Das Bernsteinherz - Linda Holeman - E-Book
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Das Bernsteinherz E-Book

Linda Holeman

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Beschreibung

Eine junge Gräfin kämpft für ihre Freiheit und die Liebe: Der Roman »Das Bernsteinherz« von Linda Holeman jetzt als eBook bei dotbooks. Im Zarenreich des 19. Jahrhunderts wächst Antonia Leonidowna in Pracht und Reichtum auf, doch in Wahrheit ist es ein goldener Käfig – und sie darin eine Gefangene. Für Stand und Ansehen ist ihre Familie bereit, jeden Preis zu zahlen: So zerstören sie nicht nur Antonias Freundschaft zu der jungen Dienerin Lilja, sondern verheiraten sie auch an einen alten Grafen, der Antonia zutiefst zuwider ist. Pflichtschuldig fügt sie sich in ihr Schicksal, aber alles ändert sich, als ihre neue Familie von räuberischen Kosaken überfallen, ihr Mann gefährlich verletzt und ihr geliebter kleiner Sohn entführt wird. Nun ist Antonia die Einzige, die das Gut noch vor dem Ruin bewahren und für das Leben ihres Kindes kämpfen kann. Hilfe in ihrer Not findet sie überraschend bei Lilja und dem geheimnisvollen Gutsverwalter Grischa – doch darf Antonia ihnen wirklich vertrauen? Das Schicksal ihrer Großeltern inspirierte die internationale Bestsellerautorin zu diesem bewegenden Epos: »Eine wunderschöne und fesselnde Geschichte, die einen Sturm von Gefühlen auslöst.« Frankfurter Stadtkurier Jetzt als eBook kaufen und genießen: Die fesselnde Saga »Das Bernsteinherz« von Linda Holeman. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 813

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Über dieses Buch:

Im Zarenreich des 19. Jahrhunderts wächst Antonia Leonidowna in Pracht und Reichtum auf, doch in Wahrheit ist es ein goldener Käfig – und sie darin eine Gefangene. Für Stand und Ansehen ist ihre Familie bereit, jeden Preis zu zahlen: So zerstören sie nicht nur Antonias Freundschaft zu der jungen Dienerin Lilja, sondern verheiraten sie auch an einen alten Grafen, der Antonia zutiefst zuwider ist. Pflichtschuldig fügt sie sich in ihr Schicksal, aber alles ändert sich, als ihre neue Familie von räuberischen Kosaken überfallen, ihr Mann gefährlich verletzt und ihr geliebter kleiner Sohn entführt wird. Nun ist Antonia die Einzige, die das Gut noch vor dem Ruin bewahren und für das Leben ihres Kindes kämpfen kann. Hilfe in ihrer Not findet sie überraschend bei Lilja und dem geheimnisvollen Gutsverwalter Grischa – doch darf Antonia ihnen wirklich vertrauen?

Das Schicksal ihrer Großeltern inspirierte die internationale Bestsellerautorin zu diesem bewegenden Epos: »Eine wunderschöne und fesselnde Geschichte, die einen Sturm von Gefühlen auslöst.« Frankfurter Stadtkurier

Über die Autorin:

Linda Holeman, geboren im kanadischen Winnipeg, arbeitete nach ihrem Studium der Soziologie und Psychologie zunächst zehn Jahre als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihrem ersten Roman »Smaragdvogel« folgten zahlreiche weitere historische wie auch zeitgenössische Romane, die internationalen Bestsellerstatus erlangten und in bislang sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt Linda Holeman abwechselnd in Toronto und Santa Monica, Kalifornien.

Linda Holeman veröffentlichte bei dotbooks auch ihre Romane:

»Smaragdvogel«

»Das Mondamulett«

»Der Lotusgarten«

***

eBook-Neuausgabe April 2022

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2012 unter dem Originaltitel »The Lost Souls of Angelkov« bei Random House Canada, a division of Random House of Canada Limited, Toronto. Die deutsche Erstausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Das Lied der Hoffnung« bei Goldmann.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2012 by Linda Holeman

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch The Helen Heller Agency Inc.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Vladimir Sazonov, Kathy SG

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-064-9

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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Linda Holeman

Das Bernsteinherz

Roman

Aus dem Amerikanischen von Monika Köpfer

dotbooks.

In Erinnerung an meine Großeltern Theodor und Ljuba, die mir ein reiches russisches Erbe hinterließen.

»Sans illusions, adieu à la vie!«

Motto von »Reminiszenz über eine Mazurka« von Michail Glinka, 1847

***

»Aus der hundertjährigen Geschichte der russischen Leibeigenenorchester gingen einige wenige bedeutende Musiker, aber nur ein einziger großer Komponist hervor, der ihnen zugetan war – Glinka.«

Richard Stites, »Serfdom, Society, and the Arts in Imperial Russia«

Kapitel 1

April 1861

Landgut Angelkow, Provinz PskowEinen Dreitagesritt von Sankt Petersburg entfernt

An dem Tag, an dem sein Sohn geraubt wurde, nahm Konstantin eine Veränderung in der Luft wahr. Einen unterschwelligen Geruch, die ersten zarten Anzeichen, dass der Frühling nahte, um den langen Winter zu vertreiben. Das ist es, woran er denkt – an den Geruch in der Luft –, als die Männer vor ihm auftauchen.

Sie nähern sich im Zickzack aus dem still daliegenden Wald – seinem Wald –, geschickt galoppieren sie um die schlanken, blattlosen Birken und grünen Fichten herum. Warum hat er nicht schon früher den prasselnden Hufschlag auf dem gefrorenen Schnee und das laute Schnauben ihrer Pferde bemerkt? Und warum hat er nicht auf Michail gehört, der ihm zugerufen hat: Papa, da kommt jemand? Aber er hat nicht auf den Jungen geachtet. Warum? Hätte es etwas geändert? Hätte er sein Pferd anhalten und lauschen sollen?

Die Männer tragen ihre hohen Pelzmützen tief in die Stirn gezogen. An den Ärmeln ihrer Wolljacken prangt das unverkennbare Abzeichen der Kosaken. Nasen und Münder sind hinter Schals verborgen. Auf ihren kleinen, wendigen Pferden wirken sie riesig, geradezu monströs. Mit gezückten Säbeln galoppieren sie auf ihn zu.

Konstantin lässt die Zügel, die er lose mit einer Hand gehalten hat, fallen und greift nach seinem Degen. Umständlich zieht er ihn aus der Scheide, während er über die Schulter ruft: Los, reite zu, Michail, reite, so schnell du kannst! Aber Michail beherrscht sein Pferd nicht.

Papa, Papa, er lässt sich nicht wenden. Michail ist zehn Jahre alt. Er reitet an diesem Tag nicht seine eigene kleine folgsame Stute, sondern einen lebhaften gefleckten Wallach. Grischa, Konstantins Verwalter, meinte, dass dem Jungen eine Herausforderung guttun würde. Dieser verfluchte Grischa! Aber hätte es den Lauf der Dinge geändert, wenn Michail auf seinem Pferd gesessen hätte, das ihm vertraut ist und ihm jederzeit gehorcht?

Es sind drei, vielleicht auch vier Kosaken; alles geschieht so schnell, und Konstantins Augenlicht ... lässt zu wünschen übrig. Er ist zu alt und sieht nicht mehr so klar wie früher, und sein Gehör ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Plötzlich reitet sein Sohn neben ihm; Konstantin erhascht einen Blick aus dem Augenwinkel auf sein dichtes blondes Haar, seinen zarten, flaumigen Teint. Das Ebenbild seiner Mutter.

Antonina, ist sein nächster Gedanke, oh Gott, Antonina. Sie wollte nicht, dass er den Jungen mitnahm, es sei zu kalt, meinte sie, das Kind sei doch gerade erst krank gewesen. Nimm ihn nicht mit, Konstantin, flehte sie ihn an, bitte, Kostja, es ist noch zu früh, die Kälte setzt ihm zu.

Instinktiv weiß er, was immer jetzt in diesem Wald geschieht, wird sie zerstören. Ihr Gesicht taucht vor seinem geistigen Auge auf, schmerzverzerrt, gequält, ein Ausdruck, den er noch nie zuvor an ihr wahrgenommen hat. Aber es ist zu spät. Er weiß, dass es zu spät ist.

Konstantin packt die Zügel von Michails Pferd und zieht es noch näher an seine Seite. Der Wallach tänzelt nervös herum, während die Kosaken Konstantin und seinen Sohn einkreisen.

Er hat es sich selbst zuzuschreiben, weil er so dickköpfig war – du dickköpfiger alter Mann, hat Antonina gesagt, als er darauf bestand, Michail mitzunehmen. Als er sich obendrein weigerte, sich von einem Diener begleiten zu lassen, rief sie abermals hinter ihm her, und Konstantin sah, wie sie beschwörend auf Grischa einredete und den Verwalter am Ärmel zupfte. Obwohl es erst früher Nachmittag war, war sie bereits wackelig auf den Beinen. Und als sich Grischa entfernte, stand Antonina auf der breiten Eingangstreppe und hielt sich an einer Säule fest. Sie rief ein letztes Mal nach Konstantin – er solle wenigstens die Pelzmütze für Michail mitnehmen, oder etwas in der Art –, und ihre sonst so melodische Stimme klang hart und tonlos in der kalten, windstillen Luft. Aber er drehte einfach den Kopf weg, als ein Diener hinter ihnen hereilte und mit Michails Pelzmütze, der uschanka, winkte.

Ohne sie zu beachten, galoppierte er in Richtung Wald. Michail war bereits um etliche Pferdelängen voraus, und es erfüllte ihn mit Stolz, die wehende Haarmähne seines Sohnes in der kalten Luft zu sehen.

Und jetzt ... Der Anführer der Kosaken, der größer und breiter ist als die anderen Männer, bringt sein Pferd, einen hochbeinigen Dunkelfuchs mit bebenden Flanken, schräg vor Konstantins silbergrauem Araber zum Stehen. Das Pferd des Kosaken kaut auf dem Gebiss und nickt mit dem Kopf, als wollte er seinem Reiter bedeuten, er sei bereit auszuführen, was immer dieser von ihm verlangt. Konstantins Araber ist größer als das Pferd des Kosaken, scheut jedoch und wirft den Kopf zurück, als spürte er die drohende Gewalt.

Konstantin hebt den Degen – warum ist er plötzlich so schwer? –, aber ohne dass er eine Bewegung seitens des Kosaken wahrgenommen hätte, hört er ein hinterhältiges Zischen, und schon schlitzt eine scharfe Klinge ihm den Handrücken seiner unbehandschuhten Hand auf. Sein Degen entgleitet ihm.

Noch spürt er den Schmerz nicht, und es gelingt ihm, den Zügel von Michails Pferd mit der linken Hand festzuhalten. Er hört die verzweifelten Schreie seines Sohns, hört ihn Papa, Papa rufen.

»Schon gut, Michail«, sagt Konstantin zu ihm.

Michails Gesicht ist aschfahl, sein Mund zittert.

»Schon gut, Mischa«, sagt Konstantin abermals. »Sei still, sei still.« Er hat das Gefühl, dass es besser ist, wenn sie Ruhe bewahren, vielleicht kann er dann das drohende Unheil noch abwenden. Gleichzeitig kommt ihm der Gedanke, dass es besser gewesen wäre, die Pelzmütze mit den Ohrenklappen mitzunehmen: Michails unbedeckter Kopf ist verletzlich. Mit einer Pelzmütze wäre das Kind wenigstens ein wenig geschützt gewesen.

»Graf Mitlowski«, sagt der Kosak vor ihm, die Stimme von seinem Schal gedämpft.

Die Kosaken kennen ihn. Jeder kennt ihn; er ist der Grundbesitzer. Ihm gehören Angelkow und die Hunderte und Aberhunderte Werst Land, die das Gut umgeben. Bis vor Kurzem gehörten ihm auch Tausende von Seelen, wie man die Leibeigenen auch nannte. Also handelt es sich um einen geplanten Überfall. Wie lange haben die Kosaken zwischen den Bäumen verborgen auf ihn gelauert, in dieser feuchten spätwinterlichen Kälte, mit steif gefrorenen Zehen in den Lederstiefeln und schweißgetränktem Haar unter ihren Mützen? Seit wie vielen Tagen kommen sie hierher und haben auf den richtigen Moment gewartet? Auf den Moment, da Graf Konstantin Nikolajewitsch Mitlowski schutzlos durch seinen Kiefern-, Fichten- und Birkenwald reitet. Den Moment, da er ahnungslos dem Reitpfad folgt, den seine ehemaligen Leibeigenen in den Wald gehauen haben und der kurz vor dem nächsten Dorf in die Straße mündet, eine Abkürzung von fünf Werst.

Doch im selben Augenblick wird ihm klar, dass er in der vergangenen Woche jeden Tag diesen Weg entlanggeritten ist. Das Wetter war so schön. Erst gestern ist er hier vorbeigekommen, allein, und vorgestern und vorvorgestern auch. Mit dem einzigen Unterschied, dass er heute seinen Sohn dabeihat.

Sein einziges Kind.

Konstantin bemüht sich, dem Mann schräg vor ihm in die dunklen Augen zu sehen. Jetzt spürt er ein schmerzhaftes Pochen in seiner rechten Hand. Sie hängt lose auf seine Hüfte herab, und Blut tropft von den Fingerspitzen auf das graue wollene Hosenbein und das glänzend polierte Leder seiner Reitstiefel und auf den Schnee unter seinem Pferd. Er ist froh, dass sich Michail links von ihm befindet und das Blut nicht sehen kann.

Der Kosak beugt sich im Sattel vor und späht an Konstantin vorbei zu dem Jungen. Der Ausdruck seiner Augen lässt Konstantin unwillkürlich die eigenen schließen. »Ich habe einige Rubel bei mir«, sagt er und schickt ein Stoßgebet zu den Heiligen, während er sich zwingt, dem Kosaken wieder ins Gesicht zu blicken. Seine Stimme ist rau, als wäre er eben erst aus langem Schlaf erwacht. »Hier.« Er deutet mit einem Nicken nach unten in Richtung des Gürtels über seinem Wintermantel, wo eine Ledertasche befestigt ist. »Nehmt es. Und ihr könnt noch mehr haben. Ihr wisst ja, es gibt reichlich davon. Nennt mir eine Summe, und sie gehört euch.«

Konstantin hofft, muss einfach hoffen, dass das, was gerade geschieht, nur ein Raubüberfall ist. Dass sich diese Männer holen, was sie als ihrs betrachten, eine weitere Folge der Unruhen, die über das Land hinwegfegen. Der Zar hat im Februar die Befreiung der Leibeigenen verkündet, und den Preis dafür müssen die einstigen Besitzer bezahlen. Diese Männer sind womöglich gar keine Kosaken, keine Soldaten des Zaren, sondern Männer, die kürzlich in die Freiheit entlassen wurden und sich an ihren einstigen Herren rächen wollen, dafür dass diese so lange über ihr Leben bestimmten.

Der Kosak durchtrennt mit der Spitze seines Säbels die Lederschlaufen, an denen Konstantins Geldbörse am Gürtel hängt. Eine weitere flinke Bewegung mit dem Säbel, und die Börse fliegt durch die Luft, der Kosak fängt sie mit der linken Hand und stopft sie in seine Manteltasche.

Aber Konstantin spürt keine Erleichterung. Die Männer kreisen sie noch enger ein. Er weiß, was als Nächstes kommen wird. Ihm ist, als würde ihn ein unsichtbares Gewicht zur Seite ziehen, und plötzlich fürchtet er, dass er jeden Moment zu Boden stürzen wird, etwas, was ihm nicht mehr widerfahren ist, seit er drei war und von seinem ersten Pony fiel.

Der Kosak pflanzt jetzt die Spitze seines Säbels an Konstantins Hals. »Gib mir die Zügel von deinem Jungen.«

Konstantin rührt sich nicht, er weiß genau, was das bedeutet. »Bitte. Verschont das Kind, ich flehe euch an. Was hättet ihr denn von ihm? Er ist doch nur ein Junge und noch nicht mal ein richtiger Reitersmann! Er wird euch nur aufhalten. In Gottes Namen, ich gebe euch, was ...« Er unterbricht sich, denn die Säbelspitze bohrt sich jetzt tiefer in seinen Hals, ein kurzer dumpfer Ton ist zu hören, der in seinen Ohren widerhallt wie das Knallen eines Champagnerkorkens. Die Wunde brennt, als würde eine Flamme an seine Haut gehalten werden.

»Gib mir die Zügel«, sagt der Kosak erneut. Er lässt seinen Säbel ein wenig sinken, und seine andere Hand, eine muskulöse Pranke, schießt nach vorn und entreißt Konstantin die Lederzügel; der Graf ist etliche Jahre älter als der Kosak und ihm an Kräften bei Weitem unterlegen.

Während der Wallach mit dem Jungen vor seinem Araber vorbeitänzelt, starrt Michail ihn an. »Papa?«, sagt er. Er ist kein besonders gehorsamer Junge, aber in diesem Moment will er, dass sein Vater ihm sagt, was er tun soll.

Konstantins Blick fällt auf den unteren Rand von Michails talmotschka, seinen Mantel, in den mit blauer Wolle sein Name eingestickt ist. Unwillkürlich hat er wieder das Bild vor Augen, wie sich Antonina mit Nadel und Faden über den Steppmantel ihres Sohnes beugte.

»Bitte«, fleht Konstantin, und er hört selbst, wie schwach seine Stimme klingt, die Stimme eines alten Mannes. Hilflos. Er hat nicht mal mehr eine Waffe, wie soll er sich da verteidigen. Ein alter Mann gegen drei – es sind nur drei Männer, wie er jetzt sieht –, aber junge, kräftige Kerle. Dennoch lehnt er sich im Sattel zur Seite und zieht mit der unversehrten Hand den Kosaken am Ärmel. Schneid mir die Hand ab, denkt er, schneid sie ab, von mir aus auch beide, sodass jedermann sehen kann, dass ich alles versucht habe, meinen Sohn zu retten.

Aber der Kosak schiebt seinen Säbel ungerührt wieder in die Scheide, während er Konstantins Hand abzuschütteln versucht. Konstantin klammert sich jedoch an den Ärmel. Der Kosak gräbt die Fersen in die Flanken seines Pferds, das sich auf der Hinterhand aufbäumt. Dabei wird Konstantin zu Boden gerissen, und sein Araber stürmt mit angelegten Ohren in den Wald. Der Kosak lenkt seinen glänzenden Dunkelfuchs in die entgegengesetzte Richtung. Während er Michails Pferd am Zügel führt, reitet er davon, und die anderen beiden folgen ihm.

Michail dreht sich im Sattel um und blickt zu seinem Vater zurück. Konstantin ist schon wieder auf den Füßen und ruft seinem Sohn nach: »Es wird alles gut, Michail. Sei ein braver Junge. Tu, was sie dir sagen. Ich werde dich später holen kommen. Ich werde dich holen. Hab keine Angst.« Er redet sich ein, dass seine Stimme sicher klingt, dass es ihm gelungen ist, Michail zu beruhigen. Oder doch nicht? Michails Gesichtsausdruck ist panisch, seine graugrünen Augen sind weit aufgerissen, wirken übergroß, aber er bleibt stumm.

Ein tapferer Junge, denkt Konstantin einen Moment lang, der ihm merkwürdig gedehnt vorkommt. »Das Lösegeld!«, schreit er, während die Männer tiefer in den Wald vordringen. Michail dreht sich noch immer halb zu ihm um, schaut über die Schulter zu ihm zurück. »Das Lösegeld! Gleich, wie viel, ich werde es umgehend zahlen. Egal, welche Summe! Nennt mir irgendeine Summe!« Er beobachtet, in welche Richtung sich die Kosaken entfernen, während er gleichzeitig versucht, zwischen den dicht stehenden Bäumen sein eigenes Pferd auszumachen. Er muss ihnen folgen.

Als Michail seinen Vater die letzten Worte rufen hört, beginnt sein Mund zu zucken. Er dreht sich um, seine kleinen Schultern sind hochgezogen, sein Haar glänzt im Sonnenlicht, das zwischen den hohen, wogenden Bäumen in den Wald dringt.

Es ist zu kalt für ihn ohne Mütze, denkt Konstantin. Die Mutter des Kindes hatte recht, wie immer. Ich hätte auf sie hören sollen.

Hinter ihm wird Hufgetrappel laut, er wirbelt herum. Es ist Grischa, und er führt den grauen Araber am Zügel.

»Grischa«, sagt er. »Gott sei Dank. Sie haben Michail entführt. Sie haben meinen Sohn. Reite ihnen nach, Grischa.«

Grischa bringt den Araber neben Konstantin zum Stehen und lässt dessen Zügel los. Dieser will sich mit der unversehrten Hand in den Sattel ziehen. Aber er fällt in den blutbefleckten Schnee, versucht erneut aufzusitzen, fällt erneut zurück. Seine linke Hand zittert, als er nach Westen deutet, zu dem dichten Wald, in den die Entführer verschwunden sind.

Grischa galoppiert in die ihm gewiesene Richtung und wird von den Bäumen verschluckt.

Kapitel 2

Der Schrei einer Magd im Hof lässt Antonina aufschrecken.

Mit beiden Händen rafft sie ihren weiten Rock hoch und rennt zum Eingang. Als sie die Tür aufreißt, sieht sie, wie Grischa Konstantin von seinem Araber herunterzieht. Beinahe wäre ihr Mann gestürzt, hätte Grischa ihn nicht mit festem Griff gehalten.

Augenblicklich begreift sie, was das bedeutet: Konstantin, der von Grischa gestützt wird. Irgendetwas stimmt mit ihrem Mann nicht. Und wo ist ihr Sohn?

»Mischa«, sagt sie. »Mischa.« Halb zieht und halb trägt Grischa Konstantin mithilfe von Ljoscha, dem Stallburschen, zum Haus.

»Lass uns losreiten, Grischa!«, ruft Ljoscha, der Mühe hat, dem Gewicht des Grafen standzuhalten. »Ich hole gleich die anderen. Wir dürfen ihnen nicht noch mehr Vorsprung lassen.«

Antonina spürt, wie ihr Mund trocken wird, die Angst schnürt ihr die Kehle zu, sie bekommt keinen Ton heraus. Nicht einmal den Namen ihres Sohnes bringt sie über die Lippen.

Grischa schüttelt den Kopf und zischt Ljoscha zu, er solle den Mund halten. »Wir müssen ihn erst hineinschaffen. Dann reiten wir los.«

Während sie sich am Türrahmen festklammert, starrt Antonina den aufgeknöpften Mantel ihres Mannes an, sein blutbeflecktes Hemd und die Hand, die mit einem Schal umwickelt ist, Grischas Schal, wie sie sieht. Die Männer schieben sich an ihr vorbei, und sie kann die Ausdünstungen der Angst und den metallischen Geruch von Blut riechen. Als sie Konstantin auf das mit smaragdgrüner Seide bezogene Kanapee im Salon betten, steht sie neben ihnen.

Grischa richtet sich auf und sieht sie an, und plötzlich ist es, als stünde für einen Moment alles um Antonina herum still.

Bedienstete scharen sich in der offenen Tür, stoßen sich schweigend an und bekreuzigen sich. Antonina erblickt Lilja, ihre Zofe, unter ihnen, die die Schulter ihres jüngeren Bruders Ljoscha umklammert, als wolle sie ihn beschützen, obwohl er größer ist als sie und sie den Arm nach oben recken muss.

Wenn sie sich jetzt bewegt oder spricht, fürchtet Antonina, wird sie die Beherrschung verlieren oder etwas völlig Verrücktes tun – mit den Armen fuchteln oder zu Boden stürzen und mit den Beinen strampeln, sodass ihre Spitzenunterröcke unter den Augen der Dienerschaft zum Vorschein kommen. Und sie wird losheulen, oh, sie weiß, dass sie heulen wird wie eines dieser Klageweiber, die wehklagend hinter dem Sarg her zum Friedhof ziehen.

Nein. Sie darf, wird sich keine Blöße geben. Schließlich sagt sie: »Mein Sohn. Wo ist mein Sohn, Konstantin?«

Als Konstantin die Augen schließt und das Gesicht zur Rückenlehne dreht, antwortet Grischa statt seiner: »Er wurde mitgenommen, gnädige Frau. Ich bin dem Grafen und Ihrem Sohn gefolgt, wie von Ihnen geheißen, aber ich habe ein wenig Abstand gehalten. Denn wenn der Graf mich gesehen hätte ... Als ich dann auf der Lichtung angekommen bin und ihn gefunden habe« – er deutet mit einer Kinnbewegung auf Konstantin –, »waren die Männer schon weg. Ich bin in die Richtung geritten, in die mich der Graf wies, aber nach kurzer Zeit habe ich ihre Fährte verloren. Es gab zu viele Spuren im Wald, Gräfin. Außerdem musste ich zum Grafen zurück, um ihn nach Hause zu bringen. Seine Hand ...«

Ljoscha löst sich von der Dienerschar an der Tür und tritt einen Schritt vor. »Lass uns hinter ihnen herreiten, Grischa.«

Grischa starrt ihn an, bis Ljoscha zurückweicht. Lilja legt ihrem Bruder die Hand auf den Arm. Grischa ist der Verwalter. Er berichtet direkt an den Grafen. Von Grischa nehmen die anderen Bediensteten ihre Befehle entgegen.

Ohne Vorwarnung steigt ein Schwall bitterer Galle in Antoninas Kehle hoch. Die Faust an die Lippen gepresst schluckt sie. Nein, sie wird sich vor der Dienerschaft keine Blöße geben. Ihre Kehle brennt, als sie die Hand wieder sinken lässt. »Mitgenommen?« Sie räuspert sich. »Von wem?«

»Das weiß ich nicht, Gräfin. Ich habe sie nicht gesehen; der Graf sagt, es waren drei Männer. Er braucht einen Arzt, gnädige Frau.«

Erst jetzt ergreift Konstantin das Wort, sagt mit lauter Stimme: »Nein.« Er richtet sich auf. »Wir haben keine Zeit für einen Arzt. Bringt sauberes Leinen.« Langsam wickelt er den Schal von seiner Hand und zuckt zusammen.

Antonina blickt auf Konstantins Hand. Der Handrücken ist aufgeschlitzt, eine klaffende Wulst aus Sehnen, Adern und aus geronnenem und frischem Blut ist zu sehen.

»Aber, Graf Mitlowski!«, sagt Grischa. »Die Blutung ist zu ...«

»Keinen Arzt, habe ich gesagt. Dafür ist keine Zeit.« Konstantin verzieht das Gesicht vor Schmerz und stößt einen Fluch aus.

»Gnädige Frau« – Grischa wendet sich an Antonina –, »seine Hand ... bitte, entscheiden Sie, was wir tun sollen.«

»Ich erteile die Befehle«, sagt Konstantin zu Grischa. »Halte einfach den Mund.«

Antoninas Blick bleibt an Konstantins Hemd hängen: Auf dem schneeweißen Stoff zeichnet sich ein purpurner Fleck ab. Von seiner Hand, denkt sie. Nicht von Michail. Das Blut stammt von Konstantins Hand. »Holt Verbandszeug, um die Blutung zu stillen«, sagt sie mit fester Stimme in den Raum hinein. Sie hat nicht die Fassung verloren. Plötzlich fällt ihr Blick auf Konstantins unversehrte geballte Hand, aus der ein Stofffetzen herausragt. »Was hast du da in der Hand, Konstantin?« Sie geht zu ihm und versucht, seine Finger aufzubiegen. Aber seine Faust ist so starr wie die eines Toten. »Konstantin«, sagt sie leise und scharf. Er öffnet die Faust. Ein Wollstreifen mit einem kleinen Abzeichen, das darauf genäht ist, liegt auf seinem Handteller.

»Kosaken«, sagt sie. Ihre Stimme klingt wie die einer Fremden, rau und heiser, als hätte sie zuvor aus Leibeskräften geschrien. Kosaken, die Kavallerie der zaristischen Armee mit ihren Lanzen, Stutzen, Säbeln und Pistolen sind in Kriegszeiten wilde und räuberische Gesellen. Aber zurzeit herrscht kein Krieg.

Die Kosaken müssten jetzt fischen und Vieh züchten, ihrer gewohnten Arbeit nachgehen wie üblich in Friedenszeiten.

»Warum sollten Kosaken Mischa mitnehmen?«, fragt sie an Konstantin gewandt. Sie denkt an die Geschichten, die sie gehört hat. Dass die Kosaken in Kriegszeiten Bauernjungen entführen, um ihre Reihen zu füllen. »Sie brauchen zurzeit keine Jungen. Und vor allem keinen wie ... Michail ist adeliger Abstammung. Warum, Konstantin?«

Konstantin zieht seine Hand zurück, seine Lippen sind geschürzt, die Haut darum herum ist weiß. Der Stoffstreifen mit dem Abzeichen gleitet zu Boden.

Antonina hört ein Rascheln im Rücken, dann schwere Stiefelschritte auf dem Fußboden. Die Kaminuhr tickt. Von der Tür ist ein Murmeln zu vernehmen. Dann tritt Olga, die alte Haushälterin, an das Kanapee und wickelt einen Baumwollstreifen um Konstantins Hand. Doch das Blut lässt sich nicht aufhalten, schon durchtränkt es den frischen Verband.

Antonina räuspert sich abermals und schluckt, schmeckt ihren sauren Speichel. »Geht es um Geld? Ist es das, Konstantin, eine Lösegeldforderung?« Ihre Stimme hat jetzt einen harten Klang. »Diese fortwährenden Unruhen – sie glauben wohl, sie können Kinder stehlen und dann Lösegeld fordern?« Ihr Blick gleitet zu der Dienerschar in der Tür, als wären sie, ihre eigenen Bediensteten, irgendwie verantwortlich für die Ereignisse im ganzen Land. Alle bis auf Lilja schauen zu Boden; ihre Zofe tritt vor und geht auf ihre Herrin zu. »Sie werden Lösegeld fordern«, sagt Antonina und sieht erneut Konstantin an. In der gespenstischen Stille des Raums klingt ihre Stimme laut. Und mit einem Mal ist sie von fiebriger Energie erfüllt; es wurde bereits zu viel wertvolle Zeit verschwendet. »Lösegeld! Lösegeld, wir werden es bezahlen. Natürlich.« Sie streckt die Hände aus, sie zittern.

Lilja tritt neben sie. »Gräfin«, sagt sie ruhig, und als sie ihre Stimme hört, lässt Antonina die Arme sinken.

»Ja«, sagt Konstantin. »Ja. Bestimmt wollen sie Geld, und wir werden es ihnen geben.« An Olga gewandt, die sich noch immer an dem Verband zu schaffen macht, fügt er hinzu: »Das reicht jetzt. Wir dürfen nicht warten, bis wir von ihnen hören. Wir werden ihnen nachreiten. Und zwar jetzt. Grischa, trommle so viele Männer zusammen, wie wir Pferde haben. Wir werden sie finden, Antonina. Und Michail zurückbringen.«

»Kostja.« Wieder wirft sie einen Blick auf seine Hand. Sie ist jetzt von einem dicken Verband umwickelt und ruht in einer Schlinge vor seiner Brust, nur noch Zeige- und Mittelfinger ragen heraus und deuten nach oben. »Ist Mischa ... haben sie ihm etwas angetan? Erzähl mir, was geschehen ist, was sie genau gesagt haben.«

»Sie haben ihm nichts getan«, erwidert er.

Sie möchte ihm gern glauben. »Dann nichts wie los, Kostja«, sagt sie, noch lauter diesmal, und schaut über die Schulter Grischa an. »Los, Grischa, beeilt euch. Ich komme auch mit. Lilja, geh und hol mir meine Reitstiefel. Und du, Ljoscha, sattle mein Pferd.«

Aber plötzlich starrt Konstantin Grischa wütend an.

»Du«, brüllt er, steht jäh auf und stößt Antonina zur Seite, als wäre ihre Energie auf ihn übergesprungen. Seine Frau verliert das Gleichgewicht, aber Lilja ist zur Stelle, um sie aufzufangen. Konstantin schwankt. »Du hast ihm das verdammte Pferd gegeben. Aber der Junge ist nicht mit dem Wallach zurechtgekommen. Er ist zu wild für ihn. Warum musstest du ihn auf ein so schwieriges Pferd setzen, du Idiot?« Er hebt die linke Hand, als wolle er Grischa schlagen, doch im nächsten Moment stöhnt er auf und berührt stattdessen seine verbundene Hand, ehe er rückwärtstorkelt und mit gespreizten Beinen schwer auf das Kanapee zurückfällt.

Grischa hat sich nicht von der Stelle gerührt. Abgesehen von einer leichten Röte verrät sein Gesicht wie üblich nichts. Weder entschuldigt er sich, noch senkt er den Blick.

»Um Himmels willen, vergiss doch jetzt das Pferd. Nun geh schon, Grischa«, sagt Antonina. »Beeil dich. Wir dürfen nicht länger warten. Jede Minute, die verstreicht ... Michail ist noch ein Kind. Bis gestern hatte er noch Fieber. Er sollte bei dieser Kälte gar nicht draußen sein.« Sie weiß, sie spricht zu schnell, aber sie muss einfach weiterreden. »Er braucht Wärme, nicht wahr, Lilja?« Sie sieht ihre Zofe an, und diese nickt. »Bald wird es dunkel. Wir dürfen nicht länger warten.«

Lilja ergreift die Hand der Gräfin und reibt sie zwischen ihren Händen.

Konstantin steht wieder auf, sein Gesicht ist kalkweiß. »Los, beeil dich, du verdammter Trottel!«, schreit er Grischa an. »Trommle die Männer zusammen, und dann machen wir uns auf den Weg.«

Grischa starrt Konstantin an, als wollte er etwas sagen. Sein Gesicht ist jetzt noch geröteter, seine Kiefermuskeln sind angespannt.

Antonina entzieht Lilja ihre Hand. »In welche Richtung sollen wir ...«, beginnt sie, aber Konstantin packt sie am Handgelenk.

»Du reitest nicht mit. Bleib hier und warte.«

»Kommt gar nicht in Frage«, entgegnet sie. »Ich kann besser reiten als die meisten Männer. Ich komme mit euch.«

Konstantin verstärkt seinen Griff um ihr Handgelenk und beugt sich zu ihr vor. Dann sagt er mit leiser Stimme zu ihr, aber laut genug, damit alle im Zimmer ihn hören können: »Du bist betrunken. In diesem Zustand kannst du nicht reiten. Bleib hier und sieh zu, dass du nüchtern wirst. Hast du verstanden?«

Antonina biegt den Kopf nach hinten und sieht ihn blinzelnd an. Von den Bediensteten ist kein Mucks zu hören, nicht einmal ein Husten oder Schaben mit einem Stiefel. Antonina hebt das Kinn. »Sprich nicht so mit mir, Konstantin. Das Einzige, was jetzt zählt, ist, dass wir unseren Sohn wohlbehalten zurückbringen. Ich möchte mitkommen.«

»Nein, das wirst du nicht.« Konstantin geht an ihr vorbei, und das Häufchen Dienstboden in der Tür teilt sich, um ihn durchzulassen.

Lilja legt den Arm um Antoninas Schultern. »Kommen Sie, Gräfin. Kommen Sie, bitte. Wir bringen Ihnen Tee.«

Antonina sieht sie an, als spräche sie in einer fremden Sprache mit ihr. Tee? Wie kommt Lilja auf die Idee, dass Tee jetzt von Nutzen sein kann? Lilja senkt den Blick – aber zu spät, Antonina hat den Ausdruck darin bereits gesehen. Die Sorge, eine große Sorge, und noch etwas, das Antonina nicht zu deuten vermag. Es macht alles keinen Sinn.

Antonina will jetzt keinen Tee. Stattdessen begibt sie sich auf die breite Veranda an der Vorderseite des Hauses. Dort steht Grischa mit dem Rücken zu ihr. Schräg über seinen Nacken verläuft eine frische Schnittwunde, aus der Blut perlt. Als er ihre Schritte hört, dreht er sich um. Er kommt ihr entgegen und legt seine Hand auf ihren Unterarm, eine unvertraute Geste. »Gräfin«, sagt er. »Was das Pferd betrifft ...«

»Das war töricht von dir, da hat mein Mann recht«, erwidert sie und erhebt die Stimme. »Du weißt doch, dass er noch kein geübter Reiter ist.« Das Blut aus Grischas Wunde befleckt den Kragen seines weißen Kittels. Ihr ist klar, dass Konstantin ihm die Schramme beigebracht hat.

Es ist sinnlos, wenn sie ihn auch noch bestraft. Sie braucht seine Unterstützung, um ihren Sohn zu finden.

Grischa sieht sie noch immer an. Als sie nichts mehr sagt, nickt er. »Wir warten, bis alle Pferde gesattelt sind. Dann teilen wir uns und durchkämmen den Wald in verschiedenen Richtungen. Wir werden die Kosaken finden, Gräfin. Und Ihnen Ihren Sohn heil zurückbringen.«

Als sie diese Worte hört, die mit so viel Selbstvertrauen gesprochen werden, durchläuft ein Beben Antonina. Sie blickt auf seine Hand hinab, die noch immer auf ihrem Arm ruht. Seit dem hysterischen Aufschrei der Magd vorhin im Hof hat sie zum ersten Mal das Gefühl, mit ihrer Sorge nicht allein zu sein. »Danke, Grischa«, sagt sie, die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. »Danke.« Diese tröstenden Worte aus seinem Mund und die Tatsache, dass er ihrem Blick standhält, sind genau das, was sie jetzt braucht. Grischa ist wesentlich jünger als Konstantin und kräftiger; er wäre bestimmt nicht feige und schwach gewesen, wie Konstantin es vermutlich gewesen ist.

Es ist nun schon mehr als zwei Stunden her, dass Michail entführt wurde. Wie Grischa gesagt hat, werden sie die Kosaken finden. Man wird ihr Mischa zurückbringen, durchfroren und verängstigt und hungrig, aber unversehrt.

Ich werde dafür sorgen, dass man die Kosaken ins tiefste Sibirien verbannt. Bei diesem Gedanken strafft sich Antonina. Die Gefangenen, die quer durchs ganze Zarenreich in das weite Ödland im Osten geschickt werden, haben ihr immer ein bisschen leidgetan. Als sie einmal auf der Straße an einem Wagen mit Häftlingen vorbeikam, hatte sie sich angesichts der jämmerlichen Kreaturen, die in Ketten gelegt und mit Prellungen übersät waren, unwillkürlich gefragt, welche Verbrechen sie wohl begangen haben mussten, dass man sie zu einem solchen Exil verurteilt hatte. Aber von jetzt an wird sie kein Mitleid mehr empfinden.

Grischa nimmt die Hand von ihrem Arm und eilt die Stufen hinunter zu seinem Pferd, das Ljoscha ihm aus den Stallungen gebracht hat.

Antonina sieht zu, wie die Männer mit Konstantin an der Spitze aufbrechen. Obwohl sie keinen Mantel trägt, spürt sie die Kälte nicht. Nur wenige Stunden zuvor hat sie an der gleichen Stelle gestanden und beobachtet, wie ihr Sohn mit seinem Vater weggeritten ist.

Olga zieht sie sanft am Arm. Antonina lässt sich von der alten Frau ins Haus und in den Salon führen, wo Lilja gerade ein Tablett mit einem Glas Tee und einem Glasschälchen voll Konfitüre auf den Tisch stellt. Antonina starrt das Tablett an, als stünden exotische Dinge darauf, die sie noch nie gesehen hat, dann setzt sie sich auf das burgunderfarbene Samtsofa gegenüber dem blutbefleckten Kanapee. Olga legt einen Wollschal um ihre Schultern. Tinka, Antoninas Schoßhündchen – ein winziger Malteser –, springt hoch, legt sich neben sie und leckt sich die Vorderpfoten.

»Lilja«, sagt Antonina, »bring mir ein Glas Wein, bitte.« Aber ist dies nicht der Grund, warum Konstantin ihr heute Nachmittag Mischa weggenommen hat? Ist es nicht ihre Schuld, dass Konstantin mit ihrem Sohn einen Ausritt unternommen hat? Wenn sie nicht getrunken hätte, hätten sie und Konstantin nicht gestritten. Du widerst mich an, hat Konstantin gesagt. Ich will nicht, dass der Junge dich so sieht.

Sie war im Musiksalon und lauschte Michails Klavierspiel. Mit geschlossenen Augen saß sie in einem zierlichen Sessel neben dem Flügel. Während sie an ihrem Wein nippte, ließ sie sich von den Klängen berieseln.

Sein Spiel war vollkommen mühelos; sie wusste, dass ihr Sohn, obgleich es ihr ebenfalls nicht an Begabung mangelte, fortgeschrittener war als sie in seinem Alter. Was für eine Freude er ihr machte, nicht nur wenn er Klavier spielte, sondern in jeder Beziehung! Er war ihr erster Gedanke, wenn sie morgens erwachte, und ihr letzter, wenn sie ihn vor dem Einschlafen in ihre Gebete einschloss. Als sie ihm heute nach dem Mittagessen zuhörte, rief sie sich das erste Duett in Erinnerung, das sie gemeinsam gespielt hatten, als Michail vier war – Schumanns »Kinderball« für vier Hände –, und wie er zu ihr aufgesehen hatte, als die letzten Akkorde verklangen. Auch heute noch sieht er sie jedes Mal mit genau diesem Blick an, wenn er ein besonders schwieriges Stück gemeistert hat, zufrieden mit sich ist und seine Freude mit ihr teilen will.

An diesem führen Nachmittag spielte er Glinkas Nocturne La Séparation in f-Moll, als Konstantins laute Stimme sie aufschreckte, sodass sie ein paar Tropfen des purpurnen Rotweins auf ihren Rock vergoss.

»Ich nehme den Jungen auf einen Ausritt mit«, sagte er.

Sie umklammerte das Glas und stand auf. Michail spielte weiter. »Lass ihn zuerst das Stück beenden«, entgegnete sie. »Wegen seines Fiebers konnte er mehrere Tage nicht Klavier üben.«

Konstantin begegnete ihrem Blick. »So früh schon, Antonina?«

Sie reckte das Kinn. »Ich habe mir solche Sorgen um ihn gemacht. Das weißt du doch.« Während sie seinem Blick standhielt, hob sie das Glas an die Lippen und trank in langsamen Zügen.

Sie sah, wie er einen angespannten Zug um den Mund bekam, dann hob er völlig unvermittelt die Hand und schlug ihr das Glas aus der ihren. Es zerschellte am Kamin, und ein paar Notenblätter segelten zu Boden, in die Rotweinlache mit den Glasscherben. Michail hörte abrupt auf zu spielen, sprang auf und hielt sich die Ohren zu.

»Schau nur, was du angerichtet hast!«, schrie Antonina. »Warum musst du ihn immer so aufregen?«

»Ich rege ihn nicht auf«, sagte Konstantin und erhob die Stimme. »Ich schäme mich vor den Bediensteten, wenn sie dich in diesem Zustand sehen.«

»Vater«, sagte Michail, rannte zu Antonina und schlang die Arme um ihre Taille, »bitte hör auf. Mach Mama nicht traurig.«

»Es ist schon gut, Liebling.« Antonina streichelte ihm den Kopf. »Mir geht es gut, wirklich. Geh jetzt zum Klavier zurück und spiele das Nocturne zu Ende. Du spielst es wunderschön. Du hast nicht eine einzige Note vergessen. Geh, mein Liebling, und spiel es zu Ende.«

Aber Konstantin schüttelte den Kopf. »Du reitest jetzt mit mir aus, Michail. Du verbringst zu viel Zeit hier drinnen. Nachdem du so lange krank warst, wird dir Bewegung guttun. Grischa hat die Pferde gesattelt. Nun komm.«

Als er sich mit großen Schritten entfernte, löste sich Michail von ihr und sah erst sie an, dann das Klavier. Bekümmert blickte er seinem Vater nach.

Antonina hätte so gern gehabt, dass er das Nocturne zu Ende spielte. Ein nicht zu Ende gespieltes Stück war wie ein angefangener Satz, der unvollendet in der Luft hing. Sie war nicht immer so gewesen, so ängstlich und so schnell aus der Fassung zu bringen. Wie immer begann das Zittern unmittelbar unter der Haut. Dabei konnte sie den besorgten Ausdruck auf dem Gesicht ihres Sohnes kaum ertragen.

»Nun geh, Liebling. Tu, was dein Vater dir sagt.«

Er nickte, wirkte aber noch immer verstört. Sie musste gegen den Impuls ankämpfen, ihn zurückzuhalten und fest an sich zu drücken. Sie sehnte sich danach, seine zarten Schultern zu spüren, ihr Gesicht in seinem dichten blonden Haar zu bergen und seinen Duft einzuatmen.

Und daran wird sie von nun an immer denken müssen: Sie hat ihn geheißen, mit seinem Vater zu gehen. Was, wenn sie ihn zurückgehalten hätte, Nein, Mischa, nein, gerufen hätte. Ich erlaube es nicht. Du bleibst hier, bei mir, wo du sicher bist. Was, wenn sie das gesagt hätte? Hätte sie verhindern können, dass Konstantin ihn mitnahm?

Michail schnappte sein ledergebundenes Notenheft vom Klavier und rannte seinem Vater nach. Antonina machte einen Schritt, um ihm zu folgen, da knirschte eine Scherbe unter ihrer Sohle. Sie sah zu Boden, und ihr Blick fiel auf das Notenblatt neben ihrem Fuß.

Für Antonina Leonidowna zu ihrem Namenstag. Voller Bewunderung und Respekt, Walentin Wladimirowitsch. 14. März 1849.

Das Blatt war von purpurroten Flecken übersät. Als sie sah, dass Konstantin sogar das ruiniert hatte – die Noten zu diesem wunderschönen Stück von Glinka, ein Geschenk, das ihr unendlich viel bedeutete –, ging Antonina zur Anrichte und schenkte sich ein weiteres Glas aus der Karaffe ein. Sie leerte es in einem Zug, dann stellte sie das Glas zurück und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.

»Lilja!«, rief sie. »Lilja! Bring Mischas Jacke und Mütze. Er reitet aus.«

Aber natürlich hatte Michail die Mütze nicht aufgesetzt.

Und nie wird sie diese letzte Szene vergessen, die sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt hat: wie ihr Sohn von ihr wegreitet und sie mit erhobener Hand dasteht und Konstantin nachruft: Warte, so warte doch, bitte. Michail braucht seine Mütze. Sie sah, wie Michails Haar hinter ihm herwehte, und stellte sich vor, wie kalt es sich anfühlte. Wie es nach dem frischen Wind duftete.

Nun kniet Lilja zwischen Tisch und Sofa und schiebt Antonina einen Löffel voll Marmelade in den Mund. »Für Wein ist es noch zu früh, Gräfin«, sagt sie, und Antonina nickt.

»Du hast recht, keinen Wein mehr heute.« Sie schluckt die Marmelade herunter und nippt von der dampfenden Flüssigkeit aus dem Glas in dem verzierten silbernen Teeglashalter, das Lilja ihr an die Lippen hält. Antonina nimmt die Süße der Marmelade und die Hitze des Tees wahr, schmeckt aber nichts.

»Wie lange, glaubst du, brauchen sie, bis sie ihn gefunden haben?«, fragt sie. »Noch bevor es dunkel wird, gewiss vor Einbruch der Dunkelheit. Glaubst du nicht auch, Lilja?«

Lilja stellt ihr Glas auf den Tisch zurück. »Ganz bestimmt, Gräfin. Es dauert ja noch ein paar Stunden, bis es dunkel wird.« Ihr Gesicht ist angespannt, ausdruckslos. Irgendwie erscheint sie Antonina mit einem Mal fremd. Lilja ist ihr näher als alle anderen Dienstboten, aber jetzt wirkt sie abwesend und nicht wie ihre Vertraute.

»Quälen Sie sich nicht länger, Gräfin«, sagt Olga. »Am besten, Sie schlafen ein wenig. Wenn Sie schlafen ...«

»Oh nein. Ich will hinausgehen und Ausschau nach ihnen halten.« Antonina springt auf, der Schal gleitet zu Boden, und Tinka hüpft ebenfalls vom Sofa. Lilja, die noch immer auf dem Boden neben dem Samtsofa kniet, lehnt sich zur Seite, damit Antoninas ausgestellter Rock nicht ihr Gesicht streift. Als Olga einen Schritt zurück macht, tritt sie dem Hund unabsichtlich auf die Pfote. Tinka quiekt erschrocken und huscht unter das Sofa.

Antonina eilt in den Flur hinaus und zur Haustür. Lilja rappelt sich eilig hoch und läuft hinter ihr her.

»Gräfin«, sagt sie und berührt Antoninas Hand. »Olga hat recht. Sie sollten jetzt ins Bett gehen und eine Schlaftablette nehmen.«

Antonina schüttelt den Kopf und verschränkt die Arme vor der Brust. »Nein, ich muss hier sein, wenn Michail zurückkehrt. Ich will auf ihn warten.«

»Gut. Aber kommen Sie wieder in den Salon und trinken Sie noch etwas Tee. Sie haben seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Wenn Sie noch ein Glas Tee und ein paar Bissen zu sich nehmen, werden Sie ... wieder schneller Sie selbst sein. Dann haben Sie wieder genug Kraft, um sich um Ihren Sohn zu kümmern, denn bestimmt wird er Sie brauchen. Kommen Sie«, sagt Lilja. Dann senkt sie die Stimme, damit Olga sie nicht hört, und fügt, zum vertraulichen Du wechselnd, hinzu: »Komm, Tosja, bitte.«

Antonina leckt sich über die Lippen. Als sie Liljas Kruzifixanhänger sieht, muss sie an das Amulett des heiligen Nikolaus denken, das Michail an einer Goldkette um den Hals trägt. Hat sie tatsächlich einmal geglaubt, dass der heilige Nikolaus ihren Sohn beschützen könnte? Allmählich macht sich der Schock bemerkbar, und sie beginnt zu zittern. »Ja, gut.«

Sie begibt sich zu dem samtbezogenen Sofa zurück und legt sich wieder den Schal um die Schultern. Während Lilja ein weiteres Glas Tee einschenkt, erteilt sie Olga ein paar gemurmelte Anweisungen. Tinka krabbelt unter dem Sofa hervor, und Lilja hebt sie hoch und legt sie Antonina in den Schoß.

Während sie ihren Tee trinkt, streichelt Antonina abwesend das Hündchen.

Olga erscheint mit einem Tablett. Antonina wirft einen Blick auf den kalten Hammelbraten, den Rote-Bete-Salat und das mit Butter bestrichene Brötchen. Sie schluckt. Ihr Magen ist wie zugeschnürt.

»Lassen Sie sich Zeit, Gräfin«, sagt Lilja. »Nehmen Sie wenigstens einen Happen zu sich.« Sie bricht ein Stück Brötchen ab und reicht es Antonina.

Antonina nimmt den Bissen und steckt ihn in den Mund. Dann schneidet sie sich ein Stück von dem Hammelbraten ab und beginnt zu essen. Sie kaut und schluckt vorsichtig, als hätte sie einen Widerstand in der Kehle, bis sie den Teller halb leer gegessen hat. Dann hält sie Tinka eine Scheibe Fleisch hin.

Schließlich tupft sie sich den Mund mit der Damastserviette ab. »Danke, Olga. Ich werde jetzt am Fenster Ausschau halten.« Die alte Frau nimmt das Tablett und verlässt den Raum.

Mit Tinka auf den Armen geht Antonina zu einem der Verandafenster, die auf den Hof hinausblicken, stellt sich mit geradem Rücken davor und sieht hinaus. Lilja kniet neben sie und faltet die Hände zum Gebet. »Er wird bald zurückkommen, Tosja«, sagt sie. »Und dann wird es sein wie immer. Du, ich und Mischa.« Sie schließt die Augen und beugt den Kopf über die Hände.

Antonina legt die Lippen an den Kopf des kleinen Hundes und spricht selbst flüsternd ein Gebet.

Angeführt von Konstantin und Grischa donnern die Pferde mit ihren Reitern durch den Wald. Grischa schmerzt der Nacken von dem Peitschenhieb, den Konstantin ihm verpasst hat.

Würde sich der Graf jetzt umdrehen, wäre er überrascht von dem Hass, der sich auf dem Gesicht des Mannes abzeichnet, in dessen Hände er die Verwaltung von Angelkow gelegt hat. Grischa war nie ein Leibeigener, sondern ein freier Mann, der für seine Arbeit ein Gehalt bekommt. Konstantin findet, dass er Grischa großzügig und gerecht behandelt.

Ebenso glaubt Konstantin, dass er auch zu seinen Leibeigenen – den »Seelen«, die er bis vor Kurzem besessen hat – immer großzügig und gerecht gewesen ist.

Aber jetzt ist alles im Wandel begriffen. Die russische Welt ist aus den Angeln gehoben. Mit dem Manifest zur Aufhebung der Leibeigenschaft, das Zar Aleksandr II. einen Monat zuvor, im Februar 1861, unterzeichnete, hat sich sowohl das Leben der Leibeigenen als auch das der Grundbesitzer verändert.

Nun sind die Leibeigenen den Grundbesitzern keine Abgaben mehr schuldig, weder obrok, die jährlich anfallende Steuer, die sie ihrem Herrn bezahlen mussten für den Teil der Ernte, den sie brauchten, um ihre eigenen Mägen zu füllen, noch Naturalien.

Einige von Konstantins Leibeigenen haben das Gut bereits verlassen, um ein eigenständiges Leben im Dorf zu beginnen. Aber er kann sich nicht vorstellen, dass Grischa je gehen würde. Was wäre er denn ohne Angelkow? Kann er sich nicht glücklicher als die meisten schätzen, mit seiner hohen Stellung auf dem Gut? Schließlich hat Konstantin ihm sogar ein Nebenhaus für sich allein zur Verfügung gestellt, ein warmes Holzhäuschen mit blauen Fensterläden. So muss er nicht im Dienstbotenquartier wohnen oder, schlimmer noch, in einer der heruntergekommenen isbas, der kleinen Blockhütten im Dorf. Besucht er Grischa nicht sogar bisweilen in seinem Häuschen, mit einer Flasche edlem Wodka, um sich mit ihm über Politik zu unterhalten, und behandelt er ihn nicht beinahe wie jemanden seines Standes?

Während sie durch den Wald reiten, denkt Grischa nicht an das Kind. Er denkt an den Silvesterabend vor gut drei Monaten, als Graf Mitlowski und er über das Versprechen – oder die Drohung, je nach Blickwinkel – des Zaren diskutierten, die Befreiung der Leibeigenen zu verkünden.

»Die Leibeigenschaft ist schuld an der Rückständigkeit Russlands«, sagte Grischa zum Grafen, während sie Wodka tranken. »Haben wir nicht im Krimkrieg aus ebendiesem Grund eine solche Schmach erlitten? Wir bilden uns Gott weiß was auf unsere militärische Stärke ein und haben gegenüber den Armeen Frankreichs, Großbritanniens, ja sogar der Türkei kläglich versagt. Bei allem Respekt, Graf Mitlowski, aber in den meisten europäischen Ländern hat man den Feudalismus schon vor Jahrhunderten abgeschafft.«

Der Graf rückte seinen Kragen zurecht, zog seine Weste etwas weiter herunter und strich sich über den Bart, ehe er erneut einschenkte. Er hob sein Schnapsglas und kippte es mit einem Schluck herunter. »Das heilige Russland ist eine nach dem Willen Gottes geschaffene Nation. Den Blick auf die verkommenen Staaten des Westens zu richten würde uns nur ins Verderben führen.«

Grischa spürte ein Pochen im linken Auge, so sehr musste er sich anstrengen, seine Wut zu zügeln. Zum wiederholten Mal musste er es hinnehmen, dass der Graf ihm in seinem eigenen Heim Belehrungen erteilte. Er hörte, wie sich Tanja, die Wäscherin von Angelkow, im Schlafzimmer zu schaffen machte. In seinem Schlafzimmer. Und während sie sich anzog, musste er sich Mitlowskis großspuriges Gehabe gefallen lassen. Er umklammerte sein Glas, trank aber nicht. »Mit Verlaub, gnädiger Herr, aber ich finde, man sollte da ein wenig unterscheiden. Wir können viel von den Ländern lernen, die ihren Bürgern erlauben, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Wenn Menschen als Sklaven gehalten werden, wird man sie niemals zu höherer Leistung antreiben können.«

Konstantin lachte. »Sklaven? Die Bauern sind keine Sklaven. Ich bin der Besitzer meines Landes, und die Bauern bearbeiten es. Nur in dieser Beziehung sind sie an mich gebunden.«

Grischa hielt es nicht länger auf seinem Stuhl; er stand auf, verbeugte sich knapp vor dem Grafen und trat ans Fenster. Draußen war es stockdunkel, und er konnte sein eigenes Spiegelbild sehen, sein welliges dunkles Haar, das er aus der Stirn zurückgekämmt hatte, und seine Augen, die im blasseren Oval seines Gesichts wie zwei dunkle Schlitze anmuteten. »Nochmals, bei allem Respekt, Graf Mitlowski«, sagte er zu seinem Spiegelbild, »Sie bestimmen über das Leben der Tausende von Seelen, die Sie besitzen. Sie können es den Bauern untersagen, Ihr Land zu verlassen, und Sie können nach Belieben eine dieser Seelen verkaufen oder woanders hinschicken, auch wenn dabei Familien auseinandergerissen werden.« Er drehte sich um, sah, dass Konstantin die Augen zuzufallen drohten und seine Wangen gerötet waren. Mit leiser, beherrschter Stimme sagte er: »Sie können sie auspeitschen lassen oder ohne Grund zur Arbeit in die Bergwerke schicken oder nach Sibirien, um dort ihr Leben zu lassen. Sie bestimmen, wen sie heiraten. Ist das nicht Sklaverei, barin?«

Konstantin wedelte mit der Hand, als seien Grischas Worte belanglos, als hätte er sie schon zu oft gehört, um sie noch ernst zu nehmen. »Hör auf, über Politik zu reden, Grischa. Du langweilst mich. Der Zar ist von Gott eingesetzt. Er wird schon das Richtige tun. Seine lächerliche Drohung wird er nie und nimmer wahrmachen. Komm jetzt. Es ist Neujahr. Lass uns auf unsere Gesundheit und die unserer Liebsten trinken.«

Und während draußen das erste Bollern des Feuerwerks zu hören war, stieß Grischa mit dem Grafen an.

»Gute Nacht, meine Liebe!«, rief Konstantin in Richtung Schlafzimmertür, während er aufstand und sein leeres Glas auf den Tisch stellte. Grischa hörte Tanjas gemurmelten Gruß.

Der Graf legte einen kleinen Stapel Rubel auf den Kaminsims, dann ging er hinaus, um mit seiner Frau und seinem Kind das Feuerwerk anzusehen. Grischa blickte in die Flammen. Der Wodka brannte in seinem Bauch. Graf Mitlowski irrte; Grischa war überzeugt, dass der Zar in wenigen Monaten die Abschaffung der Leibeigenschaft verkünden würde. Und er, Grischa, wusste dann ganz genau, was er mit seinem Leben anfangen würde, jedenfalls würde er nicht länger unter Mitlowskis Knute arbeiten.

Das kastanienbraune Haar wieder ordentlich frisiert kam Tanja mit Bettwäsche über dem Arm aus dem Schlafzimmer. Mit ausdrucksloser Miene nahm sie die Rubel vom Kaminsims und steckte sie in ihre Rocktasche.

Grischa schenkte ein weiteres Glas Wodka ein und hielt es ihr hin. »Lass uns auf das neue Jahr trinken, Tanja.«

»Danke, Grigori Sergejewitsch«, sagte sie und legte die gebrauchte Bettwäsche ab, ehe sie das Glas ergriff. Um den Mund und zwischen den Augenbrauen hatte sie tiefe Falten.

Grischa stieß mit ihr an und hob sein Glas. »Auf die Freiheit!« Er bog den Kopf in den Nacken und leerte es in einem Zug.

Kapitel 3

Ein paar Stunden sind vergangen. Antonina sitzt auf einem Stuhl mit gerader Rückenlehne und späht vorgebeugt in die Dämmerung. Sie lässt den Hof nicht aus den Augen.

Als sich Pferde nähern, springt sie auf, reicht Lilja das Hündchen und eilt zur Haustür. Sie reißt sie auf, hält aber so abrupt auf den Verandastufen inne, dass Lilja, die ihr gefolgt ist, gegen sie prallt.

Es sind Konstantin und Grischa, aber sie sind allein.

Antonina rennt die Stufen zum Hof hinab. »Was ist geschehen, Konstantin? Warum seid ihr zurück? Michail – Mischa ...« Sie sieht zuerst Konstantin an, der nach vorn gebeugt im Sattel sitzt, den Mund leicht geöffnet, dann Grischa. »Ihr habt ihn nicht gefunden?« Sie kennt die Antwort bereits, muss aber trotzdem fragen.

Grischa schüttelt den Kopf. »Noch nicht, Gräfin, aber Ljoscha und die anderen suchen noch. Sie verfolgen eine viel versprechende Fährte, solange es noch hell war, konnte man die Spuren gut ... Sie werden ihn bestimmt finden, Gräfin.«

Antonina presst mit einer Hand den Schal an die Brust, als würde ein kalter Windstoß durch den Hof fegen. »Aber es ist schon zu lange her, Grischa, zu viel Zeit ist verstrichen. Es ist schon fast dunkel.«

»Nein, so lange ist es noch nicht her«, sagt er, dann sitzt er ab und stellt sich neben sie. »Lilja! Ruf Pawel, damit er mir mit dem Grafen hilft.« Wieder sieht er Antonina an, berührt flüchtig ihre Hand. »Bestimmt nicht. Und wenn sie ihn heute Abend nicht finden, werden wir bei Tagesanbruch die Suche fortsetzen. Mit frischen Pferden.«

Wieder beruhigen seine Zuversicht und seine Berührung sie. Pawel, Konstantins Kammerdiener, kommt hinzu, und er und Grischa helfen Konstantin abzusitzen. Sie führen ihn in sein Schlafzimmer. Antonina folgt ihnen, und als Konstantin auf dem Bett liegt, die unversehrte Hand über den Augen, tritt sie neben ihn.

Pawel und Grischa verharren noch in der Tür.

»Konstantin«, sagt sie mit fester Stimme und sieht zu ihm hinab. Ihr Mann nimmt die Hand von den Augen. »Rede mit mir, Konstantin Nikolajewitsch. Erzähl mir, was genau vorgefallen ist.« Ihr Blick fällt auf die blutverkrustete Wunde auf seiner schlaffen Haut unterhalb des Ohrläppchens. »Kostja«, sagt sie, lauter diesmal.

Er sieht sie an, bleibt jedoch stumm.

»Warum redest du nicht mit mir?«, sagt sie mit erhobener Stimme. Sie packt ihn an den Schultern und schüttelt ihn. Es ist, als befände sie sich in einem Traum und könnte sich selbst von oben sehen, wild und ungestüm wie eine Hexe oder, besser noch, wie Baba Jaga persönlich.

Konstantin sieht sie nur an. Sein hilfloser Ausdruck macht sie wütend. Grischa tritt hinter sie und legt ihr die Hand auf die Schulter. Sie besinnt sich und hört beschämt auf, ihren Mann zu schütteln.

Konstantin öffnet den Mund, ein schwarzes Rechteck unter seinem weißen Schnurrbart, und sagt im Flüsterton: »Mein Sohn, Tosja. Unser Junge.« Seine Augen werden feucht. »Er war so tapfer.«

Antonina schlägt sich die Hand vor den Mund, und Grischa lässt ihre Schulter los und entfernt sich. Sie hört, wie leise die Tür geschlossen wird. Pawel bleibt da, bereit, ihre Anweisungen zu empfangen. Sie steht noch immer neben dem Bett, aber anstatt dass Konstantins Tränen ihr Mitgefühl hervorrufen, wird sie nur noch wütender. Ihr steigen ebenfalls Tränen in die Augen, Tränen der Wut und einer schrecklichen Angst.

»Rede weiter«, sagt sie, leise diesmal.

»Sie ... sie haben ihn einfach auf seinem Pferd weggeführt. Sie haben ihm nichts getan; sie haben ihn nicht ein Mal angefasst. Er hat keinen Ton von sich gegeben. Ich habe ihm gesagt, er soll still sein, und das war er, Tosja, er war still. Er ist ein braver Junger. Er war schon immer ein braver Junge, nicht wahr?«

Antonina ist unfähig, etwas zu sagen.

»Man merkt, dass er von Adel ist, und intelligent. Er wird sich seines Standes würdig erweisen, wie wir es ihn gelehrt haben. Die Kosaken werden es erkennen; sie werden Respekt vor ihm haben.«

Antonina schließt die Augen. Konstantin ist ein Narr. Sie haben unser einziges Kind weggenommen, und er redet von Respekt, denkt sie.

»Du hättest sehen sollen, wie er auf seinem Pferd saß, Tosja. Als sie mit ihm weggeritten sind, ist mir aufgefallen, was für ein guter Reiter er ist, ein besserer, als ich dachte. Oh ja, er hat das Zeug zu einem guten Reitersmann. Er braucht einfach mehr Übung: weniger Zeit am Klavier und mehr im Sattel, das ist alles.«

Glaubt er, dass ich meinen eigenen Sohn nicht kenne?, denkt sie. Ich will wissen, wie es weitergeht. Ich will wissen, wann ich ihn wieder in meine Arme schließen kann.

»Hocherhobenen Kopfes ist er weggeritten, Tosja. Er wird sich keine Blöße vor ihnen geben. Das habe ich ihn gelehrt.« Konstantins Stimme zittert, versagt ihm.

Er weint jetzt ungehemmt, schluchzt wie ein Junge. Antonina hat ihn noch nie so erlebt. Sie sehnt sich nach einer Umarmung, nach Trost, tritt jedoch nicht näher ans Bett heran.

Und weil sie nichts anderes tun kann, kniet sie nieder und betet, den Blick auf Konstantin geheftet. Er hat die Augen geschlossen, und Tränen rinnen an seinen Wangen herab zu den Ohren, aber er gibt keinen Laut mehr von sich.

Antonina bittet Pawel, ihr die Wodkaflasche zu bringen, die auf dem Rosenholztisch neben dem Kamin steht. Im Gegensatz zu Lilja kommt Pawel ihrem Wunsch ohne Widerrede nach.

Sie nimmt ihm die Flasche aus der Hand und schenkt sich ein Glas ein, dann bedeutet sie ihm mit einem Nicken, sich zu entfernen. Er verbeugt sich und geht hinaus. Antonina weiß, dass er in der Nähe der Tür auf dem Flur ausharren und sich zur Verfügung halten wird.

Sie setzt sich in den großen Ledersessel. Irgendwann hört sie die Uhr auf dem Treppenabsatz Mitternacht schlagen. Immer wieder schenkt sie sich aus der Flasche ein. Und so betäubt sie sich in der ersten Nacht nach dem Verschwinden ihres Sohnes mit Wodka.

Bei Tagesanbruch ruft Konstantin Pawel zu sich und schickt ihn, Grischa zu holen. Antonina hat nicht geschlafen. Unruhig geht sie im Zimmer hin und her. Sie weiß, dass es keine Neuigkeiten gibt, denn andernfalls wäre Grischa auf der Stelle zu ihr gekommen.

Als Grischa ihnen mitteilt, dass der Suchtrupp um Mitternacht mit leeren Händen zurückgekommen ist, befiehlt Konstantin, alle Beteiligten auspeitschen zu lassen. Das ist seine Art, mit seiner Angst und seinen Schuldgefühlen umzugehen. Grischa nickt, führt den Befehl jedoch nicht aus.

»Bestimmt wird heute eine Lösegeldforderung eintreffen«, sagt Antonina zu Konstantin, während sie unruhig vor seinem Bett auf- und abschreitet. Sie wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. »Und wenn sie heute eintrifft, wissen wir, was wir zu tun haben, um Mischa zurückzubekommen.«

Konstantin ist grau im Gesicht. Der Verband ist mit getrocknetem Blut verkrustet, aber auch frische scharlachrote Flecken zeichnen sich darauf ab.

»Du solltest deine Hand vom Doktor anschauen lassen«, sagt Antonina. »Ich schicke nach ihm.«

»Dazu ist keine Zeit. Wir machen uns wieder auf die Suche«, entgegnet Konstantin. »Pawel, hilf mir, mich anzukleiden.«

»Ich komme mit«, sagt Antonina, und diesmal widerspricht Konstantin ihr nicht.

Um acht Uhr reiten sie los. Es ist ein wolkenverhangener, feuchter Apriltag.

Sie kehren zu der Lichtung zurück, wo Michail entführt wurde; Antonina betrachtet den aufgewühlten Matsch und die gefrorenen Schneebrocken, stellenweise befleckt von Konstantins Blut. In sternförmiger Formation machen sie sich auf den Weg. Antonina reitet zusammen mit Grischa. Sie kommen nur langsam voran, ihre Pferde müssen sich einen Weg zwischen den Bäumen bahnen. Schließlich gelangen sie auf ein Feld, sie überqueren es und erreichen Tuschinsk, ein Dorf, das Konstantin gehört.

Dort sitzen sie ab und pflocken ihre Pferde an, dann gehen sie durch die wenigen Straßen. »Besser, sie bleiben bei mir, Gräfin«, sagt Grischa.

Grischa befragt die Dorfbewohner; sie sind auf der Hut vor ihm, sind schweigsam, schütteln den Kopf. Vor Antonina machen sie eine tiefe Verbeugung. Sie will ihnen ebenfalls Fragen stellen, aber als sie die Männer und Frauen auffordert, sich wieder aufzurichten, blickt sie in ausdruckslose Gesichter.

Ohne eine Rast einzulegen, um etwas zu essen oder zu trinken, reiten sie weiter. Mit jeder Stunde wächst Antoninas Verzweiflung. Als sie einen Bauern mit einem Handwagen auf der Straße befragen, der wortlos zu ihnen hinaufstarrt, fährt Antonina den Mann mit lauter Stimme an, sie ist mit ihrer Geduld am Ende. Grischa beugt sich zu ihr hinüber und legt die Hand auf ihre Zügel.

»Es ist schon ziemlich spät, Gräfin. Wir sollten jetzt zum Gut zurückreiten. Sie frieren bestimmt.« Sein Blick streift über ihren Wollumhang, der sich im kühler werdenden Wind bläht.

»Mir ist nicht kalt«, sagt sie und zieht den Umhang enger um sich. »Lass uns weiterreiten.«

Als ein Nieselregen einsetzt, besteht Grischa darauf, dass sie nach Angelkow zurückkehren.

»Noch nicht, Grischa. Lass uns die Suche fortsetzen. Nur noch eine Stunde.«

Grischa schüttelt den Kopf und mustert ihr Pferd. Dunja, Antoninas Rotschimmel, ist müde, mit gesenktem Kopf trottet sie auf ihren zierlichen Hufen dahin. »Vielleicht sind der Graf und die anderen ... vielleicht ist Michail Konstantinowitsch inzwischen zu Hause«, sagt er.

»Ich bete, dass es so ist, Grischa«, erwidert Antonina. Dann wendet sie Dunja, um mit Grischa nach Angelkow zurückzukehren.

Konstantin und die anderen sind noch nicht da, als sie zu Hause eintreffen. Von Michails Entführern ist keine Nachricht gekommen.

Antonina geht als Erstes in ihr Zimmer und entledigt sich ihrer schlammbespritzten Kleider. Lilja bringt ihr ein Glas Wodka, dann ein zweites, anschließend begibt sich Antonina auf die Veranda und blickt, fröstelnd die Arme um den Körper geschlungen, die lange, von Linden gesäumte Auffahrt hinunter, deren Äste noch immer kahl sind.

Schließlich geht sie wieder hinein. Keine halbe Stunde später hört sie die Stimmen von Männern, die sich auf ihren Pferden nähern, und rennt in ihren Pantoffeln und dem dünnen Wollkleid über den von schmutzigen, aufgeweichten Schneeflecken übersäten Hof zu den Stallungen. Sie hofft inständig, dass ihr Sohn vor seinem Vater auf dessen Pferd sitzt. Aber er ist nicht dabei.

Mit herabhängenden Armen bleibt sie stehen und starrt ihren Mann an.

»Ist eine Lösegeldforderung eingetroffen?«, fragt Konstantin.

Antonina schüttelt den Kopf.

Konstantin sieht viel älter aus als gestern. Als er die Mütze abnimmt, tritt sein Schädel unter dem schweißgetränkten Haar im schwindenden Tageslicht deutlich hervor. Er ist einundsechzig und sie achtundzwanzig. Indem er sich mit seiner gesunden Hand am Sattel festhält, lässt er sich schwerfällig vom Pferderücken zu Boden gleiten. Ljoscha führt sein Pferd in den Stall.

»Was jetzt, Konstantin?«, fragt Antonina, aber er antwortet nicht gleich.

Nach einer Weile sieht er sie an. »Morgen machen wir uns wieder auf die Suche. Das ist alles, was wir tun können. Suchen, während wir auf eine Nachricht über unseren Sohn warten.«

Sie folgt ihm ins Haus, wo die Bediensteten die Lampen angezündet haben. Es riecht nach Rindfleisch, und der lange polierte Tisch im Esszimmer ist für zwei gedeckt.