buuuh!«, schrie Torben in der ersten Reihe. Er hätte die letzte Klasse eigentlich wiederholen sollen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie einer sich fühlt, dem die Schule keinen Spaß macht und der nichts kapiert. »Buuuh! Buuuh! Buuuh!«

Regensburger stellte die Tasche neben das Pult und kramte nach seinen Papieren. »Hört mal auf mit dem Blödsinn«, sagte er, aber mehr in seine Tasche rein. In der dritten Reihe konnte man schon so tun, als hätte man nichts gehört, also wirkte die Ermahnung aufmunternd. Ein paar andere fielen in das Buuuh-Konzert ein.

»Nun hört aber wirklich mal auf, Kinder«, sagte Regensburger. Er hatte sein Buch und seine Zettel gefunden und legte sie ordentlich Kante auf Kante aufs Pult. »Ich finde das ganz schön dürftig! Wenn wir uns mit der geographischen Breite von Kuala Lumpur oder der Tiefe des Marianengrabens beschäftigen würden, könnte mir euer Protest ja noch einleuchten. Aber so! Oder habt ihr das Gefühl, euch betrifft das alles gar nicht? Abschmelzen der Polkappen? Versteppung des Mittelmeerraumes? Euch doch mehr als mich, verdammt!« Und er schlug aufs Pult, dass die Zettel im Luftzug flatterten. So viel Temperament traute man ihm sonst gar nicht zu.

Die Buuuh-Rufe hatten aufgehört. Bei Regensburger wird es irgendwie meistens schnell wieder ruhig. Nicht, weil er schreit oder weil irgendwer Angst vor ihm hätte, bestimmt nicht. Er geht einfach so selbstverständlich davon aus, dass es ruhig wird, das ist es. Da würde es einem beinahe sonderbar vorkommen, wenn man trotzdem weiter Buuuh! rufen würde.

»Also, lasst uns noch mal wiederholen«, sagte Regensburger. Dann sah er Akkis Finger. »Joachim?«

»Ich finde das unfair«, sagte Akki und guckte Regensburger böse an. »Nur weil wir keine Arbeit schreiben wollen, können Sie uns doch nicht unterstellen, dass uns das Thema nicht interessiert! Das ist doch unlogisch!«

Regensburger setzte sich auf die Pultkante und starrte Akki an. »Da ist was dran«, sagte er.

Akki holte tief Luft. Er war meistens nicht so schnell fertig mit dem, was er sagen wollte.

»Überhaupt finde ich das pervers!«, sagte er. »Wenn es schon um Themen geht, bei denen man wirklich sagen kann, man lernt fürs Leben und nicht für die Schule, rums!, schon werden sie einem durch Arbeiten wieder kaputtgemacht. Schon kümmert man sich wieder nur darum, weil man eine gute Note schreiben will, und nicht, um zu überlegen, was man echt dagegen tun kann. Man selber, meine ich. Das müssten Sie mit Ihrem Unterricht doch erreichen wollen! Oder?«

An sämtlichen Tischen wurde gemurmelt und »Genau!« gerufen. Obwohl ich mir sicher bin, den meisten ging es nur darum, die Arbeit am nächsten Mittwoch nicht schreiben zu müssen. Aber vielleicht war ihnen das selber in diesem Moment schon nicht mehr bewusst. Ein paar Finger gingen in die Luft.

Regensburger kümmerte sich nicht darum. »Auch das ist richtig, Joachim, genau«, sagte er und nickte. Dann guckte er in der Klasse herum. »Also? Gibt’s Vorschläge?«

»Nicht schreiben, nicht schreiben!«, brüllte Torben und stampfte rhythmisch mit den Füßen. Ein paar Jungs stampften mit.

Regensburger hob die Hand wie ein Feldherr, und das Stampfen wurde leiser, bis es ganz aufhörte. Nur hie und da war noch ein Fuß zu hören, der nachklappte.

»Wenn ihr mir auch anders beweisen könnt, dass ihr das Thema begriffen habt, okay«, sagte er. »Weil es mir nämlich wichtig ist, dass ihr das kapiert, meine Lieben. Wichtiger als der Marianengraben, aber bestimmt.« Und er drehte sich zur Tafel und klappte sie auf.

In der Klasse fingen sie an, »Hurra!« zu schreien, und ich hatte das Gefühl, dass sie überhaupt nicht begriffen hatten, was er gesagt hatte. Ich beugte mich zu Akki und tippte ihm auf den Arm. »Und jetzt?«, flüsterte ich.

»Wait off and drink tea«, murmelte Akki.

Vorne wischte Regensburger die übrig gebliebenen Zahlen aus der letzten Mathestunde von der Tafel und schrieb in seiner ordentlichen Schrift »Treibhausglocke« oben in die Mitte. Dann unterstrich er es zweimal.

Ich schlug mein Erdkundeheft auf und legte es quer. Danach malte ich Länder und Ozeane und blaue Pfeile rauf und rote runter und beschriftete alles mit Kürzeln wie »FCKW« und »CO2«. Vielleicht würde Regensburger statt der Arbeit Einzelprüfungen veranstalten. Das wäre mir auch recht.

»Die Arbeit, übrigens«, sagte Regensburger und drehte sich völlig unvermittelt um, »schreiben wir dann natürlich über das nächste Thema. Nicht, dass ihr denkt, die fällt ganz aus. Nur dass das klar ist.« Er zeichnete weiter, und in der Klasse wurde gemurmelt. Aber natürlich sagte keiner, dass wir sie dann doch lieber schon nächste Woche schreiben wollten.

Als es läutete und alle schon ihre Sachen packten, hob Regensburger noch einmal die Hand.

»Ich soll euch an das Vorspielen erinnern«, sagte er. »Für das Schulkonzert. Freitag nach der Sechsten im Musiksaal. Schönen Tag noch«, und er verschwand durch die Tür, ein kleiner, dicker Mann mit spillerigen blonden Haaren.

»Na, dann legt mal los«, sagte Akki und setzte sich auf seinen Tisch. »Jetzt sollten wir uns wohl überlegen, wie wir ihm ganz praktisch beweisen können, dass wir den Kram begriffen haben. Jetzt geht’s rund.« Aber bevor irgendwer antworten konnte, stand die Schöne Regina in der Tür, die einen Porsche fährt, weil ihr Mann Zahnarzt ist, und uns in Französisch unterrichtet, weil sie sich sonst zu Hause langweilt.