Das Bernsteincollier - Eva Grübl-Widmann - E-Book

Das Bernsteincollier E-Book

Eva Grübl-Widmann

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Beschreibung

Inga steht vor den Trümmern ihrer Beziehung, als sie einen beunruhigenden Anruf von ihrem Großvater Kalle erhält. Er ist krank und wird bald sterben. Auf der Stelle quartiert sie sich bei ihm ein, um ihm beizustehen. Durch Zufall findet sie in einer Kiste auf dem Dachboden ein wunderschönes Bernsteincollier. Mit dem Schmuckstück konfrontiert, offenbart Kalle ihr zögerlich, dass er eigentlich nicht in Schweden, sondern im ehemaligen Ostpreußen aufgewachsen ist - er musste fliehen. Ein Schwächeanfall hindert ihn daran, mehr zu erzählen.

Doch Inga möchte mehr über Kalles und damit auch ihre Herkunft herausfinden. Wieso hat ihr Großvater so lange über seine Vergangenheit geschwiegen? Ihre Suche führt sie schließlich nach Kaliningrad. Dort taucht Inga dank der Hilfe des charmanten Reiseführers Andrej tief in die Welt des vergangenen Ostpreußens ein - wo sich das Schicksal einer Familie und einer jungen Liebe für immer entschied ...

Mit ihrem anrührend erzählten Debütroman "Das Bernsteincollier" trifft Eva Grübl-Widmann Leserinnen von Familiengeheimnissen mitten ins Herz.

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Das Geheimnis des Schärengartens

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Inhalt

CoverÜber dieses Buch / Über die AutorinTitelImpressumWidmung123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445Danksagung

Über dieses Buch

Inga steht vor den Trümmern ihrer Beziehung, als sie einen beunruhigenden Anruf von ihrem Großvater Kalle erhält. Er ist krank und wird bald sterben. Auf der Stelle quartiert sie sich bei ihm ein, um ihm beizustehen. Durch Zufall findet sie in einer Kiste auf dem Dachboden ein wunderschönes Bernsteincollier. Mit dem Schmuckstück konfrontiert, offenbart Kalle ihr zögerlich, dass er eigentlich nicht in Schweden, sondern im ehemaligen Ostpreußen aufgewachsen ist – er musste fliehen. Ein Schwächeanfall hindert ihn daran, mehr zu erzählen.

Doch Inga möchte mehr über Kalles und damit auch ihre Herkunft herausfinden. Wieso hat ihr Großvater so lange über seine Vergangenheit geschwiegen? Ihre Suche führt sie schließlich nach Kaliningrad. Dort taucht Inga dank der Hilfe des charmanten Reiseführers Andrej tief in die Welt des vergangenen Ostpreußens ein – wo sich das Schicksal einer Familie und einer jungen Liebe für immer entschied …

Über die Autorin

Eva Grübl-Widmann wurde 1971 in Wien geboren. Sie studierte Grundschullehramt und Gehörlosenpädagogik.

Nach achtjährigem Auslandsaufenthalt in Stockholm und Mailand, lebt sie heute mit ihrer Familie wieder in Österreich und unterrichtet an einem Kompetenzzentrum für hörbeeinträchtigte Kinder. Ihre Freizeit gehört ganz ihren drei Leidenschaften, ihrer Familie, dem Schreiben von Romanen und dem Reisen in ferne Länder.

Eva Grübl-Widmann

DAS BERNSTEINCOLLIER

beHEARTBEAT

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze

Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause

Covergestaltung: Nicole Meyer, designrevolte.de

Unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: Kateryna Upit | BigganVi | HUANG Zheng | fotozick | Milosz_G | Paul Aniszewski

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5210-8

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für meine Eltern Johanna und Hubert

1

Stockholm, Schweden, Januar 2015

Inga öffnete die Eingangstür des Appartementhauses, sog die kalte Luft mit einem tiefen Zug in ihre Lunge und blies hüstelnd kleine Dampfwolken aus dem Mund. Sie fröstelte, zog ihren Wollschal über Kinn und Nase und betrat die hauchdünne Schneedecke auf dem Bürgersteig. An diesem frühen Sonntagmorgen war kaum jemand unterwegs. Eigentlich hatte Inga das Wochenende nützen wollen, um sich etwas Ruhe zu gönnen, sich zu vergraben unter dicken Daunendecken und einfach dem Nichtstun zu frönen. Stattdessen ging sie nun rastlos und verunsichert über die Straßen des noch im Tiefschlaf ruhenden Stockholms.

Spät am gestrigen Abend hatte das Handy geklingelt. Die ungewohnte Besorgnis in der sonst so ruhigen Stimme ihres Großvaters hatte sie irritiert. Der alte Mann hatte sich hinter seltsamen Bemerkungen versteckt, um dann alle Fragen mit Schweigen zu beantworten. Als würde er im selben Moment, in dem die Worte über seine Lippen gekommen waren, bereuen, sie ausgesprochen zu haben. Inga hatte sofort ihre Mutter Pernilla angerufen, doch als sich diese nicht gemeldet hatte, hatte sie den Entschluss gefasst, ihrem Großvater gleich am Morgen einen Besuch abzustatten.

Sie ging die Treppe zur U-Bahn am Östermalmstorg hinunter, stieg in die rote Linie und fuhr bis zur Endstation Ropsten. Der U-Bahnhof war menschenleer. Der süßliche Duft frisch gebackener Zimtschnecken stieg ihr in die Nase und lockte sie in einen Kiosk, in dem der Verkäufer gelangweilt in der Sonntagsausgabe des Svenska Dagbladet blätterte. Sie bestellte vier der köstlich warmen Schnecken und löste eine Karte für die Lidingöbahn.

»Früh unterwegs«, stellte der Verkäufer mit einem bemühten Grinsen fest.

Inga nickte stumm, schob ihm das Geld hin und griff nach der Papiertüte.

Die kleine Bahn setzte sich mit einem zähen Ruckeln in Bewegung, ächzte ebenso altersschwach wie müde und rollte gemächlich über die Brücke, die über das Wasser auf die Insel Lidingö führte. Trotz der anhaltenden Dunkelheit erhellte der Schnee die Umgebung. Bunte Bojen ragten regungslos aus dem gefrorenen Meer, das hier, wo es sich mit dem Süßwasser des Mälaren vermischte, schneller gefror als an anderen Küsten Schwedens. Die Kälte hatte die Wellen zum Schweigen gebracht.

Inga lächelte, als sie den kleinen Eisbrecher am Horizont auftauchen sah, der sich einen Weg durch das gefrorene Wasser bahnte. Obgleich das Rattern des Zuges das einzig wahrnehmbare Geräusch war, malte sie sich das Knacken und Ächzen aus, unter dem die Schollen nachgaben, zerbarsten, und, auf dem Wasser des großen Sees treibend, zurückblieben. Die Tage, an denen sie mit ihrem Bruder Magnus am Ufer gesessen hatte, die langen Schlittschuhe lässig über die Schulter geworfen, den Eisbrecher im Visier, lagen Jahre zurück. Dennoch ließen das kleine Monster, wie sie das Schiff als Kinder genannt hatten, und das unberührte Eis die Erinnerungen aufleben. Magnus, Ingas jüngerer Bruder, studierte an der Hochschule in Göteborg und kam nur noch selten nach Stockholm.

Inga seufzte und sank tiefer in den Sitz. Immer noch steckte ihr die Müdigkeit in den Gliedern. Ihre Gedanken wanderten zu den glücklichen Momenten, die sie mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten Sven auf der Insel verbracht hatte: die Lagerfeuer und die Abende mit Gitarre im Garten ihres Großvaters, die Wintertage, an denen sie verliebt zu zweit auf dem gefrorenen See, der versteckt in der Mitte der Insel lag, Schlittschuh gelaufen waren. Es waren schöne Erinnerungen. Zu schön, um sie einfach beiseitezuschieben, und dennoch zu schmerzhaft, um an ihnen festzuhalten. Der Schock der Trennung saß immer noch tief, und Inga ertappte sich nicht selten dabei, die Schuld für Svens Untreue bei sich zu suchen. In den letzten Wochen hatte sie sich entweder in ihre Wohnung zurückgezogen oder war wie automatisch Tag für Tag zur Arbeit gegangen, um ihre Pflichten zu erfüllen und ihren Kopf zu zwingen, das ständige Grübeln zu unterlassen.

Sieben Stationen waren es mit der Lidingöbahn. Kalle Johansson lebte am südlichen Ende, dem schönsten Teil der Insel, wie er stets behauptete, mit Blick auf das Meer und die gegenüberliegende Küste. Inga bereute ihre Nachlässigkeit, was die Besuche bei ihrem Großvater betraf. Damals, vor fünf Monaten, als Sven Inga ganz plötzlich und ohne Vorwarnung verlassen hatte, war er es gewesen, der ihr Trost geschenkt hatte, zu dem sie jeden Abend gefahren war, um auf andere Gedanken zu kommen. Nach einigen Wochen, als sie wieder in ihr Leben zurückgefunden hatte, waren die Besuche wieder seltener geworden. Ihr Großvater grollte ihr nicht deswegen. Er war da, wenn sie ihn brauchte, und drängte nicht, wenn sie Abstand suchte.

Anders als Pernilla, Ingas Mutter, die sie mit gut gemeinten Anrufen und Worten des Trostes bombardierte und ständig nach Begründungen für Svens Handeln suchte. Sie ließ nicht unausgesprochen, dass auch Inga Schuld am Scheitern der Beziehung trug. Inga nahm das ihrer Mutter nicht übel, doch es war anstrengend, sich ständig zu erklären, unablässig über Sven zu sprechen und über den Schmerz, den sie empfand.

Bei ihrem Großvater musste Inga nichts sagen. Er nahm sie schweigend in den Arm und ermunterte sie, sich neue Beschäftigungen zu suchen oder ihm bei der Gartenarbeit zu helfen. Doch nie hatte er ein Wort über Sven verloren. Er war ihre größte Stütze gewesen, und dennoch hatte sie ihn in letzter Zeit vernachlässigt. Das Alter setzte Ingas Großvater zu, und ihr wurde bewusst, dass jeder Tag in seinem langen Leben der letzte sein könnte. Er hatte die neunzig überschritten, was den meisten Menschen nicht vergönnt war, und war halbwegs gesund und fit im Geiste.

Das gleichmäßig rhythmische Rattern des Zuges ließ Inga schläfrig werden. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie genoss die Erinnerungen an ihre Kindheit, an ihren Großvater und sein ruhiges Naturell, das ein wenig geheimnisvoll wirkte. Kalle Johansson war immer schon ein besonderer Erzähler gewesen. Er wusste auch heute noch, seine Stimme wie ein Werkzeug zu benutzen. Damals, als Inga noch klein gewesen war, hatte er Wolf wie Hexe so gut nachgeahmt, dass sie und ihr Bruder Schutz unter der Decke gesucht hatten, vor Angst, von einem bösen Fabelwesen gepackt und verschleppt zu werden. Inga und ihr Bruder Magnus waren in der Welt der Geschichten versunken und nicht mehr in der Lage gewesen, zwischen Realität und Fantasie zu unterscheiden. Seit Jahren schon, seit Inga dem Kleinkindalter entwachsen war, waren die Geschichten verstummt, die Hexen und Geister zurück in die Fantasiewelten geflüchtet.

Bis ihr Großvater ihr gestern Abend angekündigt hatte, dass er ihr etwas Wichtiges aus seiner Kindheit erzählen müsse. Inga kannte jedes Fältchen in seinem Gesicht und wusste jede Regung zu deuten. Doch sobald sie sich in die Jahre seiner Kindheit vorwagte, verstummte er und wechselte mit einem nüchternen Kopfschütteln das Thema. Sie wusste wenig über seine Vergangenheit – er war in Berlin aufgewachsen und nach dem Krieg allein nach Schweden geflüchtet, nachdem seine Familie ums Leben gekommen war. Alles andere war unerzählt geblieben. Keine Namen, keine Orte, keine Fotografien. Die Menschen des Krieges, wie Ingas Mutter sie immer nannte, wollten die Zeit des Grauens vergessen und sprachen nicht gern darüber.

Der Zugführer kündigte den nächsten Halt an. Inga stand auf, lugte aus dem Fenster und begab sich zum Ausstieg. Das Wartehäuschen stand mitten in einem kahlen Birkenwäldchen und verschwand fast unter den Schneebergen, die sich rundum auftürmten. Als der Zug hielt, öffnete Inga mit einem kräftigen Ruck die alte Tür und hüpfte leichtfüßig die drei Stufen hinunter.

Der Zauber, der in der frühen Stunde des Tages lag, berührte sie und verleitete sie dazu, innezuhalten und den Moment der absoluten Stille abzuwarten. Das sanfte Rattern des sich entfernenden Zuges verebbte langsam, und bald hörte sie nichts außer ihrem Atem. Es war, als hätte der Winter jedes Geräusch verschluckt. Eine Ladung Schnee fiel zischend von den hängenden Birkenzweigen, was geradezu störend laut wirkte. Der Pfad, der zu der Straße führte, war zu so früher Stunde noch nicht geräumt worden. Inga schaute auf den Weg, der unter der Schneedecke nur noch zu erahnen war. Fast schuldbewusst schritt sie vorwärts und hinterließ ihre plumpen Fußabtritte im makellosen Weiß. Der Schnee wurde tiefer, und bald stapfte Inga durch kniehohe Wechten, die der Wind geformt hatte. Als sie die Straße erreichte, war ihre Hose bereits bis zu den Knien durchnässt, und der Schnee kroch oben in ihre Stiefel, schmolz und rann an ihren Waden nach unten. Sie klopfte sich, so gut es ging, ab und machte sich auf den Weg zum Haus ihres Großvaters.

Nach zehnminütigem Fußmarsch lugte die Dachspitze des gelben Holzhäuschens hinter den Büschen hervor. Als sie vor dem Haus stand, ließ sie ihren Blick von Fenster zu Fenster wandern und lächelte zufrieden, als sie in der Küche gedämpftes Licht schimmern sah. Inga klopfte ihre Schuhe ab, trat die drei Stufen zur Haustür hinauf und drückte auf die Klingel.

»Wer ist da?« Ihr Großvater öffnete, stützte die Arme in die Hüften, als er seine Enkeltochter erblickte, und zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Ja, sag mal, Inga. So früh? Ist was passiert?«

Sie schüttelte den Kopf und schlug sich fröstelnd auf die Oberarme. »Nein, Opa, alles in Ordnung. Es ist furchtbar kalt heute Morgen.«

Sie betrat das alte Häuschen, schälte sich aus der dicken Jacke und stieß einen tiefen Seufzer aus, als ihr die bekannten Gerüche in die Nase stiegen: Kaffee, altes Holz, Feuer, das im offenen Kamin knisterte. Das kleine Appartement, das sie seit der Trennung von Sven bewohnte, war in miteinander harmonierenden Farbtönen eingerichtet, puristisch und kühl, klare Linien, Metall und Glas, so wie es der moderne Geschmack verlangte. Sie liebte ihre Wohnung in perfekter Lage, neu und glänzend. Doch gegen das Häuschen, in dem ihre Mutter aufgewachsen war, erschien ihr das moderne Appartement seelenlos. Sie lächelte ihren Großvater an, der ihr besorgt über die Schultern strich. Seine Haltung war gebückt, und das Stehen ohne Stock fiel ihm schwer.

Er musterte Inga mit neugierigen Augen, die von tiefen Falten umrandet waren. »Du bist ganz durchgefroren. Was machst du denn hier zu dieser Uhrzeit?«

»Du wolltest doch mit mir sprechen, mir etwas erzählen.«

Kalle Johansson nickte. »Ach, Kind, so warst du schon immer. Musst alles sofort wissen, nicht wahr?« Er schmunzelte versöhnlich, stützte sich auf Ingas Arm und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. »Komm, trinken wir eine Tasse Kaffee.«

»Ich habe Zimtschnecken mitgebracht.« Inga führte ihren Großvater zum Sofa, ging in die Küche und legte das duftende Gebäck auf einen Teller. Dann öffnete sie zielsicher den Küchenschrank und holte zwei Tassen heraus. Sie wandte sich zur Tür und sah ihre Großmutter um die Ecke kommen – mit geblümter Schürze und weit ausgebreiteten Armen. Im selben Moment löste sich die Gestalt in nichts auf und hinterließ einen sehnsüchtigen Schmerz in Ingas Brust. Sie fehlte ihr. Der Duft von ihrem Parfum, ihr fröhliches Lachen, die leuchtenden Weihnachtssterne am Fenster. Mit einem Seufzer schüttelte Inga die Erinnerung ab, nahm das Tablett, stellte es auf das Tischchen im Wohnzimmer und ließ sich auf das gepolsterte Sofa fallen.

»Weißt du«, sagte Kalle und legte seiner Enkelin die mit Altersflecken übersäte Hand auf die ihre, »als deine Großmutter gestorben ist, habe ich nicht erwartet, dass ich noch so lange leben darf. Ich habe Jahr für Jahr verstreichen lassen, aber nun muss ich mit euch sprechen. Ich muss euch noch so vieles erzählen … Bevor es zu spät ist.«

Inga nahm einen Schluck Kaffee und sah ihn über den Tassenrand an. »Bevor was zu spät ist?«

Kalle fuhr mit dem Zeigefinger über den Teller und pickte Krümel auf. »Gute Zimtschnecken, fast so lecker wie nach Omas Rezept …«

»Opa!«

»Ja, ja, Liebes. Entschuldigung.« Er räusperte sich und wandte sich ihr mit gefasstem Blick zu. »Ich habe Krebs. Ich werde sterben, schon bald.«

Ingas Augen weiteten sich. Mit trockener Kehle stellte sie die Tasse ab. »Oh nein, Opa! Was können wir tun?«

»Gar nichts, Liebes. Was sollten wir schon tun? Es ist unheilbar, und ich bin doch ohnehin schon über neunzig.«

»Aber was ist mit einer Chemotherapie?«

Kalle senkte den Blick und überlegte einen Augenblick, als würde er nach Worten suchen, die das Offensichtliche erklärten. »Inga, ich bin so alt. Wer braucht da noch eine Chemotherapie? Ich möchte in Frieden sterben, und ich bin froh, dass mir noch genug Zeit bleibt, um alle meine Lieben zu sehen und ihnen alles zu sagen, was mir auf dem Herzen liegt.«

Inga biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Ihr Großvater ließ die Stille zu, legte nur den Arm um sie. Als sie schließlich das Kinn anhob, um etwas zu erwidern, verlor sie den Kampf gegen die Tränen. Sie schluchzte und schmiegte sich an seine Schulter. »Ich will nicht, dass du stirbst. Dann bin ich allein. Sven ist weg. Du bist weg.«

Für einen wertvollen Moment lang war sie wieder das kleine Mädchen, das in seinen schützenden Armen lag und ihren Willen durchsetzen wollte.

Kalle lächelte liebevoll und strich über Ingas Haar. »Ach, Kind. Du kannst dich glücklich schätzen. Du hast doch noch deine Mutter, eine gute Arbeit, bist gesund. Ich weiß, momentan bist du traurig, weil Sven dich verlassen hat. Aber du wirst einen neuen Mann finden. Und dass ich gehe, ist der Lauf der Zeit, mein Liebling. Ich durfte gesund alt werden. Bald wirst du Kinder haben und ihnen von mir erzählen. Es ist alles richtig so, wie es ist.«

Sie drückte sich eng an ihren Großvater, atmete den bekannten Geruch ein – Rasierwasser und ein leichter Hauch Lavendel, den die Wäsche ausströmte – und starrte stumm ins Flackern des Feuers. Hätte sie den Blick nicht abgewandt, hätte sie die Unruhe gesehen, die in seinen Augen flackerte. Doch es waren nicht die Krankheit und der bevorstehende Tod, die ihn beunruhigten, es war die Offenbarung, die ihm bevorstand. Eine Offenbarung, die er fürchtete und die das harmonische Gefüge seiner Familie zerbröckeln lassen konnte wie altes, brüchiges Mauerwerk.

Er hätte nichts sagen können. Seine Familie im Ungewissen lassen und von dieser Welt gehen. Kalle sah auf Ingas Haarschopf, ihre störrischen blonden Locken. Er hatte schon zu lange verschwiegen, was seit Jahren auf seiner Seele lastete. Das beklemmende Gefühl der Angst beschlich ihn wieder. Was, wenn ihm seine Tochter und seine Enkel die jahrelangen Lügen nicht verzeihen und sich im letzten Augenblick seines Lebens von ihm abwenden würden? Er kramte in seinem Gedächtnis nach den richtigen Worten, um den Stein ins Rollen zu bringen, endlich mit der Geschichte zu beginnen. Doch ein Blick auf das traurige Gesicht seiner Enkelin genügte, um die Entscheidung erneut aufzuschieben. Nicht heute, dachte er und strich behutsam über Ingas Haar. Ihr Herz war bereits schwer vor Kummer, und sie brauchte Zeit, um sich an den Gedanken seines Todes zu gewöhnen. Er hatte kein Recht, sie noch mehr zu verletzen.

2

Ostpreußen, Frühling 1911

Die ersten Sonnenstrahlen eines warmen Frühlingsmorgens stahlen sich durch die kleine Kellerluke in Ernas Kammer und zeichneten Lichtpunkte an die kahle Wand. Das fünfzehnjährige Mädchen schlug die Augen auf, verharrte regungslos, den Blick starr an die Decke gerichtet, und genoss den Moment der vollkommenen Ruhe, der für wenige Minuten ihr allein gehörte. Sie schlug die grobe Wolldecke zurück und schwang ihre Beine aus dem Bett. Ernas Blick fiel auf die andere Seite des Zimmers, wo ein zweites Bett an der kahlen Wand stand. Ihre Mutter schlief noch, die Decke hatte sie wegen der warmen Nachttemperaturen abgeschüttelt. Sie bewegte im Traum langsam ihre Lippen. Auf ihrem Gesicht lag jener friedvolle Ausdruck, der nur im Schlaf aufschien. Erna wusste, dass ihre Mutter sich in längst vergangene Zeiten stahl, ins vorige Jahrhundert, wo sie glücklich an der Seite ihres Ehemannes in dem ansehnlichen Landhaus ihrer verstorbenen Eltern gelebt hatte, die Zukunft vor sich, glücklich, wohlhabend und sorgenfrei.

Ihren Vater hatte Erna nie kennengelernt. Er war noch vor ihrer Geburt verstorben und hinterließ neben seiner schwangeren Frau einen undurchsichtigen Schuldenberg. Diesen hatte er dem Rest seiner Familie jahrelang verschwiegen. Als er dann durch einen tragischen Unfall zu Tode kam – Erna mutmaßte später, er hätte sich selbst das Leben genommen –, dauerte es nur einige Tage, bis die Schuldeneintreiber vor der Tür standen und große Summen Geld forderten, die Ernas Mutter nicht besaß. So hatte sie das Kind geboren, das Haus verkauft und war mit dem Bündel auf dem Arm und einem Karren, voll bepackt mit ihren wenigen verbliebenen Habseligkeiten, auf Suche nach Arbeit durch das Dorf gezogen. Bei den ersten Stellen, die sie angenommen hatte, war den Dienstherren der schreiende Säugling ein Dorn im Auge gewesen. Ernas Mutter hatte versucht, ihr Kind mit einem feuchten, mit Kautabak gefüllten Säckchen ruhigzustellen. Dennoch waren ihr die meisten Leute mit Misstrauen und Ablehnung begegnet. Ihre gepflegten Hände, die harte Arbeit nicht kannten, ihre gewählte Sprache, die nicht der des Dienstpersonals entsprach, und ihr überhebliches Auftreten, als würde sie immer noch besseren Kreisen angehören – das alles grenzte sie von ihnen ab.

Doch Ernas Mutter lernte schnell, arbeitete hart, und bald unterschieden sich ihre schwieligen Hände nicht mehr von denen der Dienstboten. Sie versuchte, sich in einfacheren Worten auszudrücken und ihre Herkunft zu verheimlichen, womit sie ohnehin nur Schadenfreude auf sich gezogen hätte. Erna konnte die vielen Anstellungen, die ihre Mutter seit ihrer Geburt angenommen hatte, schon nicht mehr zählen. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit trennte sich jeder Haushaltsvorstand als Erstes von den neu aufgenommenen Kräften. Sie hatte nie etwas anderes gelernt, als zu sticken und einfache Speisen zuzubereiten, den Rest hatten früher eine Köchin und ein Dienstmädchen erledigt. Zwar war sie gebildet und konnte lesen und schreiben, doch diese Fähigkeiten allein reichten nicht aus, um einen Beruf auszuüben. Also schlug sie sich als Putzkraft, Näherin und Magd durch. Der Lohn war gering, es gab kaum Freizeit, und der Arbeitstag dauerte nicht selten länger als vierzehn Stunden. Erna fragte nie nach dem Warum, denn der Schmerz in ihren Augen war Antwort genug. Sie war die Umzüge und die Traurigkeit als stete Begleiter ihrer Mutter gewohnt.

Das Mädchen schlich zu der Holztür, an der behelfsmäßig einige Haken angebracht worden waren. Daran hingen ihre zwei Kleider – mehr besaß sie nicht. Sie streifte ihr Nachthemd ab, zog sich an und tapste auf Zehenspitzen zu dem kleinen Tisch, der vor dem schmalen Kellerfenster stand. Einen Ausblick in den schön angelegten Garten erlaubte die Kellerkammer nicht, doch die Luft, die von oben hereinströmte, war ein Vorbote des heißen Frühsommertags, der sie erwartete. Sie griff nach der Haarbürste und versuchte, ihr langes rotblondes Haar zu bändigen. Die störrischen Locken fielen ihr immer wieder ins Gesicht, und sie benötigte unzählige Haarnadeln, um den Knoten im Nacken zu befestigen. Sie öffnete nahezu lautlos die Schublade, in der ein kleines, abgegriffenes Buch lag, schnappte es sich und verließ die Schlafkammer.

Erna stieg die Treppe vom Kellergeschoss nach oben und ging in die Küche. Ihre Mutter arbeitete seit sechs Monaten als Küchengehilfin auf dem kleinen Gut einer Anwaltsfamilie, etwa hundertfünfzig Kilometer nördlich von Königsberg unweit der Küste des Kurischen Haffs. Die Anwaltsfamilie war wohlhabend und konnte sich neben Diener und Haushälterin auch Köchin, Stubenmädchen und Kinderfrau leisten. Das nächste Dorf war einige Kilometer entfernt, was das Besorgen von Vorräten erschwerte – eine der Aufgaben, die Erna regelmäßig übernahm. Sie ließ ihren Blick über die Küche schweifen, in der alle Kochutensilien fein säuberlich poliert und in Schränke sortiert waren, ebenso wie Nahrungsmittel und Gläser. Die oberste Haushälterin, Frau Hoffmann, legte äußersten Wert auf Ordnung und Hygiene. Sie war die Vorgesetzte der Dienerschaft und bedachte Ernas Mutter, ebenso wie das Mädchen selbst, mit verächtlichen Blicken, maßte sich jedoch nicht an, Kritik an den Frauen zu äußern, da es nicht ihr oblag, Personal einzustellen. Das war die Aufgabe des Hausdieners. Dennoch war die Ablehnung der Haushälterin deutlich zu spüren, und Erna musste des Öfteren, aus ihr unerklärlichen Gründen, einen Tadel über sich ergehen lassen.

Im gesamten Untergeschoss war es noch ruhig. Das Mädchen ließ sich auf der Bank nieder, legte den Roman vor sich auf den Tisch und versank in der Geschichte. Die Abenteuer des Huckleberry Finn war ihr erstes eigenes Buch. Sie hatte es von der Tochter ihrer letzten Arbeitgeberin bekommen, die das etwas abgegriffene Buch wegwerfen wollte – ein Frevel, den Erna nicht ertragen konnte. So war Ernas Mutter unter dem missmutigen Blick des jungen Mädchens, das das Ansinnen der Dienstmagd nicht nachvollziehen konnte, zu ihrer Arbeitgeberin gegangen und hatte um das Buch gebeten.

Erna war eine fleißige Schülerin gewesen, die den Unterricht seit Beendigung der Schulpflichtzeit schmerzlich vermisste. Sie nützte jede freie Minute, um sich heimlich Wissen anzueignen. Im Dorf kramte sie in Mülleimern nach alten Zeitungen und fragte in Kaffeehäusern nach der abgelaufenen Gazette. Eine seltene Eigenheit, die nicht zu einem einfachen Küchenmädchen passte. Ihre Mutter meinte, sie hätte den außergewöhnlichen Wissensdrang von ihrem Großvater geerbt, den das Mädchen nie kennengelernt hatte. Sie nutzte jede Möglichkeit, ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen, und predigte, seit Erna sich erinnern konnte, dass Bildung und Fleiß neue Wege eröffneten. Eine ungewöhnliche Ansicht unter ihresgleichen, die nicht immer wohlwollend aufgenommen wurde.

»Steckst du schon wieder deine Nase in ein Buch?«

Erna schreckte hoch und sah in die Augen der Haushälterin, die, von ihr unbemerkt, den Raum betreten hatte. »Guten Morgen, ich dachte, es ist noch früh, und niemand ist wach, und da …«

»… hättest du vielleicht den Ofen befeuern können, anstatt die Zeit mit Lesen zu verschwenden.«

Erna nickte und schluckte den Kloß aus Wut und Entmutigung, der in ihrem Hals steckte, wortlos hinunter. Sie schloss das Buch, schob es flink unter ihre Schürze und erhob sich. »Natürlich. Entschuldigen Sie, Frau Hoffmann.«

Sie drängte sich an der rundlichen Frau vorbei, die sie immer noch mit abschätzigem Blick aus ihren eng stehenden, wegen des feisten Gesichtes viel zu schmalen Augen musterte. Ihr Haar war streng nach hinten gekämmt und restlos unter einer Haube versteckt. »Hol Wasser, und setz dir eine Haube auf, Himmel noch mal, wie oft habe ich dir das schon gesagt!«

Erna nickte erneut, widersprach nicht, konnte jedoch statt der angebrachten Demut nur Verärgerung über die Unterbrechung bei der spannenden Lektüre zeigen, was der Haushälterin nicht verborgen blieb. Wie viele Frauen ihres Alters war Frau Hoffmann des Lesens nicht mächtig und maß Büchern keine Bedeutung bei. Mehr noch, sie sah es als Provokation an, vor ihren Augen zu lesen oder zu schreiben. Eine Dummheit, die man übersehen müsse, pflegte Ernas Mutter zu sagen, dennoch ärgerte sich das Mädchen jedes Mal aufs Neue über die Engstirnigkeit der Haushälterin, zumal diese im Dienstgrad weit über Ernas Mutter stand.

Die wohlige Wärme der Sonnenstrahlen auf Ernas Haut vertrieb die schlechte Laune, die sie aufgrund des frühen Tadels überkommen hatte. Sie zog einen kleinen Leiterwagen, auf den sie die eingekauften Waren geschlichtet hatte, hinter sich her. Wenn es der Zustand des Weges zuließ, hielt sie den Holzgriff mit nur einer Hand, während sie in der anderen das Buch balancierte und gebannt Seite für Seite verschlang. Jetzt, da sie dem strengen Blick der Haushälterin für ein paar Stunden entkommen war, hatte sie die Haube achtlos auf den Karren geworfen. Einzelne rote Locken hatten sich aus dem Knoten gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Kurz vor dem Gut würde sie ihr Haar wieder in Ordnung bringen, doch nun genoss sie die wenigen Momente der Freiheit.

Erst als der Weidenkorb mit einem dumpfen Geräusch auf den staubigen Weg fiel, hob sie den Blick und sah mit Entsetzen Äpfel, Kartoffeln und Zwiebeln an den Wegrand kullern. Sie ließ das Buch fallen und beeilte sich, alles aufzuheben, bevor das Pferd, das sie aus der Ferne herannahen hörte, über die Früchte und das Gemüse trampeln würde. Der Reiter, der das Missgeschick des Mädchens früh genug bemerkt hatte, zügelte sein Pferd und brachte es zum Stehen. Erna hob den Blick und strich sich verlegen eine Strähne aus der Stirn, während sie mit der anderen Hand ihre Schürze festhielt, in der sie Obst und Gemüse aufgesammelt hatte.

»Stanna! Lugnt!« Der junge Mann beruhigte sein tänzelndes Tier und schenkte Erna ein freundliches Lächeln.

»Wie bitte?«, flüsterte sie.

Er schwang sich aus dem Sattel, schlang die Zügel mit einem raschen Handgriff um das Rad des Karrens und begann die restlichen Lebensmittel einzusammeln. »Verzeihung, ich sprach mit meinem Pferd. Das war Schwedisch. Ich habe nur gesagt, dass es stehen bleiben soll«, erwiderte er und reichte ihr ein paar Früchte.

Verblüfft zog Erna die Augenbrauen hoch. »Schwedisch?«

Er hob einen Apfel auf, drehte ihn in seinen Händen und warf ihr einen bedauernden Blick zu. »Leider haben die nun einige hässliche … ähm …«

»Dellen«, half Erna aus und lächelte schüchtern über seinen eigentümlichen Akzent.

»Wie ich sehe, sind Sie eine Liebhaberin von Mark Twain.«

Erna errötete, legte die Waren wieder in den Korb und hob den Roman auf, der auf dem Weg lag. Er kam näher und warf einen Blick auf den alten Umschlag. Sie zuckte unbewusst zurück und zog das Buch an ihre Brust.

Der Mann bemerkte ihre Scheu. Er trat einen Schritt zurück und tätschelte den Hals seines Pferdes. »Wissen Sie, auch ich liebe Mark Twain. Er hat lange Zeit in Europa gelebt – in Berlin und Wien.«

Erna nickte interessiert und konnte ihre Bewunderung für seine Kenntnisse nicht verbergen.

»Darf ich Sie ein Stück begleiten?«, setzte er in freundlichem Ton hinzu.

Erna blieb wenig Zeit, darüber nachzudenken, da sich die Sonne immer höher auf den Himmel schob und sie sich beeilen musste, rechtzeitig zu Hause zu sein. Sie wollte sich eine neuerliche Rüge der Haushälterin ersparen. Der Mann blinzelte und neigte den Kopf in Erwartung einer Antwort.

Erna zuckte mit den Schultern und hob den Griff des Leiterwagens an. »Ich muss auf jeden Fall weiter.«

Der Schwede, der sich als Ole Nilsson vorgestellt hatte, strich sein hellblondes Haar nach hinten und setzte seinen Hut auf. Nachdem das Mädchen ihn nicht eindeutig abgewiesen hatte und ihre ungezwungene Art einen gewissen Reiz auf ihn ausübte, setzte er die Unterhaltung fort.

Erna schwankte zwischen der Versuchung, dem Fremden mit den wasserblauen Augen ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken, und der Verpflichtung, sich demütig abzuwenden, wie es sich für ein wohlerzogenes junges Ding gehörte, das von einem unbekannten Mann angesprochen wurde. Schließlich beschloss sie, die seltene Möglichkeit eines interessanten Gespräches zu nutzen. »Was machen Sie hier in Deutschland?«

»Ich bin vor ein paar Jahren mit meinen Eltern hierher gezogen. Eigentlich wollten wir nach Amerika, viele Schweden verlassen die Heimat, wissen Sie. Aber das Geld hat für die Überfahrt nicht gereicht. Irgendwie sind wir dann hier gelandet.«

»Amerika? Mark Twain ist Amerikaner.«

Ole Nilsson nickte und lächelte Erna zu. Es waren nur wenige Minuten, die die zwei jungen Leute nebeneinanderher gingen, sich über Belangloses unterhielten, über den Reiz eines Buches und den herannahenden preußischen Sommer. Als Erna dem jungen Mann schließlich hinterherblickte, wie er auf seinem Pferd davongaloppierte und eine dichte Staubwolke hinter sich herzog, wünschte sie sich, dass sich ihre Wege nicht zum letzten Mal gekreuzt hätten.

3

Ostpreußen, Frühling 1912

Mit letzter Kraft versuchte Erna, das Zittern ihres Körpers zu unterdrücken. Seit Tagen hatte sie kaum Schlaf gefunden, doppelte Arbeit geleistet und fühlte sich bis zur Erschöpfung ausgelaugt. Sie ignorierte das Rauschen ihres Blutes in den Ohren und den beklemmenden Knoten in ihrer Brust, der ihr das Atmen erschwerte. In einem Dämmerzustand kühlte sie die heiße Stirn ihrer Mutter, die sich keuchend und vor Schmerz windend in dem schmalen Bettkasten hin und her warf. Unaufhörlich rief sie im Fieberdelirium nach ihrem verstorbenen Mann, was Ernas Gefühl der Machtlosigkeit nur noch verstärkte. Als die Mutter nach Stunden endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, kauerte sich Erna auf ihr Bett, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und wippte, von Ungewissheit und Angst gepackt, vor und zurück. Die Erkenntnis, dass die Lebensenergie mit jedem Tag zunehmend aus dem Körper der Kranken wich und irgendwann gänzlich erlöschen könnte, traf sie wie ein Schlag. Sie schluchzte, hämmerte mit den Fäusten auf ihre Schläfen und flehte Gott wieder und wieder an, ihrer Mutter beizustehen. Die Gleichgültigkeit, mit der Frau Hoffmann den Zustand ihrer Mutter hinnahm, ließ Erna erschaudern. Die einzige Sorge der Haushälterin war die zu ersetzende Arbeitskraft.

Das Mädchen richtete sich auf, wischte gefasst die Tränen aus ihrem Gesicht und schlich aus der Kammer. Als sie die Küche betrat, verstummten die fröhlich plaudernden Stimmen, und vier Augenpaare musterten sie mit einer Mischung aus Mitleid und Sorge. Es war auch die Sorge, sich anzustecken und auf ähnliche Weise leiden zu müssen wie die mittellose Küchengehilfin in der Kellerkammer.

Erna räusperte sich, bemühte sich um einen bestimmten Tonfall und unterbrach die unangenehme Stille. »Meine Mutter braucht einen Arzt.«

Frau Hoffmann betrat die Küche und sah sich um, irritiert durch die ungewohnte Ruhe während des Abendessens.

»Bitte«, fügte Erna flehentlich hinzu.

»Bitte, was?«

Der strenge Ton ließ Erna zusammenzucken. Dennoch versuchte sie, ihrer Stimme Kraft zu verleihen. »Frau Hoffmann, meiner Mutter geht es schlecht. Sie braucht einen Arzt. Ich bitte Sie inständig.«

»Hast du Geld, um eine Untersuchung oder Medizin zu bezahlen?«

Erna schüttelte den Kopf.

»Nun denn. Dann liegt das Leben deiner Mutter wohl in Gottes Hand.«

Erna begann zu zittern und sank auf die Knie.

Frau Hoffmann wandte sich ihr zu, musterte die verzweifelte junge Frau und schüttelte schließlich den Kopf. Ihre Stimme klang nun etwas milder. »Selbst wenn du noch so bittest, Kind, ich habe kein Geld.«

»Vielleicht könnte …« Erna schluckte und nahm ihren ganzen Mut zusammen. »… der Herr Anwalt mir etwas Geld leihen, wenn er nur wüsste …«

Frau Hoffmann hob entsetzt die Hand an den Mund. »Wie kannst du es wagen, über so etwas auch nur nachzudenken? Wir sind keine Bettler, sondern seine Angestellten.«

Erna gab auf. Ihre Stärke und ihr Stolz fielen von ihr ab. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Wie könnte sie diese Welt ohne ihre Mutter ertragen, die Einzige, die immer an sie geglaubt hatte, immer etwas Besonderes in ihr sah, auch wenn es sich hinter Schmutz und schäbiger Kleidung verbarg. Sie musste es versuchen, musste alles tun, um dem Leben ihrer Mutter eine Chance zu geben. Kurz entschlossen stand sie auf, sah in die Gesichter der Dienerschaft, die sie betroffen ansahen, und rauschte an der Haushälterin vorbei. Sie lief immer schneller, nahm zwei Stufen auf einmal, hetzte in der Hoffnung, niemand würde Interesse haben, ihr zu folgen, ins Erdgeschoss.

Unentschlossen sah sie sich um. Sie hielt sich selten in diesen Räumlichkeiten auf, außer es gehörte ausnahmsweise zu ihren Aufgaben, die Kamine zu fegen. Die Wohn- und Schlafräume befanden sich im Obergeschoss.

Erna lief die breite Treppe hinauf, während sie sich an dem Handlauf aus edlem Mahagoniholz hochzog, klopfte an die Tür zum Esszimmer und öffnete sie, ohne auf Antwort zu warten. Die Familie saß rund um den Tisch. Ihre fröhlichen Mienen erstarrten, als das verweinte Küchenmädchen vor ihnen stand. Ernas Mund wurde trocken, die Röte schoss ihr ins Gesicht, und sie bereute es sofort, den unbedachten Schritt gewagt zu haben. »Entschuldigen Sie bitte«, murmelte sie.

Sie erwartete eine Zurechtweisung, harsche Befehle oder einen Rausschmiss und fürchtete plötzlich, dass ihre unbeherrschte, spontane Art sie ihre Stellung kosten könnte. Das würde sie in die völlige Mittellosigkeit stoßen.

Der Anwalt musterte sie eingehend, erhob sich und machte zu ihrer Überraschung eine einladende Handbewegung. »Bitte sehr, kommen Sie – was ist denn geschehen? Sie sehen verschreckt aus. Erna, nicht wahr?«

Sie hob verblüfft den Blick. Bislang hatte sie angenommen, ein unsichtbarer Schatten zu sein, namenlos und ohne Persönlichkeit für ihre Arbeitgeber, doch er kannte ihren Namen. Sie nickte demütig und fasste neuen Mut. »Meiner Mutter geht es sehr schlecht. Sie liegt seit Tagen mit hohem Fieber im Bett. Ich wollte Sie bitten, mir einen kleinen Vorschuss zu gewähren, damit ich einen Arzt bezahlen kann.«

Der Hausherr sah sie erstaunt an. Solche Angelegenheiten wurden normalerweise von der Haushälterin geregelt und er nicht damit behelligt. Bevor er einen Einwand erheben konnte, erhob sich seine Gattin, die wohl ahnte, wie die Reaktion der doch recht gefühlskalten Frau Hoffmann ausgesehen hatte.

»Natürlich, wir werden sofort nach Doktor Remhoff schicken lassen. Machen Sie sich keine Sorgen, Erna.«

Das Mädchen legte die Hand auf ihre zitternden Lippen, schloss die Augen und sank erschöpft auf die Knie, bevor ihr schwarz vor Augen wurde und sie das Bewusstsein verlor.

4

Stockholm, Schweden, Januar 2015

Inga bereitete mit ihrer Mutter Pernilla ein einfaches Mittagessen zu, während ihr Blick wiederholt zu ihrem Großvater abschweifte. Er saß in gebückter Haltung am Tisch, starrte ins Nichts, stumm und nachdenklich, als würde er Geister der Vergangenheit beobachten und Geschichten lauschen, die die Gegenstände im Haus erzählten. Vor ihm lagen die Informationsbroschüren, die ihm das Krankenhaus überreicht hatte, die genaue Diagnose – alles, was er seiner Familie offenbaren musste. Die ganze ungeschönte Wahrheit seines bevorstehenden Endes. Er fürchtete ihn nicht, den nahen Tod. Kalle war alt, voll bei Verstand und rüstig für sein Alter, auch wenn es der Unterstützung einer Haushaltshilfe und hin und wieder einer Pflegerin bedurfte. Doch hätte er sich die Art seines Todes wünschen dürfen, so hätte er ein ruhiges Einschlafen gewählt, einen schnellen Unfalltod oder Herztod.

»Wie wird es sein, Papa? Kannst du darüber reden?«

Er wandte sich seiner Tochter Pernilla zu und nickte mit einem sanften Lächeln. »Ja, aber ich weiß nicht, ob ihr es hören wollt.«

»Wie lange hast du noch, Opa?«, fragte Inga tonlos.

»Drei Wochen, drei Monate. Alles ist möglich. Der menschliche Körper ist erforscht und dennoch ein Rätsel. Es kann leider auch sein, dass man wochenlang dahinvegetiert, an Schmerzen leidet und nichts mehr mitbekommt. Wenn ich Glück habe, versagen Herz oder Lunge vorher, und ich kann einfach einschlafen.«

Inga verzog das Gesicht und wandte sich betroffen ab. Es war nicht schwer, ihre Gedanken zu deuten. Nach einigen stillen Minuten richtete sie die drei Teller an und setzte sich zu den anderen zu Tisch.

Kalles Gesichtsausdruck veränderte sich mit einem Mal. »Sind sie nicht schön?«

Überrascht folgten Inga und Pernilla seinem Blick.

»Sie kommen jedes Jahr im Januar. Wachsen wie echte Blumen, und doch sind sie nur aus Eis. Wundervoll.«

Er wollte nicht mehr vom Tod sprechen. Gut. Dann sprechen wir von schlecht isolierten Fenstern, wenn du es denn so willst, dachte Inga und schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln. »Ja, Opa, Eisblumen gibt es wirklich nur noch bei dir. Eigentlich hättest du die alten Fenster schon längst austauschen sollen. Hätte dir eine Menge Heizkosten erspart.«

Er erwiderte zufrieden ihr Lächeln. Sie zog zaghaft den Mundwinkel nach oben und nickte ihm zu.

»Ich muss jetzt fahren. Soll ich dich mitnehmen?« Pernilla sah zu ihrer Tochter, die gerade mit Kalle eine Partie Schach beendet hatte.

»Ja, gerne.« Inga klappte das Schachbrett zusammen und umarmte ihren Großvater. »Morgen nach der Arbeit komme ich wieder. Dann können wir noch eine Partie spielen.« Sie nahm ihre Jacke, ihren Schal und sah hinaus in die Dunkelheit.

Inga und Pernilla öffneten die Tür und zogen sie schnell wieder hinter sich zu, um die Januarkälte nicht ins Haus zu lassen. Kalle blickte aus dem Fenster, winkte und sah den beiden nach, bis sie in der Dunkelheit verschwanden. Der Tag war aufwühlend und anstrengend gewesen, doch er fühlte eine innere Zufriedenheit und Leichtigkeit in sich aufsteigen. Der erste, der schwierigste Schritt war getan. Er ging zeitig zu Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.

Mitten in der Nacht, als die Stille die Insel eingehüllt hatte, holte ihn der Traum wieder ein. Kalle warf sich hin und her, schlug um sich, bis er mit einem lauten Schrei erwachte. Er sah verwirrt umher und fasste sich an die Brust, in der sein Herz wild pochte, bis er erkannte, wo er sich befand. Sein Pyjama war verschwitzt, er schnappte nach Luft, hatte das Gefühl zu ersticken, als hätte er zu atmen vergessen. Seine faltige Hand tastete nach dem Lichtschalter. Er betrachtete die weißen Wände und die geblümten Vorhänge, die sich in der sanften Nachtbrise zum Rhythmus der Nacht bewegten. Er war zurück, in Stockholm, in Sicherheit.

Kalle sank in die Kissen und starrte regungslos an die Decke. Seine Lippen begannen zu zittern, und er wehrte sich nicht gegen die Tränen, die er jahrzehntelang nicht geweint hatte. Er hatte sie sich selbst verboten, bis die Trauer, die einst sein Herz beherrscht hatte, in den letzten Winkel seines Gedächtnisses geschoben worden war. Vielleicht – so hatte er gehofft, würde er irgendwann vergessen. Welcher Leichtsinn, das zu glauben. »Verzeih mir«, flüsterte er, »bitte, vergib mir.« Er schluchzte wie ein Kind, befreite sich von dem Zwang, ein anderer sein zu müssen, und wanderte in Gedanken zu ihr. Lange lag er so, bis er die Lampe wieder ausschaltete und sich unruhig von einer Seite auf die andere drehte. In dieser Nacht fand er keinen Schlaf mehr.

5

Ostpreußen, Sommer 1912

Erna wandte sich um und sah hinüber zu dem Bett, in dem bis vor Kurzem ihre Mutter gelegen hatte. Es war leer, die Laken abgezogen, die Decken und Kissen entfernt. Bald würde eine neue Küchengehilfin einziehen, der Atem einer fremden Frau würde sie im Traum begleiten, und jeden neuen Tag würde sie mit dem Gefühl aufwachen, ihre Mutter wäre noch bei ihr. Sie blinzelte die Tränen von ihren Wimpern und schloss die Augen, um sich die zarte Gestalt ihrer Mutter besser vorstellen zu können. »Guten Morgen, Mama«, flüsterte sie und betrachtete die Frau, die mit einem schiefen Lächeln vor ihr stand, nur mit dem Nachthemd bekleidet, barfuß, das Haar wallte offen über ihre Schultern. Ein Bild, das nur ihr allein gehörte. Die zarte Schönheit jener zerbrechlichen Frau, die so jung sterben musste. Jedes Mal bevor sie die Augen öffnete, wandelte sich die hübsche Gestalt zu jenem blassen, dürren Wesen, das sie kurz vor dem Tode gewesen war, bis es endgültig verschwand.

Die Drosseln sangen ihr tägliches Morgenlied, das durch das kleine Kellerfenster drang und brachten Erna in die Wirklichkeit zurück. Sie setzte sich auf, verharrte einen Augenblick in Gedanken und seufzte. Das Leben hatte sich seit dem Tod ihrer Mutter von einer neuen Seite gezeigt. Sie litt unter der ungewohnten Einsamkeit und musste täglich erfahren, was es bedeutete, für sich selbst verantwortlich zu sein. Die Leere in ihrem Leben ergriff ihren Körper, zog sie in eine erdrückende Melancholie, sosehr sie auch versuchte, das Gefühl nicht zuzulassen. Die Familie des Hauses hatte sich als großzügig erwiesen, die Arztgebühren beglichen und sich um eine gute Versorgung der Kranken bemüht. Aber die Hilfe war zu spät gekommen, und Erna quälte sich mit Selbstvorwürfen, ihren Arbeitgeber nicht früher um Geld ersucht zu haben. Sie gab sich die Schuld an Mutters Tod. Hätte sie früher gehandelt, die bissigen Worte der Haushälterin ignoriert, vielleicht wäre das Schicksal gnädig gewesen und hätte Ernas Mutter verschont. Das mittellose fünfzehnjährige Mädchen in ihren Diensten zu belassen war das Einzige, was die Familie für Erna hatte tun können. Die ihr zugewiesenen Arbeiten wurden härter und unangenehmer, denn bis zur Ankunft der neuen Kraft war auch ihre Mutter zu ersetzen, und Frau Hoffmann wurde schon bald nach dem Todesfall nicht müde, Erna als ungeschickt und langsam zu schelten.

Seit Mutters Dahinscheiden waren zwei Monate vergangen. Erna brachte Tag für Tag hinter sich, und keiner verging, ohne ihre verstorbene Mutter in kindlicher Naivität angefleht zu haben, zu ihr zurückzukehren. Der Sommer war über das Land hereingezogen, trug den Duft von frischem Heu und üppig blühenden Margeriten mit sich und lockte Mensch und Tier aus dem Haus. Nicht so Erna, auf die ein arbeitsreicher Tag wartete. Sie zog sich an, wusch und kämmte sich und ging in die Küche. Sie schüttete etwas Milch in einen Becher, leerte ihn mit einigen großen Schlucken und machte sich wortlos an die Arbeit. Heute war ihr sechzehnter Geburtstag, der erste ohne ihre Mutter. Ihr schlug heißer Dampf entgegen, als sie die Waschküche betrat, um bei der Monatswäsche zu helfen. Der Kessel mit der Waschlauge und den darin seit dem Vortag eingeweichten Wäschestücken stand bereit, das Stubenmädchen hatte den Herd befeuert und das Wasser erhitzt.

Erna tauchte ihre Hände in die warme Flüssigkeit, ergriff ein Wäschestück und legte es behutsam in die Bottichwaschmaschine, ein hölzernes Wunderwerk in Form eines Fasses, das man lediglich mit der Wäsche und etwas Lauge füllen musste, um dann an einer Holzkurbel zu drehen, die die restliche Arbeit übernahm. Sie goss etwas von dem heißen Seifenwasser, das mit Schmierseife zubereitet worden war, in den Bottich. Bei ihrer letzten Arbeitsstelle – einer Waschküche in Königsberg hatten ihre Mutter und sie Soda für die Reinigung der Wäsche verwenden müssen. Das war billiger, griff aber die Haut an. Erna erinnerte sich noch an die wunden Stellen an den Händen ihrer Mutter, die sie täglich mit Fett eingerieben hatte, um die Schmerzen zu lindern.

Sie fasste den Bleuel und rührte in dem Kessel, in dem der Rest der Wäsche zum Einweichen lag. Der Haushalt verfügte sogar über eine Wäscheschleuder, die das kräftezehrende Auswringen der Wäsche ersetzte. Diese Arbeit konnte Erna nicht allein bewältigen. Bei der Betätigung des Handantriebs der Wäscheschleuder würde ihr das Stubenmädchen helfen müssen. Das Erledigen der Wäsche nahm einige Stunden in Anspruch.

Überraschenderweise bekam Erna danach den seltenen Auftrag, in der Bibliothek im Obergeschoss die Fenster zu putzen. Normalerweise wurde sie nicht in die Wohnräume der Familie vorgelassen, das war den älteren Bediensteten vorbehalten. Der Zutritt zur Bibliothek, die im hintersten Winkel des Hauses lag, war ihr bisher untersagt gewesen. Ihre Neugierde war groß, nicht minder ihre Aufregung, in einen Raum voller Bücher einzutreten. Sie hatte von diesen Zimmern gehört, die allein der Aufbewahrung von Büchern und der Freude am Lesen dienten.

Als sie nun die schwere Flügeltür öffnete, bot sich ihr ein Anblick, den sie nicht in Worte zu fassen wusste. Regungslos und tief beeindruckt stand sie auf der Schwelle, als wäre sie die Grenze zu einer anderen Welt. Die Sonne schien durch die großflächigen Fenster und tauchte das Zimmer in warmes Licht. Es war mit deckenhohen Regalen aus edlem, dunklem Holz möbliert, die bis zum letzten Fach mit Büchern in allen erdenklichen Farben und Größen, in edlen, mit Goldrand eingefassten Ledereinbänden gefüllt waren. Als sie von Ehrfurcht erfasst die Bibliothek betrat, stieg ihr ein besonderer Geruch – ein Gemisch aus Leder, Papier und Staub – in die Nase. Hätte sie geahnt, welche Schätze sich im Obergeschoss des Hauses verbargen, hätte sie schon lange darum gebeten, hier putzen zu dürfen.

Allein die Buchrücken zu betrachten, die Titel und Namen der Schriftsteller zu lesen, bescherte ihr ein ungewohntes Glücksgefühl. Die unfassbare Menge alter Bücher faszinierte sie. Langsam ging sie über die knarrenden Dielen zu den Fenstern und warf einen Blick hinaus auf die Wiese vor dem Haus, wo das Stubenmädchen die Laken ausbreitete, um sie in der Sonne bleichen zu lassen. Frau Hoffmann stand ebenfalls auf dem Weg, der zum Wohnhaus führte, und unterhielt sich angeregt mit dem Hausdiener. Aus dem Fenster der Küche stieg der köstliche Duft des bevorstehenden Mittagessens auf, was die Anwesenheit der Köchin in der Küche vermuten ließ. Kein anderer Bediensteter würde sich in die oberen Stockwerke des Hauses vorwagen, was bedeutete, dass sie sich selbst überlassen war.

Erna umrundete den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes, den Blick auf die Bücher geheftet. Die Vorstellung, auch nur eines davon aus dem Regal zu nehmen, trieb ihr die Röte ins Gesicht. Sie wusste nicht mehr, welcher Teufel sie geritten hatte, als sie sich wenige Minuten später mit einem Buch in der Hand wiederfand. Behutsam glitt sie mit den Fingern über die Seiten und atmete den Geruch der Druckerschwärze ein. Nur ein einziges Buch wollte sie mitnehmen – niemand würde es bemerken, sie könnte es unter ihrer Schürze verstecken und zurückbringen, wenn sie es gelesen hätte. Wie könnte jemand in dieser unglaublichen Fülle ein einzelnes Buch vermissen?

Erna lag auf dem Bauch, der Kopf hing über den Rand des Bettes, das Buch auf dem Holzboden, während ihre Augen über den Text flogen. Sie verschlang in jeder freien Minute einige Seiten des Romans, der sie vollends in seinen Bann zog. Sie lebte mit den Personen der Geschichte, litt und weinte mit ihnen – sie boten ihr Trost und Ablenkung. Erna hatte einen Weg gefunden, ihre Trauer für einige Augenblicke zu verdrängen. Sie wusste, es war spät und an der Zeit, die Kerze zu löschen.

Das Haus war vor einiger Zeit an das Elektrizitätsnetz angeschlossen worden, doch Erna fürchtete den Strom und hasste das grelle Licht der Glühbirnen. Sie zog die flackernde Kerze näher an das Buch heran und las die letzten Worte des Aktes. Das Buch hieß Romeo und Julia. Es war ein Theaterstück und in einer außergewöhnlich schwierigen Sprache geschrieben. Erna mühte sich mit dem Text ab, versuchte zu verstehen, was der Verfasser, dessen Namen sie nicht einmal aussprechen konnte, mit manchen Wörtern ausdrücken wollte, bis sie irgendwann in die Sprache hineinfand und die Welt rund um sich vergaß. Die Charaktere besiedelten Ernas Gedanken und Träume, unterhielten sich in jener Sprache, die ihr zu Beginn so fremd erschienen war, und nahmen sie mit in eine Welt, die sich so sehr von der ihren unterschied, dass es eine Wohltat war, dort zu verweilen. Sie schloss das Buch und las erneut den Namen des Verfassers. William Shakespeare – sie war sich sicher, dass er nicht aus Deutschland stammte.

Ole wusste gewiss, wer dieser Autor war. Sie würde ihn fragen. Vor einigen Wochen hatte sie ihn wieder getroffen, und er schien ebenso erfreut über die zufällige Begegnung wie sie. Seither trafen sie sich öfter auf Ernas Weg ins Dorf, plauderten und erzählten sich gegenseitig voneinander. Ole gab ihr Trost in ihrem eintönigen, harten Arbeitsalltag. Er war für sie wie ein Sonnenstrahl, der durch eine Nebelwand drang, und in ihrer jugendlichen Verklärung sah sie ihn als stolzen Ritter, der sie irgendwann aus ihrem trostlosen Dasein erlösen würde. Die beiden schlenderten meist den Weg vom Markt bis zur Biegung vor dem Landhaus gemeinsam, bis sich ihre Wege trennten. Erna fühlte ein seltsames Flattern in ihrem Bauch, wenn sie an den jungen Schweden dachte. Bei jedem Gedanken an ihn schoss ihr die Röte ins Gesicht, und sie badete in einem Gefühlsgemisch aus Glück und Nervosität. Dann wieder schämte sie sich, weil sie immer noch um ihre verstorbene Mutter trauerte und alle anderen Regungen des Herzens keinen Platz in ihrer Brust finden sollten. Morgen würde sie ihn wiedersehen und ihm von Romeo und Julia erzählen und der verbotenen Liebschaft zwischen den beiden. Sie blies die Kerze aus, schob das Buch unter ihr Kissen und schloss die Augen. Auf ihren Lippen lag das erste Mal seit Wochen ein schwaches Lächeln.

6

Stockholm, Schweden, Januar 2015

Inga stützte ihre Hände im Rücken ab und schüttelte keuchend den Kopf. Die weißen Massen hatten sich über die Landschaft gelegt wie eine dicke, widerspenstige Decke. Der Schnee war zwar pulvrig, trotzdem verlangte ihr das Freischaufeln der Einfahrt einige Anstrengung ab. Eine Woche war seit Großvaters Offenbarung vergangen. Ereignislose sieben Tage, die rein dazu gedient hatten, das Gehörte sacken zu lassen und sich im Geiste mit dem bevorstehenden Verlust abzufinden. Ihr Bruder Magnus hatte für dieses Wochenende sein Kommen angekündigt. Er kam mit dem Auto aus Göteborg und sollte gegen Mittag auf Lidingö ankommen. Pernilla stand am anderen Ende der Hauseinfahrt, ebenfalls eine Schaufel in den Händen, und warf mit Schwung die Schneeladungen über den Gartenzaun.

Pernilla nahm die Nachricht vom bevorstehenden Tod ihres Vaters besser auf als Inga. Zwar hatte sie das Wissen um Kalles schwere Krankheit traurig gestimmt, sie konnte sie allerdings mit einer Portion Realismus betrachten. Es war für sie keine Überraschung gewesen, dass ihr Vater mit über neunzig Jahren voller Ruhe und mit einer fast schon an Gleichgültigkeit grenzenden Gefasstheit seinem Tod entgegenblickte. Sie bemühte sich, für ihre Tochter Inga da zu sein und mit dem notwendigen Abstand über die Verwaltung des bevorstehenden Erbes nachzudenken.

»Hast du Opa gefragt?«, rief Pernilla ihrer Tochter zu, die in Gedanken versunken am Gartenzaun lehnte.

Sie hob den Kopf und kam auf sie zu. »Er möchte, dass sein Haus in Familienbesitz bleibt.«

Pernilla nickte. »Hm, hab ich mir fast gedacht.« Sie wandte sich ihrem Elternhaus zu. Der Tag war klar und ließ das Holzhäuschen, das sich in die verschneite Umgebung einfügte, in der Wintersonne glitzern, als wollte es sich von seiner besten Seite präsentieren.

»Ich kann das verstehen, Mama. Du bist hier geboren und aufgewachsen. Opa hat hier sein halbes Leben lang gelebt.«

»Das Haus ist alt. Man müsste richtig viel Geld reinstecken, um daraus wieder etwas zu machen. Aber das Grundstück ist wertvoll. Man könnte es für eine Menge Geld verkaufen.«

Inga wich dem Blick ihrer Mutter aus, um ihre aufkeimende Wut in ihren Augen zu verbergen. »Hier geht’s nicht nur um Geld. Ich liebe dieses Haus. Vielleicht finden wir ja irgendeine andere Lösung. Wir könnten für die Renovierungen einen Kredit aufnehmen und uns die Kosten teilen.«

»Was soll das denn jetzt heißen? Du lebst in der Stadt, hast noch keine Familie, bist jung und ungebunden. Du solltest dich auf keinen Fall mit so einem alten Haus belasten, und ich möchte mich auch nicht verschulden.«

Inga schüttelte wortlos den Kopf.

»Inga, bitte. Allein das Grundstück hier auf Lidingö ist ein Vermögen wert. Ich sollte vernünftig sein und das Haus verkaufen. Von dem Geld könnt ihr auch einen Anteil haben.«

Inga schnaubte, packte die Schaufel und ging auf das Haus zu. »Ich brauche kein Geld, Mama. Mir wäre es lieber, das Haus würde in Familienbesitz bleiben. Aber Schluss jetzt mit der Diskussion. Opa ist noch nicht unter der Erde, und ich weigere mich, so zu reden, als gäbe es ihn nicht mehr.«

Pernilla blieb ratlos auf der halb frei geschaufelten Ausfahrt zurück und blickte ihr hinterher. Ein Wagen bog um die Ecke und hupte. Pernilla lächelte, winkte ihrem Sohn zu und ging dem Auto entgegen.

»Das Haus übernehmen?«, sagte Magnus. »Tut mir leid. Also ein Umzug von Göteborg nach Stockholm kommt für mich nicht infrage, Opa.«

»Das hab ich erwartet«, antwortete Kalle nüchtern.

Er wandte sich seiner Tochter zu. Das Sprechen strengte ihn mehr an als noch vor einer Woche. Er holte Luft, bevor er zur nächsten Frage ansetzte. »Und ihr, Pernilla, Inga? Habt ihr darüber nachgedacht?«

Pernilla seufzte. »Ich habe das Geld nicht, Papa. Ich müsste einiges in das Haus investieren. Das Angesparte habe ich in meine Wohnung gesteckt.«

Kalle nickte und versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Inga seufzte. »Wir finden sicher noch eine Lösung, Opa. Reden wir jetzt nicht davon. Du solltest dich ausruhen.«

In seinen Augen lag ein wehmütiger, aber gefasster Ausdruck. Inga stand auf, nahm die Teller und brachte sie in die Küche. Am Tisch herrschte bedrückendes Schweigen. Jeder wusste, dass dieses Haus Kalles Lebenswerk war, sein ganzer Stolz und der Ort, an dem er die glücklichsten Jahre verbracht hatte. Er hatte immer gehofft, seine Tochter oder eines der Enkelkinder würden das Häuschen übernehmen.

»Ich räume die Dachkammer auf, Opa«, sagte Inga, um vom Thema abzulenken. »Heute Vormittag habe ich mal reingesehen. Da liegt richtig viel Gerümpel herum. Ich bringe alles runter, und du entscheidest, was wegkommt und was wir aufheben, in Ordnung?«

Der alte Mann nickte, wandte seiner Enkeltochter aber nicht den Blick zu. Magnus half seinem geschwächten Großvater ins Schlafzimmer, wo er, wie immer nach dem Essen, eine Weile ruhte.

Während der Rest der Familie emsig in der Küche ans Werk ging, stieg Inga die enge Holztreppe ins Obergeschoss hinauf. In ihren Augen schimmerten Tränen, und sie war erleichtert, jedem weiteren Gespräch entkommen zu sein. Wehmütig ließ sie den Blick über das einst so belebte Spielzimmer schweifen, das Mutters altes Kinderzimmer mit dem ehemaligen Arbeitszimmer ihrer Großmutter verband. Rechts von der Treppe lag der kleine Raum, in dem Pernilla aufgewachsen war. An der Wand stand immer noch ihr altes Bett, das auch als Schlafstätte für Inga während manches Ferienaufenthaltes gedient hatte. Die einst rosa gestrichenen Wände leuchteten in einem frischen Gelbton, und die Poster von Popstars und Filmikonen waren lange verschwunden.

Inga ging auf das doppelglasige Fenster zu und öffnete den alten Holzflügel, hakte das Innenfenster mit dem Eisenhaken ein und schob die Außenscheibe auf. Sie strich über das kalte, eisbeschichtete Glas und ließ frische, frostige Luft ins Zimmer strömen. Nachdenklich lehnte sie sich aus dem Fenster und spähte über die Baumwipfel des Nachbargartens. Von hier oben konnte man die großen Fähren beobachten, die täglich nach Helsinki und Tallin aufbrachen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Noch war es zu früh, um die Schiffe vorbeiziehen zu sehen. Inga schaute noch einen Moment hinaus, mit den Gedanken in den Tagen ihrer Kindheit, in denen sie viele Stunden auf einer Truhe vor der Fensterbank gesessen hatte, den Blick auf die Baumwipfel geheftet. Bald fröstelte sie und schloss das Fenster wieder.

Das ehemalige Kinderzimmer war eine Mansarde, weshalb es für einen Erwachsenen erforderlich war, sich zu bücken, um das etwa 1,20 Meter hohe Türchen neben dem Bett zu öffnen. Die Dachkammer dahinter war nicht beheizt und dunkel. Am Vormittag hatte Magnus auf Ingas Bitte hin alle ausgebrannten Glühbirnen ausgetauscht. Gespannt betätigte sie den Lichtschalter und blinzelte, als der verstaubte Raum in gleißendes Licht getaucht wurde. Sie schritt langsam und mit gebeugter Haltung voran.

»Kann ich dir helfen?« Inga zuckte vor Schreck zurück und stieß einen kurzen Schrei aus.

Magnus lachte zufrieden. »Entschuldige, ich bin’s nur.«

Sie wandte sich ihrem Bruder zu und boxte ihn unsanft gegen die Schulter. »Muss das sein? Lass das doch. Hier ist es unheimlich genug.«

Magnus hockte sich auf den Boden, da ihn die gebeugte Haltung anstrengte. »Als Kind fandest du es hier nie unheimlich. Verdammt niedrig … und, meine Güte, so viel Gerümpel. Am besten gleich weg mit allem.«

»Magnus!« Inga schüttelte heftig den Kopf. »Erst schauen wir uns alles an, dann entscheiden wir.«

Der Bruder seufzte im Hinblick auf einen arbeitsreichen Nachmittag und kroch an Inga vorbei in die hinterste Ecke der Kammer, die sich über die gesamte Längsseite des Hauses zog. »Ich hoffe nur, wir finden keine Mäuse und Spinnen.« Belustigt registrierte er den angewiderten Blick seiner Schwester, reichte ihr ein Paar Arbeitshandschuhe und machte sich ans Werk.

Kalle lag in seinem Bett und lauschte dem Rumoren und Lachen seiner Enkelkinder auf dem Dachboden, das bis in sein Schlafzimmer drang. Er schloss die Augen und blies beunruhigt die Luft aus der Nase. Seine Gedanken rasten, und ein unbehagliches Gefühl rumorte in seinem Bauch. Bald würden sie die Kiste finden – es war nur eine Frage der Zeit, und dann gäbe es keinen Ausweg mehr. Dann müsste er Stellung beziehen und endlich alles erzählen. All das, was er jahrzehntelang verschwiegen hatte.

7

Königsberg, Ostpreußen, Frühsommer 1914

Erna lächelte. Sie saß auf dem größeren ihrer zwei Koffer und hatte den Blick auf die glitzernden Wogen des Pregels gerichtet. Der Altstadt von Königsberg mit ihren malerischen Häusern, den Backsteinbauten und kopfsteingepflasterten Straßen wandte sie den Rücken zu. Hinter dem Wasser des Pregels erstrahlte der Dom, der auf Kneiphof lag, einem Stadtteil, der von Wasser umrundet wurde und einer kleinen Insel glich. Die Stadt hatte etwas Magisches, auch wenn der Gestank des Fischmarktes die Eindrücke trübte. Die junge Frau reckte ihre Nase in die warme Frühsommerluft und atmete die leicht salzige Meeresbrise ein, die die Fischerboote von ihrer Fahrt vom Frischen Haff mitbrachten. Eine Windbö fuhr durch Ernas Haar und gab ihr das Gefühl absoluter Freiheit. Wieder spürte sie die angenehme Empfindung in ihrem Bauch, als würde ein Fischlein in ihr schwimmen und mit seinem Kopf gegen die Bauchdecke stoßen. Sie hatten kein Kind geplant, jetzt, da die Welt auf einem Fass Dynamit saß und keiner mit Gewissheit und Zuversicht in die Zukunft blicken konnte. Seit dem Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns wurde offen über einen Kriegsausbruch gesprochen. Es war eine befremdliche, seltsame Situation, auf eine Kriegserklärung zu warten und zu wissen, dass man sich in Ostpreußen an vorderster Front zu Russland befand. Doch was kümmerte es sie noch?

Als sie Ole gesagt hatte, dass sie schwanger sei, hatte er kurzerhand beschlossen, mit ihr in sein Heimatland Schweden zurückzukehren, noch bevor sich Deutschland in einen Krieg stürzen würde. Dort würden sie in einem hübschen Holzhäuschen wohnen, umgeben von einem kleinen Garten, einem Rosenbeet und selbst angebautem Gemüse. Sie würde das Leben führen, in das ihre Mutter hatte zurückkehren wollen, das Leben, das das Schicksal ihnen vor achtzehn Jahren genommen hatte.

Die Kirchenglocken rissen Erna aus ihren Tagträumen. Ein älterer, adrett gekleideter Herr kam an ihr vorbei und schenkte ihr ein freundliches Lächeln.

»Entschuldigen Sie, mein Herr. Wissen Sie, wie spät es ist?«

Der Mann nickte, zog seine goldene Uhr aus der Jackentasche und warf einen kurzen Blick darauf. »Es ist zwei Uhr, mein Fräulein.«

Erna bedankte sich, der Mann tippte an seine Hutkrempe und verschwand. Ihr Blick wanderte suchend über den Platz. Sie stand mit klopfendem Herzen neben ihrem Gepäck und überlegte, was sie tun sollte. Punkt zwei Uhr hatten sie vereinbart. Nun gut, er würde sich etwas verspäten. Doch dem Schiffskapitän in Pillau wäre das gleichgültig. Um sechzehn Uhr würde die Eisenbahn abfahren und sie in die Hafenstadt an der Ostsee bringen. Von dort würde das Schiff auslaufen, gleichgültig ob mit oder ohne sie an Bord.

Erna war sehr früh aufgebrochen, um Königsberg rechtzeitig zu erreichen, und bereits am Vormittag in der Stadt angekommen. Schon am Vortag hatte sie sich von der Dienerschaft und der Familie verabschiedet, die sie mit Glückwünschen, Handschlägen und manch neidischem Blick hatten ziehen lassen. Sie hatte das Haus mit einer gewissen Wehmut verlassen, war es doch, trotz der schweren Zeit nach dem Tod ihrer Mutter, zu ihrem Zuhause geworden. Von ihrer ungewollten Schwangerschaft hatte sie niemandem erzählt. Warum bösen Zungen die Gelegenheit bieten, erfreut über ein unehelich gezeugtes Kind zu schnattern? Noch konnte sie die kleine Wölbung ihres Bauches unter der Bluse verstecken. In Schweden würde niemand danach fragen. Sie würde Oles Frau sein und durfte sich getrost vom Dienstbotendasein verabschieden und ihr Leben als stolze Hausfrau und Mutter genießen. Ihre Miene hellte sich auf, als sie einen jungen Mann von Oles Statur auf sich zuhasten sah, verfinsterte sich jedoch wieder, als sie in ihm nicht ihren Liebsten erkannte.

Nervös setzte sie sich wieder auf den Koffer und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Minute um Minute verging, und Erna zwang sich dazu, daran zu glauben, dass sie den Zug noch erreichen würden. Gegebenenfalls müssten sie das nächste Schiff nehmen. Sie erkundigte sich erneut nach der Uhrzeit. Vierzehn Uhr fünfunddreißig. Tränen der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen, und sie begann mit den Füßen zu zappeln. Schließlich packte sie beherzt ihre Koffer und machte sich allein auf den Weg zum Pillauer Bahnhof, der sich westlich der Königsberger Altstadt befand. Möglicherweise hatte sie sich geirrt, nicht gut aufgepasst, am falschen Treffpunkt gewartet.