Das Beste kommt noch - Richard Roper - E-Book
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Das Beste kommt noch E-Book

Richard Roper

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Beschreibung

Andrew hat ein Problem mit seiner Gesamtsituation. Dabei wünscht er sich nur ein ganz normales Leben: eine liebevolle Frau, Kinder – ist das zu viel verlangt? Stattdessen muss er sich mit seinen exzentrischen Kollegen begnügen. Und mit den Toten. Denn als Nachlassverwalter hat er deren Wohnungen zu räumen – die oft eine beunruhigende Ähnlichkeit mit seinem eigenen Londoner Ein-Zimmer-Apartment aufweisen, in dem es kaum mehr gibt als eine Modelleisenbahn und Ella-Fitzgerald-Platten. Das kann nicht alles sein, findet Andrew. Immerhin verspricht auch Ella in ihren Songs: «Das Beste kommt noch.» Und das tut es, in Form von Peggy, einer neuen Kollegin, die frischen Wind in Andrews Welt bringt …

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Seitenzahl: 470

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Richard Roper

Das Beste kommt noch

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Katharina Naumann

 

Über dieses Buch

Es ist nie zu spät für einen Neuanfang – und für die große Liebe.

 

Andrews Beruf ist der Tod. Nein, er ist kein Auftragskiller. Aber auch sein Job als Nachlass-Verwalter ist ganz sicher nichts für Zartbesaitete. Zum Glück hat Andrew eine wunderbare Familie, die nach einem langen Arbeitstag zu Hause auf ihn wartet. Das zumindest glauben seine Kollegen.

 

Die Wahrheit sieht allerdings ein bisschen anders aus. Denn alles, was in seinem Londoner Ein-Zimmer-Apartment auf ihn wartet, sind seine Modelleisenbahn und die heißgeliebten Ella-Fitzgerald-Platten.

 

Dann tritt Peggy in sein Leben. Und nichts ist mehr, wie es war …

Vita

Richard Roper arbeitet als Sachbuch-Lektor für einen großen Londoner Verlag. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass sein Debüt-Roman bereits vor Erscheinen für Furore sorgen würde: Die nationalen und internationalen Verlage rissen sich förmlich um die Veröffentlichungsrechte, mit dem Ergebnis, dass «Das beste kommt noch» in über 19 Ländern erscheint. Der überglückliche Autor lebt in London und schreibt an seinem zweiten Roman.

 

Katharina Naumann ist Lektorin und Übersetzerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel «Something to Live For» bei Orion, UK.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Something to Live For» Copyright © 2019 by Richard Roper

Covergestaltung und -abbildung Hafen Werbeagentur, Hamburg

ISBN 978-3-644-40645-2

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Mum und Dad

Gesundheitswesen (Seuchenbekämpfung) Verordnung 1984, Abschnitt 46

 

(1) Es ist die Pflicht jeder Ortsbehörde, dafür zu sorgen, dass die sterblichen Überreste eines jeden Menschen begraben oder eingeäschert werden, der innerhalb ihrer Grenzen gestorben ist oder tot aufgefunden wurde. Dies gilt für jeden Fall, in dem es der Behörde erscheint, dass anderweitig keinerlei angemessene Vorkehrungen für die Beseitigung der sterblichen Überreste getroffen worden sind.

Kapitel Eins

Andrew Smith betrachtete den Sarg und versuchte sich daran zu erinnern, wer darin lag. Ein Mann, da war er sich sicher, aber erschreckenderweise fiel ihm der Name nicht ein. Er glaubte, die Auswahl auf John oder James eingrenzen zu können, wobei Jake ebenfalls im Bereich des Möglichen lag.

Na toll, dachte Andrew, das hatte ja so kommen müssen. Schließlich hatte er schon an so vielen Beerdigungen teilgenommen, dass es irgendwann unausweichlich passieren musste. Trotzdem hinderte ihn dieser Gedanke nicht daran, einen Stich Selbsthass zu verspüren.

Wenn ihm der Name doch nur einfiele, bevor der Pfarrer ihn nannte! Andrew überlegte. Vielleicht konnte er einen heimlichen Blick auf sein Diensthandy werfen. Wäre das Mogeln? Wahrscheinlich. Außerdem war es bereits knifflig genug, unbemerkt aufs Handy zu sehen, wenn man umzingelt von Trauergästen war. Beinahe unmöglich schien es, wenn der einzige andere Mensch in der Kirche außer ihm selbst der Pfarrer war. Normalerweise nahm auch der Bestattungsunternehmer teil, doch der hatte sich krankgemeldet.

Irritierenderweise hatte der Pfarrer, der nur ein paar Meter entfernt von Andrew stand, kaum den Blick von ihm abgewandt, seit er mit dem Trauergottesdienst begonnen hatte. Andrew hatte zum ersten Mal mit ihm zu tun. Er wirkte wie ein Teenager und sprach mit einem nervösen Zittern in der Stimme, das vom Hall in der Kirche erbarmungslos verstärkt wurde. Ob es an seinen Nerven lag? Andrew probierte es mit einem beruhigenden Lächeln, aber das schien nicht zu helfen. War es unangemessen, ihm ein Daumenhoch zu zeigen? Er entschied sich vorsichtshalber dagegen.

Er blickte erneut zum Sarg. Vielleicht war es doch ein Jake. Andererseits war der Mann bei seinem Tod achtundsiebzig gewesen, und es gab nicht viele Jakes in den Siebzigern. Jetzt zumindest noch nicht. In ungefähr fünfzig Jahren würde es in allen Altersheimen nur so wimmeln vor Jakes und Waynes, Tinkerbells und Scarletts mit Arschgeweihen und anderen verblassten Tattoos. Von den Piercing-Löchern mal ganz zu schweigen …

Herrgott, jetzt konzentrier dich endlich, ermahnte Andrew sich selbst. Der Grund, aus dem er hier war, war doch, respektvoll zu bezeugen, wie die arme Seele auf ihre letzte Reise ging, und ihr Gesellschaft zu leisten anstelle von Familie und Freunden. Mit Achtung und Würde – das war Andrews Maxime.

Unglücklicherweise war diesem Verstorbenen im Tod nicht gerade viel Würde zuteilgeworden. Laut dem Bericht des Gerichtsmediziners war John oder James oder Jake auf der Toilette gestorben, als er gerade in einem Buch über Bussarde las. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, nicht einmal ein besonders gutes Buch über Bussarde, wie Andrew selbst festgestellt hatte, nachdem er es neben der Toilette des Verstorbenen gefunden und einen Blick riskiert hatte. Zugegebenermaßen war er kein Vogelexperte, aber musste der Autor wirklich eine ganze Seite allein der Beschimpfung von Turmfalken widmen? Der Verstorbene hatte ein Eselsohr in diese spezielle Seite gefaltet, vielleicht stimmte er dem Autor inhaltlich zu. Als Andrew sich die Latexhandschuhe ausgezogen hatte, hatte er sich vorgenommen, bei der nächsten Gelegenheit einen Turmfalken zu beleidigen, praktisch als eine Art letzte Ehrung.

Abgesehen von ein paar weiteren Vogelbüchern war im Haus kein weiterer Hinweis auf die Persönlichkeit des Verstorbenen zu finden gewesen. Keine Schallplatten, keine Filme, keine Bilder an der Wand oder Fotos auf den Fensterbänken. Die einzige Eigenart stellte die verblüffend große Anzahl an Müslischachteln mit Extraballaststoffen in den Küchenschränken dar. Abgesehen also davon, dass der Verschiedene ein begeisterter Ornithologe mit einem spitzenmäßigen Verdauungstrakt gewesen war, konnte man unmöglich erraten, zu welcher Sorte John oder James oder Jake er gehört hatte.

Wie immer war Andrew bei der Nachlassinspektion so gewissenhaft wie möglich vorgegangen. Er hatte das Haus durchsucht (einen merkwürdigen Bungalow im Pseudo-Tudor-Stil, der trotzig und völlig unpassend aus den Reihenhäusern in der Straße herausstach), bis er sich sicher sein konnte, nichts übersehen zu haben, was auf Angehörige hinwies. Er hatte an die Türen der Nachbarn geklopft, aber denen schienen der Mann und die Tatsache, dass er tot war, völlig egal zu sein – oder sie hatten gar nichts von ihm gewusst.

Andrew seufzte innerlich. Der Pfarrer leitete nun stotternd zu einer Passage mit Jesus über, und Andrew wusste aus Erfahrung, dass sich der Gottesdienst damit dem Ende zuneigte.

Er musste sich unbedingt an den Namen dieses Mannes erinnern, schon aus Prinzip!

Er gab sich wirklich alle Mühe, ein vorbildlicher Trauergast und so respektvoll zu sein, als wären Hunderte von am Boden zerstörten Familienmitgliedern anwesend und nicht nur er, ein völlig Fremder. Er nahm seit neuestem sogar seine Armbanduhr ab, bevor er die Kirche betrat, weil er fand, dass die letzte Reise des Verstorbenen nicht vom gleichgültigen Ticken eines Zeigers begleitet werden sollte.

Der Pfarrer befand sich unterdessen eindeutig auf der Zielgeraden. Andrew musste eine Entscheidung treffen.

John, beschloss er. Der Verstorbene war eindeutig ein John.

«Und trotz des Wissens, dass John …»

Volltreffer!

«… in seinen letzten Jahren einige Prüfungen ertragen musste und diese Welt leider ohne Familie und Freunde an seiner Seite verließ, so können wir doch Trost darin finden, dass Gott mit offenen Armen auf ihn wartet, voller Liebe und Freundlichkeit, und diese Reise die letzte ist, die er allein unternehmen muss.»

×

Andrew neigte nicht dazu, nach den Beerdigungen noch länger zu bleiben. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen er das dennoch getan hatte, hatte er mit dem Bestattungsunternehmer oder zufälligen Gaffern zähe Konversation betreiben müssen. Es war doch immer wieder erstaunlich, wie viele Leute kamen und vor der Kirche herumhingen, um anlässlich von Beerdigungen dümmliche Plattitüden abzusondern. Andrew war inzwischen recht geschickt darin, sich heimlich davonzumachen, um solche Begegnungen zu vermeiden. Heute allerdings war er kurz von einem Poster am Schwarzen Brett der Kirche abgelenkt gewesen, auf dem beunruhigend fröhlich eine «Hochsommer-Wahnsinn-Party!» angekündigt wurde, als ihm jemand mit der Hartnäckigkeit eines ungeduldigen Spechts auf die Schulter tippte. Es war der Pfarrer. Aus der Nähe sah er sogar noch jünger aus mit seinen hellblauen Augen und den blonden Haarvorhängen, die ihm bestimmt seine Mutter gescheitelt hatte.

«Hey, Sie heißen Andrew, nicht wahr? Und kommen von der Bezirksverwaltung, oder?»

«Stimmt. Beides», antwortete Andrew.

«Dann hatten Sie also kein Glück bei Ihrer Suche nach Familienangehörigen?»

Andrew schüttelte den Kopf.

«Schade. Wirklich schade.»

Der Pfarrer wirkte ein wenig aufgeregt, fand Andrew. Als hätte er ein Geheimnis, das er verzweifelt teilen wollte.

«Darf ich Sie etwas fragen, Andrew?», platzte es nach einer kurzen Pause aus ihm heraus.

«Ja», antwortete Andrew, dem Böses schwante und dessen Gedanken sich bereits überschlugen auf der Suche nach einer Ausrede für den Hochsommer-Wahnsinn.

«Wie fanden Sie es?», fragte der Pfarrer.

«Sie meinen … die Beerdigung?» Andrew wich dem Blick des Pfarrers aus und zupfte an einem losen Faden an seinem Mantel.

«Ja. Na ja, also vor allem meinen Part darin. Weil es, um mit offenen Karten zu spielen, meine erste Beerdigung war. Ich war ziemlich froh, mit dieser anfangen zu dürfen, um ehrlich zu sein, weil ja niemand da war. Eine gute Gelegenheit zum Üben. Hoffentlich bin ich jetzt gut vorbereitet, wenn es eine richtige Beerdigung gibt und die ganze Kirche voller Familie und Freunde ist und nicht nur ein Mann von der Bezirksverwaltung kommt. Nichts für ungut», fügte er hastig hinzu und legte die Hand auf Andrews Arm.

Andrew gab sich Mühe, den Arm nicht wegzuziehen. Er hasste es, wenn die Leute das taten. Er wünschte sich dann immer, einen Verteidigungsmechanismus wie ein Tintenfisch zu besitzen und ihnen eine Wolke schwarze Flüssigkeit in die Augen schießen zu können.

«Jedenfalls …», fuhr der Pfarrer fort und blickte Andrew erwartungsvoll an, «… wie fanden Sie mich?»

Was soll ich dir darauf antworten?, dachte Andrew. Weder hast du den Sarg aus Versehen umgekippt noch den Verstorbenen Herrn Hitler genannt, also würde ich sagen: volle Punktzahl.

«Sie haben das sehr gut gemacht», sagte er.

«Ah, toll, danke, Kumpel», sagte der Pfarrer und sah ihn erneut eindringlich an. «Das weiß ich sehr zu schätzen.»

Er streckte die Hand aus. Andrew schüttelte sie und wandte sich zum Gehen, aber der Pfarrer ließ seine Hand einfach nicht los.

«Also, ich gehe dann wohl mal lieber», sagte Andrew.

«Ja, ja, natürlich.» Endlich gab der Pfarrer seine Hand frei.

Andrew schritt eilig den Weg zur Straße hinunter und seufzte vor Erleichterung, einer weiteren Befragung entkommen zu sein.

«Bis bald hoffentlich!», rief ihm der Pfarrer hinterher.

Kapitel Zwei

Man hatte den Beerdigungen im Laufe der Jahre immer wieder neue Namen gegeben – «Beerdigung im Sinne des Gesundheitswesens», «Beerdigung im öffentlichen Auftrag», «Sozialhilfe-Beerdigung», «46er-Beerdigung» –, aber keine der Neubenennungen konnte die ursprüngliche Bezeichnung wirklich ersetzen. Als Andrew auf das Wort «Armenbegräbnis» gestoßen war, hatte er es ziemlich stimmungsvoll gefunden; sogar irgendwie romantisch, im Sinne von Charles Dickens. Er musste bei diesem Wort immer an ein abgelegenes Dorf von vor ungefähr hundertfünfzig Jahren denken – mit gackernden Hühnern und viel Schlamm –, in dem ein Bewohner im fortgeschrittenen Alter von siebenundzwanzig einem besonders aufsehenerregenden Fall von Gicht erlag und fröhlich in eine Grube gepackt wurde, damit seine sterblichen Überreste fürderhin das Land düngten.

In Wirklichkeit war der Vorgang deprimierend klinisch. Die Bezirkskommunen im Vereinigten Königreich hatten die jetzt gesetzlich festgeschriebene Pflicht, diejenigen zu beerdigen, die durch die Maschen der Gesellschaft gefallen waren und deren Tod vielleicht überhaupt nur deshalb bemerkt worden war, weil ihre sterblichen Überreste bereits verwesten oder sie ihre Rechnungen nicht bezahlten. In einigen Fällen hatte der Verstorbene noch so viel Geld auf dem Konto gehabt, dass die Betriebskosten anstandslos noch monatelang nach dem Tod abgebucht werden konnten, was bedeutete, dass es im Haus warm genug war, um die Verwesung der Leiche noch zu beschleunigen. Nach dem fünften erschütternden Fall dieser Art hatte Andrew überlegt, dieses Problem in der Spalte «Sonstige Bemerkungen» auf dem Formular seiner jährlichen Befragung zur Arbeitszufriedenheit zu vermerken. Aber dann hatte er dort lediglich die Bitte um einen zweiten Wasserkocher für die Büroküche notiert.

Gewöhnt hatte er sich auch an die sogenannte «Neun-Uhr-Abfertigung». Sein Chef Cameron hatte ihm die Bedeutung des Ausdrucks erklärt, während er heftig mit der Gabel auf die Folie einer Portion Fertig-Curry für die Mikrowelle einstach. «Wenn man allein stirbt» – piks, piks, piks – «wird man aller Wahrscheinlichkeit nach auch allein beerdigt» – piks, piks, piks – «weswegen die Kirche die Beerdigung schon um neun Uhr morgens anberaumen kann, weil klar ist, dass jeder Zug ausfallen» – piks – «und jede Autobahn verstopft sein kann» – piks – «und es völlig egal ist.» Ein letzter Pikser. «Weil ohnehin niemand kommt.»

Im Jahr zuvor hatte Andrew fünfundzwanzig von diesen Beerdigungen organisiert (seine höchste Gesamtjahresbilanz bisher). Er hatte auch an allen teilgenommen, obwohl er das eigentlich nicht musste. Es war, so sagte er sich, eine kleine, aber bedeutsame Geste, dass jemand da war, ohne gesetzlich dazu verpflichtet zu sein. Aber immer öfter, wenn er wieder einmal dabei zusah, wie ein schlichter, unlackierter Sarg in einem speziell dafür vorgesehenen, namenlosen Loch versenkt wurde, das man sicher drei oder vier weitere Male wieder aufbuddeln würde, um noch andere Särge hineinzulegen wie in einer Art makabrem Tetris-Spiel – immer öfter ertappte Andrew sich dann bei dem Gedanken, dass seine Anwesenheit eigentlich völlig überflüssig war.

×

Als Andrew im Bus zum Büro saß, inspizierte er seine Krawatte und die Schuhe. Beide hatten schon bessere Zeiten gesehen. Auf seiner Krawatte leuchtete ein hartnäckiger Fleck unbekannter Herkunft, der einfach nicht verschwinden wollte. Seine Schuhe waren gut poliert, sahen aber langsam abgetragen aus. Zu viele Kratzer vom Friedhofsschotter, zu viele Male, in denen das Leder gedehnt worden war, weil sich ihm die Zehennägel bei den holprigen Predigten der Pfarrer aufgerollt hatten. Er musste beides wirklich dringend ersetzen, sobald das nächste Gehalt kam.

Jetzt, da die Beerdigung vorbei war, nahm er sich einen Augenblick Zeit, um John gedanklich zu den Akten zu legen (Nachname Sturrock, wie er sich jetzt erinnerte, als er sein Handy einschaltete). Wie immer war die Versuchung groß, darüber nachzugrübeln, wie John in eine solch verzweifelte Situation geraten konnte. Gab es da wirklich nicht mal eine Nichte oder wenigstens einen Patensohn, mit dem er zumindest eine Weihnachtskartenbeziehung pflegte? Oder einen alten Schulfreund, der ihn zum Geburtstag anrief? Aber das war gefährliches Terrain. Andrew musste so objektiv wie möglich bleiben, zu seinem eigenen Wohl, um mental stark genug zu sein, sich mit dem nächsten armen Menschen zu beschäftigen, der auf diese Weise das Zeitliche segnete.

Der Bus hielt ruckelnd an der Ampel. Als sie grün wurde, hatte Andrew John sein letztes Lebewohl gesagt.

Im Büro angekommen, erwiderte er das begeisterte Winken seines Chefs Cameron mit einem eher gedämpften Kopfnicken, bevor er sich auf seinen durchgesessenen Stuhl fallen ließ, der sich im Laufe der Jahre seinen Formen genau angepasst hatte. Dabei stieß er einen inzwischen leider vertrauten Grunzlaut aus, wie er bedauernd feststellte.

Andrew atmete tief ein und aus. Er hatte geglaubt, mit gerade erst zweiundvierzig noch ein paar Jahre vor sich zu haben, bis er jede noch so kleine körperliche Anstrengungen mit merkwürdigen Geräuschen begleiten musste. Aber das Universum schien ihm schon jetzt vorsichtig klarmachen zu wollen, dass er offiziell auf ein mittleres Alter zusteuerte. Es würde bestimmt nicht mehr lange dauern, bis er sich schon frühmorgens darüber beklagte, wie leicht heutzutage Schulabschlüsse zu bekommen waren, und er beigefarbene Leinenhosen in großen Mengen auf Vorrat kaufte …

Andrew wartete, bis sein Computer hochgefahren war, und sah aus dem Augenwinkel, wie sein Kollege Keith ein Riesenstück Schokokuchen verdrückte und danach methodisch den Guss von seinen kleinen Stummelfingern leckte.

«War es eine gute?», fragte Keith, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, auf dem, wie Andrew wusste, vermutlich wahlweise eine Galerie von Schauspielerinnen zu sehen war, die die Frechheit besessen hatten zu altern, oder etwas Kleines, Pelziges auf einem Skateboard.

«Sie war in Ordnung», erwiderte Andrew.

«Irgendwelche Gaffer?», meldete sich eine Stimme hinter ihm.

Andrew zuckte zusammen. Er hatte gar nicht gesehen, dass sich Meredith auf ihren Platz am Schreibtisch hinter ihm gesetzt hatte.

«Nein», antwortete er, ohne sich die Mühe zu machen, sich umzudrehen. «Nur ich und der Pfarrer. Offenbar war es seine allererste Beerdigung.»

«Mein lieber Schwan, was für eine Art, seine Jungfräulichkeit zu verlieren», bemerkte Meredith.

«Immer noch besser als eine Kirche voller Heulsusen, seien wir mal ehrlich», sagte Keith, der noch ein letztes Mal an seinem kleinen Finger saugte. «Da würde man sich vor Schiss in die Hosen machen, oder?»

Das Bürotelefon klingelte, keiner von ihnen ging ran. Andrew war schon kurz davor, einzuknicken, aber Keith verlor als Erster die Nerven.

«Hallo, Abteilung für Todesfälle. Ja. Klar. Ja. Richtig.»

Andrew griff nach seinem Handy und seinen Kopfhörern und stellte seine Ella-Fitzgerald-Playlist ein. Er hatte erst vor kurzem Spotify entdeckt, sehr zu Keiths Freude, der ihn danach einen ganzen Monat nur noch «Opi» genannt hatte. Ihm war danach, mit einem Klassiker zu beginnen – etwas Beruhigendem. Er entschied sich für «Summertime». Er war erst ein paar Sekunden weit gekommen, als er eine Bewegung spürte, aufblickte und Keith vor seinem Schreibtisch stehen sah beziehungsweise dessen Wampe, die durch die Ritze zwischen den Hemdknöpfen hindurchquoll.

«Hallohooo. Ist da jemand?»

Andrew zog seine Kopfhörer heraus.

«Das war der Gerichtsmediziner. Wir haben einen Frischen. Na ja, natürlich keine frische Leiche – sie nehmen an, dass er schon ein paar Wochen tot ist. Keine Verwandten, und die Nachbarn haben nie ein Wort mit ihm gewechselt. Die Leiche ist schon abtransportiert, deshalb wollen sie so schnell wie möglich eine Nachlassinspektion.»

«Klar.»

Keith kratzte an einer schorfigen Stelle an seinem Ellenbogen, offenbar irritiert von Andrews knapper Antwort. «Passt dir morgen?»

Andrew tat unbeeindruckt und schaute in seinen Terminkalender. «Ich kann es morgen früh als Erstes erledigen.»

«Verdammt, bist du eifrig», stellte Keith fest, verzog den Mund und watschelte zurück zu seinem Schreibtisch.

Und du bist eine Speckschwarte, die zu lange in der Sonne gelegen hat, dachte Andrew. Er wollte gerade seine Kopfhörer zurück in die Ohren stecken, als Cameron aus seinem Büro trat und in die Hände klatschte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

«Team-Meeting, Leute», verkündete er. «Und ja, keine Sorge, die derzeitige Mrs. Cameron hat natürlich einen Kuchen gebacken. Sollen wir in die Lounge gehen?»

Die Angesprochenen reagierten mit der Begeisterung eines Huhns, das man mit einem Schinken-Bikini bekleidet in eine Fuchshöhle jagt. Die «Lounge» bestand aus einem kniehohen Tischchen vor zwei Sofas, die unerklärlicherweise nach Schwefel stanken. Cameron hatte mit der Idee gespielt, ein paar Sitzsäcke anzuschaffen, aber niemand hatte darauf reagiert, ebenso wenig wie auf die Schreibtischtausch-Dienstage, die Negativitätsbüchse («Das ist wie eine Fluchbüchse, in die man jedes Mal, wenn man flucht, ein Pfund hineinwerfen muss, nur für Negativität!») und den Team-Lauf durch den Park. «Ich habe da zu tun», hatte Keith gegähnt. «Aber ich habe doch noch gar nicht gesagt, an welchem Tag der Lauf stattfinden soll», hatte Cameron entgegnet, wobei sein Lächeln sich verflüchtigte wie eine Flamme im Luftzug. Unbeirrt von ihrem Mangel an Begeisterung, hatte Cameron erst neulich eine Ideenbox vorgeschlagen. Auch darauf hatte niemand reagiert.

Sie setzten sich auf die Sofas. Cameron verteilte Kuchen und Tee und versuchte, sie mit Smalltalk zu unterhalten. Keith und Meredith hatten sich auf das kleinere der beiden Sofas gequetscht. Meredith lachte über etwas, was Keith ihr gerade zugeflüstert hatte. So wie Eltern in der Lage sind, die verschiedenen Schreie ihrer Neugeborenen auseinanderzuhalten, verstand Andrew mittlerweile, was Merediths Lachen jeweils bedeutete. In diesem speziellen Fall bedeutete das schrille Kichern, dass gerade ein grausamer Scherz auf Kosten von jemand anders gemacht worden war. Da sie beide sehr offensichtlich und wenig heimlich zu ihm herüberschauten, war das vermutlich er.

«Also, liebe Leute», begann Cameron. «Das Wichtigste zuerst: Nicht vergessen, dass wir ab morgen zu fünft sind und Peggy Green bei uns willkommen heißen. Ich weiß, dass wir ganz schön kämpfen, seit John und Bethany gehen mussten, deshalb ist es echt cool, wieder Zuwachs zu bekommen.»

«Solange sie nicht immer so ‹gestresst› ist wie Bethany», bemerkte Meredith, rückte sich den entschieden zu tiefen Ausschnitt zurecht und fuhr sich durch die blond gesträhnten Haare.

«Oder sich als Arsch mit Ohren herausstellt wie John», murmelte Keith.

«Jedenfalls», fuhr Cameron mit einem Räuspern fort, «worüber ich eigentlich heute mit euch reden wollte, ist meine … hup! Hup!» – er drückte auf eine unsichtbare Hupe – «… irre lustige Idee der Woche! Denkt dran, Leute, ihr könnt alle mitmachen. Egal, wie verrückt eure Idee ist. Die einzige Regel lautet: Sie muss lustig sein.»

Andrew spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief.

«Also», erklärte Cameron. «Meine lustige Idee der Woche ist … Trommelwirbel bitte …, dass wir uns jeden Monat einmal bei einem von uns zu Hause zum Abendessen treffen. Eine Art Perfektes Dinner, aber ohne Bewertung. Wir essen etwas, vielleicht trinken wir sogar ein bisschen Vino. Das gibt uns die Chance, auch außerhalb des Büros eine Beziehung zueinander aufzubauen und uns und unsere Familien ein bisschen besser kennenzulernen. Ich bin megagern bereit, anzufangen. Wie findet ihr das?»

Andrew hatte nach «unsere Familien ein bisschen besser kennenlernen» abgeschaltet und kein Wort mehr verstanden.

«Können wir nicht etwas anderes machen?», fragte er nach einer kurzen Pause und versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen.

«Oh», sagte Cameron ernüchtert und ließ die Schultern hängen. «Ich dachte, das wäre eigentlich eine meiner besseren Ideen gewesen.»

«Nein, nein, das ist sie ja auch!», beeilte sich Andrew zu sagen. «Es ist nur … könnten wir nicht lieber in ein Restaurant gehen?»

«Vieeeel zu teuer», schaltete sich Keith ein und versprühte dabei Kuchenkrümel.

Andrew spürte, wie er anfing zu schwitzen. «Wie wäre denn etwas anderes. Ich weiß auch nicht – LaserTag oder so. Ist das immer noch modern?»

«Ich habe allein aufgrund der Tatsache etwas gegen LaserTag, dass ich kein 12-jähriger Junge bin», bemerkte Meredith spitz. «Mir gefällt die Dinnerpartyidee. Ich bin sogar ein heimlicher Jamie Oliver in der Küche, wenn ihr’s genau wissen wollt.» Sie wandte sich an Keith. «Wetten, du bist verrückt nach meiner Lammkeule?»

Andrew glaubte, sich übergeben zu müssen.

«Na komm schon, Andrew», sagte Cameron, der durch Merediths Zustimmung wieder an Selbstvertrauen gewonnen hatte. Er versuchte einen kumpelhaften Schlag auf den Arm, in dessen Folge Andrew den Tee auf seinem Bein verschüttete. «Das wird ein Riesenspaß! Es gibt keinen Druck, etwas Großartiges zu kochen. Und ich würde natürlich unheimlich gern Diane und die Kinder kennenlernen. Also, was sagst du? Machst du mit, Kumpel?»

Andrew überlegte fieberhaft. Es musste doch etwas geben, was er vorschlagen konnte? Aktzeichnen. Dachsjagd. Irgendwas.

Die anderen sahen ihn erwartungsvoll an. Er musste jetzt etwas sagen.

«Verdammt noch mal, Andrew. Du siehst ja aus, als hättest du ein Gespenst gesehen», sagte Meredith und zog die sorgfältig aufgemalten Brauen hoch. «So schlecht kochst du doch bestimmt nicht. Außerdem bin ich mir sicher, dass Diane eine großartige Köchin ist, neben all ihren anderen Talenten. Sie kann dir ja helfen.»

«Hmmm», machte Andrew und wischte sich einen Krümel vom Oberschenkel.

«Ist sie nicht Rechtsanwältin?», fragte Keith.

Andrew nickte und hätte am liebsten die Augen geschlossen. Vielleicht würde in den nächsten Tagen irgendeine Katastrophe über die Welt hereinbrechen, ein netter kleiner Atomkrieg vielleicht, damit sie alle diese idiotische Idee vergaßen.

«Und wohnst du nicht in einem wunderschönen alten Stadthaus irgendwo in Richtung Dulwich?», fragte Meredith, die nun geradezu anzüglich grinste. «Fünf Schlafzimmer, oder?»

«Vier», korrigierte Andrew. Er hasste es, wenn Meredith und Keith so waren. Sich im Team über ihn lustig machten.

«Vier oder fünf, wer zählt schon mit», sagte Meredith spitz. «Ein prächtiges Vierzimmerheim, vermutlich hochintelligente Kinder und deine begabte Frau Diane, die das Geld verdient – Andrew, Andrew, was bist du doch für ein stilles Wasser.»

×

Später, als Andrew gerade das Büro verlassen wollte, weil er ohnehin zu abgelenkt war, um noch irgendetwas Nützliches zu erledigen, tauchte Cameron neben seinem Schreibtisch auf, wo er in die Knie ging, um mit dem sitzenden Andrew auf Augenhöhe zu sein. Es sah stark danach aus, als hätte er das in irgendeinem Führungsseminar gelernt.

«Hör mal», sagte er leise. «Ich weiß, dass du keine Lust auf die Dinnerpartygeschichte hast, aber lass uns doch einfach abmachen, dass du noch mal darüber nachdenkst, okay, Kumpel?»

Andrew rückte unnötigerweise ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch zurecht. «Oh, ich meine … ich will die Sache ja nicht verderben, es ist nur … okay, ich denke noch mal darüber nach. Aber wenn nichts daraus wird, dann fällt uns ganz sicher eine andere, du weißt schon, irre lustige Idee ein.»

«Das ist die richtige Einstellung», sagte Cameron, richtete sich wieder auf und wendete sich an alle. «Das gilt für uns alle, hoffe ich. Na los, Team – lasst uns mit unserer teambildenden Maßnahme möglichst schnell starten. Einverstanden?»

×

Andrew hatte sich erst neulich Kopfhörer mit Geräuschabschirmung für seine Fahrt von und zum Büro gegönnt. Wenn er einen Mann hässlich niesen oder ein Kleinkind schreien sah, weil es sich über die unsägliche Ungerechtigkeit aufregte, nicht nur einen, sondern sogar zwei Schuhe angezogen zu bekommen, dann war das für ihn wie ein Stummfilm, der, wenig passend, mit einem Soundtrack von Ella Fitzgeralds beruhigender Stimme unterlegt war.

Jetzt, auf der Fahrt nach Hause, dauerte es nicht lange, bis sich die Unterhaltung aus dem Büro in seinem Kopf auf Dauerschleife stellte und gegen Ella um seine Aufmerksamkeit kämpfte.

Deine Frau Diane, die das Geld verdient … hochintelligente Kinder … wunderschönes altes Stadthaus … Keiths Grinsen … Merediths anzüglicher Blick … Die Unterhaltung spukte ihm bis zu seiner Haltestelle im Kopf herum und auch noch, als er sich etwas zum Abendessen kaufen wollte. Plötzlich fand er sich im Laden an der Ecke vor dem Regal mit Sparpackungen voller neuartiger Chips wieder und versuchte, nicht zu schreien. Nach zehn Minuten, in denen er immer wieder dieselben vier Fertiggerichte aus der Tiefkühltruhe genommen und wieder hineingelegt hatte, weil er sich für keines entscheiden konnte, verließ er den Laden, trat in den Regen und ging mit knurrendem Magen nach Hause.

Er stand vor der Haustür und zitterte. Erst als die Kälte unerträglich wurde, holte er seine Schlüssel hervor. Normalerweise stand er einmal pro Woche so vor seiner Haustür, den Schlüssel schon ins Schloss gesteckt, und hielt den Atem an.

Vielleicht diesmal.

Vielleicht war diesmal tatsächlich das wunderschöne alte Stadthaus hinter dieser Tür und Diane darin, die das Abendessen kochte. Der Duft nach Knoblauch und Rotwein. Der Lärm der Kinder, die sich zankten oder Fragen zu ihren Hausaufgaben stellten. Dann die begeisterten Jubelrufe, wenn er die Tür öffnete, weil Dad zu Hause war. Dad ist zu Hause!

Als Andrew in den Flur trat, schlug ihm der klamme Geruch noch stärker entgegen als sonst. Und da waren sie schon, die vertrauten Schrammen an den Flurwänden und das flackernde, milchige Gelb der defekten Neonröhre an der Decke. Andrew trottete die Stufen hinauf, wobei seine feuchten Sohlen bei jedem Schritt quietschten, und suchte den zweiten Schlüssel an seinem Bund heraus. Er streckte die Hand aus, um die schiefe Nummer 2 über seiner Tür zu richten, und ging hinein – wo ihn, wie immer in den letzten zwanzig Jahren, nichts als Stille empfing.

Kapitel Drei

Fünf Jahre zuvor

An diesem Morgen kam Andrew Smith zu spät. Das wäre vielleicht gar keine Katastrophe gewesen, wenn er in seinen Bewerbungsunterlagen nicht eigens betont hätte, wie «extrem pünktlich» er war. Nicht nur pünktlich: extrem pünktlich. Ging das überhaupt? Konnte man Pünktlichkeit steigern? Und wie sollte man das überhaupt messen?

Außerdem war es auch noch Andrews eigene Schuld. Er hatte gerade die Straße überquert, als ihn ein merkwürdiges Hupen ablenkte und er aufsah. Eine Gans flog direkt über ihn hinweg, ihr weißer Bauch ganz orange gefärbt vom Licht der Morgensonne. Die merkwürdigen Schreie und die unregelmäßigen Bewegungen ließen sie aussehen wie ein angeschossenes Kampfflugzeug, das verzweifelt versucht, zurück zu seiner Basis zu fliegen. Gerade als der Vogel sich wieder fing und auf seinem Kurs weiterflog, rutschte Andrew auf einer vereisten Pfütze aus. Für den Bruchteil einer Sekunde ruderte er mit den Armen, und seine Füße fanden keinen Halt – wie eine Comicfigur, die über den Rand eines Abhangs rennt, einen kurzen Moment in der Luft weiterläuft und dann mit einem hässlichen dumpfen Knall auf dem Boden landet.

«Alles okay mit Ihnen?»

Andrew keuchte nur wortlos, statt der Frau zu antworten, die ihm wieder auf die Beine half. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand mit dem Vorschlaghammer aufs Kreuz geschlagen. Aber das war es nicht, was ihm die Sprache verschlug. Irgendetwas an der Art, wie sie ihn ansah – mit einem halben Lächeln, wie sie sich die Haare hinter die Ohren strich –, war so erschreckend vertraut, dass ihm der Atem stockte. Sie schien ihn forschend anzusehen, als verspürte auch sie dieses Gefühl des Wiedererkennens – und des Schmerzes. Erst als sie sagte: «Also dann auf Wiedersehen», und fortging, begriff Andrew, dass sie eigentlich darauf gewartet hatte, dass er sich bei ihr bedankte. Er überlegte, ihr hinterherzulaufen und sein Versäumnis nachzuholen. Aber genau in diesem Moment begann ein Lied in seinem Kopf zu erklingen. Blue moon, you saw me standing alone. Er musste all seine Konzentration aufbringen, um es verstummen zu lassen, er musste die Augen zusammenkneifen und sich die Schläfen massieren. Als er sie wieder öffnete, war die Frau fort.

Er klopfte sich den Schmutz aus der Kleidung und begriff plötzlich, dass auf der belebten Straße viele Menschen beobachtet haben mussten, wie er hinfiel, und sich jetzt womöglich über ihn lustig machten. Er vermied es, sich umzusehen, und ging mit gesenktem Kopf weiter, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Seine Scham machte langsam einem anderen Gefühl Platz. Denn besonders nach Missgeschicken wie diesem spürte er, wie sich tief in ihm die Einsamkeit regte und sich ausbreitete, dick und kalt, sodass es sich anfühlte, als liefe er durch Treibsand. Es gab niemanden, mit dem er diese Geschichte hätte teilen können. Niemanden, der ihm dabei half, sie wegzulachen. Die Einsamkeit lauerte stets auf ihn, klatschte jedes Mal Beifall, wenn er stolperte.

Obwohl er nach seinem Ausrutscher noch ein wenig durcheinander war, hatte er sich, abgesehen von einem kleinen Kratzer an der Hand, nichts getan. Jetzt, da er auf die vierzig zuging, war er sich nur allzu sehr dessen bewusst, dass am Horizont bereits ein winziger, aber dennoch sichtbarer Zeitpunkt auftauchte, an dem ein normaler Ausrutscher wie dieser schon «ein kleiner Sturz» wäre. (Heimlich gefiel ihm die Vorstellung, wie mitfühlende Fremde ihre Mäntel über ihn legten und mit ihm auf den Krankenwagen warteten, ihm den Kopf stützten und die Hand hielten.) Aber obwohl er sich selbst keine Verletzungen zugezogen hatte, konnte man über sein einst sauberes weißes Hemd leider nicht dasselbe sagen. Denn es war jetzt mit Schmutzwasser bespritzt.

Kurz überlegte er, aus seinem Missgeschick und dem Kratzer einen Aufhänger für sein Vorstellungsgespräch zu fabrizieren: «Was, das hier? Oh, auf dem Weg hierher musste ich kurz vor einen Bus/eine Pistolenkugel/einen Tiger springen, um ein Kleinkind/einen Welpen/einen Pastor zu retten. Habe ich übrigens erwähnt, dass ich ein Macher bin und ebenso gut allein wie als Teil eines Teams arbeite?»

Er entschied sich für die vernünftigere Option und eilte in das nächste Kaufhaus, um sich ein neues Hemd zu kaufen. Nach dem Umweg war er verschwitzt und außer Atem, und in diesem Zustand meldete er sich am Empfang des riesigen Betongebäudes, in dem sich die Bezirksverwaltung befand.

Andrew befolgte gern die Einladung, Platz zu nehmen, und atmete ein paarmal tief ein und aus. Er brauchte diesen Job. Unbedingt. Seit er Anfang zwanzig gewesen war, hatte er in unterschiedlicher Funktion für die Verwaltung eines benachbarten Bezirks gearbeitet. Irgendwann hatte er endlich eine Position gefunden, in der er bleiben konnte, und acht Jahre lang darin gearbeitet, bis er ohne viel Federlesens wegrationalisiert wurde. Andrews Chefin Jill, einer freundlichen Dame aus Lancaster mit rosigen Wangen und der Lebenseinstellung ‹erst mal umarmen, dann fragen›, war es so schwergefallen, ihn gehen zu lassen, dass sie offenbar in jedem Verwaltungsbüro in London nach etwaigen freien Stellen gefragt hatte. Das Vorstellungsgespräch heute war das einzige, das bei ihren exzessiven Rundrufen herausgekommen war. Die Jobbeschreibung, die Jill ihm per E-Mail geschickt hatte, hatte frustrierend vage geklungen, und Andrew nahm an, dass die Arbeit seiner vorherigen ähnlich sein musste: hauptsächlich Verwaltungsarbeit, obwohl sie offenbar auch etwas mit der Inspektion von Eigentum zu tun hatte. Aber was viel wichtiger war: Er würde exakt dasselbe verdienen wie in seinem letzten Job und gleich im nächsten Monat anfangen können. Vor zehn Jahren hätte er vielleicht darüber nachgedacht, völlig neu zu beginnen. Vielleicht zu reisen oder mutig eine ganz neue Karriere zu starten. Aber inzwischen befiel ihn schon jedes Mal, wenn er nur sein Haus verließ, dieses dumpfe Angstgefühl, daher kamen eine Wanderung nach Machu Picchu oder eine Umschulung zum Löwenbändiger eigentlich nicht wirklich in Frage.

×

Andrew riss sich mit den Zähnen einen Hautfetzen vom Finger und wackelte mit den Knien, in dem Bemühen, sich einigermaßen zu entspannen. Als Cameron Yates endlich erschien, hatte Andrew sofort das Gefühl, ihn bereits zu kennen. Er wollte ihn gerade danach fragen – vielleicht konnte er so bei ihm punkten –, aber dann merkte er, dass er Cameron nur deshalb wiederzuerkennen geglaubt hatte, weil er haargenau so aussah wie eine jüngere Ausgabe von Wallace aus Wallace und Gromit. Er hatte Glubschaugen, die zu nah beieinanderstanden, und riesige Vorderzähne, die wie Stalaktiten nach unten ragten. Die einzigen Unterschiede waren sein dickes, wuscheliges schwarzes Haar und der Akzent des Londoner Umlands.

Sie plauderten ein wenig befangen im sargartigen Aufzug: über den Kälteeinbruch, Pläne für die Osterfeiertage, die allgemeine Empörung über die Affären eines Politikers – und Andrew konnte die ganze Zeit über den Blick nicht von den Stalaktitenzähnen wenden.

Hör endlich auf, diese verdammten Zähne anzuglotzen, ermahnte er sich, während er diese verdammten Zähne anglotzte.

Sie warteten, bis ihnen jemand zwei blaue Plastikfingerhüte mit lauwarmem Wasser brachte, um dann ernsthaft mit dem Bewerbungsgespräch zu beginnen. Cameron ratterte die Jobbeschreibung herunter und holte kaum Luft, während er erläuterte, dass Andrew, wenn er den Job bekäme, mit allen Toden zu tun haben würde, die unter das Gesetz für das Gesundheitswesen fielen.

«Das bedeutet, dass Sie mit den Bestattungsunternehmern in Kontakt treten, um die Beerdigungen zu organisieren, dass Sie Todesanzeigen schreiben und sie in den Lokalzeitungen veröffentlichen lassen, dass Sie die Tode registrieren lassen, etwaige Familienangehörige aufspüren und die Beerdigungskosten vom Nachlass des Verschiedenen abziehen. Es bedeutet eine furchtbare Menge an Papierkram, wie Sie sich vorstellen können!»

Andrew gab sich alle Mühe, in regelmäßigen Abständen zu nicken und alles zu verstehen, wobei er Jill innerlich verfluchte, dass sie die Sache mit dem Tod verschwiegen hatte.

Dann, plötzlich, war er an der Reihe.

Zu Andrews wachsender Irritation wechselte Cameron immer wieder zwischen einfachen, freundlichen und verwirrenden Fragen hin und her, wobei er Letztere in strengerem Tonfall stellte – als spielte er ganz für sich allein Guter Bulle – Böser Bulle. Im Großen und Ganzen wirkte er noch nervöser als Andrew, was dessen Nerven hätte beruhigen und ihm das Gefühl geben können, eigentlich derjenige zu sein, der alles im Griff hatte. Doch Camerons Ängstlichkeit war ansteckend.

Andrew merkte, dass er über seine Worte stolperte, und wenn er es endlich doch geschafft hatte, einen sinnvollen Satz zu bilden, wirkte seine Begeisterung wie Verzweiflung, und jeder Versuch, einen Scherz zu machen, schien Cameron nur noch mehr zu verunsichern. Immer wieder erwischte Andrew ihn dabei, wie er über die Schulter blickte, weil jemand durch den Flur ging. Schließlich war Andrew so verzweifelt, dass er ernsthaft überlegte, einfach aufzugeben und das Gespräch zu beenden.

Zu allem Überfluss lenkten ihn immer noch Camerons Zähne ab, die, so überlegte er fieberhaft, vielleicht gar keine Stalaktiten, sondern Stalakmiten waren. Gab es da nicht eine Eselsbrücke mit hängenden Titten und steigenden Mieten? Genau in diesem Moment begriff er, dass Cameron ihn etwas gefragt hatte und auf eine Antwort wartete.

Andrew hatte nicht den blassesten Schimmer, wie die Frage gelautet haben könnte. Panisch beugte er sich vor. «Ähmmm», machte er in einem Tonfall, von dem er hoffte, dass er vermittelte, wie sehr er eine derart aufmerksame Frage schätzte und wie gründlich er daher darüber nachdenken musste. Aber das war eindeutig ein Fehler, nach Camerons immer tiefer werdenden Stirnfalten zu urteilen. Offenbar hatte er ihn etwas ganz Einfaches gefragt.

«Ja», platzte er heraus, um die Antwort möglichst kurz zu halten. Erleichterung überkam ihn, als Camerons verschwundenes Wallace-Lächeln wieder erschien.

«Wunderbar. Und wie viele?», fragte er.

Das war jetzt schon kniffliger, wobei Andrew eine gewisse Leichtigkeit in Camerons Tonfall registrierte. Also entschied er sich für eine eher allgemein gehaltene, lässige Antwort.

«Na ja, ich fürchte, ich verliere da manchmal den Überblick», sagte er und versuchte es mit einem betrübten Lächeln.

Cameron reagierte mit einem Lachen, das irgendwie falsch klang. Vermutlich wusste er nicht recht, ob Andrew scherzte oder nicht. Andrew beschloss, den Spieß umzudrehen, in der Hoffnung, so zu mehr Informationen zu gelangen.

«Darf ich Ihnen dieselbe Frage stellen, Cameron?»

«Natürlich. Ich habe eins», antwortete Cameron begeistert. Er griff in seine Hosentasche und begann, darin herumzuwühlen.

Kurz kam Andrew der Gedanke, dass dieser Mann, der hier mit ihm das Bewerbungsgespräch führte, womöglich gerade dabei war, ihm einen einzelnen Hoden zu präsentieren, weil er jedem Mann dieselbe Frage stellte, in der verzweifelten Hoffnung, endlich noch jemanden zu finden, der unter Eineiigkeit litt.

Stattdessen zog Cameron seine Brieftasche hervor. Erst als er ein Bild von einem dick in Winterkleidung eingemummelten Kind mit Skiern an den Füßen enthüllte, verstand Andrew endlich die Frage.

Blitzschnell rekapitulierte er das Gespräch aus Camerons Perspektive.

«Haben Sie Kinder?»

«Ähmmm … ja.»

«Wunderbar, und wie viele?»

«Na ja, ich fürchte, ich verliere da manchmal den Überblick.»

Herrje, hatte er seinem potenziellen neuen Chef da gerade den Eindruck vermittelt, eine Art superfruchtbarer Schürzenjäger zu sein, der seine Zeit damit verbrachte, sich durch die Stadt zu vögeln, reihenweise Frauen zu schwängern und sie dann sitzenzulassen?

Er betrachtete noch immer das Foto von Camerons Kind. Sag endlich etwas!

«Reizend», sagte Andrew. «Reizender … Junge.»

Na toll, jetzt klingst du wie ein Kinderfänger. Das kommt bestimmt richtig gut an. Beginnen Sie doch gleich am Montag, Mr. Pädophiler!

Andrew griff nach seinem Plastikbecher, der längst leer war, und spürte, wie er in seiner Hand knackte. Das hier war eine verdammte Katastrophe. Wie hatte er es nur geschafft, jetzt schon alles zu vermasseln? Camerons Gesichtsausdruck nach zu urteilen, steckte der Karren bereits tief im Dreck. Was er sagen würde, wenn Andrew jetzt zugab, dass er auf die Frage nach Kindern gelogen hatte, war nicht ganz sicher, aber auf keinen Fall würde es die Sache retten.

Andrew beschloss, dass seine einzige Chance darin lag, das Bewerbungsgespräch hinter sich zu bringen und dabei so gut wie möglich den Rest seines Gesichts zu wahren – so wie man bei der Fahrprüfung immer noch in den Rückspiegel schaut, den Blinker setzt, über die Schulter blickt und erst dann abbiegt, nachdem man gerade die Schülerlotsin überfahren hat.

Als er den Plastikbecher wieder abstellte, bemerkte er den Kratzer auf seiner Handfläche und musste an die Frau denken, die ihm an diesem Morgen geholfen hatte. Das lockige braune Haar, das unergründliche Lächeln. Er spürte, wie das Blut in seinen Ohren pulsierte. Wie es wohl wäre, wenn er so täte, als ob? Wenn er nur für einen winzigen Augenblick vorgab, jemand anderes zu sein? Wie sich das wohl anfühlen würde?

Andrew räusperte sich.

Würde er es wirklich tun?

«Wie alt ist er denn?», fragte er und gab Cameron das Foto zurück.

«Er ist gerade zehn geworden», erwiderte Cameron. «Und Ihre?»

Tat er das gerade wirklich?

«Steph ist acht, und David ist sechs», antwortete er.

Offenbar ja.

«Ah, das ist das Alter, in dem man langsam ahnt, wie sie wohl als Erwachsene sein werden», sagte Cameron und sprühte vor Freude. «Wobei meine Clara angeblich schon wusste, welche Persönlichkeit Chris hatte, bevor er auch nur auf der Welt war.»

Andrew lächelte. «Meine Frau Diane behauptet genau dasselbe», sagte er.

Und damit hatte er eine Familie, einfach so.

×

Sie sprachen noch eine Weile über ihre Frauen und Kinder, aber leider brachte Cameron das Gespräch bald wieder auf das ursprüngliche Thema, und Andrew spürte, dass sein schöner Traum verschwand wie die Wärme, wenn sich die Sonne hinter einer Wolke versteckt.

Bald war ihre Gesprächszeit vorüber. Zu Andrews Irritation fragte Cameron, ob Andrew noch ein paar «letzte Worte» zu sagen hätte – als würde man ihn gleich hier und jetzt abholen und aufknüpfen. Er brachte ein vages Geschwafel darüber zustande, wie interessant die Position für ihn wäre und wie sehr er es genießen würde, in einem solch dynamischen Team wie Camerons zu arbeiten.

«Wir bleiben in Kontakt», sagte Cameron schließlich mit der Aufrichtigkeit eines Politikers, der bei einem Radio-Interview so tut, als wäre er Fan einer Indie-Band. Andrew zwang sich zu einem Lächeln, erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, Blickkontakt herzustellen, und schüttelte Camerons Hand, die übrigens so kalt und feucht war, dass es sich anfühlte wie eine Forelle. «Vielen Dank, dass Sie mir heute diese Chance gegeben haben», sagte Andrew.

×

Andrew steuerte ein Café mit freiem WLAN an, um sich Stellenanzeigen anzusehen, war aber zu zerstreut, um konzentriert lesen zu können. Als er Cameron für die «Chance, mich vorzustellen», gedankt hatte, hatte er eigentlich gar nicht den Job gemeint, sondern den kurzen, schönen Traum von einer Familie. Wie merkwürdig aufregend und gleichzeitig beängstigend es gewesen war, sich so normal zu fühlen. Er versuchte, dieses Gefühl zu vergessen, um wieder klar denken zu können.

Wenn er keinen Job bei der Verwaltung bekam, würde er seine Suche ausweiten müssen. Allein die Vorstellung war schon unglaublich einschüchternd, und Andrew fand einfach nichts, wofür er qualifiziert zu sein schien. Hoffnungslos starrte er den enormen Muffin an, den er bestellt, aber nicht gegessen hatte. Stattdessen pickte er an ihm herum, bis er wie ein Maulwurfshügel aussah. Vielleicht konnte er ja noch andere Tierhöhlen aus Essen gestalten und den Turner-Preis für Nachwuchskünstler gewinnen.

Er verbrachte den Rest des Nachmittags in dem Café und sah dabei zu, wie wichtige Business-Leute wichtige Business-Meetings abhielten und Touristen begeistert durch ihre Reiseführer blätterten. Er blieb noch lange, nachdem sie alle schon gegangen waren, drückte sich an die Heizung und versuchte, dem jungen italienischen Kellner möglichst nicht aufzufallen, der schon die Stühle auf die Tische stellte und den Boden fegte. Schließlich fragte ihn der Kellner, ob es ihm etwas ausmachen würde, zu gehen. Dabei entschuldigte er sich so ernsthaft, dass Andrew für einen kurzen Moment befürchtete, in Tränen ausbrechen zu müssen.

Sein Handy klingelte genau in dem Moment, in dem er nach draußen trat. Eine unbekannte Nummer.

«Andrew?», fragte die Stimme am anderen Ende der Verbindung. «Können Sie mich hören?»

«Ja», antwortete Andrew, obwohl er bei dem Lärm des stürmischen Windes und des Krankenwagens, der mit heulenden Sirenen an ihm vorbeiraste, kaum ein Wort verstand.

«Andrew, hier ist Cameron Yates. Ich wollte Sie nur anrufen, um Ihnen zu sagen, dass es schön war, Sie heute kennenzulernen, und, na ja, langer Rede kurzer Sinn: Ich würde mich sehr freuen, Sie an Bord begrüßen zu dürfen.»

«Entschuldigung?», fragte Andrew und stopfte sich den Finger in das freie Ohr.

«Wir bieten Ihnen den Job an!», rief Cameron. «Natürlich müssen wir dafür noch ein paar Formalitäten erledigen, aber da sehe ich keine Probleme.»

Andrew stand vom Wind umtost regungslos da.

«Andrew? Haben Sie das verstanden?»

«Wahnsinn … Ja, das habe ich. Wow. Ich bin … ich bin hocherfreut!»

Und das war er tatsächlich. So hocherfreut, dass er dem Kellner durchs Fenster zuwinkte und ihn anstrahlte. Der Kellner lächelte ein verwirrtes Lächeln zurück.

«Andrew, hören Sie, ich muss jetzt gleich in ein Meeting, daher bitte ich jemand anderes, Ihnen eine Mail mit den Einzelheiten zu schicken. Jedenfalls lasse ich Sie jetzt in Ruhe, damit sie Diane und den Kindern die gute Nachricht überbringen können.»

Kapitel Vier

Andrew fiel es schwer zu glauben, dass er erst vor fünf Jahren in dieser windigen Straße gestanden und zu begreifen versucht hatte, was Cameron ihm sagen wollte. Es kam ihm vor, als wäre es in einem anderen Leben passiert.

Lustlos rührte er in den Baked Beans herum, die in dem Reisekochtopf auf dem Herd blubberten, um sie dann auf einer dicken Scheibe Vollkornbrot zu verteilen. Der Griff des Brotmessers, mit dem er dem Brot zuvor zu Laibe gerückt war, war ganz verbrannt und verzogen (Andrew hatte es irgendwann einmal zu lange auf dem Herd liegen lassen).

Er starrte auf das Quadrat zersprungener Kacheln hinter dem Herd, als wäre es eine Kamera. Im selbstsicheren Ton eines Fernsehkochs, der gerade der Welt sein Geheimrezept offenbart, sagte er: «Ich habe hier also die Bohnen mit dem Brot kombiniert, und jetzt füge ich noch einen Schuss Ketchup hinzu – ich nehme immer Captain Tomato, aber jede andere Marke tut es auch – und bereite ein leckeres Trio daraus zu. Man kann die Reste leider nicht einfrieren, aber zum Glück werden Sie sowieso alles in höchstens neun Sekunden heruntergeschlungen haben, und dann werden Sie viel zu viel damit zu tun haben, sich selbst zu hassen, um sich darüber noch Gedanken zu machen.»

Er hörte, wie seine Nachbarin unten summte. Sie wohnte noch nicht lange im Haus. Die vorherigen Mieter waren erst vor ein, zwei Monaten ausgezogen, ein Pärchen – beide Anfang zwanzig, beide erschreckend attraktiv, mit hohen Wangenknochen und trainierten Armen, also die Art Äußeres, die bedeutete, dass sie sich niemals für irgendetwas in ihrem Leben würden entschuldigen müssen. Andrew hatte sich jedes Mal gezwungen, sie direkt anzusehen und fröhlich zu grüßen, wenn sie ihm im Flur über den Weg liefen, aber sie machten sich nicht einmal die Mühe, zurückzugrüßen. Er hatte erst gemerkt, dass jemand Neues eingezogen war, als er das Summen hörte. Bisher hatte er seine neue Nachbarin noch gar nicht gesehen, sie aber merkwürdigerweise gerochen. Beziehungsweise ihr Parfüm, das so stark war, dass es ewig im Flur hing. Er fragte sich, wie sie wohl aussah. Vielleicht war sie ja näher an seiner Altersgruppe als das Pärchen. Das Parfüm ließ keinerlei Rückschlüsse zu. Das Summen übrigens auch nicht, und immer wenn Andrew versuchte, sie sich vorzustellen, war da nur ein verschwommenes Oval, wo ihr Gesicht hätte sein sollen.

In diesem Moment leuchtete das Display seines Handys auf der Küchenarbeitsplatte auf. Er las den Namen seiner Schwester, und seine Stimmung sank. Das Datum auf seinem Display zeigte den 31. März. Er hätte es wissen müssen. Er stellte sich vor, wie Sally den roten Ring um den 31. März sah und leise vor sich hin fluchte, weil es wieder an der Zeit für ihren vierteljährlichen Anruf war.

Er trank einen stärkenden Schluck Wasser und nahm das Gespräch an.

«Hallo», sagte er.

«Hey», sagte Sally.

Eine Pause.

«Tja, wie geht’s dir, Brüderchen? Alles cool?»

Herrje, warum musste sie immer noch so sprechen wie in der Pubertät?

«Ach, weißt du, das Übliche. Und bei dir?»

«Kann mich nicht beschweren. Carl und ich gehen am Wochenende zu einem Yoga-Retreat, weil er doch Trainer werden will und so.»

Carl. Sallys Ehemann. Andrew und er hatten wenig Gemeinsamkeiten. Vor allem deshalb, weil Carl sich hauptsächlich damit beschäftigte, Proteine zu schlucken und freiwillig schwere Gegenstände zu heben.

«Das klingt … nett», sagte Andrew. Dann, nach der kurzen Pause, die bedeutete, dass man jetzt zu den wirklich wichtigen Themen übergehen musste: «Und wie läuft es mit den ganzen Tests und so?»

Sally seufzte.

«Hatte letzten Monat eine ganze Menge. Die Ergebnisse sind alle nicht eindeutig, was natürlich klar war, weil sie von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Trotzdem fühle ich mich viel besser. Und sie glauben, dass es vermutlich doch kein Problem mit dem Herzen ist. Unwahrscheinlich, dass ich es Dad nachmache und ohne Vorwarnung abkratze. Aber natürlich erzählen sie mir die ganze Zeit den üblichen Schwachsinn, du weißt ja, wie das ist. Mehr Sport, weniger trinken, blablabla.»

«Nun ja, gut, dass sie sich nicht über Gebühr Sorgen machen», sagte Andrew und dachte bei sich, dass Sally vielleicht nicht wie ein Mädchen in der Pubertät reden sollte, er aber auch nicht unbedingt wie ein verklemmter Oxford-Professor. Nach all den Jahren hakten sie wie Fremde immer dieselbe Liste ab: Arbeit. Gesundheit. Familie (na ja, Carl, der der Einzige war, der dem Begriff Familie immerhin entfernt nahekam). Aber diesmal sorgte Sally für eine Überraschung.

«Und da habe ich gedacht … vielleicht könnten wir uns bald mal treffen. Es ist jetzt immerhin fast fünf Jahre her.»

Sieben, dachte Andrew. Das letzte Mal haben wir uns bei Onkel Daves Beerdigung in einem Krematorium gegenüber von einem SnappySnap-Fotoschnellservice in Banbury getroffen. Und du warst bekifft. Andererseits hatte er Sally seitdem auch nicht gerade mit Einladungen überhäuft.

«Das … das wäre gut», sagte er. «Sofern du die Zeit dafür aufbringen kannst, natürlich. Vielleicht könnten wir uns auf halber Strecke treffen oder so.»

«Ja, alles cool, Brüderchen. Wobei – hab ich dir das gar nicht erzählt? Wir wohnen jetzt in Newquay. Carl will hier Yoga am Strand unterrichten. Auf halbem Weg ist deshalb jetzt woanders als früher. Aber ich bin im Mai in London, eine Freundin besuchen. Wollen wir dann vielleicht abhängen?»

«Ja. Gut. Sag nur Bescheid, wann du kommst.»

Andrew schaute sich im Zimmer um und biss sich auf die Unterlippe. In den zwanzig Jahren, die er hier wohnte, hatte sich kaum etwas verändert. In der Folge sah seine Bleibe weniger verwohnt als vielmehr völlig hinüber aus. Ein schwarzer Fleck prangte dort, wo die Wand in den Bereich überging, der sich als Küche ausgab; dann waren da das durchgesessene graue Sofa, der abgewetzte Teppich und die vergilbte gelbbraune Tapete, deren Farbe herbstlich wirken sollte, stattdessen aber eher an Vollkornkekse erinnerte. Im selben Maße, in dem die Farben der Tapete verblichen, schwanden auch Andrews Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun. Seine Scham über den Zustand der Wohnung wurde nur durch die quälende Vorstellung übertroffen, etwas dagegen tun zu müssen oder, noch schlimmer: woanders hinzuziehen. Einen Vorteil gab es immerhin, dass er ganz allein hier wohnte und nie Besuch hatte: Niemand konnte ihn danach beurteilen, wie er lebte.

Andrew beschloss, das Thema zu wechseln, weil ihm etwas einfiel, das Sally ihm das letzte Mal erzählt hatte.

«Wie läuft es denn mit deiner … Frau da?»

Er hörte, wie ein Feuerzeug schnappte, und dann das leise Geräusch, als Sally den Rauch ausblies.

«Meine Frau?»

«Na, die Frau, zu der du gehen wolltest. Um über alles zu reden.»

«Du meinst meine Therapeutin?»

«Genau.»

«Habe sie nicht mehr, weil wir umgezogen sind. Um ehrlich zu sein, Brüderchen, war ich ganz froh über die Ausrede. Sie hat mich ständig versucht zu hypnotisieren, und das hat nie geklappt. Ich habe ihr gesagt, dass ich immun dagegen bin, aber sie wollte mir nicht zuhören. Hab hier in Newquay jemand anders gefunden. Die ist eher eine spirituelle Heilerin. Ich habe sie kennengelernt, weil sie einen Werbezettel direkt neben den für Carls Yogastunden gehängt hat. Was für ein Zufall!»

Na ja …, dachte Andrew.

«Du», sagte Sally. «Ich wollte noch über etwas anderes mit dir sprechen.»

«Gut», sagte Andrew, der sofort misstrauisch wurde. Erst ein Treffen ausmachen und dann dies. Oh Gott, was, wenn sie ihn zwingen wollte, Zeit mit Carl zu verbringen?

«Also – und normalerweise würde ich das nicht tun, weil ich ja weiß, dass … na ja, eigentlich sprechen wir ja nicht über solche Dinge. Aber egal, du kennst doch meinen alten Kumpel Sparky?»

«Nein.»

«Klar tust du das, Brüderchen. Das ist doch der, der Bongs in Brighton Lanes verkauft.»

Natürlich.

«Okay …»

«Er hat da diese Freundin, Julia. Sie wohnt in London. In der Nähe vom Crystal Palace sogar, also nicht weit von dir entfernt. Sie ist fünfunddreißig. Und vor zwei Jahren musste sie eine ziemlich beschissene Scheidung durchmachen.»

Andrew hielt das Telefon weit von seinem Ohr weg. Wenn das jetzt das wird, was ich glaube …

«Aber jetzt geht es ihr wieder gut, und Sparky sagt, dass sie wieder voll auf der Höhe ist. Deshalb habe ich nur gedacht, dass, sozusagen, du vielleicht …»

«Nein», erwiderte Andrew. «Absolut nicht. Vergiss es.»

«Aber Andrew, soweit ich weiß, ist sie supernett – und auch hübsch, ich habe ein paar Fotos gesehen. Ich glaube, du würdest sie echt mögen.»

«Das ist völlig egal», sagte Andrew und versuchte, nicht allzu genervt zu klingen. «Weil ich … weil ich das nämlich nicht will. Das ist nichts für mich.»

Sally ächzte. «‹Das ist nichts für mich.› Herrje, Mann, wir reden hier über Liebe, nicht über Thunfisch auf der Pizza. Das kannst du nicht einfach so von dir wegschieben.»

«Warum nicht? Warum kann ich das nicht? Ich tue niemandem weh, oder? Immerhin ist so garantiert, dass niemand verletzt wird.»

«Aber so kann man sein Leben doch nicht leben, Mann! Du bist zweiundvierzig, also immer noch in deinen besten Jahren. Wenn du dich der Welt nicht zeigst, versagst du dir quasi aktiv dein mögliches Glück. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, aber du musst doch auch an die Zukunft denken.»

Andrew spürte, wie sein Herz ein kleines bisschen schneller schlug. Er hatte das schlimme Gefühl, dass seine Schwester gerade den Mut fasste, ihn etwas zu fragen, worüber sie nie gesprochen hatten. Das hier war nicht mehr der heiße Brei, um den sie sonst herumredeten, sondern ein ganzer Lavasee. Er beschloss, die Sache im Keim zu ersticken.

«Ich bin dir für deine Anteilnahme sehr dankbar, aber es gibt keinerlei Veranlassung dafür. Ehrlich. Mir geht es gut so, wie es ist.»

«Verstehe, aber im Ernst, eines Tages müssen wir doch reden über … du weißt schon. Die Sache.»

«Nein, müssen wir nicht», versetzte Andrew, der sich darüber ärgerte, dass er die letzte Antwort geflüstert hatte. Sobald er irgendwelche Gefühle zeigte, würde Sally das bestimmt als Einladung verstehen, weiter nachzubohren, als ob er heimlich doch über «die Sache» sprechen wollte, was er absolut und überhaupt nicht wollte.

«Aber Brüderchen, irgendwann müssen wir es tun. Das ist sonst ungesund!»

«Tja, ungesund ist es auch, sein ganzes Leben lang Gras zu rauchen, deshalb bist du wohl kaum in der Position, darüber zu urteilen, nicht wahr?»

Andrew zuckte bei seinen eigenen Worten zusammen. Er hörte, wie Sally Rauch ausblies.

«Tut mir leid, Sally. Das war überflüssig.»

«Ich will ja nur sagen», sagte Sally, und es klang jetzt sehr überlegt, «dass es für dich gut wäre, wenn du mal über alles reden würdest.»

«Und ich will nur sagen, dass das etwas ist, was ich wirklich nicht will. Mein Liebesleben, oder seine Abwesenheit, ist nichts, was ich mir gern näher ansehen würde. Und was ‹die Sache› angeht: Es gibt da nicht wirklich etwas zu sagen. Das liegt alles in der Vergangenheit.»

Eine Pause.

«Tja, gut, Mann. Ist wohl deine Entscheidung, nehme ich an. Ich meine, Carl sagt mir auch immer, ich soll aufhören, dich damit zu belästigen, aber das ist nicht so leicht, weißt du? Du bist schließlich mein Bruder, Brüderchen!»

Andrew spürte wieder den vertrauten Selbsthass. Endlich hatte ihm seine Schwester die Hand gereicht, und er hatte ihr im Grunde gesagt, dass sie sich schleunigst verziehen sollte. Er wollte sich richtig bei ihr entschuldigen, ihr sagen, dass es ihm natürlich eine Menge bedeutete, dass sie sich solche Sorgen machte, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken.

«Hör mal», sagte Sally. «Wir essen jetzt. Also … dann bis bald?»

«Ja», erwiderte Andrew und kniff frustriert die Augen zu. «Auf jeden Fall. Und danke! Für den Anruf und alles.»

«Klar. Kein Problem, Brüderchen. Also, pass auf dich auf.»

«Ja. Tu ich. Auf jeden Fall. Du auch.»

×

Als Andrew die kurze Strecke zwischen der Küchenzeile zu seinem Computer zurücklegte, wäre er beinahe in den Flying Scotsman gerannt, der völlig gleichgültig vor sich hin schnaufte. Von all seinen Lokomotiven schien der Scotsman am unbekümmertsten zu sein (verglichen mit dem Railroad BR Intercity zum Beispiel, der schon verdrießlich wirkte, wenn er losfahren sollte). Der Flying Scotsman war außerdem seine allererste Modelllokomotive und der Grundstein seiner ganzen Sammlung. Er hatte ihn als Teenager geschenkt bekommen und sich sofort verliebt. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass das Geschenk so unerwartet gekommen war.