Das Geheimnis des Schärengartens - Eva Grübl-Widmann - E-Book
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Das Geheimnis des Schärengartens E-Book

Eva Grübl-Widmann

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Beschreibung

Mona ist am Boden zerstört, als ihre Großmutter Frida plötzlich stirbt. Seit Monas Kindheit verbindet die beiden Frauen eine innige Beziehung. Doch beim Durchsehen von Fridas Unterlagen bemerkt Mona, dass sie ihre Oma nicht so gut kannte, wie sie dachte. Neben zahlreichen alten Fotos entdeckt sie nämlich auch einen Schlüssel und einen Kaufvertrag für ein schwedisches Häuschen in der Stockholmer Schärenlandschaft. Wieso hat Frida davon nie etwas erzählt?

Um die Vergangenheit ihrer Oma zu enträtseln und sich von ihrer Trauer abzulenken, reist Mona auf die schwedische Insel Sandön. Dort lernt sie Leo kennen, den Enkel von Fridas bester Freundin. Gemeinsam mit seinem Freund Tim unterstützt er Mona bei ihren Nachforschungen. Sie erfahren viel über Fridas Leben im kriegsgebeutelten München, und Mona muss bald feststellen, dass ihre Oma mehr Geheimnisse mit ins Grab genommen hat, als sie bisher ahnte ...

Der neue dramatische und mitreißende Familiengeheimnis-Roman von Eva Grübl-Widmann.

Weitere Romane der Autorin bei beHEARTBEAT:

Das Bernsteincollier
Zeit der Dornen

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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Widmung

Motto

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Nachwort

Impressum

Weitere Titel der Autorin

Das Bernsteincollier

Zeit der Dornen

Über dieses Buch

Mona ist am Boden zerstört, als ihre Großmutter Frida plötzlich stirbt. Seit Monas Kindheit verbindet die beiden Frauen eine innige Beziehung. Doch beim Durchsehen von Fridas Unterlagen bemerkt Mona, dass sie ihre Oma nicht so gut kannte, wie sie dachte. Neben zahlreichen alten Fotos entdeckt sie nämlich auch einen Schlüssel und einen Kaufvertrag für ein schwedisches Häuschen in der Stockholmer Schärenlandschaft. Wieso hat Frida davon nie etwas erzählt?

Um die Vergangenheit ihrer Oma zu enträtseln und sich von ihrer Trauer abzulenken, reist Mona auf die schwedische Insel Sandön. Dort lernt sie Leo kennen, den Enkel von Fridas bester Freundin. Gemeinsam mit seinem Freund Tim unterstützt er Mona bei ihren Nachforschungen. Sie erfahren viel über Fridas Leben im kriegsgebeutelten München, und Mona muss bald feststellen, dass ihre Oma mehr Geheimnisse mit ins Grab genommen hat, als sie bisher ahnte …

Über die Autorin

Eva Grübl-Widmann wurde 1971 in Wien geboren. Sie studierte Grundschullehramt und Gehörlosenpädagogik. Nach achtjährigem Auslandsaufenthalt in Stockholm und Mailand, lebt sie heute mit ihrer Familie wieder in Österreich und unterrichtet an einem Kompetenzzentrum für hörbeeinträchtigte Kinder. Ihre Freizeit gehört ganz ihren drei Leidenschaften, ihrer Familie, dem Schreiben von Romanen und dem Reisen in ferne Länder.

EVA GRÜBL-WIDMANN

DASGEHEIMNISDESSCHÄRENGARTENS

Für Robert Seidenader,

»Wer die Vergangenheit ignoriert,ist dazu verdammt,sie immer wieder zu durchleben.«

1

München, Januar 2020

Kräftige Windböen peitschten am Abend durch die Straßen und wirbelten den frisch gefallenen Schnee bis in die obersten Geschosse der eleganten Wohnhäuser der Innenstadt. Mona hielt ihre Kappe fest, zog die Tür des Schokoladegeschäftes »La Chocolateria« von außen zu und drehte schnell den Schlüssel herum. Die kleinen Eiskristalle fühlten sich an wie winzige Nadelstiche auf ihrer Haut. Mona wickelte ihren Wollschal enger um den Hals und begann zu laufen, um dem Sturm rasch zu entkommen. Der Duft warmer Schokolade haftete immer noch in ihrem Haar, und ihre Gedanken drehten sich um zart schmelzende Kuvertüre, weißes Marzipan und leuchtendes Fruchtgelee.

Monas Herz schlug für diesen kleinen, unscheinbaren Laden inmitten des Glockenbachviertels. Seit sie hier arbeitete, hatte sie die Ruhe gefunden, nach der sie jahrelang gesucht hatte. Sie kämpfte sich durch das Schneegestöber, während ihre Finger von der Kälte langsam klamm wurden. Die Nässe und Kälte krochen durch die Sohlen ihrer Schuhe, und sie fluchte, weil sie sich am Morgen nicht für ihre Stiefel entschieden hatte. Vor ihrem Haus angekommen, kramte sie den Schlüssel zur Haustür aus dem Lederrucksack, schloss auf und huschte ins dunkle Treppenhaus.

»Verdammtes Wetter!«, schimpfte sie, schüttelte den Schnee von ihrer Kappe und drückte auf den Lichtschalter. Eilig lief sie die drei Stockwerke hinauf, sperrte auf und betrat ihre warme, dunkle Wohnung. Verwundert schaltete sie das Licht an, zog ihre durchnässten Schuhe aus und lugte ins Wohnzimmer.

»Adrian?« Mona schleuderte die Kappe auf die Kommode im Flur und fuhr sich durch ihr kurz geschnittenes dunkelbraunes Haar. Als sie in die Küche ging, fiel ihr Blick auf einen Zettel, der auf dem Tisch lag. Sie stieß einen Seufzer aus, nahm ihn und las, von einer traurigen Vorahnung erfüllt: Bin unterwegs. A. Es war ungewöhnlich, dass Adrian ohne weitere Auskünfte durch die Straßen zog, aber in letzter Zeit kam es immer häufiger vor. Er mied ihre Gesellschaft. Sie schüttelte die aufkeimenden Zweifel ab. Im Wohnzimmer knipste sie das Licht aus und ließ sich erschöpft auf das Sofa fallen. Wenig später war sie eingenickt.

Mitten in der Nacht riss sie ein lautes Geräusch aus dem Schlaf. Verwirrt fuhr sie hoch und rieb sich die Augen, stand auf und schaute aus dem Fenster. Draußen heulte der Sturm und trieb pudrig weiße Schneewolken vor sich her. Sie schüttelte ihre tauben Glieder aus und ging ins Schlafzimmer. Behutsam öffnete sie die Tür einen Spalt, hielt inne und lauschte. Als sie kein Schnarchen und keinen tiefen Atem hörte, schaltete sie das Licht an. Das Bett war unberührt, Adrian war noch immer nicht zu Hause. Monas verstörter Blick fiel auf die leuchtende Anzeige des Radioweckers. Drei Uhr fünfzehn! Sie kramte ihr Handy aus der Handtasche und wählte Adrians Nummer. Als sie die ruhige, tiefe Stimme auf der Mailbox hörte, wuchs ihre Sorge. Wo war er? Verunsichert setzte sie sich auf ihr Bett und starrte ins Leere. Es war zu spät, um Adrians Freunde zu kontaktieren. Nach einigen Minuten des Nachdenkens ging sie in die Küche und bereitete sich einen Jasmintee zu. Müde legte sie sich ins Bett, nahm ihr Buch und schlürfte die warme Flüssigkeit, die sich wohlig in ihrem Körper ausbreitete.

In der nächsten Stunde wählte sie noch fünfmal Adrians Nummer, ehe sie endlich das erleichternde Klicken des Schlüssels an der Haustür hörte. Sie sprang aus dem Bett und lief in den Flur. »Adrian! Wo um alles in der Welt warst du?«

»Unterwegs, hab ich doch geschrieben.« Er lächelte etwas unsicher.

Mona schüttelte fassungslos den Kopf. »Unterwegs? Aber musst du denn morgen nicht arbeiten?«

»Doch … aber es ist eben etwas später geworden. Hast du dir Sorgen gemacht?«

Sie sah ihn verblüfft an und nickte langsam. »Kannst du mir das nächste Mal bitte eine kurze Nachricht schicken, ich …«

»Es ist alles in Ordnung. Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Mein Handy-Akku war leer.« Er kam auf sie zu, küsste sie auf die Stirn und flüsterte: »Ich gehe noch ins Bad, leg dich doch schon mal wieder hin!«

Mona nickte. Sie war nicht der Typ Frau, der eine Szene machte, herumschrie oder ihren Mann mit Vorwürfen überhäufte. Der Zweifel jedoch setzte sich in ihrer Brust fest.

Als Adrian drei Tage später erneut am Abend ausging, schrieb er ihr wie versprochen eine SMS: Es wird spät, mach dir keine Sorgen! A. Mona legte sich zu Bett und nahm im Halbschlaf wahr, dass Adrian spätnachts ins Bett kam. Am Morgen ging sie früh zur Arbeit. Ihr Kopf war voller beunruhigender Gedanken. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Rastlos und verwirrt durch ihre Gefühle brachte sie den Arbeitstag hinter sich. Auf dem Heimweg beschloss sie, die Sache in Angriff zu nehmen, kaufte getrocknete Tomaten, Pinienkerne und Spaghetti, schrieb Adrian eine kurze Nachricht, ging nach Hause und bereitete eine Pasta zu.

Mit fragendem Blick betrat Adrian die Küche, betrachtete zuerst sie, dann den hübsch gedeckten Tisch. »Haben wir etwas zu feiern?«

Mona schüttelte den Kopf. »Ich wollte einfach mit dir reden und wieder mal einen schönen Abend verbringen.«

Er nickte, lächelte gequält und ging ins Schlafzimmer, um sich bequemere Sachen anzuziehen.

Als er ihr schließlich gegenübersaß, nahm sie einen großen Schluck von dem dunkelroten Spätburgunder und sah ihren Mann über den Rand des Weinglases. Er schwieg und starrte konzentriert auf seinen Teller.

»Irgendwas stimmt nicht mit uns, Adrian. Bitte spann mich nicht auf die Folter, sag mir einfach, was los ist!«

Er drehte die Spaghetti auf die Gabel, schob sie in den Mund und sah sie lange schweigend an.

»Wir wollten doch immer ehrlich zueinander sein. Hast du … hast du eine Affäre?«

»Was?« Er schüttelte den Kopf und sah ihr endlich in die Augen. »Wie kommst du denn darauf?« Seine Stimme klang sanft und liebevoll.

Mona wusste, dass er sich die Frage selbst beantworten konnte. Sie lächelte bitter und zuckte mit den Achseln. »Ich kenne dich einfach zu gut. Ich bin mit dir zusammen, seit ich zwanzig war.«

»Ja«, er schluckte und murmelte: »Fünfzehn Jahre.« Er klang niedergeschlagen.

Mona legte ihre Hand auf seine. »Was ist denn los? Gibt’s wieder Probleme im Büro?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich … weiß es nicht. Es ist alles so trostlos.«

»Was ist trostlos?«

»Mein Leben!«

Mona starrte ihn überrascht und zugleich verletzt an. »Was meinst du? Warum denn trostlos? Was ist passiert?«

»Ich werde alt!«

»Was? Alt?« Sie sah ihn verwundert an. »Du bist vierundvierzig – das ist doch nicht alt.«

»Das sagst du! Mit fünfunddreißig hab ich mich auch noch jung gefühlt.«

Mona schüttelte den Kopf über das absurde Gesprächsthema. »Ich verstehe nicht … was soll das? Du bist so alt, wie du eben bist. Das lässt sich nicht ändern, aber was hat das mit deiner seltsamen Stimmung und den langen Ausgehabenden zu tun?«

Er drehte das Weinglas in der Hand, nahm einen Schluck und zog den rechten Mundwinkel gequält in die Höhe. »Ich glaube, ich muss einfach aus diesem Leben ausbrechen. Dieser Job … jeden Tag der gleiche Ärger …«

Mona legte die Gabel beiseite. Ein Anflug von Panik breitete sich in ihr aus. »Aber das lässt sich doch ändern. Du findest auch eine andere Arbeit, du darfst nicht aufgeben.«

Er stocherte in den Nudeln herum und schwieg. Monas Herz schlug schneller. Sie wollte ihn festhalten, ihn schütteln, wollte, dass er wieder der wurde, der er bis vor drei Monaten gewesen war, der zufriedene, fröhliche Mensch, der vor guter Laune und Liebenswürdigkeit strahlte und der in ihrer Beziehung alles fand, was er für ein glückliches Leben brauchte.

»Du musst dir Zeit geben, Adrian. Deine Mutter ist vor drei Monaten ganz plötzlich gestorben. Das war ein Schock für uns alle.«

»Meine Mutter hat damit nichts zu tun.« Er klang patzig, fast beleidigt. Er blickte auf, und ein Blick schierer Verzweiflung traf sie. »Das kann doch noch nicht alles gewesen sein …«

Mona schüttelte verständnislos den Kopf. »Was heißt das denn? So viele Jahre liegen noch vor dir.«

»Ja, aber … ich will mehr, verstehst du?«

»Mehr?«

Mona senkte den Kopf. Sie ahnte, worum es ging. Seit Jahren versuchten sie, ein Kind zu bekommen. Vor einiger Zeit hatte der Arzt bei ihr ein PCO-Syndrom festgestellt. Das bedeutete, dass der Eisprung ausblieb und eine Schwangerschaft ohne intensive Hormonbehandlung unmöglich war. Selbst mit guter Betreuung blieben ihre Chancen, Mutter zu werden, gering. Die Behandlungen und erfolglosen Versuche waren für beide Partner zermürbend.

»Wir könnten ein Kind adoptieren, wenn es weiterhin nicht klappt.«

Adrian sah sie lange nachdenklich an. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein.«

»Nein?«

»Ich brauche Zeit für mich. Ich muss überlegen, ob ich …«, er hielt kurz inne und fuhr fort, ohne sie anzusehen, »ob ich mit dir zusammenbleiben will.«

Ein unkontrolliertes Zittern überfiel Mona. Sie wusste, er hatte eine schwere Zeit hinter sich, harte Monate in der Firma, den Verlust seiner Mutter, aber damit, dass er sie verlassen könnte, hatte sie nicht gerechnet. Sie war doch sein Fels in der Brandung, diejenige, die immer für ihn da war, immer zuhörte, ihn mit Geduld und Liebe durch die Tiefen der letzten Jahre geführt hatte. Er hatte ihr hunderte Male seine Liebe geschworen, nie einer anderen Frau hinterhergeschaut. Die Welle des Schmerzes traf sie unerwartet, nahm ihr den Atem und trieb ihr Tränen in die Augen. Sie schoss hoch und wandte sich ab. Hastig wischte sie sich mit dem Ärmel über die Augen und sah ihn an.

»Das meinst du doch nicht ernst, Adrian. Wir beide, wir gehören doch zusammen. Das war schon immer so. Bitte … ich bitte dich!«

»Es hat keinen Sinn. Ich weiß nicht …«

»Was weißt du nicht?«

»Ob ich dich noch liebe.«

Sie starrte ihn an. »Das weißt du nicht? Aber vor einigen Monaten wusstest du es doch noch«, murmelte sie mit tränenerstickter Stimme.

»Zumindest weiß ich nicht, ob die Liebe ausreicht.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Was hab ich denn getan?«

»Gar nichts.« Er stand auf, kam zu ihr und versuchte ihre Hand zu nehmen, doch sie zog sie zurück. »Das Ganze hat mit dir gar nichts zu tun. Du bist eine wunderbare Frau, und ich will dich auf keinen Fall verletzen. Das macht es ja so schwer.«

»Na, davon kann ich mir nichts kaufen!«, gab sie bissig zurück.

»Es tut mir leid!«, stöhnte er und schien das ernst zu meinen.

»Was willst du jetzt tun? Ausziehen?« Immer noch glaubte sie nicht, dass er das wirklich tun würde, doch seine ernste Miene, sein trauriger Blick ließen keinen Zweifel zu.

Er nickte langsam. »Ich brauche Abstand und muss mir über einiges klar werden. Ich ziehe zu Sven.«

Mona krallte die Fingernägel in ihre Unterarme. Geschah das tatsächlich? Vor einigen Wochen noch hätte sie die Hand für Adrian ins Feuer gelegt und geschworen, dass sie für immer zusammenbleiben würden. Erst vorigen Monat waren sie auf einem Kurzurlaub auf Fuerteventura gewesen. Verliebt hatten sie auf ihre Beziehung angestoßen und fast täglich miteinander geschlafen. Was konnte diesen Stimmungswandel bewirkt haben? Oder war sie nur blind und naiv und hatte nicht gemerkt, dass Adrians Liebe nicht ehrlich gewesen war?

Er stand auf, ging ins Schlafzimmer und begann, seine große Reisetasche zu packen. Wie in Trance erhob sich auch Mona, zog Mantel und Stiefel an und verließ die Wohnung. Ihr Blick war von Tränen getrübt, und sie zitterte am ganzen Körper, als sie nach langem, ziellosem Umherlaufen in der Kälte bei ihrer Freundin Sturm klingelte. Anja öffnete lächelnd die Tür, doch die Begrüßung blieb ihr im Halse stecken, als sie in Monas Gesicht sah.

»Mona! Was ist passiert?«

Mona fing wieder an zu zittern. Sie versuchte, so sachlich wie möglich zu schildern, was geschehen war, aber sie schaffte es nicht, einen Satz zu Ende zu bringen, ohne zwischendurch aufzuschluchzen. Anja sah sie ungläubig an und zog sie in ihre Arme.

»Sch, Liebes, beruhige dich! Das wird sich wieder einrenken. Ihr beide gehört zusammen. Ihr seid doch unser Traumpaar. Komm, wir müssen dich jetzt erst mal aufwärmen.«

Nach einer heißen Dusche und einer halben Flasche Wein lösten sich Monas Verkrampfungen ein wenig. Immer noch schnürte ihr die Angst vor der Trennung die Kehle zu, doch jetzt konnte sie zumindest in Ruhe erzählen, was geschehen war.

»Es ist dieses letzte halbe Jahr, das hat ihm so zugesetzt. Der Unfalltod seiner Mutter, die Probleme in der Firma, der Streit mit seinem Chef und der ganze Stress mit dem Kind.«

»Mit dem Kind?«

»Na ja, ich kann doch nicht schwanger werden, und sein Bruder hat eben einen Sohn bekommen. Adrian ist ganz vernarrt in das Baby.«

»Aber du weißt doch gar nicht, ob du nicht doch irgendwann schwanger werden kannst. Mit Hormontherapie oder …«

»Er will nichts mehr davon wissen. Und ich bin auch schon fünfunddreißig. Wahrscheinlich habe ich zu viel Stress gemacht.«

»Gar nichts hast du! Hör bloß auf, die Schuld bei dir zu suchen!«

Mona brach erneut in Tränen aus. Genau das tat sie, und das bereits seit Stunden, dabei gab es nichts, dass sie bereute oder falsch gemacht hatte.

Als Mona am nächsten Tag in Anjas Bett erwachte, dröhnte ihr Kopf von dem vielen Wein – sie hatten noch eine weitere Flasche geleert. Sie brauchte einige Momente, um sich zurechtzufinden. Der Schwall der Ernüchterung schwappte über sie, als ihr die Ereignisse des Vortages einfielen. Anja hatte einen kräftigen Kaffee gekocht und versuchte, Mona mit guter Laune und Späßen abzulenken. Dankbar küsste sie ihre Freundin auf die Wange und verließ die Wohnung. Die Arbeit war das Einzige, was sie nun auf andere Gedanken bringen konnte. Sie musste sich in ihren Schokoladenkreationen vergraben und sich genüsslich eine Praline auf der Zunge zergehen lassen. Vielleicht half das, sie ein wenig aufzumuntern.

Mona öffnete die Ladentür, und das kleine Glöckchen, das sie vor einigen Monaten befestigt hatte, klingelte.

»Guten Morgen!« Ihre Chefin lächelte, doch es wirkte etwas gezwungen.

»Charlotte? Alles in Ordnung?«, fragte Mona.

»Dasselbe wollte ich dich gerade fragen. Du siehst gar nicht gut aus. Bist du krank?«

Mona schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ich war nur gestern bei meiner Freundin. Es ist ein bisschen spät geworden.« Sie grinste verlegen.

»Ach so.« Charlotte platzierte die Schokoladepralinen, die Mona am Vortag gemacht hatte, in der Vitrine. »Ich muss mit dir sprechen.«

»Was gibt’s denn?«

»Kommst du kurz in mein Büro?«

Mona sah sie an. »Was ist los?«

Charlotte winkte sie zu sich, setzte sich an den Schreibtisch und stöhnte. »Ich sag’s kurz und bündig. Ich muss mein Geschäft schließen.«

»Was?«

»Es geht nicht mehr! Die Miete ist zu hoch, wir verdienen zu wenig, und drei Straßen weiter hat schon wieder ein Schokoladengeschäft eröffnet. Die Konkurrenz ist zu groß.«

»Aber deswegen muss man doch nicht gleich schließen.«

»Es tut mir leid! Ich sehe keinen anderen Weg. Ich kann nicht noch mehr Schulden machen.« Charlottes Stimme klang tieftraurig.

Es war nicht nur Monas perfekter Job, es war auch der Lebenstraum ihrer Chefin gewesen, der nun zerplatzte wie eine Seifenblase. Sie atmete tief ein, sagte nichts und schloss die Augen. Es war, als würden hundert Arme nach ihr greifen und ihr Leben Stück für Stück in die Dunkelheit zerren. Sie musste die Kraft aufbringen, sich dagegen wehren. Es würde weitergehen, Schritt für Schritt, irgendwie, aber gerade lag die Zukunft vor ihr wie ein düsterer Tunnel.

2

München, März 2020

Es war ungewöhnlich still in dem Bus. Die wenigen Menschen, die am Sonntagvormittag die Stadt verließen, starrten auf ihr Handy oder lehnten mit geschlossenen Augen in ihren Sitzen. Mona fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen und legte müde den Kopf ans Fenster, den Blick hinauf in den Himmel gerichtet. Ihre Augen folgten den feinen weißen Federwolken, die vereinzelt vorbeizogen und einen sonnigen Tag versprachen. Die durchzechte Nacht hatte an ihren Kräften gezehrt, und die Müdigkeit steckte ihr noch bleiern in den Gliedern. Sie hatte gefeiert, getrunken, getanzt, um die traurige Realität, die sie nun am Morgen wieder einholte, auszublenden.

Nach erfolglosen Versuchen, den Kummer mit einigen Flaschen Bier zu verdrängen und sich die Sorgen aus dem Kopf zu tanzen, war sie um fünf Uhr früh nach Hause gewankt. Nach nur drei Stunden Schlaf war sie wie gerädert wieder aus dem Bett gekrochen. Während sie einen starken Kaffee schlürfte, hatte sie spontan beschlossen, ihre Großmutter Frida im Seniorenheim zu besuchen. Diese war das beste Mittel, um sich von all den deprimierenden Gedanken zu befreien. Mona war bei ihr aufgewachsen, sie war ihr Trost und ihre Heimat und diejenige, die am besten verstand, was in ihr vorging. Alleinstehend durch die Wirren des Lebens gegangen, hatte ihre Großmutter sie immer unterstützt, ohne Vorwürfe und Erwartungen.

Das Seniorenheim, in dem sie seit über einem Jahr lebte, lag weit außerhalb der Stadt. Mona kostete es Zeit und Mühe, dorthin zu gelangen, doch sie wusste, dass im Leben der alten Frau jeder Moment kostbar war. Ihr Geist wurde langsam brüchig, ihre Erinnerungen wurden lückenhaft. In Monas Herz lebte immer noch die liebenswerte, agile Großmutter, die sie jeden Tag nach der Schule mit dampfender Nudelsuppe und Orangenlimonade erwartet hatte. Sie war stets der Ersatz für ihre Mutter gewesen, die sie nie kennengelernt hatte. Schon damals, als Mona noch ein blondbezopftes, sommersprossiges Gör mit aufgeschlagenen Knien gewesen war, hatte die Großmutter ausgesehen, wie Großmütter in den Augen von Kindern auszusehen hatten: das Haar zu einem strengen Knoten gedreht, ein altmodisches, hochgeschlossenes Kleid, eine etwas rundliche Figur ohne jeden weiblichen Reiz oder eine Spur von Modebewusstsein.

Als der Bus vor dem Seniorenheim hielt, stieg Mona aus und atmete die frische Morgenluft des anbrechenden Frühlingstages ein. Die Straßen waren wie leer gefegt, und als der Bus langsam hinter der nächsten Biegung verschwunden war, herrschte eine angenehme Ruhe, die nur vom Vogelgezwitscher und dem Plätschern des nahe liegenden Bachs durchbrochen wurde. Mona betrachtete das Gebäude, dessen moderne Architektur im Gegensatz zu dem hohen Alter seiner Bewohner stand, und schlenderte über den mit Naturstein gepflasterten Weg zum Haupteingang. Hätte es in ihrer Macht gestanden, würde Großmutter Frida immer noch in ihrer kleinen Stadtwohnung leben, in der sie mit ihr aufgewachsen war. Diese war prall gefüllt gewesen mit Kindheitserinnerungen und altbekannten Gerüchen, die Geborgenheit ausstrahlten. Doch das Alter hatte der Großmutter ihre Lebendigkeit und Kraft geraubt. Mona hatte ihr Bestes getan, sich neben der Arbeit um sie zu kümmern, hin und wieder für sie zu kochen, zu putzen und sie mit allem zu versorgen, was die alte Frau nicht mehr allein bewältigen konnte. Ihrer Großmutter hatte das Sorgen bereitet. Sie wollte Mona nicht zur Last fallen. Vor über einem Jahr hatte sie sich dann überraschend entschieden, in dieses Heim inmitten der Natur zu ziehen, um den Rest ihres Lebens ohne Versorgungsängste und frei von jeglichem Ballast zu leben. Sie beteuerte, dass sie ihrer Enkelin nichts nachtrug und nur die Einsamkeit in der Stadtwohnung als Belastung empfunden hatte.

Mona betrat das Gebäude, ging vier Stockwerke nach oben und klopfte an die Zimmertür ihrer Großmutter. Sie öffnete, sah sich um und blieb unschlüssig vor dem leeren Bett stehen.

»Guten Morgen, Frau Frühwirt!« Mona wandte sich zu Schwester Elena um, die hinter ihr den Raum betreten hatte. »Ihre Großmutter ist schon auf. Sie ist mit ihrem Besuch in der Cafeteria.«

»Mit ihrem Besuch?«

»Ja … ein älterer Herr.« Mona runzelte nachdenklich die Stirn und bedauerte im selben Moment, ihr Kommen nicht angekündigt zu haben.

»Dritter Stock, den Gang entlang, ganz hinten rechts«, erklärte die Schwester.

In der sonnendurchfluteten, hübsch eingerichteten Cafeteria empfing Mona ein munteres Gemurmel. Der Duft nach Kaffee und frischem Gebäck hing in der Luft. Die Stimmung in diesem Raum war deutlich besser als in den trostlosen, kahlen Gängen des Hauses, die immer wieder Beklemmungen in Monas Brust auslösten.

Suchend ließ sie ihren Blick über die Menschen wandern. An den Tischen saßen plaudernde und Karten spielende Leute, die ihren Morgenkaffee zu sich nahmen und gut gelaunt die Sonnenstrahlen genossen, die durch die Fenster fielen. Die Cafeteria war bereits bis auf den letzten Platz mit alten Menschen und ihren Besuchern gefüllt. Am hintersten Tisch, neben dem großflächigen Fenster, entdeckte Mona ihre Großmutter. Deren Gast trug einen dunkelblauen Anzug, er hatte Mona den Rücken zugewandt und unterhielt sich angeregt mit der alten Frau, die ungewöhnlich hübsch zurechtgemacht war. Sie trug ihr geblümtes Kleid, und ihr Haar war hochgesteckt.

»Oma!« Mona hob die Hand und winkte ihr aus einiger Entfernung zu.

Die Großmutter wandte ihr langsam den Kopf zu. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, das für einen kurzen Augenblick erstarb, als sie ihre Enkelin sah. Zögernd hob sie die Hand zum Gruß und murmelte ihrem Gesprächspartner etwas zu. Der Herr, der ihr gegenübersaß, stand auf, drehte sich um, grüßte Mona mit einem wortlosen, freundlichen Nicken und verließ eiligst die Cafeteria. Mona sah ihm nach, dann wieder zu ihrer Großmutter, die mit schmerzlicher Miene ins Leere starrte.

»Guten Morgen, Oma! Wer war denn das? Du hast gar nicht erzählt, dass du Besuch erwartest, und warum ist der Herr denn so schnell verschwunden? Ich wollte euch wirklich nicht stören!«

Die alte Frau wandte sich ihr mit einem melancholischen Blick zu, lehnte sich erschöpft zurück und stieß einen tiefen Seufzer aus. Mona setzte sich neben sie, küsste sie auf die Wange und strich ihr behutsam einige weiße Strähnen aus der Stirn.

»Darüber reden wir ein anderes Mal! Was machst du denn so früh schon hier, Liebes?«

»Ich konnte nicht schlafen. Aber … warum ist der Herr denn gegangen?«

Die alte Frau knurrte unwirsch, während sie ihre Enkelin mit ihren Augen gefangen hielt. Die Melancholie war aus ihrem Gesicht verschwunden und hatte einem mürrischen Ausdruck Platz gemacht. Mona kannte ihn nur allzu gut. Die Großmutter wandte ihr Gesicht ab und blinzelte in die Sonne. Es schien, als litte sie Qualen, und tatsächlich schimmerten Tränen in den trüben Augen.

»Oma? Was hast du denn?«, flüsterte Mona.

»Ach nichts. Ich bin nur ein bisschen traurig.«

Ihre Stimme war dünn wie ein Seidenfaden, so ungewohnt, dass es Mona Angst einjagte.

»Aber warum denn? Ist etwas passiert?«

»Nein, ach, nicht so wichtig! Das ist eine zu lange Geschichte, und ich will jetzt nicht darüber reden. Mir geht es heute nicht gut. Ich bin müde und möchte wieder ins Bett!«

Mona sah verstört in die Augen ihrer Großmutter, versuchte in ihnen zu lesen und zu erfahren, was es mit dieser Geschichte auf sich hatte, doch fand darin keine Antworten auf ihre Fragen. Schließlich führte sie sie in ihr Zimmer zurück.

»Oma?«, Mona half ihrer Großmutter aus Schuhen und Kleid in einen bequemeren Jogginganzug. Sie setzte sich auf die Bettkante und sah ihre Großmutter an. »Hat der Herr, der dich heute besucht hat, mit dieser Geschichte zu tun? Hast du dich für ihn so hübsch gemacht?«

Die Züge der alten Frau wurden weicher, dann wanderte ihr Blick zum Fenster. »Ach, das ist eine sehr private Sache. Er war mir in einer wichtigen Angelegenheit behilflich …« Ihr Gesichtsausdruck wurde wieder melancholisch. Sie schien in einem Meer aus Erinnerungen zu versinken und zwischen Traum und Realität zu schweben.

»In einer wichtigen Angelegenheit? Was für eine Angelegenheit?«, fragte Mona.

Ihre Großmutter antwortete nicht, sondern schüttelte nur sachte den Kopf.

»Woher kennst du ihn?«, bohrte Mona nach.

»Was soll denn diese Fragerei? Ich hab doch schon gesagt, wir reden ein anderes Mal darüber. Jetzt bin ich müde! Ich muss mich ausruhen!«

»Aber ich bin eben erst gekommen. Heute ist so ein schöner Tag, und es ist noch früh. Ich dachte, wir könnten vielleicht …«

»Das tut mir leid. Du hättest sagen müssen, dass du kommst. Ich habe schlecht geschlafen und bin wirklich erschöpft … und diese Kopfschmerzen!« Die Großmutter rieb sich die Schläfen und sank in ihre Kissen. Die Entschlossenheit in ihrer Stimme duldete keinen Widerspruch.

Verblüfft über die ungewohnt rüde Abfuhr murmelte Mona: »Willst du, dass ich gehe, Oma?«

»Ja, Liebes, das wäre wirklich besser. Sei mir bitte nicht böse. Wir sehen uns ein andermal.« Ihre Stimme klang nun sanft, und sie schenkte ihrer Enkelin ein dünnes, entschuldigendes Lächeln. »Es tut mir leid, dass du den weiten Weg gemacht hast.«

Mona seufzte. Sie sehnte sich nach dem sanften Zuspruch der alten Frau, hatte gehofft, bei ihr Trost und aufbauende Worte zu finden, doch sie merkte, dass es nicht der richtige Moment dafür war. Sie küsste sie auf die Wange. »Gut, dann geh ich eben wieder!« Mona deckte die Füße ihrer Großmutter zu. »Aber ich komme bald wieder.«

Noch einmal überlegte sie, ob sie von Adrian und ihrer Arbeit erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie verließ das Zimmer und ging zum Aufzug, der sie wieder ins Erdgeschoss brachte. In Gedanken versunken schlenderte sie zur Bushaltestelle und dachte über die Worte ihrer Großmutter nach. Normalerweise fieberte diese den Besuchen ihrer Enkelin entgegen. Mona war für die alte Frau die Brücke zur Welt. Sie versorgte sie mit Neuigkeiten und vertrieb jeden Gedanken an den bevorstehenden Tod. Mona konnte sich nicht erinnern, jemals so unsanft aus dem Zimmer hinauskomplimentiert worden zu sein. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, wieder umzukehren und ihre Großmutter zu drängen, ihr zu erzählen, was geschehen war. Doch als sie den Bus, der nur einmal pro Stunde Richtung München fuhr, herannahen sah, besann sie sich, wartete, bis er bei der Haltestelle hielt, und stieg ein, um den langen Rückweg in die Stadt anzutreten.

Mona schlug die Bettdecke zurück und tastete verschlafen nach ihrem Handy. Wie an jedem Abend seit Adrians Auszug hatte sie lange wach gelegen und sich in Selbstvorwürfen und Kummer zerfleischt, bis sie endlich eingeschlafen war. Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihren Wecker, bevor sie den Anruf entgegennahm.

»Hallo?«

»Guten Morgen, Frau Frühwirt! Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung. Hier ist Schwester Elena vom Seniorenheim.« Sie atmete hörbar, und Mona ahnte, dass sie sich bemühte, ihre Aufregung zu verbergen.

»Schwester Elena? Was ist passiert?«

»Es tut mir sehr leid, leider habe ich schlechte Nachrichten. Ihre Großmutter hatte heute Nacht einen Schlaganfall!«

»Was? Mein Gott! Wie geht es ihr?«

»Soviel ich weiß, ist sie stabil und liegt auf der Intensivstation des Elisabethinen-Krankenhauses.«

Mona rang um Fassung, während sie nach einer Erwiderung suchte.

»Ich …« Sie sah noch einmal auf die Uhr. »Ich fahre sofort hin. Vielen Dank für Ihren Anruf!«

Das Krankenhaus lag nur drei Busstationen von dem Seniorenheim entfernt. In Monas Brust schmerzte ein Knoten aus Angst und Trauer. Sie konnte nicht fassen, dass eine schlechte Nachricht der anderen folgte, als würde dieses verfluchte Unglücksjahr, das mit dem Tod ihrer Schwiegermutter begonnen hatte, ihr Tag für Tag seine gefletschten Zähne zeigen. Vor dem Krankenhaus stieg sie aus dem Bus und lief im Eilschritt zum Haupteingang des Gebäudes. Die Dame an der Rezeption schob ihre Brille auf den Kopf und schenkte ihr einen bedauernden Blick.

»Wir haben besondere Besucherregelungen auf der Intensivstation. Fahren Sie mit dem Aufzug in den sechsten Stock, dann klingeln Sie und nennen Ihren Namen. Die Intensivschwester wird Ihnen mitteilen, ob ein Besuch momentan möglich ist.«

Mona sah die Frau verständnislos an. »Ich gehöre zur Familie.«

»Ich weiß, aber für die Patienten auf der Intensivstation kann jeder Besuch sehr anstrengend und kritisch sein.«

Mona nickte stumm. Sie eilte zum Aufzug und fuhr in den sechsten Stock. Vor der verschlossenen Tür der Intensivstation befand sich eine Gegensprechanlage mit einer Klingel, die Mona betätigte. Eine weibliche Stimme meldete sich.

»Ja, bitte?«

»Guten Morgen! Ich möchte meine Großmutter besuchen. Die Patientin heißt Frida Frühwirt.«

»Einen Moment!« Die Tür öffnete sich, und eine junge Krankenschwester mit müden Augen trat heraus. Sie lächelte Mona zu.

»Guten Morgen! Meine Großmutter wurde heute Nacht hier eingeliefert. Sie hatte einen Schlaganfall?« Die Schwester nickte. »Wie geht es ihr?«

»Der Arzt wird am Vormittag zur Visite kommen. Er kann Ihnen Genaueres sagen.«

»Aber irgendwas wissen Sie doch sicherlich auch? Ist sie bei Bewusstsein? Kann ich sie sehen?«, drängte Mona. Die Schwester nickte wieder.

»Sie ist ab und zu wach und hat die Augen geöffnet. Ein kurzer Besuch ist in Ordnung. Aber wie viel sie versteht, kann man nicht mit Sicherheit sagen. Wenn Sie den Intensivbereich betreten, bitten wir Sie, sich gleich rechts die Hände zu desinfizieren. Sollten Sie erkältet sein, raten wir von einem Besuch ab!« Sie sah Mona mit einem prüfenden Blick an.

»Nein, mir geht es gut!«

Die Schwester nickte und öffnete die Tür. Mona trat ein, wusch und desinfizierte ihre Hände und folgte der Frau zu dem Raum, in dem ihre Großmutter lag.

»Bitte«, sagte die Schwester und legte Mona ermutigend die Hand auf die Schulter. »Sprechen Sie ruhig mit ihr! Ich bin sicher, sie kann Sie hören!«

Monas Mund wurde trocken, und ihre Knie begannen zu zittern, als sie den zarten kleinen Körper ihrer Großmutter unter dem dünnen Laken sah, der sich in dem großen Krankenhausbett, das von blinkenden Monitoren und pfeifenden Maschinen umringt war, beinahe verlor. Die Schwester ging zu den Geräten, stellte den Ton der Herzrhythmusmaschine ab und nickte Mona aufmunternd zu. Ein stechender Geruch nach Desinfektionsmitteln lag in der Luft und erinnerte Mona daran, wie sehr sie Krankenhäuser hasste. Die Augen der Großmutter waren geschlossen, ihr Gesicht war noch bleicher als sonst.

»Ach, Oma, liebe Oma!«, murmelte Mona und legte sanft die Hand auf den Oberarm. Sie zog sich einen Stuhl ans Bett und ließ sich erschöpft darauf sinken. Die alte Frau zuckte auf Monas Berührung hin zusammen und öffnete die Augen einen schmalen Spalt.

»Oma? Ich bin hier!« Mona drückte die Hand ihrer Großmutter und lächelte. Die wässrigen grau-blauen Augen öffneten sich noch etwas weiter, blinzelten und zuckten nervös hin und her. »Es ist alles in Ordnung, Oma! Ich weiß, dass dir das Sprechen noch schwerfällt. Das wird schon wieder. Du hattest einen Schlaganfall!« Die alte Frau reagierte mit einem krächzenden Laut, der tief aus ihrer Brust kam. »Verstehst du, was ich sage?« Ein jammerndes, missfälliges Ächzen. »Oma, wenn du mich verstehst«, sagte Mona und griff nach ihrer Hand, »dann beweg mal deine Finger – nur ein bisschen!« Ein zartes Streichen, fast wie das Flattern eines Schmetterlings.

»Ja! Das ist gut.« Mona lächelte. »Hast du Schmerzen? Könntest du einmal mit dem Zeigefinger klopfen für Ja und zweimal für Nein.« Zweimaliges Klopfen. Mona presste etwas erleichtert die Lippen aufeinander und stieß die Luft aus. Die Stationsschwester kam herein und sah zwischen Großmutter und Enkelin hin und her.

»Oh, ich sehe, die Patientin ist wach! Wie schön!« Die Schwester lächelte aufmunternd.

»Oma versteht mich«, sagte Mona. »Sie hat mir ein Zeichen mit der Hand gegeben. Sie weiß genau, wer ich bin.«

»Na, sehen Sie, das ist ja ein gutes Zeichen. Trotzdem müssen wir Ihre Großmutter noch schonen. Ich muss Sie deshalb bitten, in etwa fünf Minuten die Intensivstation wieder zu verlassen. Es kommt dann die Visite.«

»Kann ich danach mit dem diensthabenden Arzt sprechen?«

»Natürlich.« Sie nickte und wiederholte: »Fünf Minuten.« Dann ging sie hinaus.

Die Augen der alten Frau flatterten nervös hin und her. Sie versuchte, Monas Hand zu fassen, doch es gelang ihr nicht.

»Es tut mir so leid, Oma. Was willst du mir sagen? Ich … ich verstehe nicht. Soll ich noch bleiben?«, fragte Mona.

Ihre Großmutter stöhnte laut – es schien wie ein verzweifeltes Aufbäumen gegen die Unfähigkeit, sich mitzuteilen. Sie saß in ihrem eigenen Gefängnis fest.

Entmutigt schloss Mona die Augen. »Mach’s gut, Oma. Du hast es ja gehört, gleich ist Visite. Keine Sorge, ich komme später wieder!« Mona küsste die bleiche, faltige Stirn und verließ verstört die Intensivstation.

Rund um sie türmten sich Berge aus Schutt auf. Frida atmete die Luft ein, schwer von Staub und Rauch. Sie war so jung, so gesund … noch keine achtzehn Jahre alt, und sie musste fort. Raus aus der Stadt. Sie lief über nasses Gras, der Tau war kühl auf ihren Fußsohlen, die Hände rau und voller Schwielen. Doch es gefiel ihr hier draußen, wo es friedlich und still war. Ein guter Ort, ein Ort, an dem man für immer verweilen könnte …

3

München, Juli 1943

Fridas siebzehnter Geburtstag verlief ebenso trostlos wie jeder Tag in den letzten drei Jahren ihres noch so jungen Lebens. Mit Wehmut erinnerte sie sich an die länger zurückliegenden Feste zu ihrem Jahrestag, die hübsch verpackten Pakete ihres Vaters, der frühmorgens ins Zimmer kam, um der Erste zu sein, der seiner Prinzessin gratulierte, die köstlichen Torten ihrer Mutter, das leise Getuschel vor ihrer Zimmertür, das Ständchen ihres Bruders Ernst mit der Mundharmonika. Das war gewesen, bevor sich alles verändert hatte, bevor die Länder zu den Waffen gegriffen und die Royal Air Force begonnen hatte, Bomben über der Stadt abzuwerfen und die Menschen wie Ratten in die Keller zu treiben, bevor Frida zum Hilfs- und Arbeitsdienst am deutschen Volk eingeteilt worden war, anstatt an lustigen Lagertreffen des BDM, des Bundes Deutscher Mädel, am See teilzunehmen und bevor ihr geliebter Vater und Bruder im Kampf für das Vaterland gefallen waren. Frida war ein gehorsames Mädchen, hielt sich an Regeln, half beim Altmaterialsammeln für das Winterhilfswerk, unterstützte die Frauen bei Näh- und Strickarbeiten für die Soldaten an der Front und arbeitete als Helferin im Kindergarten. Doch seit ihr Vater und ihr Bruder tot waren und ihre Mutter in eine tiefe Depression verfallen war, vermisste Frida das Gefühl zu leben. Sie hatte begonnen, an der unbedingten Überlegenheit der Deutschen zu zweifeln – erst jetzt, erst als sie begriffen hatte, dass Papa und Ernst nicht wiederkämen, verstand sie die Bedeutung der Sterblichkeit. Sie hatte den Worten des Führers stets geglaubt, ihrem großen Vorbild, der Macht und Stärke ihres überlegenen Volkes. Nicht eine Minute hatte sie in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit um das Leben ihres Vaters oder ihres Bruders gefürchtet.

Und den Dienst beim BDM, verpflichtend für alle jungen Mädchen, hatte sie geliebt. Bevor der Krieg ausbrach, hatte sie die wöchentlichen Treffen kaum erwarten können. Es wurde Sport getrieben, gesungen, am Lagerfeuer gegrillt. An die bunten Erntedankfeste, Sportwettkämpfe, Gemeinschaftsspiele erinnerte sich Frida mit Freude und Wehmut. Die Zeit, als sie noch bei den Jungmädeln gewesen war – lange bevor der Krieg begonnen hatte –, war ihr noch gut im Gedächtnis. Damals hatte sie sich als Teil eines wunderbaren großen Ganzen gefühlt. Die blonden Haare zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochten, die schicke Bluse, der blaue Rock und das schwarze Halstuch mit dem Lederknoten – wie adrett sie darin ausgesehen hatte.

Aber alles hatte sich verändert, ihre Träume waren zerstört, ihre Familie war zerrissen worden. Ihre Mutter Gerda war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Zwei Männer der Familie tot, einer, ihr jüngerer Bruder Hans, kämpfte noch immer an der Front. Die Freundin der Mutter war wegen illegalen Feindhörens verhaftet, die Nachbarn, eine jüdische Familie mit zwei Kindern, waren abgeholt worden – die Anfangseuphorie bei Frida und ihrer Mutter war längst verflogen und einer unterschwelligen Angst gewichen, die sie auf Schritt und Tritt begleitete.

Bald sollte Fridas Reichsarbeitsdienst in der Landwirtschaft beginnen. Sie wollte noch immer gern ihr Volk und ihren Führer unterstützen, aber wenn sie fortging, würde ihre Mutter ganz allein in der großen Stadtwohnung zurückbleiben, die einst mit so viel Leben und Freude erfüllt gewesen war. Mit bangem Herzen sah Frida in ihre ausdruckslosen Augen, die seit dem Tod ihres Mannes und Sohnes fast immer gerötet waren. Auf ihren Lippen lag ein bemühtes Lächeln.

»Herzlichen Glückwunsch, mein Schatz!« Die Mutter hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und überreichte ihr ein Päckchen, in dem sich ein aus den roten Wohnzimmervorhängen selbst genähtes Kleid und zwei weiße Schleifen für ihre blonden Zöpfe befanden. Fridas Mutter war besonders geschickt im Nähen. Zwar fanden sich noch über fünfzig von den hundert Punkten auf der Reichskleiderkarte, doch kaum ein Einzelhändler hatte Waren vorrätig, geschweige denn ansehnliche Damenkleidung für junge Frauen.

»Danke, Mutti!«, flüsterte Frida und hielt das Kleid an ihren schlanken Körper.

»Wie schön!« Ihre Mutter lächelte schwach. »Für die freien Tage! Für deine Arbeit auf dem Hof hast du ja deine Uniform.« Frida nickte stumm. »Du bist alles, was ich noch habe, und natürlich die Hoffnung, dass dein Bruder Hans unversehrt zurückkehrt. Hauptsache, du kommst aus der Stadt raus. Auf dem Land ist es sicherer.«

Fridas Lächeln gefror, als sie an die bevorstehenden Wochen und Monate dachte. Die Angst, ihre Mutter könnte nicht mehr da sein, wenn sie heimkehrte, kroch in ihr hoch. Ihre Kehle wurde eng.

»Die Zeit wird schnell vergehen, mein Kind!«, versuchte ihre Mutter sie mit leiser Stimme zu trösten. Ein stummes Nicken. »Es wird sehr ruhig werden ohne dich.«

»Es tut mir so leid, dass ich dich allein lasse!«, flüsterte Frida. »Gib acht auf dich, und sieh zu, dass du immer rechtzeitig im Luftschutzkeller bist, wenn die Sirene losgeht!«

Fridas Mutter verzog die Lippen zu einem gezwungenen Lächeln. Sie strich ihr behutsam übers Haar. »Mach dir keine Sorgen um mich. Ich pass schon auf mich auf.«

Frida drückte ihre Hand und wischte sich mit der anderen eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann ging sie in ihr Zimmer, um alles für ihre Fahrt aufs Land zu packen.

»Willkommen, Arbeitsmaiden!«

Die Lagerführerin funkelte die Neuankömmlinge mit übertriebener Strenge an und schritt an den in Reih und Glied angetretenen Mädchen entlang.

»Ihr erfahrt nun, in welchem Zimmer ihr untergebracht seid, und erhaltet eure Kleidung. Zieht euch um, packt eure Koffer aus, und steckt euer Haar ordentlich hoch, damit es euch bei der Arbeit nicht behindert. Ordnung in den Zimmern ist oberstes Gebot im Lager! Um sechzehn Uhr treffen wir uns pünktlich wieder hier! Weitere Informationen bekommt ihr später.«

Frida sah sich unsicher um und folgte den anderen Mädchen in das geräumige Wohnhaus. Zwei junge Frauen in erdfarbener Uniform führten die Mädchen in zwei große Schlafsäle. Etwa zehn Stockbetten befanden sich in einem Raum. In jedem lagen ein mit Leinen überzogener Strohsack und ein Kissen, an den Wänden standen grüne Spinde.

»Hier müsst ihr eure Sachen unterbringen, auch eure Ausgehuniform und Arbeitskleidung. Sie muss immer sauber und gebügelt sein. Da ist die Jugendführerin sehr streng«, erläuterte die junge Frau, die Fridas Gruppe leitete. Sie brachte die Mädchen in einen weiteren Raum, wo ihnen Uniform und Arbeitskleidung ausgehändigt wurden: zwei schlichte, kornblumenblaue Leinenkleider, zwei Sackleinenschürzen, ein rotes Kopftuch, Arbeitsstiefel, derbe Halbschuhe und ebenso grobe Socken. Die Ausgehuniform bestand aus einem erdfarbenen, knielangen Rock, einer weißen Bluse und einer Kostümjacke mit braunem Kragen.

»Packt jetzt aus und zieht euch die Arbeitskleidung an. Seht zu, dass ihr ja pünktlich seid!«, ermahnte sie die junge Frau. Sie bemühte sich, ihrer Stimme Strenge zu verleihen, doch es war eher Unsicherheit als Durchsetzungskraft, die in ihren Worten schwang. Sie nickte den Mädchen zu und ging hinaus.

Frida sah sich schweigend um. In den Augen ihrer Gefährtinnen lagen die gleiche Anspannung und Ungewissheit. Sie legte ihre Tasche auf eines der Betten und fing an, sich umzukleiden.

»Du bist Frida, nicht wahr? Wir haben uns auf der Anreise gesehen«, vernahm sie plötzlich eine leise Stimme hinter ihrem Rücken. Langsam wandte sie sich um, während sie das blaue Arbeitskleid überstreifte.

»Ja! Und du bist Gisela. Du warst auch im Zug aus München«, erwiderte sie und lächelte dem rothaarigen Mädchen zu, das auf der Herfahrt die Gruppe mit Witzen unterhalten hatte.

»Und? Wie findest du’s hier?«, fragte Gisela.

Frida zuckte mit den Schultern und studierte den Gesichtsausdruck der anderen. Nicht selten wurden Mädchen auf ihre Loyalität zum Führer überprüft. Sie strich ihren Rock glatt und begann, ihr Haar zu flechten und hochzustecken. »Wir werden sehen.«

Gisela schnalzte mit der Zunge, beugte sich ganz nah zu Fridas Ohr, sodass sie ihren Atem spüren konnte, und wisperte: »Diese Strohsäcke sind eine Zumutung. Haben die keine ordentlichen Matratzen?«

Frida lachte leise. »Lass das nicht unsere Lagerführerin hören«, flüsterte sie. »Ein deutsches Mädel ist nicht verwöhnt, sondern demütig und bescheiden.« Sie grinste verschwörerisch und wusste sofort, dass sie sich mit Gisela gut verstehen würde.

Frida hatte miserabel geschlafen, war immer wieder aufgewacht. Die ganze Nacht hatte sie über ihre Mutter, die nun einsam in der ungeheizten Wohnung in München in ihrem großen Ehebett lag, über ihre neue Freundin Gisela und über ihre bevorstehenden Arbeiten auf dem Bauernhof nachgegrübelt, bis der Morgen gegraut hatte. Selbst jetzt noch, als sich die ersten Mädchen in den Betten regten und sie wusste, dass es nur noch wenige Minuten bis zum Weckruf sein konnten, drehten sich ihre Gedanken unaufhörlich im Kreis. Dann hörte sie Schritte im Korridor und wurde durch ein barsches »Guten Morgen! Sechs Uhr!« aus dem Bett gerissen. Sie erhob sich träge von dem unbequemen Strohsack und rüttelte an Giselas Schulter. »Aufwachen! Morgensport!«

Giselas Gesichtsausdruck verriet die mangelnde Begeisterung über die bevorstehende Aktivität, doch keines der Mädchen konnte sich dem entziehen. Also schlüpften sie in die Trainingsanzüge und traten hinaus in den kühlen Morgen. Die Gruppe machte einen Lauf durch das umliegende Wäldchen. Die Luft war kühl und frisch, und es duftete nach nassem Nadelholz. Was für ein Gegensatz zu dem staubigen München, in dem der Geruch nach Schutt und verbranntem Holz jeden Gedanken an Natur und Freiheit vertrieb. Frida atmete tief ein und beschloss, ihren Aufenthalt als Gewinn zu sehen. Sie lief mit offenen Ohren und Augen durch den Wald, hörte die ersten zwitschernden Vögel, fühlte den Tau auf ihren Waden und die frische Luft auf ihren Wangen. Die ersten Sonnenstrahlen stahlen sich durch das Blätterdach, zauberten ein wunderschönes Bild und ließen Frida fast vergessen, dass Krieg herrschte.

Nach dem Morgensport befahl die Lagerleiterin den Mädchen, sich zu den Duschen zu begeben. Um Zeit zu sparen, mussten sie sich alle zugleich entkleiden und waschen, was Fridas Wangen vor Scham brennen ließ. Sie konnte nicht umhin, Giselas volle Brüste und ihre ausgeprägten weiblichen Rundungen zu bewundern. Fridas Körper hingegen war hager, blass und knabenhaft. Nach der Dusche wurden die Mädchen auf ihre Zimmer geschickt. Ankleiden, Betten machen, Aufräumen, Kontrolle, Frühstück. Frida stöhnte leise. Der militärische Drill war ihr schon in den BDM-Lagern zuwider gewesen, aber sie schwieg und achtete darauf, alle Anweisungen ordentlich und gewissenhaft auszuführen. Sie wartete still, bis eine Jugendführerin mit strengem Gesicht in den Raum stolzierte und die gespannten Laken und aufgeschüttelten Kissen kontrollierte.

»Was soll das sein?« Unmutig riss die junge Frau Laken und Kissen von Giselas Bett, öffnete ihren Spind und warf ihre Sachen auf den Boden. Sie strafte das Mädchen mit einem unmissverständlichen Blick. »Noch mal! Und zwar ordentlich! Glauben Sie, Sie müssen sich nicht an die Regeln halten?«

Es war das erste Mal, dass Frida in Giselas Gesicht ein Hauch von Verzweiflung sah. Eingeschüchtert spannte sie das Laken erneut über ihr Bett, straffte es und schüttelte das Kissen auf.

Frida band sich Schürze und Kopftuch um und lächelte ihr aufmunternd zu. »Sie will dich nur ärgern. Mach dir nichts draus!«, flüsterte sie ihr zu.

Dann stellten sie sich in zwei Reihen vor dem Haus auf und warteten, bis die Jugendführerin erschien. »Heil Hitler!«, rief sie mit unangenehm schriller Stimme, die ihr weder Respekt noch Seriosität verlieh.

Die Mädchen hoben die rechte Hand, erwiderten folgsam den Gruß und folgten mit ihren Blicken der Fahne, die langsam vor ihnen gehisst wurde. Was nun kam, kannte Frida aus den BDM-Lagern. Sie fasste Gisela, die rechts von ihr stand, und ihre linke Kameradin an den Händen und begann lauthals, eines der traditionellen deutschen Lieder zu singen. Sie beherrschte sie alle. Eingetrichtert, auswendig gelernt, immer und immer wieder. Frida mochte die Lieder. Sie sang gern und fühlte sich an eine bessere, lustigere Zeit vor dem Krieg erinnert. Endlich, nach dem Morgengesang, durften sie im Speisesaal Platz nehmen, wo sie Brot, Butter, Marmelade und Kaffee bekamen.

Gleich nach dem Frühstück wurden die Mädchen zu den Fahrrädern gerufen. Sie erhielten genaue Anweisungen, wo sie in den nächsten Tagen und Wochen arbeiten würden. Dann radelten sie los – ein Stück gemeinsam, bis sich ihre Wege trennten und jede der jungen Frauen auf ein ungewisses Ziel zusteuerte.

4

Erding bei München, Juli 1943

Fridas Herz schlug vor Aufregung und Anstrengung, als sie sich dem großen Hof näherte. Sie trat kräftig in die Pedale und wischte sich mit dem Handrücken Schweißperlen von der Stirn. Nur wenige federleichte weiße Wölkchen zogen über den blauen Himmel. Die Sonne stand bereits hoch, und es versprach ein heißer Julitag zu werden. Das Morgenlicht brachte das Gelb der Kornfelder und das satte Grün der Weiden zum Leuchten. Die Natur war von einer unberührten Schönheit, und Frida überkam ein Gefühl inneren Friedens. Mit Schwung fuhr sie den letzten Abhang hinab auf den großen Bauernhof zu. Sie lehnte ihr Fahrrad an einen Kirschbaum, zupfte ihre Schürze zurecht, steckte sich lose Haarsträhnen unter das Kopftuch und betrachtete mit bangem Gefühl in der Magengrube ihre neue Arbeitsstätte.

Der Bauernhof war ein Dreiseithof. Er bestand aus drei in U-Form aneinandergebauten Gebäuden: einem Wohnhaus, einem Stall, über dem sich die Kammern des Gesindes befanden, und dem Korn- und Strohspeicher. Es war ein Anwesen von beachtlicher Größe, und Frida wunderte sich nicht, dass hier Hilfe vonnöten war. Sie stieß entschlossen die Luft aus, schritt auf die Eingangstür des Wohnhauses zu und klopfte. Eine drahtige, schlanke Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm öffnete ihr. Sie war etwa dreißig Jahre alt, hatte ein rotbackiges Gesicht, schmale Lippen und helle, wasserblaue Augen. Über ihrem braunen Haar trug sie ein geblümtes Kopftuch, das sie im Nacken gebunden hatte. Ein Duft nach geröstetem Maismehl und frischem Brot drang aus der Stube.

»Servus, Mädel«, grüßte die Frau mit leiser Stimme.

»Guten Morgen. Ich bin Frida.« Sie machte einen unbeholfenen Knicks, da die Bäuerin keine Hand frei hatte, die sie schütteln konnte, und kam sich im selben Moment lächerlich vor. Die Frau verzog die Lippen zu einem Schmunzeln, musterte Frida kurz mit einem prüfenden, aber nicht ablehnenden Blick, nickte und öffnete die Tür. »Komm rein! Wir sind gerad beim zweiten Frühstück.«

»Guten Tag!«, sagte Frida, als sie in die Stube trat. Zwei Mägde saßen neben einem kleinen etwa zwei Jahre alten Jungen, der versuchte, Brei aus einem Tellerchen zu löffeln, ohne zu kleckern. Sie nickten ihr mit einem leisen Brummen zu. Die Bäuerin wies mit einer Handbewegung auf einen freien Stuhl, setzte sich, knöpfte ihre Bluse auf und legte den Säugling, den sie auf dem Arm hielt, an. Das Kleine begann sofort gierig an der rosigen Brustwarze zu saugen, und die Bäuerin wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Frida zu.

»Um neun treffen wir uns immer zum zweiten Frühstück. Dann geht’s aufs Feld. Ich heiß Anni. Wie alt bist denn, Mädel?«

»Siebzehn«, antwortete Frida schüchtern.

»Hmmm, kennst dich aus mit der Bauernarbeit?«

»Nein … ich …« Frida senkte beschämt den Kopf, »ich komme aus München.«

»Himmelherrgott! Ein Stadtmädel schicken s’ uns? Mei …« Die Bäuerin stöhnte auf. »Ein Mannsbild hätten wir gebraucht, für die harte Arbeit, ned ein verwöhntes Stadtmädel.«

Frida trieb die abfällige Bemerkung die Röte ins Gesicht. Sie krallte ihre Finger nervös in die Schürze und wich Annis Blick aus. »Na, wir werden’s bestimmt irgendwie schaffen. Fleißig musst du sein und zupacken. Die Mägde zeigen dir schon, wie’s geht.« Frida nickte. »Ich bleib am Vormittag auf’m Hof. Die Kinder bringen die Milch ins Dorf. Sind ja grad Ferien. Punkt zwölf steht das Essen auf’m Tisch.«

Frida hob den Kopf und sah sie verwundert an. »Die Kinder?«

Die Bäuerin grinste. »Ja, ich hab noch vier!«

»Noch vier?«, fragte Frida verblüfft.

Die eine Magd, eine junge Frau mit dunklen Haaren und einem schiefen Schneidezahn, lachte. »Na, Mädel, wie viele seid’s ihr denn daheim?«

Frida erstarrte. Bilder und Erinnerungen wirbelten ihr durch den Kopf, ein nicht enden wollender Strom aus Gefühlen und Gedanken.

»Hat’s dir die Red verschlagen?«, bohrte die Magd nach und schob sich ein Stück Brotrinde in den Mund, an dem sie lautstark zu kauen begann. Frida räusperte sich und straffte die Schultern.

»Wir … wir waren mal fünf. Mein ältester Bruder und mein Vater sind gefallen, der zweite Bruder wird vermisst«, antwortete sie mit belegter Stimme.

»Mei, das tut mir leid, Kind!«, sagte die Bäuerin. Sie nahm das Kleinkind von der Brust, knöpfte ihre Bluse zu und sah Frida mitleidig an. »Bei uns sind auch keine Männer mehr auf’m Hof. Zuerst sind die Knechte eingezogen worden und vor einem halben Jahr auch mein Mann. Irgendwo in Frankreich is er.« Sie sah zu dem Herrgottswinkel, in dem eine Kerze flackerte. »Der da oben wird schon aufpassen auf ihn.« Sie schlürfte an ihrem Kaffee, schob das letzte Stück Brot in den Mund und stand auf. »Jetzt wird’s Zeit.«

Frida schoss in die Höhe und sah unsicher zu den beiden Mägden.

»Zuerst gehn wir auf’n Kartoffelacker. Am Nachmittag müssen wir das Heu auf der Wiese wenden, dann können wir’s morgen einbringen. Hoffen wir, dass das Wetter so bleibt.« Die Magd wartete auf eine Reaktion.

Frida fragte sich bedrückt, wie sie die Arbeiten, die sie noch nie getan hatte, bewerkstelligen sollte.

»Gebt’s Obacht auf das Mädel, gell!«, sagte die Bäuerin und winkte sie hinaus.

Frida folgte den Mägden in den Schuppen, wo sie Karren, Kartoffelerntegabeln und Schaufeln holten, und marschierte mit ihnen zu einem großen Acker, der gut zwanzig Minuten entfernt lag. Die erste Arbeit war schnell erklärt und fiel Frida nicht schwer. Doch die zunehmende Hitze trieb ihr Schweißperlen auf die Stirn, und der Rücken schmerzte bereits nach einer Stunde Arbeit vom ständigen Bücken.

Zur Mittagszeit kehrten sie und die Mägde auf den Hof zurück, wuschen sich mit einem kalten Schwall Wasser am Brunnen und betraten hungrig die Stube. Ein herrlicher, für Frida fast schon vergessener Duft nach gebratenem Speck, Kartoffeln und Sauerkraut erfüllte den Raum. Um den Tisch saßen eng gedrängt fünf Kinder, eines davon hielt das Kleinkind auf dem Schoß. Anni lächelte und hob die Hand, um ihre schwatzende Kinderschar zum Schweigen zu bringen. Alle Augenpaare wandten sich Frida zu und sahen sie mit geradezu unangenehm durchdringenden Blicken an.

»Jetzt starrt sie ned so an, Kinder! Das is die Frida, unser Hilfsmädel. Sie wird ab jetzt jeden Tag kommen.«

»Ein Mädel? Ich hab geglaubt, es kommt ein Mann«, ließ sich der größte Junge vernehmen. Er hatte kurz geschorenes braunes Haar und ein ganz schön vorlautes Mundwerk, wie Frida fand.

»Wir nehmen, was wir kriegen! Und jetzt sei ein bissl höflicher, Kurti«, sang Anni mit fröhlicher Stimme, wobei sie Frida heimlich zuzwinkerte und eine große Pfanne mit in Schmalz gebratenen Kartoffelscheiben, Speck und Sauerkraut in die Mitte des Tisches schob. Sofort stürzten sich die Kinder mit ihren Holzlöffeln auf das Essen, als Anni streng mit der Faust auf den Tisch schlug.

»Himmel, Sakrament, was soll denn das!«

Augenblicklich falteten die Kinder die Hände zum Gebet. Frida tat es ihnen gleich und schielte heimlich zu den kleinen Gesichtern, die leise mit frommen Mienen ihr Vaterunser vor sich hin murmelten. Frida war das Beten vor dem Essen nicht gewohnt, doch sie sprach mit und bewunderte Anni, die die Zügel fest in der Hand hielt.

»Amen! So, und jetzt Mahlzeit!«, schloss die Bäuerin und reichte auch Frida einen Holzlöffel. Alle aßen aus einer Pfanne. So ungewöhnlich das Frida auch fand, es störte sie nicht. Sie schmunzelte über die gierigen Mäuler, die das Interesse an ihr genauso schnell wieder verloren hatten, wie es gekommen war.

»Sechs Kinder, das is eine Aufgabe, liebe Frida!«, sagte Anni beiläufig, während sie den Zweijährigen fütterte.

»So bald willst du wohl eh noch keine Kinder, oder?«, fragte eine der Mägde.

Frida lächelte verlegen.

»Ähem … nein. Zurzeit sind junge Männer ja sowieso rar«, erwiderte sie mit brennenden Wangen.

»Wie wahr!«, murmelte Anni und stieß einen Seufzer aus. »Die Zeiten sind außerdem ned grad die besten, um ein unschuldiges Kind in die Welt zu setzen. Die Menschen müssen erst wieder zur Besinnung kommen.«

Frida musterte sie. Sie fragte sich, ob die Bäuerin wagte, leise Kritik an den Nationalsozialisten auszusprechen, oder ob sie den Krieg im Allgemeinen meinte.

»Wie war’s auf dem Feld?«, riss Anni sie aus dem Grübeln.

»Ähm, na ja. Ich … ich hab mich bemüht …«

»Sie wird’s erst lernen müssen, Bäuerin. Noch is sie uns keine große Hilfe.«

»Das hab ich mir gedacht«, stöhnte Anni. »Ich hab ja um einen Fremdarbeiter gebeten, aber die schicken mir keinen. Wahrscheinlich bin ich ihnen ned führertreu genug. Ich werd noch mal zum Bürgermeister gehen.« Frida senkte beschämt den Kopf. »Macht nichts, Mädel. Tu dein Bestes, dann wird’s schon werden. Ist ja ned deine Schuld!«, beschwichtigte die Bäuerin. »Einen Hof ohne Mann zu führen ist eben kein Kinderspiel. Das Pflügen, das Holzziehen aus dem Wald, das Sauschlachten, die ganze harte Arbeit … Ich weiß ned, wie sich die da oben das vorstellen, wenn’s uns alle an die Front schicken.«

»Aber der Vati kommt bald wieder, gell, Mutti?«, fragte ein blondbezopftes Mädchen mit hoffnungsvollem Blick.

»Aber ja, Schatzerle, natürlich kommt er bald wieder, und dann wird alles wieder gut.«

Das Mädchen lächelte zufrieden und schob sich einen Löffel Bratkartoffeln in den Mund.

Frida sah Anni nachdenklich an. In diesem Moment schaffte sie es nicht, den Tod ihres Bruders und ihres Vaters aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, und sie hoffte inständig, dass der Bäuerin das grausige Schicksal der Witwenschaft erspart bleiben würde.

Frida gewöhnte sich schnell an den Tagesablauf. Nach der Rückkehr von den Höfen mussten die Mädchen im Lager noch Kohle schleppen, Abendsport treiben und nach dem Abendbrot eine ermüdende Kurzschulung über sich ergehen lassen, die sicherstellen sollte, dass alle die richtige politische Bildung erhielten. Während des Unterrichts geschah es nicht selten, dass das eine oder andere Mädchen den Kopf auf den Tisch sinken ließ und erschöpft einschlief.

Im Laufe der Zeit wuchs auf Fridas Handflächen eine hässliche, grobe Hornhaut, aber diese erleichterte ihr die Arbeit. Ihr schlaksiger Körper wurde muskulöser, und sie störte sich bald nicht mehr an dem kratzigen Strohsack und dem Nacktduschen vor ihren Kameradinnen in der Früh. Im Lager hatte sie in Gisela eine gute Freundin gefunden, mit der sie oft trotz der langen Arbeitstage noch bis tief in die Nacht tuschelte und kicherte, sodass sie am nächsten Tag todmüde aus dem Bett kroch und sich die Belehrungen der Jugendführerin anhören musste. Das alles nahm Frida ohne Murren hin, denn sie freute sich jeden Tag auf Annis Hof. Kaum eine ihrer Kameradinnen konnte das nachvollziehen, auch wenn keine einzige es wagte, sich zu beklagen. Im Gegenteil, sie lobten die Arbeitsbedingungen vor der Jugendführerin, und die meisten waren auch tatsächlich stolz auf das, was sie leisteten. Doch Stolz und Freude waren zwei verschiedene Empfindungen.

Gisela empfand nichts von beiden. Sie kam nicht selten mit einer brennend roten Wange nach Hause. Ihre Bäuerin ließ Gisela gern den Ärger über ihre Unfähigkeit am eigenen Leib spüren, schlug schon mal kräftig zu oder gab ihr weniger zu essen. Gisela hatte sich ihre lockere Zunge rasch abgewöhnt und zählte die Tage, bis ihr Zwangsarbeitsdienst, wie sie ihn nannte, vorüber sein würde. Woran es lag, dass Gisela den Unmut der anderen auf sich zog, hatte Frida rasch begriffen. Die Freundin war eine kluge junge Frau, die in ihrer Schulbildung den meisten ihrer Gefährtinnen, den Jugendführerinnen und natürlich auch den Bäuerinnen und Mägden weit überlegen war. Zurückhaltung war nicht ihre Stärke, und erst langsam lernte sie, ihre Schlagfertigkeit nicht gegen sich selbst einzusetzen, indem sie andere mit spitzen Bemerkungen brüskierte.

Bei der Jugendführerin des Lagers war das allerdings gar nicht notwendig. Vom ersten Tag an hatte sie Gisela im Visier gehabt. Sie trug ihr Arbeiten auf, die reine Schikane waren, wie das Hin- und Herschleppen von Holz zum Stählen ihrer verweichlichten Muskeln. Den anderen Mädchen blieb das erspart. Frida hatte Mitleid mit ihrer Freundin, doch jede Mithilfe blieb ihr untersagt. Gisela aber ließ sich nicht so leicht brechen, wie es sich die Jugendführerin gewünscht hätte, und Frida half ihr dabei, sie selbst zu bleiben.

Drei Monate arbeitete Frida nun bereits bei Anni auf dem Hof. Schon bald nach ihrer Ankunft hatte sie sich mit ihrer neuen Arbeitgeberin und dem straffen Tagesplan arrangiert. Sie wurde mit Respekt und Geduld behandelt, war eifrig und lernfähig und wurde bald zu einem geschätzten Mitglied der Bauernfamilie. Mit Erleichterung hatte Frida erfahren, dass die Bäuerin um Verlängerung angesucht hatte. Die meisten Mädel wechselten nach vier Wochen ihren Dienstort, was für die Arbeitgeberinnen ein Ärgernis darstellte, musste doch jedes unerfahrene Mädchen wieder eingearbeitet werden. Frida war froh, bei Anni bleiben zu dürfen. Die Kinder waren ihr ans Herz gewachsen, ebenso wie die kecke Bäuerin, die ihr loses Mundwerk nur selten beherrschte und frei hinausposaunte, was in ihrem Kopf vorging.

Der Herbst zog ins Land. Zur Aufstehzeit waren Wald und Felder noch in tiefe Dunkelheit getaucht. Zähe Nebelschwaden schlängelten sich durch die Bäume und steigerten Fridas Unlust, sich am Morgenlauf zu beteiligen. Die Luft war kalt und feucht, und die kahlen Äste hingen wie Fangarme herunter, die nach den Mädchen schnappten. Frida war froh, in der Gruppe durch den Wald zu laufen, allein hätte sie es gruselig gefunden. Nach Dusche, Gesang und Frühstück schwang sie sich auf das Fahrrad und trat in die Pedale.

Es war noch früh, als sie den Hof erreichte. Schon als sie sich der Stube näherte, konnte sie laute Swingmusik hören. Frida sah sich ängstlich um, öffnete die Tür, schloss sie eilig hinter sich und starrte überrascht auf die Bäuerin, die mit ihrem zweijährigen Sohn auf dem Arm durch die Stube tänzelte.

»Frau Anni!«, rief Frida, »was tun Sie denn da!«

Die Bäuerin hob lachend den Kopf. »Tanzen, Kind, tanzen! Komm!«

»Nein, nein!«, kreischte Frida hysterisch und wich zwei Schritte zurück. Die Musik verebbte, und der Sprecher des BBC, der in deutscher Sprache das Neueste von der Front berichtete, krächzte durch den Lautsprecher. »Aber Frau Anni, das dürfen Sie nicht!«

Die Bäuerin setzte sich, hob ihr Kind auf den Schoß und bedachte Frida mit einem kritischen Blick. »Wirst du mich denn verraten?«

»Aber nein, natürlich nicht!«

»Na, dann hock dich her und hör zu!«

Fridas Wangen brannten vor Aufregung. Ihr Herz klopfte, und ihre Hände wurden feucht vor Anspannung. Sie näherte sich und flüsterte mit belegter Stimme: »Frau Anni, wirklich, ich bitte Sie. Die Freundin meiner Mutter wurde verhaftet, weil sie den Fremdsender gehört hat.«

»Ach geh!« Anni hob die Brauen und schürzte die Lippen zu einem spöttischen Lächeln.

»Das Abhören feindlicher Sender ist ein Verbrechen gegen die Sicherheit unseres Volkes und wird vom Führer mit schweren Zuchthausstrafen geahndet.«

Annis Lächeln erstarb. Sie schaltete den Radioapparat ab und studierte Fridas Gesichtszüge. »Das hast du ja brav auswendig gelernt!«

Frida seufzte. Die Hilflosigkeit trieb ihr Tränen in die Augen.

»Na, na, kein Grund, gleich zu weinen. Schau, da bei uns auf’m Land hört kein Mensch was. Die Musik ist einfach schön, und ich glaub dem BBC mehr als unseren Nachrichten.«

»Aber wenn die Mägde etwas verraten, oder die Kinder. Ein Wort genügt, und …«

»Ah, die Kinder wissen nichts, der Bub ist dafür noch viel zu klein, und die Mägde hören ja selbst mit. Die Einzige, die was verraten könnt, bist du!« Sie musterte Frida mit einem durchdringenden Blick.

»Nein, um Himmels willen, ich …«

»Na also!«