Smaragdvogel - Linda Holeman - E-Book
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Smaragdvogel E-Book

Linda Holeman

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Beschreibung

Eine Liebe, die alle Widerstände überwindet: Der opulente historische Bestseller-Roman »Smaragdvogel« von Linda Holeman jetzt als eBook bei dotbooks. Mitte des 19. Jahrhunderts. Linny setzt alles daran, endlich ihrer dunklen Vergangenheit in den Straßen Liverpools entkommen zu können. Nach einer langen, beschwerlichen Reise gelangt sie schließlich nach Indien – das exotische Kalkutta hält für sie das Versprechen eines neuen Lebens bereit. Und tatsächlich: Schon bald scheinen all ihre Wünsche an der Seite des britischen Offiziers Somers wahr zu werden. Doch nach der Hochzeit begegnet er ihr nur noch mit kalter Pflichterfüllung. Mehr und mehr fühlt sich Linny in einem goldenen Käfig gefangen – bis sie in den Bergen Kaschmirs einem geheimnisvollen Fremden begegnet. Sie spürt, mit ihm könnte sie endlich die ersehnte Freiheit finden. Doch kaum sind Linny Flügel gewachsen, wollen andere sie wieder brechen … Ein großartiges Epos vor der farbenprächtigen Kulisse Indiens im 19. Jahrhundert: Die bewegende Reise einer jungen Engländerin von Kalkutta zu den grünen Bergen Kaschmirs – im Kampf für ihre Liebe und ihre Freiheit. »Ein glanzvolles, zu Tränen rührendes Werk mit allen Qualitäten, die ein großer Bestseller braucht.« Bookseller Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der internationale Bestseller »Smaragdvogel« von Linda Holeman – eine opulente Frauensaga für Fans von Anne Jacobs und Jane MacLeod Trotter. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 806

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Über dieses Buch:

Mitte des 19. Jahrhunderts. Linny setzt alles daran, endlich ihrer dunklen Vergangenheit in den Straßen Liverpools entkommen zu können. Nach einer langen, beschwerlichen Reise gelangt sie schließlich nach Indien – das exotische Kalkutta hält für sie das Versprechen eines neuen Lebens bereit. Und tatsächlich: Schon bald scheinen all ihre Wünsche an der Seite des britischen Offiziers Somers wahr zu werden. Doch nach der Hochzeit begegnet er ihr nur noch mit kalter Pflichterfüllung. Mehr und mehr fühlt sich Linny in einem goldenen Käfig gefangen – bis sie in den Bergen Kaschmirs einem geheimnisvollen Fremden begegnet. Sie spürt, mit ihm könnte sie endlich die ersehnte Freiheit finden. Doch kaum sind Linny Flügel gewachsen, wollen andere sie wieder brechen …

Ein großartiges Epos vor der farbenprächtigen Kulisse Indiens im 19. Jahrhundert: Die bewegende Reise einer jungen Engländerin von Kalkutta zu den grünen Bergen Kaschmirs – im Kampf für ihre Liebe und ihre Freiheit.

»Ein glanzvolles, zu Tränen rührendes Werk mit allen Qualitäten, die ein großer Bestseller braucht.« Bookseller

Über die Autorin:

Linda Holeman, geboren im kanadischen Winnipeg, arbeitete nach ihrem Studium der Soziologie und Psychologie zunächst zehn Jahre als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihrem ersten Roman »Smaragdvogel« folgten zahlreiche weitere historische wie auch zeitgenössische Romane, die internationalen Bestsellerstatus erlangten und in sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt Linda Holeman abwechselnd in Toronto und Santa Monica, Kalifornien.

Linda Holeman veröffentlichte bei dotbooks ebenfalls die Romane »Das Mondamulett« und »Der Lotusgarten«.

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eBook-Neuausgabe Januar 2019

Copyright © der englischen Originalausgabe 2004 by Linda Holeman

Die englische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »The Linnet Bird« bei Headline Book Publishing, London.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2005 by RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und den angeschlossenen Buchgemeinschaften

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Dieses Werk wurde vermittelt durch The Helen Heller Agency Inc.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Noppasin Wongchum und Katerina Yakovlieva

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-763-9

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Linda Holeman

Smaragdvogel

Roman

Aus dem Englischen von Monika Köpfer

dotbooks.

Für Holly Kennedy, die an diese Geschichte glaubte

Ein Hänfling im goldenen Käfig

Ein Hänfling im goldenen Käfig,Ein Hänfling auf einem Ast –,Welcher ist wohl glücklicher,Wenn der Winter ist kalt von Frost?

Doch kaum sprießen grün die Blätter,Erscheinen auf den Ästen Vogelnester:Welcher ist nun zu beneiden?Oh, gibt es da einen Zweifel?

Aus: Sing-Song: A Nursery Rhyme Book (1872)von Christina Rossetti

PROLOG

Kalkutta 1839

Opium zu rauchen ist eine Kunst. Vor mir steht das Tablett mit den Utensilien – die kunstvoll mit Silber verzierte Pfeife, die kleine Spirituslampe, die lange, stumpfe Nadel, der Behälter mit chandu und die erbsengroßen Bällchen aus der dunkelbraunen Paste. Meine Lippen sind trocken. Ich schließe die Augen, und doch sehe ich das Opiumkügelchen auf der Nadelspitze, höre das Blubbern, während es sich über der Flamme bläht, bis sich das schlammige Braun in Gold verwandelt. Dann streife ich es am Rand des Pfeifenkopfs ab und ziehe es mit der Nadelspitze in längliche Fäden, damit es schneller den Siedepunkt erreicht. Schließlich rolle ich die Streifen wieder zu einem Kügelchen und gebe es rasch in das Innere des Pfeifenkopfs. Nun halte ich die Pfeifenöffnung an die Spirituslampe, und die Flamme leckt nach ihr. Ich sehe, wie sich meine Lippen um das vertraute Jade-Mundstück schließen, dann nehme ich einen tiefen Zug und noch einen und noch einen. Das Geräusch der Pfeifenzüge gleicht dem gleichmäßigen, ungebrochenen Rhythmus des Herzschlags.

Ich öffne die Augen, befeuchte mit der Zunge die Lippen. Es ist früher Morgen. In einigen Stunden wird die indische Sonne ihren Höhepunkt erreichen; es ist noch Zeit, ehe die kupfernen Strahlen alles zum Backen und Schrumpfen bringen, ehe die Bediensteten die Jalousien herunterlassen und mit Wasser bespritzen. Ich schaue auf mein Tablett.

Noch nicht. Ich werde nicht schon wieder an der Pfeife ziehen. Denn ich muss eine Geschichte erzählen.

Durch das geöffnete Fenster höre ich die Stimmen der Kinder, die im Garten spielen. Ich stehe auf, um ihnen zuzuschauen. David spielt mit dem Sohn des dhobi. Ihr Spiel, ein scheinbar sinnloses Galoppieren auf einem langen Stock, wird mit den sorglosen, leichten Bewegungen ausgeführt, wie sie nur Sechsjährigen zu Eigen sind. Maki sitzt auf der obersten Stufe der Veranda. Langsam flicht sie sich einen Zopf vor ihrem glatten, ovalen Gesicht. Sie strahlt die Zufriedenheit der ayah aus, die das ihr anvertraute, geliebte Kind hütet.

Die Jungen tollen vor der Kletterhecke des doob. Daneben zeigen sich die Bougainvillea und der Hibiskus in ihrem schönsten Scharlachrot.

Ich habe nie wie mein Sohn gespielt. Nur wenig älter als er, arbeitete ich in einer Buchbinderei auf der Harvey Close in Liverpool. Zehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Als Kind kannte ich das Gefühl nicht, barfuß über Gras zu laufen, vernahm nie Vogelgezwitscher und spürte nur selten die Wärme der Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. Mein Sohn wird nie solche Arbeit kennen lernen, wie ich sie verrichten musste. Weder die Arbeit, mit der ich als Kind begann, noch die Arbeit, zu der ich etwas später gezwungen wurde, als ich auch noch ein Kind war, jedoch ein wenig älter. Dieser Teil meines Lebens wird ihm für immer verschlossen bleiben, nicht jedoch dem Leser.

David hält inne, den Kopf zur Seite geneigt, als ob er auf ein Geräusch lauscht oder etwas seine Aufmerksamkeit erregt. Jetzt bückt er sich, streckt die Hand zu der niedrigen Bleiwurz-Hecke aus.

Dann rennt er mit sorgenvoller Miene zu Maki hinauf, in den gewölbten Händen einen Vogel. Auch von hier drinnen erkenne ich die grünen Federn und das strahlende Rot über seinem Schnabel. Er reckt den Kopf, doch ein Flügel hängt seltsam verdreht herab. Es ist ein kleiner, gewöhnlicher Vogel, ein Kupferschmied. Basanti bauri. Gestern erst hörte ich sein vertrautes pock-pock aus den Mangobäumen. David ruft etwas, seine Stimme klingt bewegt. Ich sehe seine sonnengebräunte Haut, sehe, wie vorsichtig seine langen Finger sich um den Vogel schließen, in dem Versuch, ihn ja nicht entwischen zu lassen, aber auch voller Sorge, dem hilflosen Wesen wehzutun.

Ich denke daran, wie meine Hände aussahen, als ich jung war – vom kalten Wind der Mersey rissig, mit Tintenflecken übersät und zwischen den Fingern die Reste von billigem Leim. Und einige Jahre später dann befleckt mit etwas, das sich nicht abwaschen ließ. Lady Macbeth und ihre befleckten Finger. Und dann schließlich, als ich meine Jugend hinter mir ließ und meine Reise antrat, da schienen meine Hände makellos sauber, aber sie waren voller Schnitte von scharfkantigem Papier und ausgetrocknet vom Umgang mit Büchern, und sie bargen, zumindest in meiner Vorstellung, den Geruch von zu vielen Männern und von Blut. Wie, wird man sich fragen, bin ich von jener Welt in diese hier gekommen?

Neben meinem Opiumtablett liegen Papier und Feder, die Malti mir heute früh gebracht hat.

Doch ehe ich zu schreiben beginne, will ich mich noch ein wenig meinen Träumen hingeben. Es wird mein letzter Traum sein. Dieses Versprechen habe ich mir schon etliche Male gegeben. In Gedanken, im Flüstern, in Gebeten, Worten. Aber diesmal habe ich es über dem Kopf meines Kindes geschworen, als ich in der Dunkelheit vor Sonnenaufgang an Davids Bett saß und seinen flachen, süßen Atemzügen lauschte, in die sich wie zur Antwort die tiefen Atemzüge Maltis mischten, die auf ihrer Matratze in der Ecke schlief. Ich hatte mich in ihr Zimmer geschlichen, mich neben Davids Bett gekniet, um meinen Schwur abzulegen, während ich seine dicken schwarzen Haare unter meinen Fingern spürte.

Heute werde ich meinen Traum zum letzten Mal, so schwor ich, von den Schwingen des weißen Rauchs tragen lassen. Aber ich fürchte, dass sich meine Träume ohne seine Hilfe wieder zu dem einen vertrauten Albtraum verzerren werden, dem ich so lange schon vergeblich entfliehen möchte.

Ich schließe die Jalousien und entzünde die Lampe in der Düsterheit des Zimmers. Eine Motte nähert sich schwirrend und surrend dem sanften Glühen der Lampe. Das Geräusch schmerzt. Zu lange schon nehme ich Opium; meine Sinne sind zum Zerreißen gespannt, gleichen einem glühenden Draht, der bei dem kleinsten Anlass ins Vibrieren gerät: dem Flügelschlag der Motte, dem Trommeln des heißen Regens auf meinem Handrücken, dem verschlungenen Muster meines Saris.

Nicht länger vermag das Opium mich glücklich zu machen. Es erlaubt mir nur noch weiterzumachen. Und heute wird es zum letzten Mal meine zitternde Hand und meinen Geist besänftigen – so lange, bis ich geschrieben habe, was ich schreiben muss. Sodass mein Sohn eines Tages die Wahrheit erfährt. Für ihn will ich nur aufschreiben, was wichtig für seine Zukunft ist. Für dich, Leser, will ich alles aufschreiben – Wahrheit, Erinnerung und Albtraum –, alles, was zu meinem Leben zählt, das vor so langer Zeit an einem Ort weit entfernt von hier begann.

EINS

Liverpool 1823

Im Winter meines elften Lebensjahrs verkaufte Pa zum ersten Mal meinen Körper. Er war unzufrieden mit dem geringen Lohn, den ich in der Buchbinderei für meine Arbeit bekam. Er selbst hatte seine Arbeit in einer Seilerei verloren, nachdem er wieder einmal betrunken erschienen war und beim Spinnen den Hanf verdorben hatte.

Es war eine feuchte Novembernacht, als er zu Hause mit Mr Jacobs auftauchte. Wahrscheinlich hatte er ihn in einer seiner Kneipen getroffen: Wo sonst sollte einer wie er jemanden kennen lernen? Von weitem schon hörte ich ihre lauten Stimmen und wie Pa den Namen des Mannes immer wieder sagte – Mr Jacobs hier und Mr Jacobs dort. Die beiden stolperten durch das Zimmer, sodass die wenigen Möbelstücke unserer Wohnung ins Wackeln gerieten.

Mein Schlafplatz war hinter der Kohlekiste in der Küche. Da ich nur eine Decke hatte, war mir dieser Platz am liebsten: Zum einen war es beim Herd etwas wärmer, und zum anderen glaubte ich hier wenigstens ein klein wenig Privatsphäre zu haben. Damals bewohnten wir eine gemietete Einzimmerwohnung im zweiten Stock eines heruntergekommenen Hauses, die auf einen Hinterhof in der Nähe der Vauxhall Road ging.

»Hier irgendwo muss sie sein«, hörte ich Pa sagen. »Sie ist wie eine kleine Maus, die überall herumhuscht.«

Und noch ehe ich richtig zu mir kommen konnte, zerrte er mich unter meiner Decke hervor und in die Mitte des niedrigen, nur spärlich beleuchteten Raums.

»Hatten Sie nicht gesagt, sie ist elf?« Mr Jacobs' Stimme klang rau und schneidend vor Ungeduld.

»Genauso ist es, Mr Jacobs. Schon etwas über elf. Ihr Geburtstag war lange vor Michaelis.«

»Sie ist klein, sie hat ja kaum Rundungen.«

»Aber sie hat schon kleine Titten, Sir, das werden Sie rasch feststellen. Sie ist sehr zart, ein feines, zierliches Persönchen. Und sie ist ein hübsches Ding – überzeugen Sie sich selbst.« Dabei strich Pa mir mein langes Haar unsanft aus dem Gesicht und zog mich zum Küchentisch, wo er eine Kerze entzündet hatte. »Wo haben Sie zuletzt solches Haar gesehen? Es ist golden und üppig wie eine reife Birne. Und, wie ich Ihnen bereits sagte, ist sie unberührt. Sie werden der Erste sein, Mr Jacobs, Sie können sich wahrlich glücklich schätzen.«

Mein Mund öffnete und schloss sich vor Grauen, und ich wich vor ihm zurück. »Pa! Pa, was sagst du da? Nein, Pa.«

Mr Jacobs' fleischige Unterlippe schob sich schmollend vor. »Wie soll ich sicher sein, dass Sie nicht schon hundert andere Männer vor mir über den Tisch gezogen haben?«

»Sie werden sich gleich selbst davon überzeugen können, dass Sie der Erste sind, Mr Jacobs, o ja, das werden Sie. Sie ist eng wie die Faust eines Toten, überzeugen Sie sich selbst.«

Ich riss meinen Arm aus Pas Umklammerung. »Du kannst mich nicht dazu zwingen«, sagte ich, während ich mich rückwärts zur Tür schob, »niemals wirst du ...«

Mr Jacobs trat vor mich. Er hatte nur einen Kranz weißer Haare, und seine Glatze glänzte schmierig im flackernden Kerzenlicht. Den Nasenrücken zierte eine blutverkrustete Wunde. »Was haben wir denn da für eine kleine Schauspielerin, hm?«, sagte er. »Du kannst jetzt mit dem Theater aufhören. Wenn ich herausfinde, dass du nicht bist, was mir versprochen wurde, dann bekommt ihr keinen Penny.«

Mit einer heftigen Bewegung zog mein Vater mich am Arm und in eine dunkle Ecke des Zimmers. »So, Mädchen«, sagte er mit schmeichlerischer Stimme, »irgendwann muss ja das erste Mal sein. Besser, es passiert hier, in deinem Zuhause, als irgendwo draußen in einem feuchten Hauseingang. Es gibt viele Mädchen, die ihrer Familie unter die Arme greifen, wenn sie in Not geraten ist. Warum solltest du da eine Ausnahme sein?«

Natürlich wusste ich, dass einige der älteren Mädchen, die in der Buchbinderei, der Glasbläserei oder einer der Töpfereien arbeiteten, sich für ein paar Stunden in den engen Gassen der Hafengegend verdingten, um ein paar zusätzliche Shilling nach Hause zu bringen, wenn die Haushaltskasse leer war. Aber ich hatte immer gedacht, dass ich anders wäre. Ich bin nicht wie die, redete ich mir ein. Meine Andersartigkeit lag mir im Blut, so dachte ich.

»Nun komm schon. Er wird uns gut entlohnen.« Pa beugte sich zu meinem Ohr hinab, und ich konnte seinen sauren Atem riechen. »Du weißt doch, dass uns nichts anderes übrig bleibt, jetzt, wo ich arbeitslos bin. Ich habe mich immer um dich gekümmert, und jetzt bist du an der Reihe, etwas beizusteuern, etwas mehr als die lächerlichen Pennys, die du nach Hause bringst. Und es ist ja auch gar nicht so schlimm. Was meinst du, wie ich rangenommen wurde, als ich kaum älter als du auf dem Schiff gearbeitet hab. Und, hat es mir geschadet, hm?«

Die Arme über der Brust verschränkt, wich ich vor ihm zurück. »Nein, Pa. Mutter würde niemals ...«

Pa packte mich grob bei den Oberarmen und schüttelte mich. »Es wird jetzt nicht über deine Mutter geredet.«

Auf ein ungeduldiges Schnauben von Mr Jacobs rief mein Vater über die Schulter hinweg: »Dann setzen Sie sich doch schon mal auf die Bank da, und ich werde dem Mädel inzwischen Vernunft beibringen.«

Dabei hatte er längst jede Geduld verloren; als ich wiederholte, dass er mich nicht zwingen könne, und versuchte, zur Tür zu laufen, versetzte er mir einen Schlag gegen den Kiefer, dass ich zu Boden sackte. Für eine Weile bekam ich nichts mehr mit, bis ich von heißem, drängendem Atem auf meinem Gesicht jäh ins Bewusstsein zurückgezerrt wurde. Mein Nachthemd war bis zur Hüfte hochgeschoben worden, und ich spürte Mr Jacobs' Gewicht schwer auf mir. Mein Rücken rieb schmerzhaft gegen das splitternde Holz der Bank und mein Kopf gegen die Rückenlehne, während Mr Jacobs heftig grunzend in mich stieß. Gleichzeitig spürte ich, wie der Schmerz in mir explodierte, und ich sah die blaue Ader auf seiner Stirn hervortreten wie einen dicken Wurm. Schweiß glänzte auf seiner Lippe, obwohl das Feuer erloschen und der Raum kalt wie ein Grab war. Doch etwas war noch schlimmer als das, was Mr Jacobs mir antat. Als ich den Kopf nach Pa umwandte, um vielleicht doch noch sein Mitleid zu erregen, sah ich, wie er von seinem Stuhl aus das Geschehen beobachtete: das Gesicht zu einem Ausdruck verzerrt, den ich noch nie zuvor an ihm bemerkt hatte, während sich eine Hand unter dem Tisch zu schaffen machte.

Ich presste die Augen fest zusammen und lag hilflos unter dem schweren Mann. Ich wusste, dass ich mich hätte wehren müssen, aber ich war auf seltsame Weise abwesend. Während mein Körper innerlich brannte, stob mein Geist davon. Fort von Mr Jacobs' pulsierender Ader und dem stierenden Blick meines Vaters. Und dann hörte ich die Stimme meiner Mutter, ganz leise und dennoch klar. Und ich vernahm die zweite Strophe von The Linnet Bird, Der grüne Hänfling, meinem Lieblingsgedicht, dem ich meinen Namen zu verdanken hatte.

Den Glücklichsten werd ich gewahrIm Wirbel dieser heitren ScharGlück zu! Du überjubelst klarUnd überfliegst den Reigen:Du, Hänfling, grünlichen Gewands,Führst an des Maies Freudentanz,Heut hier der Geister Fürst, und ganzIst dir dies Reiche zu eigen.{i}

Dreimal hörte ich meine Mutter alle Strophen des Gedichts aufsagen, und gerade als ihre Stimme zum vierten Mal ansetzte, gab Mr Jacobs ein zerrissenes Stöhnen von sich und sackte auf mir zusammen. Lange lag er regungslos auf mir, sodass ich schon fürchtete, er würde mich unter seinem Gewicht ersticken. Ich sehnte mich nach der Stimme meiner Mutter zurück, denn so lange ich ihr gelauscht hatte, war mein Körper betäubt gewesen, doch nun, da die Stimme verklungen war, wurde ich mir meiner Lage mit einer schrecklichen Klarheit bewusst. Ich fühlte, wie meine Beine unmöglich weit gespreizt waren, fühlte die brennende Nässe, spürte einen Schmerz, wie ich ihn noch nie empfunden oder mir auch nur vorgestellt hatte, fühlte Mr Jacobs' unerträgliches Gewicht. Ich hörte das Baby nebenan schreien und das Schnaufen von Mr Jacobs. Und ich roch die ranzigen Ausdünstungen seines Körpers. Die Augen hielt ich fest geschlossen, um nichts als die dunklen Sternchen vor meinen Augenlidern sehen zu müssen. Es war, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Schließlich löste er sich von mir, doch ich verharrte, wie er mich zurückgelassen hatte, die Augen geschlossen und unbeweglich, während Kleider raschelten, wenige Worte ausgetauscht wurden und dann die Tür über den Boden scharrte, als sie geöffnet und wieder geschlossen wurde.

Weitere Minuten vergingen, dann presste ich die Knie zusammen und zog mir mit zittrigen Fingern das Hemd über die Beine. Die Augen noch immer geschlossen, ließ ich mich auf den Boden gleiten, um auf Händen und Füßen zu meinem kleinen Nest hinter der Kohlekiste zu kriechen. Als einzige Geräusche hörte ich das Klimpern von Münzen, die mein Vater mit einem Murmeln zählte, und das Zischen einer erlöschenden Kerze. So lag ich auf der Seite, die Knie an die Brust gezogen, und presste mit der Faust den Stoff meines Nachthemds in die blutende, klebrige Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen. Weinte nach meiner Mutter, die schon seit über einem Jahr tot war, und nach allem, was mit ihr unwiederbringlich gestorben war.

Später in der Nacht stand ich auf, zündete eine Kerze an, um mich zu waschen; dabei schwor ich, nie wieder zu weinen, egal was ein Mann mir antun würde, denn ich hatte begriffen, dass es vergeblich war.

ZWEI

Als ich auf die Welt kam, nannte meine Mutter mich Linnet Gow, doch später hieß ich Linny Munt. Meine warmherzige, verträumte Mutter Frances Gow hatte mich nach dem linnet bird, dem Hänfling getauft, dem Singvogel, der wie kein anderer so mannigfaltig trällern kann. Munt war der Nachname des Mannes, der meine Mutter vier Monate vor meiner Geburt aufgenommen hatte.

Ram Munt, der mich in den folgenden zwei Jahren noch etliche Male an Männer verkaufen sollte, war nicht mein leiblicher Vater. Er war nicht einmal mein Stiefvater, denn meine Mutter und er hatten nie geheiratet. Und dennoch war er der einzige Vater, den ich je gekannt hatte, auch wenn er mich nicht als seine Tochter ansah. Ich war schlicht und einfach Frances' Tochter, eine Last, jemand, der ernährt werden wollte.

Es gab zwei Geschichten, die Ram Munt immer wieder gern erzählte. Die erste handelte von seinen Jahren auf einem Schiff. Als Junge war er auf der Suche nach einem besseren Leben von einem kleinen Dorf im Norden nach Liverpool gekommen und in die Fänge einer Presspatrouille geraten. Man hatte ihn an Bord eines Schiffes gezerrt, wo er acht Monate auf hoher See verbrachte. Hier lernte er auf das Grausamste kennen, was es hieß, ein Seemann zu sein. Als das Schiff in Liverpool einlief und Anker warf, versuchte er zu fliehen. Doch noch ehe er den Hafen verlassen hatte, wurde er erneut von einer Presspatrouille aufgegriffen. Wieder befand er sich auf hoher See, doch diesmal, älter und reifer geworden, ließ er sich nicht mehr wehrlos schikanieren. Auf dieser zweiten Seefahrt wurde er mit Leib und Seele ein Seemann. In den nächsten Jahren verdingte er sich auf hoher See, bis ihn seine zahlreichen Verletzungen schließlich untauglich für dieses Leben machten: Zu oft war er unter ein rollendes Fass geraten, hatte ein Schaukelhaken ihn erwischt, war er auf den schlüpfrigen Planken ausgerutscht. Und inzwischen gab es jüngere, weniger verbrauchte Burschen, die für diese Arbeit besser geeignet waren als er. Also ging er für immer an Land, um in einer Seilerei in der Nähe des William Square zu arbeiten. Seine dicken, geschundenen Finger taugten gerade noch dazu, die Hanffasern zu festen Strängen zu wickeln, um sie dann am anderen Ende der Fabrikhalle auf eine riesige Spule zu winden. Unzählige Male an einem langen, harten Arbeitstag wiederholte er diesen Vorgang. Seine derbe Seemannssprache behielt er bei, ebenso wie die Narben auf seinem Rücken, die er unzähligen Peitschenhieben verdankte. Seine Hände rochen jetzt nach Holzteer, mit dem die Seile gehärtet wurden.

Die andere Geschichte, die er gern erzählte, handelte davon, wie er meine Mutter bei sich aufgenommen hatte. Nicht selten gab er sie samstagabends zum Besten, nachdem er aus dem Flyhouse oder Ma Fenny's, einer der Hafenkneipen, nach Hause gekommen war.

Dann zerrte er meine Mutter und mich aus dem Bett – sie teilte das Strohlager mit mir, wobei er sie ein paar Mal die Woche zu sich rief –, und wir mussten uns an den Tisch setzen, um seinen Heldenmärchen zu lauschen: Mit stolzgeschwellter Brust berichtete er, wie er in einer feuchtkalten Frühlingsnacht meine Mutter gefunden hatte, die, bis auf die Haut durchnässt, ohne einen Penny in der Tasche durch die Straßen irrte.

Mutter hielt dabei die ganze Zeit über den Kopf gesenkt. Nach ihrem Vierzehn-Stunden-Tag an der Heftmaschine in der Buchbinderei war sie immer erschöpft. Stapel von Schulbüchern warteten tagtäglich darauf, gebunden zu werden.

»Ein Mädchen in Not abzuweisen, das hätte ich einfach nicht fertig gebracht«, fuhr Ram fort. »Also habe ich sie aufgenommen, oder etwa nicht? Ich nahm sie mit zu mir, gab ihr zu essen und heizte den Ofen, damit sie sich wärmen konnte. Am Anfang war sie noch stolz, aber es dauerte nicht lang, und sie sah ein, dass ein Dach über dem Kopf und mein Bett verdammt viel besser waren als das, was sie draußen auf der Straße erwartete.«

Die Einzelheiten variierten: Mal hielt er sie davon ab, sich in die grauen, kalten Fluten der Mersey zu stürzen, ein andermal sprang er ihr zu Hilfe, als eine Bande Hafenarbeiter ihr in den Schatten des alten, stillgelegten Hafens Gewalt antun wollte, da wo die Sklavenschiffe einst instand gesetzt worden waren.

»Nach einer angemessenen Zeit habe ich sie sogar meinen Namen tragen lassen, damit sie nicht mit der Schande eines Bastards herumlaufen musste«, sagte er und schaute mir dabei in die Augen. »Jetzt weißt du, woher du kommst«, fügte er an dieser Stelle hinzu und warf mir einen warnenden Blick zu, für den Fall, dass ich etwas einwenden wollte. »Vergiss das nie. Egal, was für nette Geschichten deine Mutter dir auch erzählt, du bist in der Back Phoebe Anne Street geboren und aufgewachsen. Den Geruch der Mersey wirst du stets in der Nase haben, und du trägst das Zeichen des Fisches. Jemand mit diesem Mal kann seine Herkunft nicht leugnen. Du bist die Tochter eines Seemanns, und das kann jeder Dummkopf sehen.«

Damit bezog er sich auf mein Muttermal auf der zarten Innenseite meines Unterarms: Ein kleiner, länglicher, sherryfarbener Fleck befand sich über meinem Handgelenk, und tatsächlich hatte er die Form eines Fisches. Allerdings glaubte ich nicht daran, dass dieses Mal etwas mit dem Blut zu tun hatte, das in meinen Adern floss.

Während der Mann, den ich damals Pa nannte, dieses öde Zeug faselte, saßen meine Mutter und ich unbeweglich da, und ich spürte ihre dünne kalte Hand auf meinem Arm, während ihr mit Druckerschwärze befleckter Daumen abwesend über mein Muttermal strich. Mir fiel es so viel schwerer, ruhig dazusitzen, als ihr, doch lag es wohl kaum am Alter. So jung ich auch war, erkannte ich doch, dass keine Kraft mehr in ihr übrig geblieben war, um sich gegen ihn oder irgendjemand anderen zur Wehr zu setzen. Trotzdem konnte ich einfach nicht verstehen, dass sie Ram Munt mit seiner primitiven Art so hinnahm. So lange ich zurückdenken konnte, schämte ich mich für sie – und hasste ihn dafür.

Während die Wut meinen Atem beschleunigte, zeigte das Gesicht meiner Mutter keinerlei Regung, als sie Rams Singsang zuhörte. War sie schon immer so gefügig, so unterwürfig gewesen? Manchmal erzählte sie, welch Schaden seiner Seele als Schiffsjunge zugefügt worden war – sie wollte, dass ich Mitleid mit ihm hatte: »Man hat ihn geschlagen, und die Männer missbrauchten ihn, wann immer ihnen danach war. Das hat ihn verbittert. Er war ja fast noch ein Kind, stell dir mal vor.« Doch nichts vermochte meinen Hass auf ihn zu mindern, wenn ich sah, wie er sie behandelte.

Nachdem er endlich seine Tiraden beendet hatte und zu seinem Bett gestolpert war, legte ich den Arm um meine Mutter. »Kümmere dich nicht weiter um ihn«, flüsterte ich ihr zu. »Erzähle mir lieber von der Rodney Street.« Ich wusste, dass diese Geschichte das Einzige war, was sie aufzuheitern vermochte. Es war ihre Geschichte. Ein schwaches Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie anfing zu erzählen: davon, wie sie als junges Mädchen von Edinburgh nach Liverpool gekommen und als Zofe Anstellung gefunden hatte. Wie einen verregneten Dezember lang ein junger, eleganter Mann in dem großen georgianischen Haus in der Rodney Street zu Gast war. Und wie sie seine Geliebte wurde. Sie sei sich sicher, dass blaues Blut in seinen Adern floss – so fein seien seine Züge gewesen, sein Rücken so gerade und seine Hände so sanft, seine Manieren so makellos. Und die Art, wie er sprach, brachte sie jetzt noch, nach all den Jahren, zum Weinen, wenn sie sich seine Stimme ins Gedächtnis rief. Es sei besser für mich, so fuhr sie fort, wenn sie seinen Namen für sich behielte. Als sein Besuch zu Ende war und er Liverpool verlassen musste, versprach er ihr, dass er zu Mariä Lichtmess zurück sein würde oder spätestens zu Mariä Verkündigung Ende März. Er plante, im Mai nach Amerika zu reisen, und wollte meine Mutter mitnehmen. Nach Amerika, sagte sie.

An dieser Stelle breitete sich ein Glühen auf ihrem Gesicht aus, und sie schwieg für eine Weile, in Erinnerungen versunken. Doch die Geschichte kannte keinen glücklichen Ausgang. Der feine junge Mann kehrte nicht in die Rodney Street zurück, und schließlich kam auch heraus, dass Frances Gow in anderen Umständen war. Ohne Umschweife wurde sie entlassen, in Schande jagte man sie davon – ohne Zeugnis, mit dem sie sich um eine andere Stelle hätte bemühen können. Und nachdem sie drei Wochen lang schutzlos und verzweifelt umhergeirrt war, nahm Ram Munt sie bei sich auf.

»Ich hatte einfach keine Wahl, Linny, glaub mir«, beendete sie jedes Mal ihre Geschichte. »Immer wieder habe ich versucht, ihn zu finden, deinen Vater. Wie oft bin ich nicht in die Rodney Street gelaufen und habe mich hinter einem Busch versteckt, für den Fall, dass er zurückkam. Er kannte ja meinen Aufenthaltsort nicht! Kurz nach deiner Geburt hatte ich die Gelegenheit, mit den Küchenmädchen zu reden, aber sie schworen mir, dass sie ihn nie mehr gesehen haben. Was hätte ich sonst noch tun können, Linny? Er hat nie von dir erfahren. Wenn er es gewusst hätte, dann hätte er mich geheiratet, ganz bestimmt, denn er hat mich geliebt. Doch mir blieb nichts anderes übrig, als das zu tun, was ich tat.« An diesem Punkt angelangt, schaute sie zu Pa hinüber, der mit dem Gesicht nach unten auf seinem Lager ausgestreckt lag und schnarchte, ein monotones gedämpftes Dröhnen.

Alle paar Monate zog sie die mit Schnitzereien verzierte Holzschatulle aus ihrer Ankleidekommode hervor. Der Inhalt bestand aus einem messingbeschlagenen Spiegel, einem Buch mit Gedichten von Wordsworth, das auch The Green Linnet enthielt – das Gedicht, dem ich meinen Namen verdanke –, und einen herzförmigen Anhänger aus Gold. Er war mit winzigen Staubperlen verziert, die einen Vogel abbildeten – einen Hänfling in den Augen meiner Mutter. Im Schnabel hielt er einen Zweig aus kleinen grünen Steinen, Smaragden, wie Mutter meinte. Ram Munt dagegen sagte, sie seien aus Glas.

»Das sind Geschenke von ihm, deinem Vater«, erklärte Mutter. »Den Spiegel hat er mir gegeben, weil er mein Gesicht so gern betrachtete, wie er sagte. Und das Buch, weil er es liebte, meine Stimme zu hören, wenn ich etwas vorlas. Und der Anhänger sei sein Herz, das er mir schenkte.« Sie rieb mit dem Finger über die warm glänzende Oberfläche. »Eines Tages wird er dir gehören, Linny. Damit du weißt, dass du den Geruch der Mersey zwar in der Nase haben magst, jedoch nicht in den Adern.«

Wieder und wieder vernahm ich lächelnd und mit einem gelegentlichen Nicken diese Geschichte, bis zu dem Tag, an dem Mutter starb. Schnell und geräuschlos hatte ein Fieber das Leben aus ihrem ohnehin schon dünnen Körper gesogen. Damals war ich etwas über zehn und hatte, seit ich sechs war, wie sie in der Buchbinderei gearbeitet. Zuerst war ich für das Hin- und Hertragen der bedruckten Papierseiten zuständig: Ich trug die dicken Stapel, die aus der Druckerei kamen, zu den riesigen Tischen, wo die Papierbögen mit einem Falzbein, einem Elfenbein- oder Fischbeinmesser, glatt gestrichen, gefalzt und dann zusammengelegt wurden. Von dort musste ich die Blätter zum Heften bringen. Auch meine Mutter hatte an der Fadenheftmaschine gearbeitet, wo die Papierlagen mit einem speziellen Stich zusammengeheftet wurden. Sie konnte zwei- bis dreitausend Seiten am Tag heften. Kurz bevor sie starb, war ich zum Falzen eingeteilt worden und hatte nun mein eigenes Fischbeinmesser. Und wenn alles nach Plan lief, würde ich mit vierzehn ebenfalls zum Heften eingeteilt werden.

Im ersten Jahr nach ihrem Tod besuchte ich jeden Sonntag ihr Grab. Es befand sich im unteren Teil des Friedhofs der »Sailors' Church«, einer Kirche, die deshalb »Seefahrerkirche« genannt wurde, weil sie direkt am Ufer der Mersey lag. In Wirklichkeit hieß sie Our-Lady-and-St.-Nicholas-Parish-Kirche. Jeden Sonntag nach dem Gottesdienst stand ich zwischen den feuchten, von Brennnesseln überwucherten Grabsteinen und ärmlichen Kreuzen und fuhr mit den Fingern die Inschrift nach – Frances Gow –, die mit groben Lettern in das einfache Holzkreuz geschnitzt war. Jedes Mal musste ich daran denken, dass Pa sich geweigert hatte, die Glocken für sie läuten zu lassen. So hatte Mutter nur ein Armenbegräbnis bekommen. Ein paar der Hefterinnen aus der Buchbinderei waren gekommen und eine Hand voll Nachbarn, doch nach der Bestattung hatte es nicht einmal eine Tasse Tee gegeben.

Meine Mutter hätte mehr verdient, und jeden Sonntag, da ich daran erinnert wurde, dass er sie nicht einmal im Tod gut behandelt hatte, vertiefte sich mein Hass auf Pa. An einem dunklen, regnerischen Nachmittag, als ich wieder einmal an ihrem Grab stand, beobachtete mich ein Vogel, der nur einen Meter von mir entfernt saß. Angesichts seines gekrümmten Schnabels, der im Gras pickte, und des orangefarbenen Auges, das mich unaufhörlich und ohne zu blinzeln fixierte, erschauderte ich. Als er sich mit laut schlagenden Flügeln in die Luft erhob, einem Geräusch, das sich anhörte, wie wenn nasse Betttücher ausgeschlagen werden, beschloss ich, meinen Vater zu suchen. Der Traum eines Kindes, gewiss, aber oft genug werden Träume Wirklichkeit und sind notwendig für unser Überleben. An diesem Tag ging ich so weit in den Norden der Stadt, wie ich mich noch nie vorgewagt hatte. Ich gelangte in das vornehme Viertel Mount Pleasant und schließlich, nachdem ich mich durchgefragt hatte, in die Rodney Street.

Es war ein langer Weg von der Back Phoebe Anne Street, und dennoch spazierte ich von nun an bei schönem Wetter öfter diese vornehmste Straße von Liverpool auf und ab, um die im georgianischen Stil erbauten Häuser mit den schmiedeeisernen Balkonen zu bewundern. Die Mädchen, die ungefähr in meinem Alter sein mussten, sahen so anders aus als ich. Wenn ich zurück in der Vauxhall Street war, unterschied ich mich mit meinem zu kurzen, fleckigen, x-mal ausgebesserten Kleid, den abgewetzten Stiefeln und dem zerrissenen Schal nicht von all den anderen Mädchen. Aber hier trugen die Mädchen prächtige Kleider und Samt-Capes. Ihre Strümpfe waren sauber und sahen nicht so aus, als wären sie jemals gestopft worden; ihre Schuhe glänzten, ebenso wie die Silberspangen, die manche von ihnen schmückten. Ihr Haar war mit Satinbändern hochgebunden, ihre Haut war makellos, und ihre Augen waren klar, wenn sie wie durch mich hindurch sahen. Ich war ein Nichts, ein armes Mädchen aus der Hafengegend. Niemand sprach mit mir, nur einmal machte eine korpulente Matrone eine Bemerkung, als ich wieder einmal auf der Straße stand und eines der eleganten Häuser betrachtete: »Mach, dass du hier wegkommst, Mädchen«, knurrte sie. »Das ist eine anständige Straße. Deine Sorte brauchen wir hier nicht.«

Ich achtete nicht auf sie. Was sie oder sonst jemand in Mount Pleasant von mir dachte, interessierte mich nicht. Mich interessierte etwas anderes: Jeden Mann, der an mir vorbeikam, musterte ich sorgfältig, egal, ob er zu Fuß ging oder auf einem Pferd ritt. Auch die Männer, die ich durch die Fenster eines auf Hochglanz polierten Brougham sah oder auf dem Sitz eines hochrädrigen Phaetons, betrachtete ich eingängig. Ich suchte nach einem Gesicht, wie ich es mir in meiner Fantasie ausgemalt hatte – einem Gesicht mit goldgesprenkelten Augen von der gleichen Form, wie ich sie hatte, und mit dem gleichen hellblonden Haar.

Ich wusste, wie er aussehen würde, denn für mich war der Mann aus Mutters Geschichte längst Wirklichkeit geworden.

Am Ende jeden ergebnislosen Sonntagnachmittags machte ich mich auf den Rückweg zum unteren Ende der Stadt. Je kleiner die Häuser wurden und je dichter sie sich drängten, bis sie schließlich zu schäbigen Behausungen wurden, umso mehr empfand ich das Elend meines Lebens. Ein Gefühl, das ebenso real war wie der Schmerz in meinen Fersen, der daher rührte, dass meine Stiefel aus dem Pfandleihhaus viel zu eng waren.

Ja, gewiss war meine Mutter eine Zofe gewesen: Hatte sie nicht lesen und schreiben können, und hatte sie nicht eine angenehme Stimme gehabt mit einer kultivierten Aussprache – in der nur leicht ein schottischer Akzent mitschwang? Und sie wusste, wie man sich zu benehmen hatte: Bei unseren bescheidenen Mahlzeiten bestand sie darauf, dass ich aufrecht saß, auf dem Schoß ein sauberes Tuch. Auch wies sie mich an, Messer und Gabel richtig zu halten, kleine Bissen zu mir zu nehmen, langsam zu kauen und über erfreuliche Dinge bei Tisch zu reden. Sie lehrte mich zu lesen und sparte sich ein paar Pennys von ihrem kärglichen Lohn ab, um mir in der Buchbinderei eines der Pinnock-Catechisms – eine Serie von Lehrbüchern für Kinder – oder eines der kleinen Sixpence-Schulbücher zu kaufen. Die Exemplare, die fehlerhaft gebunden oder beschädigt waren, bekam man für einen Penny.

Doch das blieb unser Geheimnis. Nie hätte Pa ihr erlaubt, Geld für etwas so Nutzloses wie ein Buch auszugeben. Also versteckte ich die Bücher unter meiner Strohmatratze, und an den Abenden, wenn er in die Kneipe ging und Mutter meist schon schlief, las ich darin, bis auch mir die Augen zufielen.

Am liebsten mochte ich die »Jugendfreund«-Serie, die aus dutzenden von Büchlein bestand mit Fragen und Antworten zu allen möglichen Wissensgebieten, von Geschichte über Wirtschaft und Geografie bis zur Dichtung. Natürlich konnte ich nicht wählerisch sein: Einmal musste ich mich mit einem neuen Büchlein für eine ganze Woche begnügen: einem Mechanik-Lehrbuch für Kinder.

Meine Mutter lehrte mich auch, den Menschen ins Gesicht zu schauen, wenn sie mit mir sprachen, und sie korrigierte meine Aussprache: Wenn ich so sprach wie die Leute aus der Fabrik und auf der Straße, würde ich niemals »höher steigen« als sie. »Du musst versuchen, von hier wegzukommen, Linny«, beschwor sie mich. »Das Leben hält mehr für dich bereit als das hier, mehr als die Straße und die Arbeit. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich wüsste, dass du nie etwas anderes kennen lernen solltest.«

Wenn sie dergleichen sagte, lachte Pa sie aus und fragte sie, was sie damit meine – höher als die anderen zu steigen. Was glaubte sie, aus mir machen zu können? Stellte sie sich vor, dass ich Zofe werden könnte, wie sie behauptete, eine gewesen zu sein? »Sie wird in der Buchbinderei bleiben so wie du, in einem ordentlichen Laden. Und dann wird sie jemanden finden, der sie heiratet, damit sie nicht länger die Füße unter meinen Tisch streckt. Soll doch jemand anders sehen, wie er sie satt bekommt.«

Doch meine Mutter hörte nicht auf, Pläne für meine Zukunft zu schmieden. Unaufhörlich erinnerte sie mich daran, dass sie und ich nicht in dieser Gegend verwurzelt waren und dass ich der Back Phoebe Anne Street um jeden Preis den Rücken zukehren müsse. Die Momente, in denen sie von einem besseren Leben für mich träumte, schienen die einzigen Glücksmomente zu sein, die sie kannte.

»Sie könnte Gouvernante werden, wenn man ihr nur die Gelegenheit dazu gibt. Sie kann so gut vorlesen. Sie würde eine perfekte Gouvernante abgeben«, sagte sie einmal beim Abendessen. »Wenn sie nur entsprechend angezogen wäre, könnte die Kirche ihr dabei helfen, eine Anstellung zu finden. Niemand bräuchte zu wissen, dass sie aus der Hafengegend stammt. Sie hat sogar eine bessere Aussprache als ich, also könnte sie ebenso gut aus Schottland kommen. Ihre Herkunft müsste niemand ...« Ihre Stimme erstarb. Ein matter Glanz lag auf ihrer Stirn, und mehr als einmal während des Essens, das aus gekochten Kartoffeln mit Speckwürfeln bestand – und das sie nicht anrührte –, fasste sie sich an die Stirn, um dann die Hand zurückzuziehen und wie vor Überraschung die Fingerspitzen zu betrachten. »Wenn sie nur die Chance bekäme«, sagte sie abermals, und das ungewöhnliche Glühen auf ihren Wangen vertiefte sich, »würde mich meine Tochter mit Stolz erfüllen.« Ein beunruhigender Glanz lag in ihren Augen, aber ich schrieb ihn ihrer Kühnheit zu und wollte es ihr gleichtun, also nahm ich ebenfalls all meinen Mut zusammen.

»Ich weiß, was ich gerne machen würde«, sagte ich, und meine Mutter wandte mir den Kopf zu, auf den Lippen ein gespanntes Lächeln, da sie wohl erwartete, ich würde ihr zustimmen. Auch wenn wir beide wussten, dass ein Mädchen aus den Slums von Liverpool niemals die Chance bekäme, Gouvernante zu werden. »Ich würde gern die Bücher in der Druckerei illustrieren.«

Das Lächeln erstarb. »Was meinst du damit?«

»Ich würde gern Illustrator werden wie Mr Broughton.«

Ihre Miene verdüsterte sich. »Wann warst du bei den Buchkünstlern oben im dritten Stock?«

»Der Aufseher schickt mich manchmal mit einer Nachricht für Mr Broughton nach oben. Dort gibt es wunderschöne Dinge zu sehen.« Ich lächelte, als ich mir Mr Broughtons Reich in Erinnerung rief. »Ich habe gesehen, wie er ein Buch vergoldet und es dann mit irgendwelchen heißen Instrumenten geprägt hat. Da gibt es so viele verschiedene Werkzeuge – Scheiben, verschnörkelte Rollen, Diamanten, und dann all die Lettern. Und Mr Broughton kann alle möglichen Formen prägen, egal welche Muster er sich auch ausdenkt. Oh, wenn ich nur daran denke, all diese wunderbaren ...« Ich sah die Enttäuschung im Gesicht meiner Mutter, hörte Rams Kichern und brach ab.

»Aber das ist doch keine Arbeit für eine Frau«, wandte meine Mutter ein. »Keine Frau kann diesen Beruf ausüben. Du weißt doch, dass nur Jungen als Lehrlinge bei den Buchillustratoren angenommen werden. Und nur Männer sind klug genug für diese künstlerische Arbeit. Wer hat dir nur diese Flausen in den Kopf gesetzt?«

Wie hätte ich verraten können, dass Mr Broughton mich in manch gestohlener Minute ein bisschen experimentieren ließ? Ich hatte Pergament gewaschen, Initialen koloriert und einmal sogar eine Goldprägung auf einem verdorbenen Stück Kalbsleder versucht. Er schien unsere heimlichen Experimente ebenso zu genießen wie ich. Immer wenn ich vorbeikam, zeigte er mir schnell dies oder das, während er verstohlen über die Schulter schaute.

Inzwischen war aus Pas Kichern ein Lachen geworden. Er schien sich köstlich zu amüsieren. Schließlich trocknete er sich mit dem Ärmel die Augen und wies mich an, besser das zu tun, was ich am besten könne, nämlich seine Schüssel mit einer weiteren Portion Kartoffeln zu füllen. Ich solle ihm ja nicht wieder mit solch lächerlichen Ideen kommen, fügte er hinzu, wie Gouvernante oder Illustrator werden zu wollen.

Später am Abend verstärkte sich das Fieber, das Mutter in den letzten vierundzwanzig Stunden befallen hatte.

Und es war noch kein Jahr seit ihrem Tod vergangen, als Pa Mr Jacobs mit nach Hause brachte.

DREI

Mr Jacobs war nur der Erste in einer Reihe unzähliger weiterer Männer, die Ram auftrieb. Niemals wieder nannte ich ihn Pa; überhaupt sprach ich kaum noch mit ihm, und wenn, dann nannte ich ihn bei seinem Namen. Er konnte nicht regelmäßig Freier in unsere Wohnung im zweiten Stock bringen: Wenn der Vermieter Wind davon bekam, so befürchtete er, würde er uns rausschmeißen oder gar einen Prozentsatz seiner Einnahmen verlangen. Stattdessen musste ich mich umziehen, kaum kam ich nach einem Zehn-Stunden-Tag in der Buchbinderei nach Hause. Meinen Arbeitskittel tauschte ich gegen ein albernes Mädchenkleid mit Schürze, das er in einem Pfandhaus erstanden hatte. Dann flocht ich meine Haare zu Zöpfen und setzte eine Strohhaube mit blauen Bändern auf, die ebenfalls aus dem Pfandhaus stammte. Und so brachte er mich zu den Freiern.

Ich fand nie heraus, wie er die Männer auftrieb. Sie waren alle alt, zumindest schienen sie es für mich zu sein. Jedenfalls waren es Männer, die alle dieselbe Vorliebe für Mädchen hatten, wie ich eines war: klein und zart. So erschien ich an der Tür ihres Hotel- oder Pensionszimmers, an der Hand des untersetzten, groben Kerls, der vorgab, mein Vater zu sein. Alle Sorten Männer waren darunter. Die meisten von ihnen waren geschäftlich von London oder Manchester nach Liverpool gekommen, manche auch von weiter her, aus Schottland oder Irland. Einige waren grob, andere wiederum freundlich. Manche brauchten eine Ewigkeit, um sich Befriedigung zu verschaffen, bei anderen genügte es schon, wenn ich meinen Rock lüftete und mich so auf den Bettrand setzte oder mich über einen Tisch lehnte.

Während ich an manchen Abenden zwei Männer für je eine Stunde aufsuchen musste, wartete Ram stets, um das Geld entgegenzunehmen. Doch es gab auch drei Stammkunden, die für den ganzen Abend bezahlten. Meine festen Abende waren Montag, Mittwoch und Donnerstag. Diese Freier waren mir sogar recht lieb geworden, bevorzugten sie doch ein Kind, das lächelte, statt eines, das weinte. Bei ihnen wusste ich, was mich erwartete, und im Umgang mit ihnen lernte ich so manches über mich.

Montag nannte mich Ophelia. Nach seinen ungeschickten Versuchen brach er stets in Tränen aus. Er schenkte mir tütenweise Süßigkeiten und strich mir sanft über das Haar. Auch erzählte er mir von Shakespeare, zitierte aus dessen Dramen und Sonetten. Montag behauptete, er sei ebenfalls ein Dichter und Stückeschreiber, doch werde seinen Werken die Anerkennung versagt. Nachdem seine dichterischen Versuche für ihn zur Obsession geworden waren, habe seine Frau ihn mit der gemeinsamen Tochter verlassen. An dieser Stelle weinte er dicke Tränen und wurde von tiefen Seufzern erschüttert. Und wenn er mich dann ansah, schüttelte er den Kopf, so als schmerzte ihn mein Anblick. Doch er konnte mir nicht widerstehen. »Mein kleines unschuldiges Wesen«, sagte er. »So unschuldig und rein, und dennoch dazu verdammt, die Geheimnisse des Lebens kennen zu lernen. Du hast die Sehnsucht in dir, die Welt um dich herum ergründen zu müssen, nicht wahr?«

Mittwoch liebte es, mir beim Baden zuzusehen. Jedes Mal wartete eine kupferne Sitzbadewanne vor einem kuscheligen Kamin auf mich. Ich wusch mich ausgiebig und seifte mein Haar mit einer frischen Lavendelseife ein – die ich hinterher mit nach Hause nehmen durfte –, dann trocknete er mich mit dicken, flauschigen Handtüchern ab und trug mich zum Bett hinüber. Sein Vergnügen bestand darin, mich zu betrachten und vorsichtig meine Haut zu berühren; ob er impotent war oder in seiner fest zugeknöpften Hose ein seltsames Geheimnis verbarg, dessen er sich schämte, fand ich nie heraus. Jedenfalls hatte er nichts dagegen, wenn ich einschlief, was auch regelmäßig passierte: Nach einem langen, harten Arbeitstag, dem warmen Bad und angesichts der sanften Berührungen seiner Hände, die sich wie Kinderhände anfühlten, fiel es mir schwer, wach zu bleiben. Ebenso wie es mir schwer fiel, Mittwoch zu verlassen, sobald ich Rams Klopfen vernahm.

Am meisten jedoch mochte ich Donnerstag. Er liebte es, mich zum Essen auszuführen. Nachdem wir eine Zeit lang auf seinem kostbar möblierten Zimmer in dem eleganten Hotel verbracht hatten, führte er mich in den von glitzernden Kristalllüstern illuminierten Speisesaal, wo Kellner silberne Schalen und Tablette hin und her trugen, die wie Spiegel glänzten. An den Wänden mit den blau-silbernen Tapeten reihten sich die Ölgemälde, und die breiten Fenster waren nicht nur von der Wärme der behaglichen Kaminfeuer beschlagen: Einige der Männer waren wohl ebenso von den üppigen Speisen und Getränken erhitzt wie von der Vorfreude auf das, was sie in den Zimmern oberhalb des Speisesaals erwartete.

Im Hotel musste ich Donnerstag Onkel Horace nennen. Glaubten die Angestellten am gediegenen Empfangstresen oder die Zimmermädchen, die mit gestärkter Wäsche im Flur an uns vorbeieilten, oder die Kellner tatsächlich, dass ich seine Nichte war? Oder drückten sie nicht vielmehr ein Auge zu und akzeptierten die Lüge, um mit höflichem Lächeln und untertänigen Verbeugungen die Münzen in Empfang zu nehmen, die Onkel Horace in ihre Hände gleiten ließ?

Onkel Horace hatte einen beträchtlichen Leibesumfang. Während er oben im Zimmer schnell und leicht zu befriedigen war, so war sein Appetit bei Tisch unersättlich. Er bestellte Unmengen von Speisen – darunter die köstlichsten Spezialitäten: knusprig-gebräunten Kapaun, Steinbutt mit Hummersauce, luftig-leichtes Kartoffelpüree, das sich spiralenförmig zu goldbraunen Kuppeln wölbte. Dazu bestellte er für mich Portwein, an dem ich nicht so sehr den Geschmack liebte als vielmehr das tiefe Rubinrot, in dem sich das Kaminfeuer spiegelte. Onkel Horace bestand stets auf einem Tisch beim Kamin.

In jenem eleganten Speisesaal mit der hohen majestätischen Decke, mit seinen Gerüchen nach Braten und karamellisiertem Zucker, Pomade und Eau de Toilette sowie Reichtum und Lebensfreude lernte ich, wie sich Männer und Frauen seines Standes bewegten. Ich beobachtete die Damen an den anderen Tischen, welche Kleider sie trugen, wie sie sich die Lippen mit damastenen Servietten abtupften, hörte ihr glockenhelles Lachen. Ich bemerkte, dass ihre Aussprache viel feiner war als die meiner Mutter, und bemühte mich, sie mir einzuprägen. Für mich war es wie ein Spiel, Onkel Horace mit halbem Ohr zuzuhören, wenn er von seinem Geschäft und seinem gediegenen Haus in Dublin erzählte oder Geschichten aus seiner Kindheit im ländlichen Irland, wo er sich an den Sonntagen zu den Stalljungen hinausschlich, um mit ihnen Hurling zu spielen. So erfuhr ich auch, wie er angefangen hatte, die Leere, welche die Abwesenheit seiner Eltern in ihm hinterließ, mit Essen aufzufüllen. Manchmal hatten seine Eltern ihn mit den Hausangestellten für ein ganzes Jahr allein gelassen, während sie auf Reisen waren. Oft brachte er mir einen Korinthenkuchen mit – Hambrack, wie er ihn nannte, den er als Kind am liebsten mochte. Die alte Köchin aus seiner Kindheit backte ihn – noch immer lebte sie in seinem Haus und sorgte für sein leibliches Wohl. In eines seiner Leinentaschentücher gewickelt, durfte ich den Kuchen nach Hause mitnehmen.

»Bist du wirklich so hungrig, wie du aussiehst?«, fragte er, als ich etwas schnell, aber wie es sich gehörte eine Auster schlürfte. »Oder isst du nur, weil du weißt, dass es mich glücklich macht?«

Ich tupfte mir mit der Serviette den Mund ab und legte die Hände in den Schoß, während ich mir eine Antwort zurechtlegte. Wusste er eigentlich, was es hieß, Hunger zu haben? Hatte er auch nur die leiseste Ahnung davon, dass ich, ehe ich am Abend zu ihm gebracht wurde, einen ganzen Arbeitstag hinter mir hatte? Dass mir vom Falzen des Papiers die Hände schmerzten und es sich anfühlte, als ob ich Kieselsteine in den Handballen hätte? Dass ich in der Mittagspause fünfzehn Minuten Zeit hatte, um auf die Toilette zu gehen und das Stück Brot mit Käse hinunterzuwürgen, das ich von zu Hause mitgebracht hatte? »Nein, es schmeckt mir wirklich, Onkel Horace«, erwiderte ich, »denn wie könnte ich angesichts dieser Köstlichkeiten und Ihrer Gesellschaft keinen Appetit haben?«

Daraufhin musterte er mich. »Du bist unterernährt, das kann ich wohl sehen. Aber ich sehe noch einen anderen Hunger in deinem Gesicht, Linny, den Hunger nach Bildung, einen großen Wissensdurst.«

Und ich legte das Glas an die Lippen und benetzte sie mit der purpurnen Flüssigkeit, ehe ich es zurück auf das schneeweiße Tischtuch stellte. »Das mag sehr wohl sein«, entgegnete ich. »Vielleicht ist es eine Art Hunger der Seele.« Damit wiederholte ich Wort für Wort das, was der anämische Mann auf dem Stuhl hinter mir wenige Augenblicke zuvor gesagt hatte. Ich hatte keinen blassen Schimmer davon, was die Worte bedeuteten, obgleich ich wusste, was die Seele war: Schließlich ging ich nach wie vor regelmäßig in den Gottesdienst in der Our-Lady-and-St.-Nicholas-Kirche.

Onkel Horace lachte herzhaft. Sein Haar war schweißnass, und die Pomade rann ihm in den Kragen, das runde Gesicht von Portwein und Brandy gerötet. »Was für ein kluges, kleines Biest du bist! Nun komm schon und sag mir etwas in deinem besten irischen Akzent auf, denn ich hab ein wenig Heimweh heute Abend.«

Also rezitierte ich ein Gedicht, dann erzählte ich ihm irgendeinen dummen Gesellschaftstratsch, den ich aufgeschnappt hatte, und imitierte dabei seinen irischen Tonfall, der mir leicht über die Lippen ging.

Er lächelte und nickte bedächtig. »Du bist ein Wunder, keine Frage! Der reinste Dublin-Akzent, tatsächlich. Als ob du deine ganze Kindheit damit verbracht hättest, Tee in der Grafton Street zu trinken.« Schließlich winkte er den Kellner heran und bestellte eine Nachspeise mit Birnen und Sahne für mich und Brandy-Kuchen für sich.

Am meisten vermisste ich meine alten Freunde, für die ich kaum mehr Zeit hatte. In der Buchbinderei arbeitete ich Seite an Seite mit zwei Mädchen, mit denen ich befreundet war – Minnie und Jane. Minnie war ein Jahr älter als ich, Jane ein Jahr jünger. Früher hatten wir manchmal gemeinsam die Buchbinderei verlassen – vier Stunden ehe unsere Mütter ihre Arbeit beenden durften. Währenddessen waren wir durch die Straßen geschlendert. Wir malten uns aus, welch zauberhafte Hauben und Retiküle wir eines Tages tragen würden, oder stellten uns die Speisen vor, die wir essen würden und die uns besonders erlesen dünkten. Wir hielten uns bei den Händen, wie es beste Freundinnen eben tun.

Aber jetzt hatte ich keine Zeit mehr für Freundschaften: Von der Arbeit musste ich nach Hause hasten, um ein einfaches Abendessen zuzubereiten, das Essen rasch hinunterschlingen und mich umziehen, ehe Ram mit mir die Wohnung verließ. Minnie und Jane nahmen mir meine Ausrede ab – dass ich für meinen Stiefvater das Abendessen vorbereiten müsse, ansonsten würde ich seine Handschrift kennen lernen, wie er mir androhte. Oft lächelten sie mir aufmunternd zu, aber ich vermisste ihre Gesellschaft schmerzlich.

Auch die gemeinsamen Stunden mit den Nachbarinnen fehlten mir. An lauen Sommerabenden hatten Mutter und ich uns mit anderen Müttern und ihren Töchtern aus der Back Phoebe Anne Street im Hof getroffen. Mutter hatte dann meist eine Stopf- oder Näharbeit dabei. Andere Mütter stillten ihre Babys oder wandten sich ebenfalls einer Handarbeit zu, während wir größeren Kinder die kleineren beim Spielen – Hüpfen oder Steinewerfen – beaufsichtigten. Gern lauschte ich dem Klatsch und Tratsch des Viertels – wer mit wem gesehen worden war, hinter welchen Mauern man Zank gehört hatte, wessen Baby krank geworden und wo ein Großelternteil gestorben war. Die anderen Frauen waren verhärmter als Mutter – den meisten fehlten Zähne, und sie kauten beständig einen Klumpen Kautabak. Und dennoch hatte es mir gefallen, gegen eine Mauer gelehnt eine halbe Stunde in ihrer Gesellschaft zu verbringen, ehe es Zeit zum Schlafengehen war.

Wenn ich nun an den Frauen vorbeikam, senkte ich den Kopf und lief hinter Ram her. Ich war mir sicher, dass sie wussten, was ich tat. Oft hörte ich sie hinter meinem Rücken flüstern und murmeln: Ich war zu einer unerschöpflichen Quelle des Tratsches geworden, doch niemals kam eine von ihnen auf mich zu, um mit mir zu reden oder mich nach meinem Befinden zu fragen. Sie kannten ihren Platz, diese Frauen.

Wahrscheinlich war es Mae Scat, die im Souterrain auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse wohnte, die den Ladies of the Righteous Conduct, einem Frauenverband, der sich um Tugend und sittliches Betragen in der Kirchengemeinde kümmerte, von mir erzählt hatte. Mae hatte meiner Mutter recht nah gestanden: Wann immer sie ein geschwollenes Auge oder eine aufgeplatzte Lippe hatte, nahm Mae sie in den Arm und drückte sie aufmunternd. Sechs Monate bevor meine Mutter starb, hatte Mae ihren dritten Ehemann beerdigt; sechs ihrer zahlreichen Kinder hatten überlebt, und sie hatte geschworen, nie wieder einen Mann an sich herankommen zu lassen. Es sei ein Segen, dass sie nur Söhne habe, meinte sie; tatsächlich brachten ihre ältesten drei Jungen, allesamt stramme Burschen, das Nötige nach Hause, um die ganze Familie zu ernähren.

Aus dem Augenwinkel hatte ich gesehen, wie Mae Scat mich eines Abends beobachtete. Die dicken, nackten Oberarme – nie trug sie einen Schal, egal, wie kalt es war – über der Brust verschränkt, stand sie da und sah mir nach, als ich hinter Ram die Gasse hinuntereilte. Einmal hatte ich gehört, wie sie, an niemand Speziellen gerichtet, murmelte: »Es ist nicht richtig, es ist einfach nicht richtig.«

Als dann die gut gekleidete Dame an einem warmen Herbstabend an unsere Tür klopfte, nahm ich an, dass Mae Scat sie geschickt hatte.

»Bist du Linny Munt?«

Ich nickte, während mein Herz zu rasen begann. Nie zuvor war jemand an unsere Tür gekommen, um sich nach mir zu erkundigen. Ich trug noch die fleckige Arbeitskleidung aus der Buchbinderei: Wir hatten gerade zu Abend gegessen, und ich hatte mich noch nicht für meine abendliche Beschäftigung umgezogen.

»Ich bin Mrs Poll von den Ladies of the Righteous Conduct. Dürfte ich vielleicht hereinkommen und ein paar Worte mit dir reden?«, sagte sie, die schmalen Schultern gestrafft, während sie in dem übel riechenden, schmalen Flur stand.

Die Tür noch immer nur einen Spaltbreit geöffnet, warf ich einen Blick über die Schulter zu Ram. Der saß auf der Küchenbank und starrte blicklos ins Feuer. Es schien, als hätte er weder das Klopfen noch die leise weibliche Stimme vernommen.

Nachdem er keinen Einwand erhob, öffnete ich die Tür und trat einen Schritt zurück, um die Dame eintreten zu lassen. Ihre Kleidung machte einen strengen Eindruck: Zu einem blauen Batistkleid und einem kurzen Popelin-Spenzer trug sie eine marineblaue Haube; doch obwohl ihre Kleidung schnörkellos und streng geschnitten wirkte, war sie von kostbarem Material. Statt eines Retiküls trug sie eine große graue Stofftasche mit einer Kordel.

»Wie geht es dir, Linny?«, fragte sie.

Ich nickte und vergrub die Hände in den Taschen meines Kittels. Mit einem Mal hatte ich Angst, auch wenn ihre Stimme einen angenehmen Klang hatte. Passend zu ihrem Kleid trug sie marineblaue Handschuhe – wie klug von ihr, kam mir unwillkürlich in den Sinn, keine weißen Handschuhe zu tragen, wenn man sich in unsere Gegend begab.

»Wie alt bist du? Zehn – würde ich schätzen?«

»Ich bin gerade zwölf geworden«, erwiderte ich. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Ich weiß nicht mehr, wovor ich Angst hatte, wahrscheinlich fürchtete ich, sie würde mich mitnehmen, um mich ins Arbeitshaus zu stecken. Man erzählte sich schreckliche Dinge darüber.

Sie wirkte erstaunt. »Zwölf. Nun, ich bin gekommen, um mich mit dir zu unterhalten und dich über ein paar Dinge zu informieren. Ist das dein Vater, Linny?« Sie blickte über meine Schulter hinüber zu Ram, der noch immer unbeweglich vor sich hin starrte.

Wieder nickte ich.

»Mr Munt also?«

Ram erhob sich ächzend von seiner Bank. »Was wollen Sie von uns? Sie scheinen sich hier ja bestens auszukennen. Wer schickt Sie?«

»Ich versichere Ihnen, Mr Munt, dass ich nicht gekommen bin, um Ihnen Scherereien zu machen. Ich kümmere mich nur um das Wohlergehen der Kinder in diesem Viertel.«

Erleichtert atmete ich aus. Sie schien mich also nicht mitnehmen zu wollen.

»Wohlergehen? Was verstehen Sie denn darunter«, erwiderte Ram.

Mrs Poll befeuchtete sich die Lippen. Ich sah, dass ihr Schweißperlen auf die Schläfen traten. »Das heißt, dass ich danach sehe, ob sie bei guter Gesundheit sind. Außerdem lade ich sie dazu ein, an unseren Bibelstunden am Sonntagnachmittag in der Kirche teilzunehmen. Ich habe hier ein Faltblatt, das du dir vielleicht gern ansehen willst«, fuhr sie fort und zog ein gefaltetes Blatt aus ihrer Stofftasche. »Es enthält ein paar wunderschöne Zeichnungen.«

Als ich nach dem Faltblatt griff, sah sie die blauen Flecken an meinem Handgelenk: die Spuren eines meiner Freier, der mich kürzlich zu grob angefasst hatte. »Wie hast du dich denn verletzt, meine Kleine?«, wollte sie, mit einem Blick auf Ram, wissen.

Ich umfasste das Handgelenk mit der anderen Hand. »Ich, ich weiß nicht mehr.« Dabei sah ich sie auf eine Weise an, die ihr bedeuten sollte, dass ich es nicht wagte, darüber zu sprechen. Dass Ram mich bestrafen würde, sollte ich die Wahrheit sagen.

»Wirst du von jemandem misshandelt?«, wollte sie wissen, diesmal direkt an Ram gewandt.

Ja, aber ja, wollte ich rufen. Schauen Sie mich doch an, Mrs Poll. Schauen Sie mich an, dann werden Sie begreifen, wozu Ram mich jede Nacht zwingt.

Ram meldete sich wieder zu Wort, diesmal war seine Stimme eine Spur zu laut. »Sie bekommt nur, was sie verdient, wenn sie im Haushalt nicht richtig spurt. Es ist die Pflicht eines Vaters, dafür zu sorgen, dass seine Tochter richtig erzogen wird, und neulich war es wieder einmal so weit.«

Mrs Poll nickte. Ihre Wangen waren jetzt gerötet, doch ihre Stimme war fest und angenehm, als sie erwiderte: »Ja, es ist die Pflicht eines Vaters, seine Kinder zu erziehen, sie zu ernähren und dafür zu sorgen, dass sie anständig gekleidet sind. Und dass ihnen kein Leid angetan wird. Ich kann also davon ausgehen, dass Sie Ihren väterlichen Pflichten nachkommen?«

»Ganz richtig. Das tue ich. Nicht, dass Sie das Recht dazu hätten, das zu überprüfen. Es gibt kein Gesetz, das den Eltern vorschreibt, wie sie ihre Kinder zu behandeln haben. Und die Kirche geht es überhaupt nichts an.«

Während Ram sich in Rage redete, beugte ich den Kopf über das Faltblatt und fuhr mit dem Finger die einzelnen Wörter nach. Die wenigen Zeilen informierten über die Bibelnachmittage für die Kinder der Gemeinde. »Alle, die daran teilnehmen, bekommen am Ende des Unterrichts eine Scheibe Brot mit Marmelade«, las ich.

»Aber ist es nicht schade, Mr Munt? Dass nichts gegen die Misshandlung von Kindern getan wird?«

»Sind Sie jetzt endlich fertig? Mein Mädchen hat keine Zeit, um rumzubummeln. Gib ihr das zurück, Linny«, forderte er mich auf.

Während ich Mrs Poll das Faltblatt reichte, fragte ich: »Und es gibt Brot und Marmelade für alle?«

Mrs Poll trat einen Schritt auf mich zu. »Du kannst also lesen, meine Kleine?«

»O ja. Ich kann schon lange lesen.« Und merken Sie nicht, was für eine feine Aussprache ich habe? Sehen Sie nicht, dass ich eigentlich nicht hierher gehöre, Mrs Poll? Warum nehmen Sie mich nicht mit zu sich nach Hause? Die Gedanken eines kleinen Kindes, das noch nichts vom Leben wusste.

»Also dann.« Ihre Stimme klang überrascht. »Würdest du nicht gern ab und zu an unseren Bibelstunden am Sonntag teilnehmen? Es ist ganz einfach, wirklich. Wir lesen den Kindern etwas vor, singen gemeinsam ein paar Strophen eines Kirchenlieds und reden über das Leben im Sinne Gottes und darüber, wie wir es mit guten Taten erfüllen können.« Unwillkürlich streckte sie die Hand aus, um mir eine Haarsträhne hinters Ohr zu streichen. Ich spürte, wie ich den Kopf einen Moment lang in ihre behandschuhte Hand schmiegte. Und tatsächlich ließ sie die Finger einen Moment lang an meiner Wange ruhen, während ich die Augen schloss und mich an die Berührung meiner Mutter erinnerte.