Das Baby der Herrin - Susanne Gripp - E-Book

Das Baby der Herrin E-Book

Susanne Gripp

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Beschreibung

Große Gefühle, verbunden mit Leidenschaft, unerfüllter Liebe, prickelnden Erlebnissen, erschreckenden Erkenntnissen und wahrer Liebe, füllen dieses spannende Buch. Das Baby der Herrin ist ein Liebesroman für Frauen, der überwiegend in Graz, der Hauptstadt der Steiermark, spielt. Liebe, Affären und Intrigen bestimmen das Leben einer jungen Frau. In ihrem Herzen trägt sie ein großes Geheimnis für die Ewigkeit. Mit sehr viel Gefühl geschrieben, geht es um ein Baby zu viel in einem österreichischen Herrenhaus. Fühlen, leiden und lieben Sie gemeinsam mit einer werdenden Mutter. Dieser Roman lebt von einer besonderen Erzählweise; wir erfahren, dass die Protagonistin in den Wehen liegt und sich dabei zurück erinnert an die Zeit, in der alles begann.

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Seitenzahl: 343

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Eine Ausnahme mache ich hier nur bei der Aufnahme realer Schauplätze wie Städte und Bauwerke etc. oder dem Bezug auf Firmen sowie Künstler oder anderen Personen öffentlichen Lebens, wie sie dem Stand der Allgemeinbildung entsprechen.

Der Nachdruck oder die Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Fotografie oder ein anderes Verfahren) sowie die elektronische Daten-Speicherung, Einspeisung und Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung gesamt oder auszugsweise sind ohne die ausdrückliche schriftliche Zusage der Autorin untersagt. Alle Übersetzungsrechte und Filmrechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Mein Geheimnis für die Ewigkeit

Wie alles begann

Das Vorstellungsgespräch

Die Entscheidung

Die Reise in mein neues Leben

Die Offenbarung der Herrin

Der erste Morgen in Graz

Tabea und Sabine

Die Anweisungen meiner Herrin

Klare Gedanken

Die verhängnisvolle Begegnung

Der aufregende Anfang in die Routine meines neuen Lebens

Die Gesellschafterin Michelle

Die Stadtführung

Der Besuch im Herrenhaus

Die letzten Tage bei Frau Wagner

Die Rückkehr ins Herrenhaus

Die traurige Absage an Patrick

Die Vorbereitungen für die Rückkehr meines Herrn

Bernhard Wagner ist zurück

Tränen der Wahrheit

Der Besuch in der Grazer Oper

Louis war bei mir zu Besuch

Die Reise nach Kiel

Hanau, meine Heimat

Zurück in Österreich

Die schöne Vorweihnachtszeit

Weihnachten in Deutschland

Ein ganzes Jahr in Graz

Der Wien-Urlaub

Der Winterurlaub über die Rauhnächte

Zurück zum Alltag in Graz

Der Besuch beim Friseur

Die geplante Reise

Die Umsetzung meiner neuen Regeln

Endlich nur noch Michelle

Der nächste Winterurlaub

Meine Freundin, Frau Wagner Senior

Schon wieder ein Jahr vergangen

Die ersten Anzeichen, dass sich etwas auf der ganzen Welt veränderte

Die bittere Erkenntnis

Meine Schwangerschaft

Die Geburt

Mein Geheimnis für die Ewigkeit

Der stolze Vater

Familie Pichler

Der erste Besuch bei Familie Wagner als zukünftige Frau Pichler

Unser Familienleben

Unsere Hochzeit

Familie Pichler wächst

Die Diagnose

Bernhards Offenbarung

Gute Zukunftsaussichten

Mein Geheimnis für die Ewigkeit

Ich liege weinend in den Wehen und erinnere mich an die mahnenden Worte meiner Mutter, als ich vor über fünf Jahren mein Elternhaus verlassen habe. Ich war damals erst siebzehn und so neugierig darauf, was das Leben noch zu bieten hatte.

Wie alles begann

Damals hatte ich die zehnte Klasse mit einer Abschlussnote von 2,3 geschafft und war mächtig stolz darauf. Mir stand die Welt offen, und ich war kurz davor, mich für ein Auslandsjahr in Amerika zu bewerben. Es wurden mehrere Au-Pair-Stellen für junge Frauen angeboten. Ich würde sogar den Flug bezahlt bekommen und hätte freie Kost und Logis. Außerdem wurde mir ein monatliches kleines Taschengeld zugesichert. Meine Englisch-Sprachkenntnisse waren gut, ich hatte viele Vokabeln und Grammatikregeln gelernt. Meine Eltern waren das einzige Hindernis; sie hatten Angst, dass mir etwas Schlimmes zustoßen könnte in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Auch hatte Mama große Bedenken, dass meine zukünftige Au-Pair-Familie mich nur ausnutzen würde oder eventuell sogar missbrauchen könnte. Sie machte mir richtig Angst mit ihren düsteren Befürchtungen. Mein Vater ist eher der optimistische Part, doch er machte sich genauso Sorgen. Er hatte Angst, dass er dann viel zu weit entfernt wäre, um mich zu retten, falls es tatsächlich sein müsste. Mein Vater war dann auch derjenige, der mich an einem Samstagmorgen freudestrahlend weckte: „Wach auf, Schatz! In der Zeitung ist eine ganz interessante Stellenanzeige, vielleicht ist das ja genau das Richtige für dich. Zieh dich an und komm frühstücken, Mama wartet schon.“

Diese Anzeige änderte meine Pläne, mein Leben, einfach alles …

Ich saß mit meinen Eltern am Frühstückstisch und las laut vor: „Wir bieten einer jungen Dame den Einstieg ins Berufsleben. Meine Frau benötigt Hilfe bei der Erziehung unserer zwei kleinen Kinder, und unsere Haushälterin wünscht sich Unterstützung in der Bewältigung der täglichen Aufgaben. Wir bieten ein faires Gehalt sowie ein kleines Zimmer in unserem Anbau, Verpflegung inklusive. Wir erwarten absolute Diskretion, Loyalität und Ehrlichkeit. Wenn diese Anforderungen deinen Vorstellungen entsprechen, bewirb dich bitte unter…“ Es folgte eine Emailadresse.

„Und, wie findest du diese Stellenbeschreibung? Ist das nicht genau das, was du möchtest? Nur, dass du dafür nicht nach Amerika fliegen musst, sondern in Deutschland bleiben kannst.“

„Woher willst du das wissen, Mama? Hier steht doch gar nicht, wo genau mein Arbeitsplatz wäre“.

„Oh, ich dachte, wo es doch in der FAZ, (der Frankfurter Allgemeinen Zeitung), steht, wird es wohl hier in der Nähe sein.“

Papa hatte den Vorschlag, dass ich mich einfach mal bewerben sollte, und danach würden wir ja sehen, was passiert. Ich überlegte nicht lange, denn mir erschien dieses Angebot trotz der Tatsache, dass es sich wohl nicht um eine Stellenbeschreibung in Amerika handelt, als interessant und eine Chance, auf eigenen Beinen stehen zu können. Es ging mir zwar sehr gut bei meinen Eltern, aber das Leben hier war auch irgendwie langweilig. Für mich als junge Frau war es nicht aufregend genug, und ich war ganz wild darauf, die ersten Erfahrungen außerhalb des elterlichen Einflusses machen zu können. Ich hatte hier in der Gegend auch Freundinnen, aber die waren anders als ich. Ich mochte keinen Alkohol, und die Jungs in meinem Umfeld fand ich alle doof. Die meisten waren überheblich und plump, nichts für mich. Na ja, bis auf einen vielleicht, und der wollte nichts von mir wissen. So blieb diese Schwärmerei eher im Verborgenen. Es war Zeit für mich, allein die Welt, das Leben und die Liebe zu erkunden. Insgeheim hoffte ich darauf, dass die angebotene Stelle mindestens einhundert Kilometer von Hanau, meinem damaligen Wohnort, entfernt liegen würde.

Schon am darauffolgenden Tag erhielt ich eine Antwort, im Betreff stand: „Ihre Bewerbung, Barbara und Bernhard Wagner“. Ich schnappte mein Notebook und eilte in unser Wohnzimmer. Obwohl gerade die Sportschau lief, öffnete ich die Mail und las laut vor.

„Liebe Frau Hoffmann, gerne würden wir Sie und Ihre Eltern persönlich kennenlernen. Ihre Bewerbung sagt uns sehr zu. Meine Frau und ich sind am kommenden Samstag beruflich in Frankfurt. Wir hätten folgende Termine zur Auswahl; entweder gleich um zehn Uhr morgens oder um 16:30 in der Lobby des Hotels „Frankfurter Römer“. Über eine baldige Terminbestätigung würden wir uns sehr freuen. Hochachtungsvoll Barbara und Bernhard Wagner“.

Wir redeten alle drei wild durcheinander, und die Freude war sehr groß. Wir entschieden uns für den frühen Termin, den ich umgehend schriftlich bestätigte. Erst ein paar Stunden später wurde mir bewusst, dass ich mich mit dieser Terminbestätigung weit von meinem Ziel, für ein Jahr nach Amerika zu gehen, entfernt hatte.

In den folgenden Tagen waren meine Eltern ebenso nervös wie ich selbst. Einerseits waren wir voller Vorfreude auf das Gespräch mit den Wagners, andererseits hatten wir alle drei auch ein mulmiges Gefühl. Sie schienen reich zu sein, mein Vater hatte Angst davor, dass sie mich als eine Art leibeigene Person ausnutzen könnten. Auch befürchtete er, dass ich an sieben Tagen in der Woche für die Kinder da zu sein hätte, vielleicht sogar nachts. Mama meinte, dass es einen Versuch wert wäre und ich jederzeit, auch ohne vorherige Ankündigung wieder nach Hause kommen könne, einen Haustürschlüssel sollte ich für den Fall der Fälle mitnehmen. Ich antwortete ihnen mit folgenden Worten: „Noch habe ich die Stelle überhaupt nicht erhalten. Schauen wir uns die Familie Wagner an und hören, welches Angebot sie mir machen. Dann interessiert mich auch, wo sie wohnen und wieviel Tage Urlaub ich haben werde. In diesem Augenblick interessiert mich erst einmal, was ich denn überhaupt anziehen soll zu dem Kennlern-Gespräch.“ Meine Mutter überlegte daraufhin, ob sie sich noch schnell ein neues Kleid kaufen sollte. Mein Vater schüttelte mit dem Kopf und gab uns einen guten Ratschlag.

„Zieht euch ganz normal an und verkleidet euch nicht. Es sind schließlich auch nur ganz normale Menschen.“

Im Nachhinein betrachtet, würde ich die Familie Wagner nicht mehr als normal bezeichnen, sondern eher als ziemlich speziell. Zuviel verraten will ich jetzt nicht, außerdem geht es mir augenblicklich nicht gut. Ich bekomme ein Baby von einem Mann, dem ich hoffnungslos verfallen war. Doch seitdem er weiß, dass ich ein Kind von ihm erwarte, ist er ein anderer Mensch geworden. Ich musste ihm versprechen, dass seine Ehefrau niemals erfahren wird, dass dieses Kind von ihm, meinem Herren, ist. Im Gegenzug hat er mir versprochen, gut für uns beide zu sorgen.

Das Vorstellungsgespräch

Zurück zu unserer ersten Begegnung mit meinen zukünftigen Arbeitgebern. Das Hotel war beeindruckend, hohe Decken und stilvoll verzierte Möbel faszinierten mich von der ersten Sekunde an. Große Gemälde und üppige Gardinen ließen es hier atemberaubend vornehm und exklusiv wirken. Meine Eltern schienen ebenso beeindruckt von dem Ambiente zu sein wie ich. Wir trauten uns erst gar nicht, weiter in die große Halle hinein zu gehen, und blieben kurz hinter der Drehtür stehen. Links von uns saß ein Pärchen an einem der hinteren Tische. Ziemlich gleichzeitig standen beide auf und kamen in unsere Richtung. Sie lächelten und mein Vater ging ein paar Schritte auf die beiden zu. Mama und ich folgten ihm, ich vergaß zu atmen, so aufgeregt war ich in diesem Augenblick. Als Herr Wagner mir seine Hand zur Begrüßung hinhielt, musste ich nach Luft schnappen, das war mir sehr peinlich. Er tat so, als hätte er es nicht bemerkt, und verhielt sich sehr souverän und zuvorkommend. Wir wurden gebeten, uns zu ihnen zu setzen. Fast im selben Augenblick gab mein eventueller zukünftiger Arbeitgeber einem Angestellten des Hotels ein Zeichen, zu uns zu kommen. Meine Eltern bestellten sich Kaffee wie die Wagners auch. Ich lehnte ab, denn ich war viel zu aufgeregt. Auf keinen Fall wollte ich mich jetzt blamieren. Meine Hände zitterten, und ich hätte eventuell Kaffee verschütten können. Frau Wagner schien meine Verunsicherung zu spüren und begann ein sehr nettes und unverbindliches Gespräch mit mir. Sie holte ein Foto von ihren Kindern aus der Handtasche und zeigte mir ihre offenbar erst vor kurzem geborene kleine Tochter. Neben dem auf dem Sofa liegenden Baby saß ein süßer kleiner Junge, der in die Kamera strahlte. „Das ist Louis, er ist letzten Monat vier Jahre alt geworden. Neben ihm liegt unsere kleine Anastasia, sie ist heute sechs Monate alt. Magst du Kinder, Michelle? Ich darf doch „du“ sagen, oder ist es dir nicht recht?“

„Doch sehr“, antwortete ich. „Ja, ich mag Kinder, aber ich habe noch nicht viel Erfahrung mit kleineren Kindern.“

„Das wirst du lernen, ich zeige dir alles, was du wissen musst. Weißt du, mein Mann und ich sind ein paar Mal im Jahr gemeinsam auf Reisen, leider können wir die Kinder nicht immer mitnehmen.“

„Wäre ich dann ganz allein mit den Kleinen?“

Jetzt lächelte sie mich freundlich an. „Nein, unsere langjährige Haushälterin Sabine und ihre Hilfe Tabea wären ebenfalls im Haus. Ganz allein wärst du nie.“

Ich atmete auf und begann zu lächeln. Mein Vater, langjähriges Gewerkschaftsmitglied, fragte gleich nach Urlaubstagen und Gehaltsvorstellungen. Mir war es einerseits peinlich, andererseits war es sehr gut für mich, und ich musste mir sogar das Grinsen verkneifen. Es war gemein, dass ich als Berufseinsteigerin genau so viel verdienen würde wie meine Mutter. Auf die Frage, wo genau die Familie Wagner ihren Wohnsitz hätte, bekamen wir keine konkrete Antwort, was meinen Vater verunsicherte. Wir erfuhren, dass Herr Wagner eine Person des öffentlichen Interesse in Österreich wäre und solche Dinge geheim gehalten würden. Meine Eltern würden aber eine Postfachadresse bekommen sowie die Haustelefonnummer, damit sie mich jederzeit erreichen könnten. „Österreich!“ Meine Mutter wurde nervös. „Das ist sehr weit weg, ich mache mir Sorgen um meine Tochter.“

„Das ist ganz normal und auch gut so, schließlich sind wir ebenfalls liebende Eltern. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wir werden uns beraten und Ihnen gegebenenfalls einen Arbeitsvertrag zukommen lassen. Bitte geben Sie uns danach schnellstmöglich per Email Bescheid, ob Ihre Tochter kurzfristig Interesse an einer langfristigen Anstellung hat. Es freut uns, Sie kennengelernt zu haben.“ Daraufhin folgte noch eine kurze Verabschiedung, und wir verließen das Hotel.

Die Entscheidung

Ganz im Gegensatz zur Hinfahrt verlief die Autofahrt zurück nach Hanau eher ruhig. Offenbar erging es meinen Eltern ähnlich wie mir; wir mussten erst über die Erkenntnisse des Vorstellungsgesprächs nachdenken.

Für mich stand schon fest, dass ich auf jeden Fall zusagen würde, aber natürlich würde ich den zu erwartenden Arbeitsvertrag vor der Unterschrift zuerst gründlich durchlesen. Dennoch hielt ich das nur für eine Formsache. Für mich stand in diesem Augenblick schon fest, dass ich weit wegziehen würde, um erwachsen zu werden. Die Aussicht, nach Österreich ziehen zu können, machte mich glücklich. Die Familie Wagner schien mir auf den ersten Blick sehr nett und großzügig zu sein. Zumindest auf dem Foto machten Anastasia und Louis einen lieben Eindruck. Ich fühlte mich zu allem bereit und war im Gedanken schon damit beschäftigt, meinen Koffer zu packen, und überlegte, was ich alles mitnehmen würde auf die Reise.

Meine Mutter seufzte und mein Vater nahm daraufhin ihre Hand. Von der Rücksitzbank konnte ich die beiden gut beobachten.

„Wir warten erstmal die Mail mit dem Arbeitsvertrag ab, und dann sehen wir weiter! Seid ihr damit einverstanden?“ Mein Vater schaute in den Rückspiegel.

„Schau nach vorne, Papa! Natürlich werden wir den Vertrag genau prüfen, aber das Gespräch verlief doch gut.“

Zu Hause angekommen, raste ich in mein Zimmer, um mein Notebook hochzufahren. Natürlich war noch keine Email meiner zukünftigen Arbeitgeber im Postfach. Enttäuscht ging ich zu meinen Eltern in die Küche. Mama setzte Nudeln auf und machte in einem kleinen Topf dazu passende Carbonara-Sauce. Ich liebe den Geruch dieser Sauce, und mein Magen fing laut an zu knurren.

„Willst du nicht lieber hierbleiben und dir eine Arbeit in Hanau oder von mir aus auch in Frankfurt suchen?“ Meiner Mutter standen die Tränen in den Augen. „Ich werde dich so vermissen, Michelle. Österreich liegt nicht um die Ecke. Je nach dem werden dann 500 bis 1000 Kilometer Entfernung zwischen uns liegen. Was ist, wenn wir dich nicht erreichen können? Ich würde vor Angst um dich sterben.“

„Moni! Nun hör aber mal auf, du machst unserer Tochter ja Angst. So soll es nicht sein. Du darfst dein Leben so leben, wie du möchtest, Schatz. Mama und Papa stehen immer hinter dir!“

„Ich kann euch ja jeden zweiten Tag anrufen, damit ihr wisst, dass ich okay bin. Wäre das ein Deal?“

„Ja, darauf könnten wir uns einlassen. Familie Wagner hat bestimmt eine Auslands-Flatrate. Bist du damit einverstanden, Monika?“

Meine Mutter hatte sich wieder gefasst und nickte, während sie die Teller mit Spaghetti füllte. Ich weiß noch genau, dass ich an diesem Tag zwei große Portionen verspeiste. Zum einen hatte ich inzwischen großen Hunger, und zum anderen fragte ich mich, wann ich wohl das nächste Mal Mamas Carbonara zu essen bekommen würde.

Um halb acht bekam ich endlich die ersehnte Email. Ich hatte an diesem Nachmittag und Abend mindestens dreißig Mal in mein Postfach geschaut. Aufgeregt rief ich in Richtung Wohnzimmer, dass die Mail endlich angekommen sei. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, da standen meine Eltern auch schon bei mir im Zimmer.

„Mach schon auf!“ Meine Mutter klammerte sich an der Hand meines Vaters fest und war offensichtlich ebenso gespannt wie wir anderen auch. Ich atmete einmal tief durch, bevor ich auf die Mail klickte und sich das Fenster öffnete.

„Liebe Michelle, wir sind sehr erfreut, Ihnen hiermit mitteilen zu können, dass wir uns sehr freuen würden, Sie in unserem Haus willkommen zu heißen. Anbei erhalten Sie Ihren Arbeitsvertrag, den Sie uns bei Interesse bitte umgehend unterzeichnet zurücksenden. In der Anlage erhalten Sie die notwendigen behördlichen Formulare. Da Deutschland sowie Österreich EU-Beitrittsländer sind, vereinfacht diese Tatsache Ihren Umzug. Mit Hilfe des von allen Parteien unterzeichneten Arbeitsvertrags dürfte es kein Problem darstellen, die Einreise beziehungsweise Ihren Aufenthalt auch über den Zeitraum von drei Monaten heraus zu gewährleisten. Wir werden Sie selbstverständlich krankenversichern und offiziell anmelden. Sobald wir den von Ihnen gegengezeichneten Vertrag erhalten haben, schicken wir Ihnen einen QR-Code, der Ihre Bahnfahrkarte beinhaltet. Sie werden von Frankfurt über Wien und von dort aus weiter nach Graz, zu uns, in die wunderschöne Hauptstadt der Steiermark, reisen. Uns würde es sehr freuen, wenn Sie bereits am ersten des nächsten Monats bei uns anfangen könnten.“

„Ich brauche einen neuen Koffer!“ Das waren die ersten Worte, die mir über die Lippen kamen. Meine Eltern waren längst nicht so euphorisch wie ich. Erst recht nicht, nachdem mein Vater den dicken Atlas zu Hilfe nahm, um zu schauen, wo in Österreich sich Graz befindet. „Michi, ich würde fast sagen, bleib lieber hier. Das Risiko ist doch sehr groß, dass du so weit von uns entfernt unter die Räder geraten könntest.“

„Papa, erstens, nenn mich nicht mehr Michi, ich bin bereits erwachsen, und zweitens ist das eine Chance für mich, die Welt kennenzulernen. Zugegeben, Österreich ist nicht Amerika, aber eine Herausforderung ist es schon. Ich drucke jetzt den Vertrag aus, dann können wir uns immer noch überlegen, wie es weiter geht.“

Nachdem meine Eltern den Vertrag studiert hatten, anders kann man es nicht bezeichnen, waren sie einverstanden, dass ich das Angebot annehme. Mittlerweile sahen sie auch eine Chance für mich, mich durch diesen Ortswechsel weiterzuentwickeln, um auf eigenen Beinen stehen zu können.

Für mich konnte es gar nicht schnell genug gehen, den unterschriebenen Arbeitsvertrag einzuscannen und zurückzuschicken. Unmittelbar danach bekam ich eine erneute Mail mit der Mitteilung, dass Familie Wagner sich schon sehr darauf freue, mich in vierzehn Tagen vom Bahnhof abzuholen. Herr Wagner wäre zu der Zeit zwar für ein paar Wochen in Südamerika, seine Frau würde es sich aber nicht nehmen lassen, mich persönlich in Graz zu begrüßen.

Selten war ich so nervös wie in diesen zwei Wochen der Vorfreude auf mein neues, selbstbestimmtes Leben. Ich bekam einen extragroßen Rollkoffer in Regenbogenfarben von meinen Eltern geschenkt. Mama begleitete mich zum Shoppen, und ich durfte mir fast alles an Kleidung kaufen, was ich wollte. Ich war bescheiden, wollte aber ordentlich aussehen und dadurch auch einen guten Eindruck hinterlassen. Einen Tag vor der Abreise kam meine Mutter zu mir in mein Zimmer, um mit mir von Frau zu Frau zu reden. Eigentlich wollte ich das gar nicht, es war mir peinlich mit meiner Mutter über Jungs und Männer zu reden, doch ich hatte keine Wahl. Sie klärte mich aus ihrer Sicht auf, und sie warnte mich. Sie warnte mich eindringlich vor Herrn Wagner:

„Mäuschen, bitte sei vorsichtig, ich traue ihm nicht wirklich. Ich mag mich irren, wahrscheinlich ist es so, doch falls nicht, merke dir meine Worte. Ich spreche leider aus Erfahrung, aber das ist sehr lange her und längst vergessen. Hüte dich vor älteren Männern, oft fühlen Sie sich geschmeichelt, wenn junge Frauen offen und ehrlich oder auch einfach nur nett zu Ihnen sind. Die Gefahr, diese Zuneigung auszunutzen, ist sehr groß. Er könnte dir nicht nur sehr weh tun, körperlich wie auch seelisch, sondern es würde deine gesamte Zukunft ruinieren, solltest du deiner Arbeitgeberin nicht loyal gegenüber sein. Hörst du, wir Frauen müssen doch zusammenhalten! Fall nicht auf den Charme der Männer herein, irgendwann wirst auch du den richtigen Partner fürs Leben finden. Kann ich mich auf dich verlassen?“

„Ja, Mama, das weißt du doch.“

Das waren damals die Worte meiner Mutter und meine klare Antwort darauf. Nur, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, wie es sich anfühlt, begehrt zu werden. Auch nicht, welche Glücksgefühle die Liebe in mir auslösen konnte. Was am allerschlimmsten war, war die Tatsache, dass mein Verstand für viele kurze Augenblicke einfach aussetzte.

Die Reise in mein neues Leben

Ich war so aufgeregt und hatte große Angst davor, den Anschlusszug zu verpassen. Dass meine Eltern mich gemeinsam bis zum Bahnsteig auf dem Frankfurter Hauptbahnhof begleiten würden, hatte ich gehofft. Mein Ticket war ab Frankfurt gebucht, doch da der Zug in Hanau Hauptbahnhof planmäßig hielt, sparten wir uns den zusätzlichen Weg. Meinem Vater gefiel diese Planung meiner Bahnfahrt nicht, er hätte erwartet, dass mir eine Fahrkarte ab Hanau zur Verfügung gestellt würde. Auf dem Bahnsteig sorgte er dafür, dass ich in der Nähe des für mich bereits reservierten Platzes einstieg. Nie zuvor war ich in der ersten Klasse gereist, es war mir sogar peinlich. Ich dachte an das viele Geld, dass für die Zugfahrt in dieser Kategorie bezahlt wurde. Mir hätte ein einfaches Ticket nicht nur gereicht, sondern wesentlich besser gefallen. Die Vorstellung, dass ich mich eventuell in Kürze mit Fremden, mir geistig überlegenen oder zumindest stärker gebildeten Personen unterhalten würde, missfiel mir. Ich hatte Angst davor, mich zu blamieren.

Papa hat mir beigebracht, dass alle Menschen gleich viel wert sind, egal welcher Herkunft sie auch seien. Im Stillen erinnere ich mich oft an seine Worte und sage immer wieder diesen einen Satz zu mir: „Du bist nicht weniger wert als jeder andere Mensch auch, Michelle!“

Ich winkte meinen Eltern so lange wie möglich zu, während sich der ICE in Bewegung Richtung Wien setzte. Erst jetzt schaute ich mich genauer um. Es war ein geräumiges Großraumabteil, auf den ersten Blick war bereits klar, dass es hier wesentlich mehr Beinfreiheit gab als in der zweiten Klasse. Nachdem ich Platz genommen hatte, entdeckte ich die Möglichkeit, mein Handy wie auch mein Notebook gleichzeitig aufladen zu können. Erleichtert ließ ich mich nach hinten in die Lehne fallen. Es war bequem, so würde ich die Fahrt nach Wien gut überstehen, dachte ich. Ich muss dann irgendwie eingeschlafen sein und wurde erst wieder wach als ich eine freundliche Stimme hörte, die fragte, ob jemand Kaffee, Tee oder Kakao möchte. Den Kaffee konnte ich schon riechen, und plötzlich hatte ich das Verlangen, eine Tasse frischen Bohnenkaffee zu trinken. Ich hoffte, dass es kein löslicher Kaffee sein würde. Ich war erstaunt, wie teuer der Kaffee im Zug war. Langsam wurde mir bewusst, dass ich mich wohl zukünftig in anderen Kreisen bewegen würde, und ich seufzte. Eigentlich war das nicht das, was ich wollte. Ich war mir so unsicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, nach Graz zu fahren. Mein ganzes Leben lag noch vor mir und ich redete mir im Stillen gut zu, positiv zu denken.

Nachdem ich meinen Freundinnen von meiner Anstellung in Graz berichtet hatte, nahmen sie nun zum ersten Mal wirklich Notiz von mir. Ich spürte ihren Neid. Natalie lernte im zweiten Lehrjahr Friseurin, sie sagte immer Hairstylistin. Ich dachte damals sogar selbst daran, so eine Ausbildung zu machen, doch meine Eltern rieten mir davon ab, weil in den meisten Betrieben zu wenig Gehalt gezahlt werde. Ich finde das immer noch sehr schade, weil es ja eigentlich ein kreativer, verantwortungsvoller und spannender Beruf ist. Ich habe Natalie dafür bewundert, dass sie sich für diesen Weg entschieden hat. Ich wünsche ihr, dass sie durchhält und irgendwann Karriere als Friseurmeisterin macht. Mein Weg ist nun ein ganz anderer.

Der nächste Halt war auf Gleis neun im Hauptbahnhof von Nürnberg. Ich wollte schon immer mal in diese Stadt. Im Fernsehen hatte ich vor zirka drei Jahren eine Sendung über die schönsten Weihnachtsmärkte Deutschlands gesehen. Seit diesem Tag denke ich jedes Jahr in der Weihnachtszeit daran, wie schön es wäre, einmal persönlich über den Nürnberger Weihnachtsmarkt gehen zu können. Es stiegen zwei junge Männer zu und zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war mir etwas unangenehm, dass sie sich in meine unmittelbare Nähe setzten. Ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder verstohlen zu ihnen hinschaute. Auch konnte ich nicht aufhören, die Gespräche der beiden zu belauschen, eigentlich ist das gar nicht meine Art. Ich war zum einen von ihrem Akzent fasziniert, und zum anderen fand ich beide sehr attraktiv. Kurz vor Plattling drehte der dunkelhaarige den Kopf zu mir und fragte, ob ich bis nach Wien mitreisen würde. Ich nickte. Als ich ihm antworten wollte, versagte mir erst die Stimme, und ich musste mich räuspern, bevor ich ihm mitteilte, dass ich weiter bis nach Graz fahren würde.

„Sehr erfreut! Wir kommen aus Graz, studieren aber derzeit in Wien. Vielleicht können wir mal einen Kaffee zusammen trinken? Kennen Sie unsere Stadt bereits?“

„Nein, leider noch gar nicht, aber ich freue mich schon sehr, sie kennen zu lernen.“

„In vierzehn Tagen sind wir das Wochenende bei unseren Eltern. Wenn Sie mögen, können wir uns treffen. Gerne zeigen wir Ihnen Graz. Meinst du nicht auch, Alexander?“

„Es wäre mir ebenfalls eine Ehre.“ Der Blonde lächelte freundlich und zückte seine Visitenkarte. „Einfach anrufen, wann immer Sie möchten.“

„Danke sehr. Ich beginne eine neue Arbeitsstelle und muss schauen, ob ich an dem Wochenende Zeit habe. Wenn ja, melde ich mich.“

Sie nickten mir zu, und ich holte daraufhin mein Notebook aus der Seitentasche meines Koffers, um mich abzulenken. Mir war warm geworden, und ich war unsicher, wie ich mich nun weiter verhalten sollte. Ich öffnete meine geheime Tagebuchdatei, die ich unter „Leonie Büro“ abgespeichert habe, mir war kein anderer unauffälliger Name eingefallen. Sollte einer der beiden attraktiven Männer neben mir aufstehen wollen, müsste ich den Deckel meines Computers umgehend zuschlagen, damit sie ja nichts merken. Ich entschloss mich dann aber dafür, eine zweite Seite zu öffnen, schließlich war ich im Zug im kostenlosen WLAN-Netz eingeloggt. Auf der zweiten Seite war nun die Tourist Information Region Graz geöffnet. Mit einem Klick konnte ich nun von Leonie Büro auf die Grazer Seite wechseln. Ich entspannte mich wieder und schrieb alles auf, was ich an diesem Tag schon erlebt hatte. Merkwürdiger Weise bekamen die beiden jungen Männer eine ganze Seite in meiner Datei. Ich notierte ebenso das Kinngrübchen Alexanders wie auch das bezaubernde Lächeln seines Sitznachbarn. Ich traute mich nicht, nach seinem Namen zu fragen, sie hatten ja auch nicht nach meinem gefragt. Dafür schienen sie vornehm erzogen zu sein, vielleicht gehörte es sich auch einfach nicht, nach dem Namen einer Frau zu fragen?

Mittlerweile waren wir in Linz angekommen, bis Wien war es nun nicht mehr weit. Ich musste ja schließlich noch weiter nach Graz, deshalb nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sprach die beiden an. „Ich heiße übrigens Michelle Hoffmann und fange bei einer Familie Wagner an. Sie heißen Barbara und Bernhard Wagner, vielleicht kennt ihr sie ja?“ Ich sah, wie sich die Blicke der jungen Männer trafen, und wurde nervös. „Stimmt irgendetwas mit ihnen nicht? Ehrlich gesagt, hat mich euer Blick verunsichert.“

„Nun, pass gut auf dich auf! Mein Vater spielt mit Bernhard Wagner Golf. Er ist ein knallharter Geschäftsmann. Aber ich möchte dir keine Angst machen, jeder Anfang ist schwer.“

„Seid ihr keine Geschwister?“

„Nein, nur gute Freunde. Mein Name ist übrigens Patrick Pichler. Ich würde mich sehr freuen, wenn du dich bei Gelegenheit meldest. Wie schon erwähnt, sind wir in zwei Wochen wieder in Graz. Wir werden dich zum Bahnsteig nach Graz begleiten, wenn du magst. Es ist doch in Ordnung, wenn ich „du“ sage?“

„Ja, beides sehr gerne.“

Alexander und Patrick halfen mir, sicher in meinen Anschlusszug zu gelangen. Zum Abschied drückte ich sogar beide kurz. Ich weiß nicht genau, warum ich das tat, aber ich hatte ein gutes Gefühl bei den beiden, obwohl ich sie gerade erst kennengelernt hatte. Die Freunde schienen leicht überrascht zu sein, so von mir verabschiedet zu werden. Ich sah ihren Gesichtszügen dennoch an, dass sie sich darüber freuten. Patrick rief mir noch nach, dass ich mich jederzeit melden könne, wenn ich Hilfe bräuchte.

Auf dem Weg nach Graz ging mir dieser Blick der beiden nicht mehr aus dem Sinn. In dem Moment, als ich die Familie Wagner erwähnt hatte, waren sie ganz leicht zusammengezuckt. Ich war mir sicher, dass sie mir irgendetwas verschwiegen hatten. „Schade“, dachte ich, „jetzt mache ich mir Sorgen, dass tatsächlich etwas mit meinen Arbeitgebern nicht stimmen könnte.“

Eigentlich hätte ich langsam müde werden müssen, da ich in der vergangenen Nacht vor Aufregung nur sehr wenig geschlafen hatte. Doch ich bekam nun tatsächlich Ängste, einen Fehler begangen zu haben. Mein Vater hatte recht mit der Tatsache, dass er sehr weit entfernt wäre, um ich zu retten, falls es sein müsste.

Ich schrieb meinen Eltern eine Handy-Nachricht, dass ich bereits im Zug nach Graz sitzen und bald dort ankommen würde. Ich schickte noch ein paar Emojis und schloss die Nachricht mit den Worten: „Liebe Grüße, melde mich morgen wieder, Michi“.

Ich musste an so vieles denken, dass ich leichte Kopfschmerzen bekam. Ich trank einen großen Schluck Wasser und versuchte positiv zu denken. Es gelang mir nur mäßig, ich vermisste meine Eltern. Ich fand es merkwürdig, dass ich in dem Augenblick so sehr über meine Entscheidung, weit weg zu gehen, zweifelte. Seit ein paar Jahren hatte ich mir gewünscht, endlich auf eigenen Beinen stehen zu können, und nun war ich kurz davor und wäre am liebsten auf dem nächsten Bahnhof ausgestiegen und wieder umgekehrt.

Bis Graz waren es nur noch zwanzig Minuten, und ich ging noch einmal kurz zur Toilette, um meine Haare zu richten und einen kritischen Blick in den Spiegel zu werfen. Ich sah aus wie immer, das reichte mir. So besonders eitel war ich noch nie.

Ich sah Frau Wagner schon bei der Einfahrt des Zuges auf dem Bahnsteig stehen, offenbar holte sie mich allein ab, Bernhard Wagner schien sich wohl tatsächlich gerade in Südamerika aufzuhalten.

„Michelle!“, rief sie laut, als ich aus dem Zug stieg. Sie machte auf mich den Eindruck, dass sie sich wirklich freuen würde, mich zu sehen.

„Michelle, schön, dass du hier bist, wir freuen uns sehr auf dich. Louis ist auch schon ganz aufgeregt. Sicherlich wird er dich morgen früh wecken. Ich hoffe, das ist für dich in Ordnung.“

„Ja, vielen lieben Dank, dass ich hier sein darf.“

„Wie war denn deine Zugfahrt? Hat alles gut geklappt?“

„Es ist alles gut, es war ein bisschen anstrengend, aber auch schön.“

Mein Magen knurrte, und Barbara nahm das zum Anlass, mich noch schnell auf eine Kleinigkeit zu essen einzuladen.

Ich wunderte mich, dass das Restaurant überhaupt noch auf hatte um diese Uhrzeit. „Sie haben noch bis Mitte zwölf geöffnet. Dann können wir uns gleich noch ein bisschen näher kennenlernen. Eigentlich esse ich prinzipiell um diese Uhrzeit nichts mehr, heute mache ich eine Ausnahme“, sagte sie und lächelte mich freundlich an. Sie wurde gleich mit ihrem Namen begrüßt und ich als „Gnädiges Fräulein“. Es fiel mir schwer, nicht darüber zu schmunzeln. Die Speisekarte hörte sich sehr interessant an, doch ich konnte mich wirklich nicht entscheiden.

„Michelle, so wie dein Magen knurrt, empfehle ich dir einen knackig bunten Salatteller und einen Brotkorb dazu. Was hältst du davon?“

„Sehr gerne, vielen Dank.“

Die Offenbarung der Herrin

Wir saßen an einem der hinteren Tische, das Lokal war auch zu dieser späten Uhrzeit immer noch gut gefüllt. Ich schaute mich vorsichtig um und freute mich schon sehr auf die nahende Mahlzeit. Barbara saß mir gegenüber und kam mit ihrem Kopf etwas dichter zu mir herüber. Genau so, als wollte sie mir ein Geheimnis verraten.

„Weißt du, Michelle“, leise sprach sie zu mir, „es fällt mir nicht leicht, mit dir so kurz nach deiner Ankunft gleich über ein ernstes Thema zu sprechen. Doch für eine langfristige und glückliche Zusammenarbeit gibt es ein paar Regeln für dich, die du zu einhundert Prozent beachten musst!“

Sie verunsicherte mich, und ich wich ein paar Zentimeter zurück.

„Keine Angst, es ist nichts Schlimmes, mir liegt es aber sehr am Herzen, von Anfang an klare Verhältnisse zu schaffen. Mein Mann, also Bernhard, kann seine Triebe manchmal nur schwer unterdrücken. Deshalb bitte ich dich, nicht zu freundlich zu ihm zu sein. Er kann sehr charmant sein, sobald er etwas erreichen will. Ich kann nicht immer in deiner Nähe sein, du musst also selbst auf dich aufpassen. Du musst keine Furcht vor ihm haben, er würde niemals etwas gegen deinen Willen tun, aber er beherrscht die Kunst des Flirtens wie kein Zweiter. Ich liebe ihn sehr, doch manchmal kann ich es nicht verhindern, dass er sich anderweitig vergnügt.“ Sie schaute mich fast schon mit flehenden Augen an, bevor sie fortfuhr. „Ich erwarte von dir, dass du dich mir umgehend mitteilst, sobald er dir zu nahekommt. Und bitte auch dann, wenn du mitbekommst, dass er eine andere Frau als die, die gerade vor dir sitzt, begehrt. Ich hätte so gern, dass wir zwei Freundinnen werden. Leider kann ich den meisten Frauen aus unserem Freundeskreis nicht wirklich trauen.“

Ich antwortete ihr, ohne darüber nachzudenken:

„Auf mich kannst du dich verlassen. Ich werde aufpassen.“

„Michelle, du kannst mich gerne Barbara nennen, aber die Form müssen wir wahren, also, bitte sieze mich!“

„Natürlich, bitte verzeihen Sie mir, Barbara.“

„Genau so ist es perfekt“, sagte sie und lächelte mich wirklich freundlich an. Sie schien überhaupt wie ausgewechselt, nachdem sie mir diese Dringlichkeiten über ihren Ehemann gebeichtet hatte. Sicherlich fiel es ihr sehr schwer, dieses Thema überhaupt anzusprechen.

In dem Moment, als der Kellner uns das Essen servierte, vergaß ich für den Augenblick alles, was sie mir eben noch erzählt hatte, und wir amüsierten uns prächtig. Sie berichtete mir von den großen Fortschritten ihrer kleinen Tochter. Ihr Sohn Louis schien stolz und glücklich über seine kleine Schwester zu sein, was mich wirklich freute. Den Umgang mit kleinen Kindern musste ich erst noch lernen. Bisher hatte ich höchstens einmal ein paar Nachhilfestunden bei Fünftklässlern gegeben. Meine Gedanken konzentrierten sich aber schnell wieder auf diesen sehr leckeren Salat. Barbara schien wirklich eine nette Frau zu sein, dennoch machte sie den Eindruck, nicht glücklich mit Bernhard zu sein. „Es muss verdammt schwer sein, einen Mann zu haben, der ständig darum bemüht ist, nach anderen Frauen zu schauen. Wie muss sie sich jetzt fühlen, da er allein in Südamerika ist“, dachte ich und machte eine Pause, um einen Schluck zu trinken. „Es scheint dir zu schmecken“, freute sich meine Chefin. „Wir können in den nächsten Tagen mal mit Louis hier her gehen, er ist ganz wild nach den Süßkartoffelchips.“

„Sehr gerne, kommen Sie gebürtig aus Graz? Sie sprechen ganz anders als die meisten anderen Menschen hier, Barbara.“

„Das hast du gut erkannt, Michelle, ich bin gebürtige Kielerin und vermisse die Ostsee. Einmal im Jahr fahre ich für ein paar Wochen zu meinen Eltern. Wer weiß, vielleicht werde ich dich eines Tages mit in den hohen Norden Deutschlands nehmen. Wenn du dich um die Kleinen kümmern würdest, könnte ich meinen alten Freundinnen mal wieder einen ausgiebigen Besuch abstatten. Aber keine Angst, das ist Zukunftsmusik, jetzt musst du erst einmal hier bei uns in Graz ankommen.“

Ich sagte nichts dazu, dass sie ebenfalls eine Deutsche ist, hätte ich nicht gedacht. Langsam stellte sich ein Sättigungsgefühl ein, und ich wurde schlagartig müde. Barbara war sehr aufmerksam, sie winkte dem Kellner dezent zu und reichte ihm nach seinem Eintreffen an unserem Tisch eine Kreditkarte. Ich bedankte mich höflich für die Einladung zum Essen. Ich verließ satt und zufriedenen dieses Lokal, dennoch machte ich mir Gedanken über den Umgang mit meinem Chef. Offenbar hatte meine Mutter die richtige Vermutung, als sie mich vor ihm warnte.

Barbara fuhr einen Mittelklassewagen. Auf der Rücksitzbank befand sich ein Kindersitz. Nach einer Viertelstunde drückte sie auf einen Knopf in der Mittelkonsole. Man konnte schon aus einiger Entfernung beobachten, dass sich ein Tor öffnete. Eine geteerte Straße führte zu einem großen beleuchteten Gebäude. Ich war im ersten Moment sprachlos, meine Augen wanderten über das gepflegte Anwesen. Im Dunkeln konnte ich nicht alles genau erkennen, aber das, was ich sah, machte mich sprachlos.

„Ich setze dich gleich vor deiner neuen Haustür ab“, sagte sie lächelnd. „Wir haben uns dazu entschlossen, dir die kleine Einliegerwohnung zu überlassen. Ich komme kurz mit hinein und zeige dir alles.“

Wir stiegen aus, und sie half mir, meinen schweren Koffer wieder aus dem Kofferraum heraus zu bekommen. Barbara ging vorweg und ich zog den Koffer hinter mir her, während meine Augen dabei waren, alles abzuscannen, was ich sah. Ich hatte einen separaten Hauseingang, dahinter befand sich ein kleiner Flur, von dem aus vier Türen abgingen. „Vier Türen! Und das nur für mich!“ dachte ich und war begeistert.

„Schau, Michelle, hier ist dein Bad, und geradeaus ist die Küche. Sie ist sehr klein, aber sicherlich wirst du hier nicht oft speisen, da bei uns im Haus gekocht wird und Sabine hervorragend kochen kann. Du wirst sie morgen früh kennenlernen. Es reicht, wenn du pünktlich um acht Uhr zum Frühstück erscheinst. Alles Weitere erfährst du dann, es ist spät geworden.“ Barbara öffnete eine weitere Tür. „Hier kannst du nächtigen. Für den Fall, dass du mich sprechen möchtest, habe ich dir meine Handynummer auf den Nachttisch gelegt. Es ist schon spät, ich verabschiede mich jetzt. Bis morgen früh und schlafe gut!“

„Gute Nacht, Barbara, vielen Dank für alles.“

Der erste Morgen in Graz

Ich hatte meinen Handywecker auf 6:30 Uhr gestellt, damit ich auf jeden Fall rechtzeitig zum Frühstück erscheinen würde. Viel geschlafen hatte ich nicht, da ich trotz meiner Müdigkeit immer noch so aufgeregt war. Ich war in meinem neuen Leben angekommen, zumindest örtlich, und ich freute mich auch schon sehr darauf, Anastasia und Louis wie auch Sabine und Tabea kennen zu lernen. Ich vermutete, dass Tabea nicht viel älter als ich sein würde, und hoffte, dass wir vielleicht Freundinnen werden könnten.

Natürlich inspizierte ich im Tageslicht als erstes meine kleine Wohnung und war begeistert. Ich hatte sogar eine eigene Terrasse. Mein neues Zuhause war eingerichtet wie eine Ferienwohnung aus einem Prospekt. Ich hatte die Hoffnung, dass ich mich dort wirklich wohl fühlen könnte. Ich hatte sogar einen beeindruckend großen Flachbildfernseher. Sofort musste ich wieder an meine Eltern denken und die gemeinsamen Fernsehabende. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, es war alles so neu für mich und so spannend, wie es weitergehen würde.

Heute muss ich weinen, wenn ich an meine Anfangszeit bei Familie Wagner zurückdenke. Ich war so glücklich und voller Zuversicht, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Vielleicht habe ich das ja sogar getan, und mir ist diese eventuelle Tatsache nur in diesem Augenblick noch nicht bewusst. Ich liege seit Stunden in den Wehen und lasse mein Leben, zwischen diesen unsagbar starken Schmerzen, Revue passieren.

Ein letzter Blick in den Spiegel ließ mich damals voller Vorfreude und Energie den kurzen Weg zum Herrenhaus antreten. Es musste in der Nacht geregnet haben, mir bot sich ein fantastischer Anblick über dieses beeindruckende Anwesen. Die Sonne spiegelte sich in den einzelnen Grashalmen des gepflegten Rasens, überall funkelten kleine Lichtpunkte. Es roch so herrlich nach Sommer und doch irgendwie anders, als ich es von zu Hause gewohnt war. Wir lebten in der Stadt. Obwohl es sich bei dem Anwesen der Familie Wagner offiziell auch um ein Stadthaus handelte, hatte ich in diesem Augenblick das Gefühl, im Urlaub zu sein. Ich erinnerte mich an den Italienurlaub von vor drei Jahren, da roch es ähnlich. Erst jetzt fielen mir diese beeindruckenden Bäume auf, deren Äste über den Weg ragten, den ich gerade dabei war zu gehen. Ich schaute nach oben und erkannte dunkelrote Blätter, ich ging unter den Ästen einer Rotbuche, eine der wenigen Baumarten, die ich zu unterscheiden wusste, hindurch. Genau in diesem Moment kam ein kurzer, aber heftiger Windhauch, und der Baum übergoss mich daraufhin mit einem Schwall Regenwasser. Eine Hitzewallung überkam mich, denn ich hatte keine Zeit mehr zurückzugehen, um mich umzuziehen, wenn ich pünktlich zum Frühstück erscheinen wollte. Und genau das wollte ich auf jeden Fall, so ging ich erhobenen Hauptes mit nassem Haar weiter. Da ich es zu diesem Zeitpunkt nicht besser wusste, benutzte ich den Haupteingang und klingelte. Ich hörte eine laute und melodische Klangfolge dunkler Töne und wurde plötzlich unsicher. Ich kam mir so klein und unbedeutend vor, wie ich in diesem Augenblick vor dieser großen Villa stand.

„Grüß Gott, Sie müssen Michelle sein. Bitte treten Sie ein, mein Name ist Sabine. Seien Sie willkommen, ich werde Ihnen nachher alles zeigen. Jetzt wartet die Herrin auf Ihre Ankunft. Bitte folgen Sie mir, Michelle!“

„Danke sehr“, stammelte ich unsicher und ging hinter ihr her. Sie hatte mich nicht auf meine nassen Haare angesprochen, doch bemerkt hatte sie sie, da war ich mir sicher. Wir betraten einen großen Raum, in dessen Mitte ein Esstisch stand, um den die Familie bereits Platz genommen hatte. Sehr zu meiner Erleichterung stand Louis auf, sobald er mich sah, und kam gleich freudestrahlend auf mich zu gerannt. „Michelle!“, rief er und umarmte meine Beine. Es war gleich ein vertrautes Gefühl zwischen uns beiden, so, als würden wir uns schon länger kennen. Ich streichelte ihm über den Kopf und begrüßte ihn freundlich mit den Worten, dass ich mich ebenfalls sehr freuen würde, ihn kennen zu lernen. „Hast du eben erst geduscht? Deine Haare sind ganz nass“, fragte er mich erstaunt. Ich berichtete ihm von der Windböe, die durch die mit Regenwasser bedeckten Blätter der Rotbuche ging. Louis nickte und meinte daraufhin, dass man dagegen nichts tun könne, der Baum wäre sein Freund. „Louis, setz dich bitte! Wir wollen jetzt frühstücken.“ Barbara sprach mit einem bestimmten, aber dennoch liebevollen Ton zu ihrem Sohn, der daraufhin umgehend der Bitte seiner Mutter nachkam.

Erst nachdem ich mich auf den mir zugewiesenen Platz gesetzt hatte, bemerkte ich, dass weder Tabea,