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Wer kennt sie nicht, die Wasserspeier auf den Kathedralen und Kirchen? Oder die Steinfiguren in den Vorgärten der Stadtvillen? Die Skulpturen geflügelter Wesen, die mit grimmigen Gesichtern in die Ferne blicken. Thira Darson ist eine junge Frau, die seit ihrer Kindheit von eben diesen, Gargoyle genannten, Statuen fasziniert ist. Eines Tages kauft sie eine jener Steinfiguren auf einem Flohmarkt, ohne zu ahnen, dass sich dadurch ihr Leben unwiederbringlich verändern wird. Denn der Stein verbirgt ein großes Geheimnis ...
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Seitenzahl: 533
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Bisher von A. Bogott-Vilimovsky erschienen:
Der Weihnachtsvampir ISBN 978-3-8334-6861-2
Der Weihnachtsvampir, Band 2: Alicia ISBN 978-3-7481-0036-2
Weitere Romane sind in Vorbereitung.
Ich glaube ...
... an Drachen, Elfen, Kobolde, Gargoyles und alle anderen ...
... und an Schutzengel ...
... meiner wurde am 12. November 1941 geboren ...
... 1990 ist er gestorben ...
... und seither begleitet er mich!
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Arizona, 1994
Der Lastwagen raste auf sie zu, die grellen Scheinwerfer blendeten ihre Augen. Gedanken waren nicht mehr möglich, ihre Augen weiteten sich in stummem Entsetzen, als sich plötzlich ein helles, großes Etwas auf sie warf und die Welt um sie herum in dicker, schwarzer Finsternis verschwand.
Schwere, samtene Dunkelheit umgab sie, ein weißes Licht leuchtete in der Ferne, doch die Dunkelheit war warm und verhieß Frieden, unendlichen, immerwährenden Frieden. Dann erbebte diese Welt, als ihr Körper sich unter dem starken Stromstoß aufbäumte. Das weiße Licht kam näher. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, doch die Dunkelheit um sie herum war so friedlich. Wieder erbebte die Welt, stärker diesmal und rückte das Licht in greifbare Nähe. Licht, kaltes, weißes Lampenlicht flutete in ihre offenen Augen. Zwang sie zu zwinkern. Langsam nahm sie Geräusche um sich herum wahr. Menschen, die hektisch herumliefen und durcheinander schrien. Sie versuchte, den Kopf zu wenden, aber etwas hielt sie fest, alles war so weit entfernt, so unglaublich weit. Ein Lichtstachel bohrte sich in ihr rechtes und dann in ihr linkes Auge.
„Können sie mich verstehen?“
Die Frage hing in der Luft, ohne Zusammenhang. Sie versuchte, sich in der Leere ihres Gehirns zurechtzufinden.
„Können sie mich verstehen?“
Was er wohl damit meint?, dachte sie etwas belustigt und dann prasselten die Erinnerungen auf sie ein. Sie schrie auf, als ihr Gehirn sie mit Informationen zu füttern begann und der Schock sich auflöste um den Schmerzen Platz zu machen. Der Arzt sah zu der Unfallstelle hinüber. Dass das Mädchen überhaupt noch lebte, grenzte an ein Wunder. Das Auto, oder was noch davon übrig war, lag rauchend auf der Straße, halb im Graben. Wie sie es geschafft hatte, dort herauszukommen bevor der Wagen in die Luft flog, wusste niemand. Als die Ersthelfer sie fanden, war sie bereits bewusstlos. Sie hatte aufgehört zu schreien, die Schmerzen waren auf ein erträgliches Maß zurückgegangen. Sie zeigten ihr, dass sie noch lebte.
Ein Feuerwehrmann kam zu dem Platz, an dem sie lag. Er kniete sich neben ihr hin, lächelte und gab ihr den kleinen Gegenstand, den er in der Hand hielt. Es war der Gargoyle aus Kunststoff, der immer im Auto gesessen hatte. Seine Schwingen waren etwas angesengt, aber ansonsten war er noch heil geblieben.
„Danke“, war das Einzige, das sie flüstern konnte. Der Feuerwehrmann nickte kurz und erhob sich dann, um mit dem Arzt zu reden.
„Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt“, meinte er zum Notarzt gewandt. Dieser nickte. „Einen Moment dachte ich schon, wir verlieren sie. Was ist mit dem Lastwagenfahrer?“
„Voll bis zum Stehkragen, die haben gerade einen Alko-Test mit ihm gemacht. Wundert mich, dass sie überhaupt noch Blut gefunden haben. 2,4 Promille, das muss man sich einmal vorstellen und dann setzt er sich in seinen verdammten Truck und fährt unschuldige Leute über den Haufen.“
„Nun, so wie es aussieht, wird sie durchkommen. Wer auch immer ihr Schutzengel ist, er hat heute ganze Arbeit geleistet.“
Schutzengel. Das Wort begann in ihren Gedanken zu kreisen, irgendetwas war damit, aber was? Unwillkürlich erinnerte sie sich daran, wie ihre Arbeitskollegin lachend gemeint hatte: Mein Schutzengel müsste jetzt wohl schon wieder aus dem Krankenhaus zurück sein, dann kann ich mein Motorrad ja wieder auspacken.
Jetzt hörte sie das Geräusch eines näherkommenden Helikopters. Der Arzt kam zu ihr und sah sie an.
„Können sie mich verstehen?“
Sie zwinkerte mit den Augen, die Halskrause, die man ihr angelegt hatte, ließ kein Nicken zu.
„Gut, der Hubschrauber wird Sie ins Krankenhaus bringen, wen sollen wir informieren, wo Sie sind?“
„Mutter“, brachte sie mühsam hervor. „Bitte nicht aufregen, ... ist krank.“
Der Arzt nickte. „Sagen Sie mir bitte ihren Namen und die Telefonnummer.“
Sie schloss kurz die Augen, umklammerte mit der einen Hand die kleine Figur, dann schluckte sie schwer und flüsterte: „Thira Darson, ... Mutter heißt Angela.“ Nach einer weiteren Pause nannte sie ihm auch die Telefonnummer. Erschöpft schloss sie abermals die Augen. Der Arzt hatte sich die Nummer notiert und wollte schon aufstehen, als sie nochmals sagte: „Nicht aufregen, bitte, ... Mutter sehr krank.“
Der Arzt nickte, dann stand er auf, um den Sanitätern aus dem Helikopter Platz zu machen.
Wien, April 1999
Thira saß schwer atmend im Bett. Sie wusste, es war wieder dieser grausame Albtraum gewesen. Er verfolgte sie, seit sie aus der Narkose erwacht war. An weiterschlafen würde jetzt nicht mehr zu denken sein. Langsam stand sie auf und ging aus dem Schlafzimmer ins Badezimmer. Das harte Neonlicht über dem Spiegel ließ ihr Gesicht grauenhaft bleich und wächsern aussehen.
„Wie ein Zombie“, warf sie ihrem Gegenüber an den Kopf. Kein Wunder, sie schlief schlecht und das nicht erst seit kurzer Zeit. Am Anfang hatte sich immer wieder der Unfall in ihren Träumen wiederholt und dann war die Einsamkeit dazugekommen.
Ihre Familie war entsetzt gewesen, als sie erklärt hatte, sie würde jetzt ihr eigenes Leben leben wollen. Kurz entschlossen war sie von Zuhause ausgezogen, und nach Wien gegangen, wo ihre Firma eine Niederlassung hatte.
Das war lange her.
Ihr Leben verlief mehr oder weniger eintönig. Die einzigen Lichtpunkte waren die regelmäßigen Treffen mit ihren Freundinnen. Ihre Arbeit machte keinen Spaß, aber sie musste Miete zahlen und sie musste essen. Seufzend wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab und ging in die Küche. Draußen war es noch stockdunkel, der Mond war längst untergegangen und die Lichter der Straßenlaternen reichten nicht bis in den sechsten Stock. Sie stellte Kaffee zu und ging durch das Wohnzimmer zur Balkontür. Regen tropfte von den Topfpflanzen und sammelte sich in dünnen Rinnsalen am Boden. Thira fröstelte und ging wieder in die Küche um sich Kaffee zu holen, danach setzte sie sich ins Bett und ging die Unterlagen für die Abteilungsbesprechung durch. Müde rieb sie sich über die Augen, der letzte Arbeitstag und dann, endlich Urlaub. Sie hatte zwar nur eine Woche, aber das war ihr erster Urlaub seit einem Jahr und sie hatte vor, einfach viel Zeit mit schlafen und lesen zu verbringen. Thira öffnete den Ordner und vertiefte sich in die Unterlagen.
Das Wochenende kam und das Wetter klarte auf, ein seltenes Ereignis. Thira ging im warmen Sonnenlicht zum Naschmarkt hinunter. Jeden Samstag war dort Flohmarkt und sie stöberte gerne in alten Büchern herum. Als sie den großen Marktplatz erreichte, herrschte bereits dichtes Gedränge vor den diversen Ständen. Sie schlenderte durch die Menge, sah sich dieses und jenes an und erstarrte plötzlich.
Neben einem Stand, am Ende der ersten Reihe kniete eine mannshohe Steinfigur auf dem Boden. Die Gestalt hatte große, leicht nach vorne gebogene Schwingen, die sich über Schultern und Rücken hinab krümmten. Langes, steinernes Haar wallte über den kantigen Kopf hinunter und ergoss sich zwischen den Schwingen über den Rücken. Die starken, muskulösen Arme stützten sich auf die Fäuste und die blicklosen Augen sahen zugleich verwundert und verärgert aus. Die Lippen waren zurückgezogen und entblößten große, ebenmäßige Zähne, wobei die Eckzähne länger waren und spitz zuliefen, wie bei einem Raubtier.
Thira ging zu dem Stand und begutachtete die Steinfigur aus der Nähe. Kein Zweifel, vor ihr stand ein Gargoyle. Aber es war nicht nur der übliche halbe Körper eines Wasserspeiers, wie man sie auf vielen Kirchen und Kathedralen vorfand, sondern eine komplette Statue. Eine dicke Patina aus jahrzehntealten Schmutz- und Staubablagerungen überzog den ganzen Körper. In den Ecken und Nischen der Figur hatten sich Moose und Flechten angesiedelt und verliehen dem Ganzen einen noch gruseligeren Ausdruck.
Der Mann, der diesen Stand betreute, kam näher. Er war klein und rund, trug eine goldgefasste Nickelbrille und hatte dichtes, weißes Haar und einen weißen Bart. Er sah aus wie ein gemütlicher Märchenonkel.
„Na, gefällt er Ihnen?“ Seine dunkelgrauen Augen sahen sie an.
„Hm, na ja, er ist ein bisschen groß und sperrig“, erwiderte Thira langsam. Wenn man zu schnell bekundete, etwas haben zu wollen, konnte das den Preis in die Höhe treiben und sie wollte diesen Gargoyle, soviel stand fest. „Was wollen Sie denn dafür haben?“, fragte sie den Mann.
„Oh, also er ist ein wunderschönes Exemplar und so gut erhalten. Aber weil Sie so ein nettes Mädchen sind, gebe ich ihn Ihnen um 5.000 Schilling.“
„5.000?“ Thira zog die Augenbrauen hoch und begutachtete nochmals die Figur. Sie strich mit der Hand über die steinerne Schulter. Es fühlte sich rau aber warm unter ihren Fingern an. Der Sonnenschein hatte den Stein erhitzt, sodass man fast glauben konnte, dass er lebte.
„4.000“, meinte sie an den Mann gewandt.
Der runzelte die Stirn.
„Hören Sie Fräulein, ich habe noch genügend andere Kunden, die sich für dieses Prachtstück interessieren.“
Thira sah ihn an: „Na so ein Prachtstück ist das auch nicht! Unter all dem Dreck kann man ja kaum erkennen, ob die Figur unbeschädigt ist!“
„Ach, das bisschen Dreck hat ihn bestenfalls konserviert“, meinte der Verkäufer mit hochgezogenen Schultern. Sie blickten sich stumm an. Er seufzte. „4. 700.“
„4.500 und sie sorgen für den Transport!“, sagte Thira und streckte die Hand aus.
„Aber wie soll ich das denn machen, ich habe doch keine Männer, die mir dabei helfen?“ Er wirkte echt verzweifelt. Thira lächelte kühl.
„Wie haben Sie ihn denn hierhergebracht?“, wollte sie nun wissen. Er stockte, dann lachte er und zwinkerte ihr zu.
„Mädel, Mädel, also gut, sagen wir 4.600 und mein Sohn bringt ihn heute Abend vorbei, einverstanden?“
„Einverstanden“, sagte Thira und schüttelte dem Mann die Hand. „Ich gehe schnell zum Geldautomaten und hole das Geld, lassen sie ihn bloß nicht weglaufen.“
„Nur keine Sorge“, sagte er lachend. „Abgemacht ist abgemacht.“
Als Thira mit dem Geld wieder zurückkehrte, war fast alles, was noch auf dem Tisch gelegen hatte, verkauft. Die Steinfigur stand jedoch unangetastet an Ort und Stelle. Der Mann sah sie kommen und ging ihr freudestrahlend entgegen. Thira gab ihm das Geld und er sagte: „Mein Sohn und sein Freund werden gegen acht Uhr bei Ihnen sein. Hier ist meine Karte“, sagte er. Thira las den Namen: Wilhelm Tomsmond. Er lächelte sie gewinnend an und reichte ihr einen Zettel und einen Stift. „Wenn Sie mir jetzt bitte noch die Adresse geben würden.“ Sie nickte und schrieb ihm alles auf. Nachdem alles geklärt war, verließ Thira den Markt und ging nach Hause.
Pünktlich um acht Uhr trugen zwei große Männer unter Keuchen und Schnaufen den Gargoyle in ihre Wohnung und platzierten ihn auf dem Balkon. Thira bedankte sich bei den Beiden und gab auch noch ein großzügiges Trinkgeld. Dann war sie allein mit der riesigen Figur, die fast den gesamten Balkon für sich beanspruchte.
Nachdenklich stand sie draußen und betrachtete ihre neueste Errungenschaft, als das Telefon klingelte. Thira ging ins Wohnzimmer und hob den Hörer ab.
„Ja bitte?“
„Thira“, flötete Katharina ihr ins Ohr. „Wie geht’s dir denn so?“
„Oh, danke gut, was gibt’s?“
„Ich wollte fragen, ob du mit in die Stadt gehst, aber du warst nicht zu erreichen. Was hast du denn gemacht?“
„Ich war am Flohmarkt. Wo und wann soll ich denn in der Stadt sein?“
„Ich dachte am Stephansplatz, so gegen neun“, antwortete Katharina.
„Gut“, meinte Thira. „Dann bis neun!“ Damit verabschiedete sie sich von ihrer Freundin und legte auf. Sie sah auf die Uhr, gleich halb neun, dann musste die Figur halt noch bis zum nächsten Tag warten.
Thira streckte sich im Bett und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Es war sehr spät geworden, aber wenigstens hatte sie ohne Albtraum geschlafen. Sie dachte daran, dass sie jetzt im Urlaub war und ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Keine Firma, eine ganze Woche lang, wie schön. Sie stand auf und zog sich an, dann machte sie sich ein kleines Frühstück und ging hinaus auf den Balkon. Mit einem nachdenklichen Blick ließ sie sich auf dem Klappsessel gegenüber der Steinfigur nieder und sah sie an.
„Na du?“, fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten. „Hast du auch gut geschlafen?“
Sie lachte leise über sich selbst, stand wieder auf und holte eine Bürste mit harten Borsten aus der Abstellkammer. Vorsichtig begann sie, die Flechten, Moose und den Staub von der Statue zu kehren, als sie zwischen den Schwingen etwa auf Höhe des Halses an einem Gegenstand hängen blieb. Unter der Bürste begann etwas zu glitzern. Thira strich mit den Fingern über den Schmutz und kratzte mit dem Fingernagel darüber. Ja, da war etwas Silbernes darunter. Sie holte einen feuchten Lappen und legte das silberne Halsband Stück für Stück frei. Bald glänzte das Schmuckstück in der Sonne. Es sah so aus, als wäre es dem Gargoyle vor sehr langer Zeit umgelegt worden, denn es war in einer dicken Schicht an Ablagerungen eingebettet. Thira beugte sich vor und betrachtete das Halsband genauer. Es sah aus, als hätte es überhaupt keinen Verschluss. Aber irgendwo musste schließlich ein Riegel oder Schnapper sein, so ein Halsband konnte man doch nicht einfach überstreifen? Sie fuhr mit dem Finger unter das Metall und stellte fest, dass es relativ eng saß. Thira kniete sich vor die Figur. Die steinernen Zähne waren jetzt direkt vor ihr und die Augen sahen sie vorwurfsvoll an.
„Ist ja gut, ich tu‘ dir schon nichts“, murmelte sie geistesabwesend, während ihre schlanken Finger tastend über das Band glitten. Das Silber war sorgfältig gehämmert und gebogen worden, keine Kanten oder Rillen waren erkennbar. Doch als sie mit dem Finger den oberen Rand entlang glitt, ertastete sie weiter drinnen einen feinen Stift. Sie stand auf, um sich das aus der Nähe anzusehen. Ja, tatsächlich, da war ein Stift. Mit dem Fingernagel zog sie vorsichtig daran und auf einmal fiel das Halsband klirrend zu Boden.
Thira bückte sich und hob es auf. Es glitzerte und glänzte im Sonnenlicht, blieb jedoch eiskalt. Die eingearbeiteten Runen schienen sich zu bewegen, als sie es vorsichtig drehte, um es genauer betrachten zu können. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken hinab. Sie klickte den Verschluss wieder zusammen und trug das Band hinein, wo sie es in eine Schublade unter ihrer Vitrine fallen ließ. Dann kehrte sie zurück. Die Figur wirkte seltsam nackt ohne das Halsband.
Um genau zu sein, dachte sie. Diese Figur ist nackt!
Es war zumindest kein Kleidungsstück zu sehen, jedoch konnte sie auch nicht sicher sein, da er so zusammengekauert war, dass man sowieso nichts erkennen konnte. Sie griff wieder nach der Bürste und befreite die Figur auch noch vom restlichen Schmutz. Schließlich richtete sie sich auf, drückte ihren Rücken durch, der schon wieder schmerzte und betrachtete ihr Werk. Wer immer der Bildhauer gewesen war, hatte ganze Arbeit geleistet!
Die Gesichtszüge waren fein herausgearbeitet und sie glaubte sogar ein wenig Schmerz in den überraschten Augen zu erkennen. Die Haare sahen aus, als wären sie mitten in der Bewegung erstarrt und die Muskeln an Armen und Beinen erweckten den Eindruck, dass der Gargoyle zum Sprung ansetzte. Thira grübelte, was den Künstler wohl zu dieser Statue inspiriert haben konnte. Und wo hatte er gestanden? Als Wasserspeier war dieser Gargoyle offensichtlich nicht gedacht. Eine Weile stand sie noch da und überlegte, dann zuckte sie mit den Schultern und ging wieder in die Wohnung um sich an ihren Computer zu setzen.
Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden und färbte den Himmel in Schattierungen von Scharlachrot bis hellorange, als Thira ein lautes Krachen vom Balkon hörte. Sie lief hinaus und blieb wie angewurzelt stehen.
„Oh my Gosh!“, entfuhr es ihr.
Die Steinfigur war verschwunden, an ihrer Stelle stand ein riesiger und ziemlich lebendiger Gargoyle, der sie aus trüben Augen anblickte. Thira starrte mit offenem Mund auf dieses Wesen, dann fiel ihr Blick auf den Boden, der mit Steinen und Trümmern übersät war.
„Was ist denn hier passiert?“, fragte sie und sah ihn anklagend an. Sie war so erschrocken, dass sie abwechselnd englisch und deutsch sprach. Der Gargoyle blickte sie nur verständnislos an. Dann verdrehte er die Augen und fiel mit einem ohrenbetäubenden Krachen direkt vor ihre Füße, wo er leblos liegen blieb.
Thira war erschrocken zurückgewichen, doch jetzt kam sie vorsichtig näher und beugte sich über ihn. Er lag halb auf dem Bauch, die großen Schwingen bedeckten fast den ganzen Boden. Vorsichtig hielt sie ihm einen Finger an den Hals und konnte seinen kräftigen Puls fühlen. Er schlief also nur. Stirnrunzelnd richtete sie sich auf. Was sollte sie nur mit ihm machen, was, wenn er das nächste Mal aufwachte und wild um sich schlug? Einem Kerl dieser Größe konnte sie nichts entgegensetzen. Schließlich siegte die Vernunft, er war ganz offensichtlich viel zu schwach, um irgendetwas zu tun, geschweige denn, sie anzugreifen.
Sie stand auf und holte zwei Decken und ihre Jacke aus der Wohnung. Auf dem Weg hinaus nahm sie auch noch ein Kissen von der Couch mit. Die beiden Decken breitete sie über seinem Körper aus, nachdem sie versucht hatte so viele Steine wie möglich unter ihm hervorzuziehen. Schließlich hob sie seinen Kopf hoch und bettete ihn auf das Kissen. Thira zog ihre warme Jacke an und ließ sich auf dem Klappsessel nieder.
Im Licht der untergehenden Sonne beobachtete sie, wie sich seine Schultern im Takt seines Atems langsam hoben und senkten. Er hatte eine dunkle, leicht olivbraune Hautfarbe und sehr dunkles Haar. Die großen Schwingen, die unter den Decken hervorstanden, hatten an der Oberseite die Farbe seiner Haut, waren jedoch an der Unterseite samtig braun.
Jede Sage fußt auf einem Körnchen Wahrheit, dachte sie, als sie ihn betrachtete. Wie lange mochte er wohl aus Stein bestanden haben? Vielleicht hatten ihn die Menschen damals gefürchtet und deshalb seine steinernen Kollegen gebaut, die auf zahlreichen alten Gebäuden saßen und das Wasser vom Dach ableiteten. Sie hoffte stark, dass er sich soweit erholte, um ihr davon berichten zu können.
In diese Überlegungen versunken schlief sie ein.
Thira erwachte durch ein leises Geräusch. Die Nacht um sie herum war dem Morgen gewichen und die ersten schwachen Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg zu ihr. Sie hörte ein Stöhnen und als sie zu der Gestalt am Boden sah, hatte sich diese zu einem Ball zusammengerollt. Erschrocken registrierte sie,dass die mächtigen Schwingen sich langsam zurückzogen. Die Ursache für das Stöhnen. Er hatte ganz offensichtlich Schmerzen.
Seine Hautfarbe veränderte sich, wurde heller, das scharfkantige Gesicht wurde sanfter und die langen Klauen an seinen Fingern wichen normalen Fingernägeln. Langsam streckte sich die Gestalt am Boden wieder aus, doch jetzt war er einfach ein Mann und kein Wesen aus Sagen und Legenden mehr.
Thira war in die Küche gelaufen und hatte sich ein Messer geholt, jetzt kam sie sich komisch dabei vor und ging langsam wieder zum Klappsessel zurück. Angespannt setzte sie sich hin und beobachtete den Mann, der da vor ihr auf dem Boden lag.
Torin öffnete langsam die Augen und nahm verschwommen wahr, dass die Sonne schien. Ihm war heiß obwohl die Strahlen auf seinem Gesicht noch keine Kraft besaßen. Er zwinkerte, um wieder etwas sehen zu können. Seine Augen wanderten weiter und er konnte Einzelheiten erkennen, mit denen er jedoch nichts anzufangen wusste. Schließlich sah er ein paar Füße, die in blauen Hosenbeinen steckten. Sein Blick wanderte weiter hinauf und er registrierte erstaunt, dass ein Mädchen auf ihn herabblickte.
Sie saß auf einem Sessel und hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt. Ihr schmales, herzförmiges Gesicht ruhte auf den Händen. Sie sah ihn ruhig aus blauen Augen an. Er drehte sich langsam und verzog das Gesicht. Etwas Spitzes, Hartes grub sich schmerzhaft in seine Hüfte. Vorsichtig setzte er sich auf und raffte im letzten Moment die Decken um sich, als ihm auffiel, dass er nichts anhatte.
Thira beobachtete ihn, als er sich aufsetzte und dann schnell die Decke zurecht zog, eine leichte Röte begann sich vom Hals aufwärts auszubreiten und unwillkürlich musste sie lächeln.
„Willkommen“, sagte sie sanft, um ihn nicht zu erschrecken. Er sah sie verwirrt an, antwortete aber nicht.
Thira versuchte es auf Englisch: „Welcome!“ Sie sah ihn fragend an. Seine dunkelgrünen Augen ruhten auf ihr und sie registrierte, dass sie mit goldfarbenen Sprenkeln versehen waren.
„Where am I?“, brachte er schließlich nach mehreren erfolglosen Versuchen heraus.
„Vienna, Austria“, erklärte sie ihm.
Er nickte schwach, dann flüsterte er: „Danke“.
Thiras Augenbrauen schossen in die Höhe und er musste lächeln. „Du sprichst Deutsch?“ Er nickte nur und verzog abermals das Gesicht, als er neuerlich gestochen wurde. Schließlich zog er einen etwa faustgroßen Stein unter sich hervor und betrachtete ihn nachdenklich.
„Was ist das?“, krächzte er und sah sie an.
„Bis gestern Abend warst du noch eine Steinfigur. Das ...“ Sie deutete auf die Steine, die überall herumlagen. „Ist alles, was davon übrig ist.“
Er wog den Stein nachdenklich in der Hand. „Dachtest du, ich würde dich angreifen?“, fragte er schließlich mit einem Blick auf das Messer. Thira blickte kurz neben sich. „Nun ja, bis vor Kurzem warst du noch ein Gargoyle. Ein lebendiger Gargoyle.“
„Woher weißt du das?“, fragte er überrascht.
Thira grinste. „Was ein Gargoyle ist?“ Er nickte.
„Ist so eine Passion von mir. Mich interessieren die mystischen Figuren: Gargoyles, Drachen und alles was dazugehört.“
„Ah“, machte Torin und setzte sich ein Stück weiter auf. „Das erklärt vieles.“
Thira richtete sich auf. „Was denn?“, fragte sie lauernd.
Torin lächelte schwach. „Ich war aus Stein, dann war ich ein lebendiger Gargoyle und jetzt bin ich ein Mann ...“ Er sah sie ruhig an. „Und du bist immer noch hier ...“
Thira ersparte sich eine Antwort und zuckte nur lächelnd mit den Schultern. Torin blickte auf seine Hand. Nach all der Zeit war er wieder ein Mensch. Plötzlich kam eine Erinnerung zurück und er fuhr mit der Hand zum Hals.
„Das Halsband, wo ist es?“
Thira seufzte, stand auf und holte es. Sie reichte es ihm, doch er zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt.
„Ja, ich mag es auch nicht, es fühlt sich ...“ Sie suchte nach dem richtigen Wort. „Es fühlt sich irgendwie seltsam an.“
„Bitte!“ Er schloss gequält die Augen. „Nimm es weg!“ Sie nickte und verstaute das Band wieder in der Vitrine.
Als sie zurückkam, hatte er sich am Geländer hochgezogen und stand schwankend da, eine Hand krampfte sich um die Decken, die andere grub sich in das Metall. Er hatte die Augen geschlossen, um die Übelkeit und das Schwindelgefühl zu unterdrücken.
Thira trat neben ihn: „Komm´ ich helfe dir hinein.“ Sie griff nach seinem Arm und legte ihn sich um die Schultern. Und nachdem er fast gestolpert wäre, stützte er sich auch schwer auf sie und sank schließlich mit einem dankbaren Seufzen auf die Couch.
Thira ging in die Küche und griff nach einem Glas, dann schüttelte sie den Kopf. Ein Glas würde er womöglich zerbrechen. Sie hatte keine Ahnung, aus welcher Zeit er stammte. Jedenfalls sprach er eigenartig und manche Worte hörten sich seltsam an, so wie er sie betonte. Kurz entschlossen füllte sie einen Keramikbecher mit Wasser, dann ging sie zurück ins Wohnzimmer.
Torin war an der Rückenlehne des Sofas hinabgerutscht und hatte den Kopf nach hinten gelegt, die Augen geschlossen. Alles um ihn drehte sich und er musste sich zusammenreißen, um sich nicht zu übergeben. Gerüche, Geräusche und andere Empfindungen prasselten auf ihn ein und ließen das Schwindelgefühl noch stärker werden.
Thira beugte sich zu ihm.
„Hier“, sagte sie leise und reichte ihm den Becher. Er öffnet die Augen und blickte das Gefäß an.
„Was ist das?“
„Nur Wasser, du solltest etwas trinken.“
Er griff nach dem Becher und musste ihn dann mit beiden Händen halten, weil er so stark zitterte. Der Schock setzte langsam ein und seine Nerven begannen leicht zu flattern. Vorsichtig nahm er einen Schluck und ließ die kühle Flüssigkeit durch seine ausgetrocknete Kehle laufen. Er schloss wieder die Augen während er einen Schluck nach dem anderen trank.
Thira hatte sich auf einen Sessel gesetzt und beobachtete ihn. Er war groß, sie schätzte ihn auf ungefähr eins neunzig. Seine Muskeln zeichneten sich unter seiner Haut deutlich ab, waren aber nicht überproportioniert. Die Haut hatte jetzt einen warmen Braunton angenommen und zeigte nicht mehr die krankhafte Blässe von vorhin. Er hatte lange, schlanke Finger und relativ schmale Hände. Die Beine hatte er jetzt unter dem Couchtisch ausgestreckt. Das lange, dunkelbraune Haar war mit unzähligen Goldfäden durchzogen, die im Sonnenlicht glänzten.
Sie betrachtete das fein geschnittene Gesicht mit dem ausgeprägten Kinn, der geraden Nase und den hohen Wangenknochen. Seine Augenbrauen überschatteten die dunkelgrünen Augen, die sie jetzt unter feinen, dichten Wimpern hindurch anblickten. Ein leichtes Lächeln umspielte die schmalen Lippen und ließ die Augen aufblitzen.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte er jetzt mit einer tiefen, angenehmen Stimme, aus der jegliches Krächzen verschwunden war.
„Thira Darson und du?“
„Mein Name ist Torin Stevenson.“ Er blickte sie an, als sie ein leises Kichern nicht unterdrücken konnte. Seine Brauen zogen sich zusammen. „Was?“, blaffte er.
„Torin? Ernsthaft?“
„Ja, mein Vater hatte eine Vorliebe für die nordischen Sagen. Außerdem war einer meiner Vorfahren ein Wikinger!“
„Okay, okay!“ Sie hob die Hand.
„Ganz so alltäglich ist Thira auch nicht!“, grummelte er.
„Ja, meine Eltern hatten eine Vorliebe für griechische Inseln.“ Sie grinste ihn an. „Besonders Santorin.“
„Ah, daher kannte ich das!“ Er lächelte und ihr wurde warm.
„Du kennst also Santorin?“
„Nur aus Erzählungen.“ Torin setzte sich auf und steckte die Decke um sich herum fest. „Wie hast du mich eigentlich gefunden und befreien können?“
„Ich hab dich gekauft“, erwiderte Thira schmunzelnd und betrachtete ihn aufmerksam. Er war zusammengezuckt.
„Wie bitte?“ Er sah entsetzt aus. „Wo ...?“.
„Auf einem Flohmarkt“, erwiderte sie und als er sie verständnislos ansah, fügte sie erklärend hinzu: „Das ist ein Markt, wo man alte Sachen zu billigen Preisen kaufen kann.“
Er krauste die Stirn, als ein plötzlicher Schmerz ihn durchzuckte.
„Ich wurde als alte Sache gehandelt?“ Er war schockiert, was kam als Nächstes? Und was war das überhaupt für eine Zeit in der man Gargoyles, wie wertlose alte Dinge behandelte?
„Tja, ich schätze, die wussten nicht, was sie da hatten und um ehrlich zu sein ...“ Sie biss kurz die Zähne zusammen. „Ich wusste es auch nicht. Du musst sehr lange in Stein gebannt gewesen sein. In unserer Zeit kennt man eure Spezies nur mehr aus dem Kunstunterricht und da nur als Wasserspeier.“
„Na die gab es zu meiner Zeit auch schon“, sagte er leise. Dann beugte er sich vor, den Becher in den Händen drehend. „Welches Jahr haben wir jetzt?“ Den Atem anhaltend wartete er auf ihre Antwort.
„Wir schreiben jetzt das Jahr 1999“, antwortete Thira und ließ ihn nicht aus den Augen. Er schloss die Augen, lehnte sich erneut zurück und ließ den Kopf sinken.
„Gott! Dann habe ich mehr als fünfzig Jahre verloren“, flüsterte er nur und versuchte, den Kloß in seiner Kehle hinunterzuschlucken. Dann hob er den Kopf und blickte in ihre Augen. „Mein Sohn ist mittlerweile alt.“
Eine einsame Träne rollte über seine Wange und er wandte den Blick ab. Er wollte sie nicht sehen lassen, dass es ihn schmerzte, am Leben zu sein und Familie und Freunde alt oder tot zu wissen. Plötzlich fühlte er die Nähe eines warmen Körpers neben sich und sah zur Seite. Sie hatte sich neben ihn gesetzt und griff nach seinen Händen, die immer noch den Becher umklammerten. Sanft löste sie seinen Griff, stellte das Gefäß auf den Tisch und nahm seine Hände in ihre.
„Wenn er noch lebt, werden wir ihn finden, Torin. Ich werde dir dabei helfen, so gut ich kann. Ich kann dir nur leider die verlorenen Jahre nicht zurückgeben, so gerne ich das auch möchte.“ Sie blickte ihn fest an. „Du bist nicht allein, es sei denn du möchtest es“, fügte sie mit einem besorgten Blick hinzu. Schwer atmend sah er sie an.
„Wie kann ich weiterleben? Wieso ...?“ Die Worte erstarben auf seinen Lippen, als sie ihn zu sich zog und seinen Kopf an ihre Schulter bettete. Dann endlich konnte er weinen um all die Jahre, die man ihm gestohlen hatte und um die Menschen, die für immer verloren waren.
Thira saß in der Küche und frühstückte so leise wie möglich. Torin hatte den restlichen Tag gebraucht, um zu verstehen, was geschehen war und dann hatte mit der Dämmerung die Verwandlung eingesetzt. Jetzt schlief er, wieder ein Mensch, auf der großen Bettcouch im Wohnzimmer und sie wollte ihn nicht stören. Die Emotionen, die Verwandlungen und die lange Verbannung hatten ihn offenbar ziemlich erschöpft.
Nachdenklich starrte sie auf das Holz des Tisches, ohne wirklich etwas zu erkennen. Mit den Gedanken weit fort versuchte sie, sich das Geschehene zu erklären. Es gab sie also, die Gargoyles, und der lebende Beweis lag bei ihr im Wohnzimmer. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Wie konnte jemand ein so wundervolles Geschöpf so grausam behandeln? Es war unmenschlich!
Dieses Halsband war eindeutig magisch, etwas, das in ihrer Welt eigentlich nicht existieren sollte. Magie war schon lange verbannt worden, Dinge, die man nicht sehen konnte, durften auch nicht sein. Die Menschen verwendeten den Begriff Gargoyle heutzutage für alles Mögliche. Aber dieser Mann, dieses Wesen, oder was auch immer in ihrer Wohnung, war echt. Sie hatte ihn berührt, hatte gesehen, wie er sich verwandelte und sie hatte ihn getröstet. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste einzuschlafen und fünfzig Jahre später wieder aufzuwachen. Ihre Familie lebte in Phönix/ Arizona, aber sie waren da. Sie konnte sie jederzeit anrufen und mit ihnen sprechen. Torin hatte möglicherweise niemanden mehr.
Der Kaffee war mittlerweile kalt geworden, aber das registrierte sie nicht, genauso wenig bemerkte sie den Mann hinter sich.
Torin stand in der Tür und beobachtete sie. Sie saß nun schon eine ganze Weile still da und starrte in die Ferne. Vorsichtig räusperte er sich und sie fuhr herum. Das lange rotblonde Haar fiel in weichen Locken lose über ihre Schultern. Ihre dunkelblauen Augen blickten ihn an. Die hohen Wangenknochen wurden durch den sanften Schwung des Kinns noch betont. Die zarte, dunkle Linie der Augenbrauen wölbte sich über den, von dichten Wimpern umkränzten Augen. Die vollen Lippen verzogen sich jetzt zu einem freundlichen Lächeln. Sie erhob sich und er stellte fest, dass sie kleiner war, als er in der Nacht gedacht hatte. Sie war schlank, hatte aber ausgeprägte, weibliche Formen.
„Hallo“, sagte sie schüchtern.
Er sah sie an. „Hallo, ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid.“
„Ist schon okay, ich war nur in Gedanken versunken. Kaffee?“
„Ja, bitte.“
Er ging um den Tisch herum und setzte sich auf einen freien Sessel. Thira brachte ihm eine Tasse und stellte Milch und Zucker vor ihn hin.
„Wie fühlst du dich?“, fragte sie vorsichtig lächelnd.
„Oh, ganz gut denke ich.“ Er überlegte kurz. „Wenn man bedenkt, dass ich fünfzig Jahre älter bin: ja, es geht mir ganz gut!“ Er nickte zur Bestätigung seiner Worte. Vorsichtig hob er die Tasse an die Lippen und kostete. „Der ist aber ganz schön stark!“ Er begann Zucker in die schwarze Flüssigkeit zu schaufeln und hielt inne, als er bemerkte, dass sie ihn fasziniert beobachtete.
„Was ist?“
„Oh, nichts, ich dachte nur gerade, dass ich vielleicht den Kaffee in die Zuckerdose hätte leeren sollen.“
„Ich hab’s gern süß!“, schnappte er und sah sie mit funkelnden Augen an. Dann klappte er die Zuckerdose zu und begann in der Tasse umzurühren.
„Torin?“
„Ja?“
Thira wusste nicht so ganz, wie sie fragen sollte, und lächelte ihn nervös an. „Ich habe mich gefragt ...“
„Was denn?“ Er beobachtete sie amüsiert, weil sie plötzlich erstaunlich jung wirkte.
„Wieso bist du eigentlich so stark?“
„Bitte?“ Er zog die Brauen hoch.
Thira räusperte sich. „Ich meine, wieso kannst du dich nach fünfzig Jahren im Stein so gut bewegen?“ Sie blickte ihn unsicher an. „T´schuldigung, ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Schon gut“, winkte er ab. „Ich glaube, die einfachste Erklärung ist der Gargoyle in mir.“ Er überlegte kurz und senkte den Kopf. „Und vermutlich das Halsband“, schloss er mit leiser Stimme.
„Was genau ist das für ein Halsband?“, hakte sie behutsam nach.
„Ich hab ehrlich keine Ahnung.“ Er sah in den Kaffee hinab, dann hob er den Blick. „Was immer es ist, es hat mich verändert.“
„Inwiefern?“
„Ich kann den Gargoyle nicht mehr kontrollieren.“, erklärte er und als sie ihn verständnislos ansah, ergänzte er: „Ich sollte mich nicht verwandeln müssen. Aber irgendetwas zwingt mich jeden Abend und Morgen dazu.“
Thira betrachtete ihn beklommen. Das klang auf jeden Fall nicht gut!
Sie holte tief Luft und beugte sich vor. „Auch das wird sich irgendwann ändern. Was immer mit dem Halsband los ist, die Wirkung wird bald nachlassen!“, erklärte sie ihm mit einer Überzeugung, die sie nicht wirklich haben konnte.
„Hoffentlich“, sagte er leise. „Aber das können wir beide nicht wissen, oder?“
„Nein ...“, musste sie ihm recht geben. Sie schwiegen eine Weile, dann atmete Thira tief ein. „Torin ... Kannst du dich noch daran erinnern, wie dir das Halsband umgelegt wurde?“
„Ja“, sagte er knapp und in einem Tonfall, der sie davon abhielt, in diesem Moment weitere Fragen über die Umstände seiner Verbannung zu stellen.
Um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken meinte sie: „Ich werde dich kurz verlassen um was zum Anziehen für dich zu kaufen. Sonst musst du die ganze Zeit mit einer Decke um die Hüften herumrennen.“ Sie lächelte ihn an. „Ist allerdings ein sehr reizvoller Gedanke.“
Seine Augen verengten sich, aber er ging fürs Erste nicht darauf ein. Er knurrte etwas und trank seinen Kaffee aus, wobei er keine Miene verzog, obwohl es wie Sirup schmeckte, diese Freude gestand er ihr nicht zu. Sie wollte schon aufstehen, als er den Blick erneut hob.
„Thira?“
„Ja?“
„Ich kann mir die Sachen nicht leisten, ich habe kein Geld.“
„Ist schon okay, ich bezahle das einstweilen und du gibst mir das Geld zurück, wenn wir deine Verwandten gefunden haben.“
Ein Schatten huschte über seine Augen. Leise sagte er: „Wenn wir sie finden.“ Thira sah ihn an und legte eine Hand auf seinen Arm.
„Torin, wenn jemand von deinen Verwandten oder Freunden noch lebt, dann werden wir sie finden.“
Er seufzte. „Ich weiß, es ist nur so lange her.“
Forschend blickte sie ihn an. „Ist alles okay? Kann ich dich allein lassen, oder soll ich lieber noch eine Weile bleiben?“
„Ja, ja, alles in Ordnung, geh nur. Ich komme schon zurecht und außerdem kann ich so ja doch nicht hinausgehen.“ Er sah demonstrativ an sich hinunter.
„Okay, also bis später dann“, meinte sie lächelnd, ging ins Vorzimmer und zog sich Jacke und Schuhe an, dann schnappte sie ihre Handtasche und verließ die Wohnung.
Torin sah sich um, das Wohnzimmer war nicht sehr geräumig, aber gemütlich eingerichtet. Ein praktischer Wandverbau aus hellem Holz nahm die eine Wand ein, ein Schreibtisch mit anschließenden Regalen die andere. Mitten im Raum thronte ein großer, niedriger Tisch, auf dem sich Magazine und Post stapelten. Neben dem Tisch stand die Bettcouch, auf der er geschlafen hatte. Er begann einen Rundgang durch die Wohnung zu machen und begutachtete die einzelnen Räume. Klein, aber funktionell eingerichtet war diese Wohnung. Für zwei Personen aber ein bisschen zu klein.
Er streckte sich erschöpft. Die Nachwirkungen der Wiedererweckung und der ständige Kampf gegen die Verwandlung ermüdete ihn immer noch. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, und sah sich die Bücher an. Hauptsächlich Märchen und fantastische Geschichten. Ein Buch jedoch erregte seine Aufmerksamkeit: ‘Atlas zur Weltgeschichte’. Es war ein kleines, unscheinbares Buch mit blauem Einband. Er nahm es aus dem Regal und ging damit zur Bank zurück. Dort legte er sich auf den Bauch, stopfte ein Kissen unter seine Brust und begann zu lesen.
Als Thira mit Einkaufstüten bepackt, zurückkam, fand sie ihn auf dem Sofa vor. Sein Kopf lag auf dem Kapitel ‘2. Weltkrieg’ und er schlief tief und fest. Sie lächelte, holte eine Decke und breitete sie über ihn, dann ging sie in die Küche um die Lebensmittelvorräte auszupacken.
Der köstliche Duft nach Essen weckte ihn und sein Magen begann lautstark zu knurren. Als er sich von der Bank erhob, kam sie gerade ins Wohnzimmer.
„Guten Morgen!“ Sie lächelte: „Hungrig?“ Wie zur Antwort knurrte sein Magen abermals. Thira lachte, weil ihm die Röte ins Gesicht stieg. Torin blickte entzückt auf die kleinen Grübchen, die sich plötzlich auf ihren Wangen bildeten.
„Tja, ich schätze, das ist nicht zu überhören“, meinte er amüsiert. Sie nickte.
„Es dauert noch ein bisschen. In der Zwischenzeit ...“ Sie griff nach einem großen Plastiksack und stellte ihn auf den Tisch. „... kannst du das hier anprobieren. Aber bitte die Preisschilder dranlassen, für den Fall, dass es nicht passt.“ Er griff nach der Jeans, die sie ihm reichte und hielt sie sich an die Hüften.
„Müsste passen“, sagte er und blickte auf.
Thira grinste. „Soll ich mich umdrehen?“
Er schnaubte leise, schnappte sich die Kleidungsstücke, wandte sich mit einem Ruck ab und verschwand im Schlafzimmer.
Thira war in der Küche, als er zu ihr kam. Er hatte das Shirt nicht in die Hose gesteckt und die enge Jeans ließ ihn etwas schmaler wirken. Ja, er sah wirklich gut aus, dachte sie bei sich.
„Passt alles?“, wollte sie wissen und er nickte. „Ja, danke.“
„Kann ich helfen?“, fragte er dann und sah sie erwartungsvoll an. Wenn sie überrascht war, zeigte sie es nicht, sie wies nur auf einen der oberen Kästen.
„Kannst du mir bitte zwei Teller von da oben heruntergeben?“ Torin trat an den Schrank und stieß mit dem Fuß gegen die kleine Trittleiter, belustigt musterte er erst sie und dann die Kästen, die tatsächlich etwas hoch hingen. Thira zuckte mit den Schultern, als sie seinen Blick bemerkte.
„Die Küche war schon da, als ich eingezogen bin. Ich sah keinen Grund, sie zu ändern.“ Er lachte leise, schüttelte den Kopf und öffnete die Tür, langte nach zwei Tellern und gab sie ihr. Thira beobachtete ihn, für einen Mann seiner Größe war die Küche bestens geeignet. Sie bückte sich, holte eine herrlich duftende Lasagne aus dem Rohr und schaufelte je ein Stück auf die beiden Teller. Torin griff danach und trug sie zum Tisch. Thira blickte ihm nach, das war sie nun überhaupt nicht gewöhnt. Sie setzten sich und begannen schweigend zu essen.
„Das ist sehr gut, was ist das?“, fragte er.
„Man nennt das Lasagne, ist eine italienische Nudelspezialität.“ Sie lächelte ihn an. „Die hat es aber vor fünfzig Jahren auch schon gegeben.“
„Ja, aber nicht da, wo ich aufgewachsen bin.“ Erneut huschte ein Schatten kurz über sein Gesicht. Sie wollte schon etwas sagen, doch er schüttelte nur den Kopf und lächelte sie schwach an. Es war für ihn schwer, über die verlorene Zeit zu reden.
Thira legte die Gabel hin und zog ihren Pullover aus, darunter kam ein T-Shirt mit einer aufgedruckten, fröhlichen Sonne zum Vorschein. Als sie wieder nach der Gabel greifen wollte, hielt er ihre Hand fest. Ihm war gerade die Narbe aufgefallen, die sich an der Innenseite vom Handgelenk bis zum Ellbogen erstreckte.
„Wie ist das passiert?“
„Ein Unfall.“
Er ließ ihre Hand los, bevor sie sie ihm entziehen konnte, und wandte sich wieder dem Essen zu. Thira blickte auf ihren Arm, dann seufzte sie leise und schaute ihn an.
„Diese Narbe, eine am Oberschenkel und gelegentliche Rückenschmerzen sind das einzige, was noch zurückgeblieben ist.“ Er erwiderte ruhig ihren Blick, doch sie sah kein Mitleid darin und so fuhr sie fort: „Ich hatte einen schweren Autounfall, das ist jetzt fünf Jahre her. Ein betrunkener Lastwagenfahrer hat mein Auto voll erwischt. Bis heute weiß ich nicht, wie ich aus dem Wrack gekommen bin.“ Sie hielt kurz inne und schluckte bei der Erinnerung an diese Zeit. „Mein Arm und das Bein waren gebrochen, sie mussten Stahlplatten und Drähte um die Trümmer wickeln. Ich lag drei Monate im Streckverband und hatte ständig Atembeschwerden durch die gebrochenen Rippen. Noch heute kann ich nicht lange sitzen, ohne dass ich das Gefühl habe, mein Kreuz bricht mir ab.“ Sie sah ihn an. „Nach sechs Monaten in verschiedenen Krankenhäusern verbrachte ich ein weiteres Jahr damit, wieder laufen zu lernen.“
Sein Blick hatte sich nicht verändert, war immer noch ruhig und freundlich.
„Ich verdecke die Narbe meistens, damit die Leute nicht ständig sagen: ‘Sieh nur, das arme Mädchen’. Ich brauche kein Mitleid, die Sache ist lange her.“ Sie warf ihm einen trotzigen Blick zu. Er seufzte und richtete sich auf.
„Ich wollte nicht diesen Eindruck erwecken, bei Gott nicht.“
„Schon gut“, erwiderte sie etwas betreten. „Ich reagiere immer noch nicht gut darauf.“
Schweigend aßen sie weiter. Thira warf ihm zwischendurch immer wieder einen Seitenblick zu.
„Wie kommt es, dass du so gut Deutsch sprichst?“, wollte sie schließlich wissen.
Torin sah überrascht auf und blinzelte. „Na, deine Muttersprache ist es ja auch nicht.“
„Indirekt schon, meine Mutter ist Österreicherin.“
„Aber warum sprichst du auch hier zu Hause Deutsch?“
„Weil alle anderen es tun, ich schätze, ich habe mich einfach angepasst. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“ Abwartend sah sie ihn an.
„Es gehört zur Ausbildung eines Gargoyle-Lairds“, erwiderte er und lehnte sich bequem zurück. „Neben dem Schwertkampf und dem Anstandsunterricht.“
„Gargoyle-Laird?“
„So lautet die richtige Bezeichnung, für das, was ich bin.“
Thira sah ihn interessiert an. „Und was genau ist das?“
„Nun ja, der Legende nach kam es vor langer Zeit zu einer Vereinigung zwischen einem Gargoyle und einem Menschen. Das Kind, ein Junge, das daraus entstand, wurde ausgebildet, um zu beschützen, denn das ist unsere Bestimmung. Für gewöhnlich beherrscht der Mensch den Gargoyle.“
„Für gewöhnlich?“ Thira zog die Augenbrauen hoch.
Torin warf ihr einen gequälten Blick zu. „Wie schon gesagt: In meinem Fall hat irgendetwas in der Zeit meiner Verbannung eine Veränderung ausgelöst. Ich bin anscheinend nicht mehr stark genug, ihn zurückzuhalten. Normalerweise schläft er, bis er gerufen wird, aber bei mir kommt und geht er, ohne auf mich zu achten.“
„Die Verwandlung ist sehr schmerzhaft, nicht wahr?“
„Ja. Wie gesagt: Es sollte nicht so sein.“ Er hob die Schultern. „Aber zurzeit kann ich daran nicht viel ändern.“
Er hielt kurz inne, dann fuhr er mit seiner Geschichte fort: „Wir werden von verschiedenen Verwandten ausgebildet, in verschiedenen Ländern. Außer Deutsch spreche ich noch vier weitere Sprachen.“
„Alle Achtung“, meinte sie anerkennend. „Das klingt absolut fantastisch! Und wo ist der Haken bei der Sache?“
„Der Haken ist, dass wir nur einmal in unserem Leben ein Kind zeugen können und da nur Jungen.“
„Ehrlich? Es gibt keine Gargoyle-Ladys?“ Thira war überrascht. Er schüttelte nur den Kopf.
„Wie alt bist du jetzt eigentlich?“
„Wenn man den Steinbann, oder was auch immer das war, mitrechnet, bin ich jetzt wohl über achtzig Jahre alt.“ Er sah sie an. „Gargoyle-Lairds werden für gewöhnlich etwas älter als normale Menschen, also ist achtzig kein so hohes Alter für mich.“
„Für eine Frau schon.“
Torin wusste, wohin der Gedankengang führte und nickte.
„Deshalb heiraten die meisten von uns auch erst sehr spät. Dadurch müssen wir nicht zusehen, wie die geliebte Frau alt wird und stirbt.“ Schmerz loderte kurz in seinen Augen auf.
„Aber genau das hast du nicht getan“, stellte sie fest.
„Nein.“ Er atmete tief ein. „Ich war neunundzwanzig, als ich geheiratet habe, meine Frau starb im Kindbett.“ Thira ließ es dabei bewenden, sein Kummer lastete auch so schon schwer genug auf ihm. Man hatte ihn also in Stein gebannt, kurz nachdem er Vater geworden war. Wer konnte nur etwas so Grausames tun? Doch Thira wollte ihn nicht danach fragen. Lange Zeit saßen sie schweigend da, jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach. Schließlich streckte sich Thira und sah auf die Uhr.
„Meine Güte, es ist ja schon vier vorbei.“ Sie stand auf und begann den Tisch abzuräumen, Torin spielte mit einem Flaschenverschluss.
„Thira?“
„Hm?“
„Danke.“
Sie sah ihn an. „Wofür denn?“
Er breitete die Arme aus. „Na, für meine Erlösung aus dem Stein, und einfach alles andere.“
Sie winkte verlegen ab.
„Gern geschehen“, sagte sie leise und lächelte ihn an.
... der graue Schlamm unter ihren Füßen bot kaum Halt, immer wieder blickte sie zurück. Ihre überreizten Sinne ließen sie den Atem des Verfolgers lauter wahrnehmen. Ihr eigener Atem flog in weißen Wolken von ihren Lippen.
Der kalte Regen hatte den Boden schlüpfrig werden lassen und erschwerte jeden Schritt.
Das Geräusch schlagender Hufe wurde langsam aber unaufhaltsam immer lauter. Sie schloss kurz die Augen. Die Luft, die sie hastig in ihre Lungen sog, stach mit eisigen Nadeln in ihrer Kehle. Auf ihrer Zunge breitete sich ein ekelhafter Geschmack aus. Sterne begannen vor ihren Augen zu tanzen. Sie strauchelte, fing sich aber im letzten Moment wieder.
Sie wandte sich um und riskierte einen Blick über die Schulter. Was sie sah, ließ sie mitten in der Bewegung erstarren: Ein schwarzes, unheimlich großes Pferd raste auf sie zu. In seinen roten Augen stand pure Mordlust und aus seinen geweiteten Nüstern quollen grüne Flammen und gelber Rauch.
Über dem monströsen Kopf und den wehenden Haaren des Mörderrosses erschien der grinsende, weiße Schädel des Todes.
Ihre Erstarrung löste sich in einem lauten Schrei, als sich der Boden unter ihren Füßen öffnete und ein grausiges Etwas mit vermodernden Fingern nach ihr griff ...
„Thira, verdammt! Komm endlich zu dir! Thira!“
Sie schrie immer noch, die kalten, grausigen Hände rissen an ihr und schüttelten sie. Eine Stimme aus weiter Ferne rief immer wieder ihren Namen. Schließlich verschwand die Dunkelheit um sie herum und wich dem bleichen Mondlicht, das in ihr Schlafzimmer flutete.
„Thira?“
Das Wort schien sich erst einen Weg durch ihre Gedanken bahnen zu müssen. Langsam wurde ihr Blick klarer und die dunkle Masse vor ihr wurde zu einem riesigen Gargoyle. Fast hätte sie wieder aufgeschrien, doch Torin ließ sie nicht los, sondern zog sie behutsam an sich, als sie zu weinen begann.
„Schsch, ist ja gut, ich bin ja hier“, flüsterte er leise in ihr Haar. Sie klammerte sich an ihn und er umschloss sie mit seinen Armen und Schwingen. Lange Zeit weinte sie einfach nur an seiner Brust, gab sich dem tröstlichen Gefühl seiner Nähe hin.
Seit sie im Aufwachraum des Krankenhauses unter Schmerzen erwacht war, hatte sie nicht mehr geweint. Er tat das einzig Richtige: Hielt sie fest und ließ sie weinen, bis sie keine Tränen mehr hatte und nur mehr schluchzte. Schließlich lag sie ruhig an seiner Brust, fühlte die tröstliche Wärme seines Körpers durch ihr dünnes Shirt. So saßen sie lange beieinander, bis er schließlich seinen Griff lockerte und die Schwingen löste. Sofort begann sie zu frösteln. Er lächelte schwach und wickelte die großen Schwingen wieder um ihren zitternden Körper.
„Geht’s jetzt besser?“ Seine tiefe Stimme vibrierte sanft in seiner Brust.
Sie nickte. „Ja danke, ich ... es tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.“
„Ich war da, als du mich gebraucht hast, dafür musst du dich nicht entschuldigen.“
Sie sah zu ihm auf, im bleichen Mondlicht, das ihn silbern umspielte, wirkte er furchterregend und wunderschön zugleich.
„Wirst du jetzt wieder schlafen können?“ Abermals nickte sie und er ließ sie los, sie kroch sofort unter die Decken. Er erhob sich vom Bett, zog eine zweite Decke über sie und strich ihr behutsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Versuch´, noch etwas zu schlafen.“
Thira kuschelte sich in die warmen Decken und sah ihm nach, als er leise zur Tür ging.
„Torin.“
Er wandte sich um.
„Danke“, flüsterte sie. Er lächelte, dann trat er aus dem Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich.
Wien, April 1999
Thira und Torin saßen auf der Couch im Wohnzimmer. An die Gargoyle-Gestalt hatte sie sich mittlerweile schon so gewöhnt, dass es für sie keinen Unterschied mehr machte. Und so lange er die Verwandlungen nicht unterdrücken konnte, arrangierte auch er sich damit. Es war erst eine Woche vergangen, doch irgendwie hatte er das Gefühl schon viel länger bei ihr zu sein. Jetzt beugte sie sich gerade über eine Karte der Stadt Wien und machte mit einem Stift ein Kreuz.
„Hier ist unsere Wohnung“, sagte sie und deutete auf einen Park. „Und hier ist die U-Bahn-Station.“ Torin nickte und drehte die Karte, um sich den Straßennamen einzuprägen. Thira stand auf und ging kurz in den Vorraum, dann kam sie mit einer weiteren, aber wesentlich kleineren Karte zurück.
„Das ist der U-Bahn-Plan und hier ...“ Sie machte wieder eine Markierung mit dem Stift. „Ist die U-Bahn-Station.“
Torin blickte hoch. „Okay, danke.“ Thira reichte ihm eine kleine Karte und er griff danach. „Was ist das?“, wollte er wissen.
„Eine Monatskarte“, erklärte sie. „Damit kannst du den ganzen Monat kreuz und quer durch Wien fahren und alle Verkehrsmittel nutzen.“
„Wow, nicht schlecht!“
„Ja.“ Sie lächelte ihn an. „Ich arbeite für gewöhnlich von acht bis vier. Manchmal muss ich auch länger bleiben.“
„Schon klar!“, sagte er. „Ich schaff das schon auch ohne dich!“
„Na schön!“ Sie blickte auf die Uhr. „Ich geh dann mal besser schlafen. Morgen ist wieder ein Arbeitstag!“
Torin saß in einem Linienbus und blickte auf die vorbeiziehenden Häuser. Große Städte kannte er von seiner Studienzeit, doch hatte er immer das Landleben vorgezogen. Ihm fehlten die Natur, Wälder, Wiesen und die schottischen Highlands. In den Straßen dieser Stadt reihten sich alte und neue Häuser aneinander. Es gab keine breiten Straßenschluchten, wie in New York, sondern zahlreiche kleine Straßen und verwinkelte Gassen. Aber es war eine Stadt ...
Der Bus hielt an einem großen Park und Torin stieg aus. Die Sonne hatte sich durch die Wolken gekämpft und er genoss die warmen Strahlen auf seinem Gesicht, während er über die Wege des Parks schlenderte. Er suchte sich eine Bank nahe dem kleinen Fluss, der in einem scheinbar viel zu großen, gemauerten Bett dahinplätscherte und lehnte sich zurück. Möwen flogen kreischend immer wieder zum Wasser hinunter und zogen dann ihre Kreise durch die Luft. Torin sah den Vögeln dabei zu und dachte nicht zum ersten Mal, seit er in dieser Zeit aufgewacht war, daran, ob er überhaupt noch fliegen konnte.
Sein Gargoyle-Ich hatte sich verändert. Die Verbindung war irgendwie falsch. Es fühlte sich nicht mehr so an, wie früher. Beunruhigend war auch, dass er die Verwandlung immer noch nicht wieder kontrollieren konnte. Manchmal glaubte er, einen kurzen Blick auf einen goldenen Schatten zu erhaschen, kurz bevor er zum Gargoyle wurde. Doch das waren immer nur Augenblicke. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, dass in seinen dunkelgrünen Augen jemals goldene Splitter zu sehen waren. Und auch die vereinzelten blonden Haare irritierten ihn.
Eine Taube kam herangeflogen und landete direkt vor seinen Füssen. Er beobachtete den Vogel interessiert und der Vogel beobachtete den Mann auf der Bank. Es sah schon fast so aus, als könne die Taube das Wesen erahnen, das sich in diesem harmlos aussehenden Mann verbarg.
Torin seufzte leise, er hatte so viele Fragen und keine Chance, eine Antwort darauf zu erhalten. Es gab hier keinen erfahrenen Laird, mit dem er sich über den Gargoyle unterhalten konnte. Torin war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt noch Lairds in dieser Zeit gab. Und Thira verstand sein Wesen noch zu wenig, als dass sie ihm wirklich hätte helfen können.
Er ertappte sich dabei, wie er an das Mädchen dachte und ein schwaches Lächeln kräuselte sich um seine Lippen. Sie war genauso plötzlich in sein Leben gestolpert, wie er in ihres. Und er war froh, dass sie keine Angst vor ihm gehabt hatte. Eben deshalb kämpfte er darum, den Gargoyle wieder unter Kontrolle zu bringen, denn er wollte sie nicht gefährden.
Jede Nacht konnte er die unbändige Kraft des Gargoyle spüren und jede Nacht rang er ihn wieder nieder. Es war ein kräftezehrender Krieg, den er praktisch mit sich selbst ausfocht. Er schloss die Augen und dachte an seine Zeit zurück. Wer immer dieses Halsband geschaffen hatte, es war eindeutig magisch. Anders konnte er sich das alles nicht erklären.
Und, was immer das für eine Magie gewesen war, er hatte das Gefühl, dass seine Zeit weit, weit zurücklag, obwohl es für ihn gar nicht so lang her sein sollte. Doch die Erinnerungen an Diane und das Kind waren so verblasst, als hätte er die lange Zeit der Verbannung tatsächlich durchlebt.
„Hey, Kumpel! Das ist meine Bank!“, sagte eine Stimme neben ihm und er zuckte zusammen, dann sah er hoch und schirmte seine Augen mit der Hand gegen das Sonnenlicht ab. Ein Obdachloser stand da mit einem Einkaufswagen voll Taschen und blickte ihn auffordernd an. Torin erkannte, dass die Sonne schon tiefer stand. Wortlos erhob er sich und ging zum Bus zurück.
Thira saß an ihrem Computer, als er heimkam und er ging leise an ihr vorbei zum Balkon.
„Hi!“, sagte sie und er drehte sich um.
„Hi! Ich wollte dich nicht stören.“
Sie winkte ab. „Ist okay, ich hab nur so im Netz gesurft.“
„Bitte was?“, fragte er verwirrt und sie lachte leise.
„Entschuldigung! Ich vergesse immer wieder darauf.“
„Schon okay!“ Er kam näher. „Was ist das für ein Netz, in dem man surfen kann?“, fragte er ehrlich interessiert.
Thira zeigte in die Küche. „Hol´ dir einen Sessel, dann erkläre ich es dir!“ Torin tat wie geheißen und nahm neben ihr Platz.
In der folgenden Stunde erklärte sie ihm alles, was sie vom Internet und dessen Möglichkeiten wusste. Torin war überaus fasziniert von dieser Technik, die ihm eine ungeahnte Fülle an Informationen bieten konnte. Thira lächelte ihn von der Seite her an, er saß längst selbst an Tastatur und Maus und klickte sich geschickt von einer Seite zur nächsten. Er lernte verdammt schnell! So langsam fragte sie sich, ob das noch eine Nachwirkung der Magie war, oder ob er immer schon so schnell gelernt hatte.
„Torin?“
„Hm?“, kam es unbestimmt und sie grinste.
„Morgen ist auch noch ein Tag“, sagte sie leise und er fuhr herum.
„Was? Oh! Entschuldigung!“ Er lachte verlegen. „Ich hab mich wohl ein bisschen im Internet verloren.“
„Ja, das kann schnell passieren“, gab sie zu. „Hör mal: Du kannst den Computer gerne nutzen, wenn ich nicht da bin, aber bitte nicht damit übertreiben.“
„Keine Angst, das werde ich nicht“, versprach er.
„Torin, ich habe keine Flat-Rate“, begann sie und er sah sie verständnislos an.
„Was ist das?“
„Ich zahle keinen Fixbetrag im Monat, sondern nur das, was ich tatsächlich nutze.“
„Okay ...“, sagte er gedehnt und dann verstand er plötzlich. „Oh, das heißt, wenn ich zu lange das Internet nutze, dann wird die Rechnung teuer.“
„Genau!“ Sie nickte. „Es tut mir leid.“
„Das muss dir doch nicht leidtun!“, sagte er und griff nach ihrer Hand. „Danke, dass du es mir gesagt hast, ich werde darauf achten.“ Er ließ ihre Hand wieder los, weil er plötzlich den Drang verspürte, sie zu küssen. Doch unterdrückte er diesen Impuls. Sein Leben war ohnehin schon kompliziert genug.
Thira räusperte sich. „Ich werd mich dann mal ums Essen kümmern.“ Er wollte schon aufstehen, doch sie drückte ihn sanft wieder nieder. „Bleib´ ruhig und surf´ noch ein bisschen“, sagte sie lächelnd, bevor sie in die Küche ging.
Wien, April 1999
Thira kam von der Arbeit heim und fand ihn vor dem Computer sitzend vor. Er starrte gedankenverloren auf eine Seite am Bildschirm. Leise trat sie an ihn heran und betrachtete das Dokument. Es war ein Artikel über einen Koma-Patienten, der nach dreißig Jahren wieder erwacht war.
„Torin?“, sagte sie leise und er zuckte zusammen, dann blinzelte er und sah zu ihr hoch. Sie legte beruhigend eine Hand auf seine Schulter und wie selbstverständlich griff er danach.
„Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken!“
„Schon okay“, sagte er ruhig und ließ ihre Hand wieder los. Thira zog sich einen Sessel heran und setzte sich. Er wirkte traurig und irgendwie verloren.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, ich denke schon“, sagte er langsam. „Irgendwie hatte ich wohl gehofft, eine Antwort zu finden.“ Er lächelte schief.
„Eine Antwort worauf?“, wollte sie wissen.
„Darauf, warum es mir so gut geht, obwohl ich so lange aus Stein war.“ Er sah wieder auf den Bildschirm und bewegte die Maus, als der Bildschirmschoner erschien. „Der arme Kerl da konnte nichts mehr!“, fuhr er fort und sah Thira an. „Er musste alles wieder lernen, aber ich ...“, frustriert brach er ab. Thira atmete tief ein und überlegte sich sehr gut, was sie als Nächstes sagen sollte.
„Du hast es schon einmal gesagt“, begann sie. „Du wurdest gebannt. Er hatte einen Unfall oder eine Krankheit. Bei dir war Magie im Spiel!“
„Bist du eine Hexe, weil du darüber Bescheid weißt?“, fragte er lauernd. Thira lächelte und schüttelte den Kopf.
„Gott behüte, nein!“ Und als er sie skeptisch musterte, sagte sie ernsthaft: „Ich bin keine Hexe!“
„Aber du weißt über Magie Bescheid?“
„Nein, eigentlich nicht, ich hab nur geraten“, gab sie zu. „Aber im Moment ist Magie das das Einzige, das wirklich Sinn ergibt, findest du nicht?“
„Doch ...“, sagte er langsam, dann seufzte er leise.
„Torin?“
„Hm?“
„Seit wann bist du schon im Internet?“
„Was ...? Oh, keine Sorge, ich habe mir den Artikel herunterkopiert.“ Er sah sie an. „Ich bin schon seit geraumer Zeit nicht mehr online.“
Thira grinste, wo hatte er das nun wieder gelernt? Sie hatte ihm nicht gezeigt, wie man Texte kopieren und abspeichern konnte.
„Das Internet ist voll von Seiten, die einem erklären, wie man mit einem Computer umgeht“, sagte er in ihre Gedanken hinein und sie zuckte leicht zusammen.
„Hab ich jetzt laut gesprochen oder kannst du Gedanken lesen?“
„Ich habe nur geraten“, sagte er lächelnd und sie grinste, weil er sie kopierte. Die entzückenden Grübchen zeigten sich wieder in ihren Wangen.
„Warum lernst du so schnell? Kommt das durch die Verbannung, oder konntest du das auch schon vorher?“
„Ich konnte das schon vorher.“ Er lächelte immer noch, das Gespräch gefiel ihm. „Das liegt an meinem Gargoyle-Ich, dadurch lernen wir Lairds viel schneller als normale Menschen.“
„Wie das?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt weiß ich das nicht, es hat mich aber auch nie wirklich interessiert.“
„Zu schade.“ Sie nagte an ihrer Unterlippe, etwas das sie immer machte, wenn sie ins Grübeln geriet.
„Warum denn?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hatte gehofft, ein wenig mehr über das Wesen der Gargoyles zu erfahren.“
Er lachte. „Vorsicht mit solchen Wünschen! Dadurch hast du dir schon einen Laird eingetreten“, sagte er augenzwinkernd.
„Ich hab mir doch keinen Laird gewünscht!“, fuhr sie auf und sah das belustigte Funkeln in seinen Augen.
Ihre Augen verengten sich: „Verscheißerst du mich gerade?“
„Ach?“ Er tat gespielt überrascht. „Nennt man das so in deiner Zeit?“
„Ja! Was habt ihr denn damals gesagt?“
„Jemanden auf den Arm nehmen“, bot er an und sie grinste. „Klingt ganz schön sperrig!“ Er begann diese Grübchen zu lieben und bemerkte, dass er sie eben deshalb gerne zum Lachen brachte. Sie schwiegen eine Weile und Torin begann mit der Maus zu spielen.
„Torin?“
„Hm?“ Er wandte sich wieder zu ihr.
„Ist es schlimm?“, fragte sie und er zog die Brauen zusammen. „Was denn?“
„Dass ich dich aus dem Stein befreit habe und du jetzt in dieser Zeit zurechtkommen musst.“ Er sah kurz auf seine Hände, dann holte er tief Luft, richtete sich auf und sah sie an.
„Nein“, sagte er ruhig. „Ich bin froh, dass du es warst und nicht irgendein Verrückter, der mit mir Experimente machen möchte.“ Unbewusst hatte sie die Luft angehalten und atmete langsam aus.
„Das freut mich zu hören.“ Er lächelte kurz, doch sie blieb ernst: „Du musst in dieser Zeit wirklich sehr vorsichtig sein, Torin. Die Menschen reagieren nicht gut auf Dinge, die sie nicht kennen. Ein Gargoyle ...“ Sie griff nach seiner Hand. „Könnte dabei leicht in einem Labor landen.“
Er drückte ihre Hand. „Ich weiß, Thira.“
„Bitte versprich mir, dass du vorsichtig bist, wenn du allein unterwegs bist.“
„Ich verspreche es“, sagte er ernsthaft.
„Halt!“ Torin stand hinter ihr und blickte auf den Bildschirm. Thira hielt inne und sah zu ihm auf.
„Was?“
„Bitte, noch einmal zurück zur vorigen Seite“, bat er und sie blätterte zurück.
„Da!“ Torins Finger zeigte auf das Bild eines schottischen Gutshauses aus der Jahrhundertwende. Auf dem Dach saßen mehrere Steinfiguren, darunter, in der Mitte des Giebels ein großer, geflügelter Gargoyle.
„Wow!“, meinte Thira. „Den hab’ ich ganz übersehen.“
„Das ist mein Vater“, stellte der Mann hinter ihr sachlich fest.