Das Bildnis des Dorian Gray - Oscar Wilde - E-Book

Das Bildnis des Dorian Gray E-Book

Oscar Wilde

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Beschreibung

Schon bald nach seinem Erscheinen 1890 wurde "Das Bildnis des Dorian Gray" als unmoralisch und skandalös empfunden. Oscar Wilde antwortete darauf nur: »So etwas wie ein moralisches oder ein unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles.« Was Wilde erschuf, ist ein Fest der Dekadenz und des Dandyismus, ein perfekt ausgeklügeltes Spiel der Realität und Fiktion. Seine Geschichte eines jungen Schöngeists spielt im England des späten 19. Jahrhunderts: Der wohlhabende Dorian Gray besitzt ein Porträt, das statt seiner altert, während er sich hemmungslos seinen Vergnügungen und Ausschweifungen hingeben kann. Dieses Geheimnis versucht er zu wahren – mit allen Mitteln. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Seitenzahl: 434

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Oscar Wilde

Das Bildnis des Dorian Gray

Aus dem Englischen übersetzt von Ingrid ReinNachwort von Ulrich Horstmann

Reclam

Englischer Originaltitel: The Picture of Dorian Gray

 

1992, 2010, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: Granger Historical Picture Archive / Alamy Stock Photo

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961964-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020669-0

www.reclam.de

Inhalt

Das Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Anhang

Anmerkungen

Nachwort

Zeittafel

Das Vorwort

Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.

Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen ist Ziel der Kunst.

Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in einen anderen Stil oder ein neues Material zu übertragen vermag.

Die höchste wie die niedrigste Form von Kritik ist eine Art Autobiographie.

Wer in schönen Dingen Hässliches entdeckt, ist verdorben, ohne charmant zu sein. Das ist ein Fehler.

Wer in schönen Dingen Schönes entdeckt, ist kultiviert. Für ihn besteht Hoffnung.

Auserwählt sind die, denen schöne Dinge nichts als Schönheit bedeuten.

So etwas wie ein moralisches oder ein unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles.

Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht.

Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht nicht im Spiegel sieht.

Das moralische Leben des Menschen gehört zum Gegenstand des Künstlers, doch die Moralität der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mediums.

Kein Künstler will etwas beweisen. Selbst Dinge, die wahr sind, können bewiesen werden.

Kein Künstler nährt moralische Sympathien. Moralische Sympathie bei einem Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.

Kein Künstler ist jemals morbid. Der Künstler kann alles ausdrücken.

Denken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst.

Laster und Tugend sind für den Künstler Materialien einer Kunst.

Unter dem Gesichtspunkt der Form ist die Kunst des Musikers die Urform aller Künste. Unter dem Gesichtspunkt des Gefühls ist die Schauspielkunst die Urform.

Alle Kunst ist Oberfläche und Symbol zugleich.

Wer unter die Oberfläche dringt, tut dies auf eigene Gefahr.

Wer das Symbol entschlüsselt, tut dies auf eigene Gefahr.

Den Zuschauer und nicht das Leben spiegelt die Kunst in Wirklichkeit wider.

Unterschiedliche Ansichten über ein Kunstwerk zeigen, dass das Werk neu, vielschichtig und lebendig ist.

Wenn Kritiker unterschiedlicher Meinung sind, steht der Künstler in Einklang mit sich selbst.

Wir können einem Menschen verzeihen, dass er etwas Nützliches schafft, solange er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung für die Schaffung von etwas Nutzlosem besteht darin, dass man es zutiefst bewundert.

Alle Kunst ist völlig nutzlos.

Oscar Wilde

Kapitel 1

Das Atelier war von intensivem Rosenduft erfüllt, und wenn der sanfte Sommerwind durch die Bäume des Gartens strich, strömte das schwere Aroma des Flieders oder der zartere Hauch des blühenden Rotdorns zur offenen Tür herein.

Von der Ecke des Diwans aus persischen Satteltaschen, auf dem er es sich bequem gemacht hatte und, seiner Gewohnheit frönend, unzählige Zigaretten rauchte, konnte Lord Henry Wotton gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbenen Blüten eines Goldregens sehen, dessen zitternde Zweige kaum imstande schienen, die Last ihrer flammengleichen Schönheit zu tragen; dann und wann huschten die phantastischen Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen Vorhänge aus Tussahseide, die vor das riesige Fenster gezogen waren, ließen dabei für einen Augenblick eine Art japanischen Effekt entstehen und erinnerten ihn an die blassen, jadegesichtigen Maler Tokios, die mit den Mitteln einer zwangsläufig bewegungslosen Kunst den Eindruck von Schnelligkeit und Bewegung zu erwecken trachten. Das träge Summen der Bienen, die sich ihren Weg durch das hohe, ungemähte Gras suchten oder mit monotoner Beharrlichkeit um die mit Blütenstaub gefüllten goldgelben Kelche des wuchernden Geißblatts kreisten, ließ die Stille noch bedrückender erscheinen. Das dumpfe Dröhnen Londons glich dem ständig mitklingenden Basston einer fernen Orgel.

In der Mitte des Raumes stand, an einer hohen Staffelei befestigt, das lebensgroße Porträt eines jungen Mannes von außergewöhnlicher Schönheit, und davor saß, in geringer Entfernung, der Künstler selbst, Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren seinerzeit so großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt und Anlass zu so vielen seltsamen Vermutungen gegeben hatte.

Als der Maler die schöne, anmutige Gestalt betrachtete, die er so meisterlich in seiner Kunst wiedergegeben hatte, glitt ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. Doch plötzlich zuckte er zusammen, schloss die Augen und presste die Finger auf die Lider, als wolle er einen wundersamen Traum in seinem Hirn einsperren, aus dem zu erwachen er Angst hatte.

»Es ist deine beste Arbeit, Basil, das Beste, was du je gemalt hast«, sagte Lord Henry in schleppendem Tonfall. »Du musst sie nächstes Jahr unbedingt an die Grosvenor-Galerie schicken. Die Akademie ist zu groß und zu vulgär. Jedes Mal, wenn ich hinging, waren entweder so viele Menschen dort, dass es mir unmöglich war, die Bilder zu sehen, was grässlich war, oder so viele Bilder, dass ich die Menschen nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Die Grosvenor ist wirklich der einzige Ort, der in Frage kommt.«

»Ich glaube nicht, dass ich es überhaupt irgendwohin schicken werde«, antwortete er. Dabei warf er den Kopf auf jene komische Art zurück, die schon seine Freunde in Oxford zum Lachen gebracht hatte. »Nein, ich werde es nirgendwo hinschicken.«

Lord Henry zog die Augenbrauen hoch und sah ihn durch die dünnen blauen Rauchwölkchen hindurch erstaunt an, die in bizarr geformten Kringeln von seiner starken, opiumhaltigen Zigarette aufstiegen. »Es nirgendwo hinschicken? Aber warum denn nicht, mein Lieber? Hast du dafür irgendeinen Grund? Was für sonderbare Käuze ihr Maler doch seid! Ihr tut alles nur Erdenkliche, um berühmt zu werden. Und sobald ihr euch einen Namen gemacht habt, scheint ihr ihn wieder loswerden zu wollen. Das ist dumm von euch, denn es gibt nur eines auf der Welt, das schlimmer ist, als in aller Munde zu sein, und das ist, nicht in aller Munde zu sein. Ein Porträt wie dieses stellte dich weit über alle jungen Männer in England und machte die alten eifersüchtig, sofern alte Männer überhaupt noch irgendeines Gefühls fähig sind.«

»Ich weiß, du wirst mich auslachen«, erwiderte er, »aber ich kann es wirklich nicht ausstellen. Ich habe zu viel von mir selbst hineingelegt.«

Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.

»Ich wusste ja, du würdest lachen; aber es ist dennoch wahr.«

»Zu viel von dir selbst hineingelegt! Auf mein Wort, Basil, ich wusste gar nicht, dass du so eitel bist; ich vermag beim besten Willen keinerlei Ähnlichkeit zwischen dir mit deinem mürrischen, markanten Gesicht und deinem kohlschwarzen Haar und diesem Adonis zu entdecken, der aussieht, als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern geschaffen. Er, mein lieber Basil, ist ein Narziss, und du – nun ja, natürlich wirkst du intellektuell und all das. Aber Schönheit, wahre Schönheit, endet dort, wo ein intellektueller Gesichtsausdruck beginnt. Der Intellekt an sich ist eine Form der Übersteigerung und zerstört die Ebenmäßigkeit jedes Gesichts. In dem Augenblick, da man sich hinsetzt, um zu denken, wird man ganz Nase oder Stirn oder sonst etwas Scheußliches. Sieh dir die erfolgreichen Männer in irgendeinem der akademischen Berufe an. Wie unglaublich hässlich sind sie doch allesamt! Ausgenommen natürlich die Männer der Kirche. Aber die denken ja auch nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig noch genau dasselbe, was man ihm als Achtzehnjährigem eingetrichtert hat, und die natürliche Folge davon ist, dass er immer ganz entzückend aussieht. Dein geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir noch nicht verraten hast, dessen Bildnis mich aber wirklich fasziniert, denkt nie. Dessen bin ich mir ganz sicher. Er ist ein gedankenloses, schönes Geschöpf, das im Winter, wenn wir keine Blumen zum Ansehen haben, wie auch im Sommer, wenn wir etwas brauchen, um unseren Geist ein wenig abzukühlen, stets um uns sein sollte. Gib dich keiner Selbsttäuschung hin, Basil: Du bist nicht im Geringsten wie er.«

»Du verstehst mich nicht, Harry«, entgegnete der Künstler. »Natürlich bin ich nicht wie er. Das weiß ich sehr wohl. Ja, ich möchte gar nicht so aussehen wie er. Du zuckst mit den Schultern? Ich sage die Wahrheit. Über allen körperlichen und geistigen Vorzügen liegt ein Verhängnis – jene Art von Verhängnis, das den schwankenden Schritten von Königen durch die Geschichte anzuhaften scheint. Es ist besser, man unterscheidet sich nicht von seinen Mitmenschen. Die Hässlichen und die Dummen haben es am besten auf dieser Welt. Sie können behaglich dasitzen und mit offenem Mund das Schauspiel begaffen. Wissen sie auch nicht, wie es ist, zu siegen, so bleibt ihnen doch wenigstens die Erfahrung der Niederlage erspart. Sie leben, wie wir alle leben sollten, unbehelligt, gleichmütig und ohne Ängste und Sorgen. Sie bringen weder Verderben über andere, noch wird es ihnen von fremder Hand zuteil. Dein gesellschaftlicher Rang und dein Reichtum, Harry; meine geistigen Fähigkeiten, wie sie nun einmal sind – meine Kunst, was immer sie wert sein mag; Dorian Grays gutes Aussehen – wir alle werden für das, was die Götter uns mitgegeben haben, bezahlen müssen, teuer bezahlen.«

»Dorian Gray? Ist das sein Name?«, fragte Lord Henry, während er durch das Atelier auf Basil Hallward zuging.

»Ja, das ist sein Name. Ich hatte ihn dir eigentlich nicht sagen wollen.«

»Aber weshalb denn nicht?«

»Ach, das kann ich nicht erklären. Wenn ich jemanden wirklich gernhabe, verrate ich seinen Namen nie. Es ist, als gäbe ich damit einen Teil von ihm preis. Ich habe Heimlichkeiten schätzen gelernt. Sie scheinen das Einzige zu sein, was dem Leben heutzutage noch etwas Geheimnisvolles oder Wunderbares zu verleihen vermag. Das Alltäglichste wird reizvoll, wenn man es nur vor den anderen geheim hält. Wenn ich heute die Stadt verlasse, sage ich meinen Leuten nie, wohin ich gehe. Täte ich es, wäre mir jegliches Vergnügen genommen. Ich gebe zu, es ist eine törichte Angewohnheit, doch irgendwie scheint sie eine ganze Menge Romantik ins Leben zu bringen. Du findest mein Verhalten wohl schrecklich albern?«

»Keineswegs«, antwortete Lord Henry, »keineswegs, mein lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, dass ich verheiratet bin, und der einzige Reiz der Ehe besteht darin, dass sie beide Parteien unweigerlich zu einem Leben der Verstellung und Heimlichkeiten zwingt. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und meine Frau weiß nie, was ich gerade tue. Begegnen wir uns – und wir begegnen uns gelegentlich, wenn wir beide irgendwo gemeinsam zum Essen eingeladen sind oder auf den Landsitz des Herzogs hinausfahren –, dann erzählen wir uns mit todernster Miene die haarsträubendsten Geschichten. Meine Frau versteht sich ausgezeichnet darauf – im Grunde genommen viel besser als ich. Sie bringt ihre Verabredungen und Termine nie durcheinander, während mir das ständig passiert. Ertappt sie mich dabei, macht sie mir allerdings nie eine Szene. Manchmal wünschte ich, sie täte es; aber sie lacht mich bloß aus.«

»Es gefällt mir nicht, wie du über dein Eheleben sprichst, Harry«, sagte Basil Hallward. Er schlenderte langsam zur Tür, die in den Garten hinausführte. »Ich bin überzeugt, du bist in Wirklichkeit ein sehr guter Ehemann, schämst dich aber deiner Tugenden zutiefst. Du bist ein sonderbarer Mensch. Du sagst nie etwas Moralisches und tust nie etwas Unrechtes. Dein Zynismus ist einfach Pose.«

»Natürlich zu sein, ist einfach Pose, und zwar die aufreizendste, die ich kenne«, rief Lord Henry lachend. Damit gingen die beiden jungen Männer zusammen in den Garten hinaus und setzten sich auf eine Bambusbank im Schatten eines hohen Lorbeerstrauchs. Das Sonnenlicht glitt über die glänzenden Blätter. Auf dem Rasen zitterten weiße Gänseblümchen.

Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr hervor. »Ich fürchte, ich muss gehen, Basil«, sagte er leise, »und bevor ich gehe, bestehe ich darauf, dass du die Frage beantwortest, die ich dir vorhin gestellt habe.«

»Was für eine Frage?«, sagte der Maler, den Blick fest auf den Boden geheftet.

»Das weißt du ganz genau.«

»Ich weiß es nicht, Harry.«

»Nun, dann will ich es dir sagen. Ich möchte, dass du mir erklärst, warum du Dorian Grays Bildnis nicht ausstellen willst. Ich möchte den wahren Grund hören.«

»Ich habe dir den wahren Grund genannt.«

»Nein, das hast du nicht. Du hast es damit begründet, dass du zu viel von dir selbst in das Bild hineingelegt hättest. Das ist doch kindisch.«

»Harry«, sagte Basil Hallward und sah ihm offen ins Gesicht, »jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt wird, ist ein Porträt des Künstlers und nicht des Modells. Derjenige, der Modell sitzt, ist lediglich der zufällige Anlass, die Gelegenheit. Nicht ihn offenbart der Maler; der Maler offenbart vielmehr sich selbst auf der farbigen Leinwand. Der Grund, weshalb ich dieses Bild nicht ausstellen werde, ist, dass ich fürchte, darin das Geheimnis meiner eigenen Seele preisgegeben zu haben.«

Lord Henry lachte. »Und was ist das?«, fragte er.

»Ich will es dir verraten«, begann Hallward, doch dann nahm sein Gesicht einen Ausdruck der Bestürzung an.

»Ich warte, Basil«, erinnerte sein Gefährte ihn und blickte ihn unverwandt an.

»Ach, eigentlich gibt es da nur sehr wenig zu sagen, Harry«, antwortete der Maler, »und ich fürchte, du wirst es wohl kaum verstehen. Wahrscheinlich wirst du es gar nicht glauben.«

Lord Henry lächelte, beugte sich vor, pflückte ein Gänseblümchen mit rosafarbenen Blütenblättern und betrachtete es prüfend. »Ich bin ganz sicher, dass ich es verstehen werde«, erwiderte er, den Blick aufmerksam auf die kleine, von weißen Federn umrahmte goldene Scheibe gerichtet. »Und was das Glauben von irgendwelchen Dingen angeht, so vermag ich alles zu glauben, vorausgesetzt, es ist ganz und gar unglaublich.«

Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, und die schweren Fliederrispen mit ihren unzähligen, dichtgedrängten Blütensternen bewegten sich in der sanften Brise hin und her. Ein Grashüpfer begann in der Nähe der Mauer zu zirpen, und einem blauen Faden gleich schwebte eine lange schlanke Libelle auf ihren braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry hatte das Gefühl, er könne Basil Hallwards Herz schlagen hören, und fragte sich, was nun kommen mochte.

»Die Geschichte ist ganz einfach die«, sagte der Maler nach einer Weile. »Vor zwei Monaten ging ich auf einen der großen Empfänge bei Lady Brandon. Du weißt, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der feinen Gesellschaft sehen lassen, um die Leute daran zu erinnern, dass wir keine Wilden sind. Im Abendanzug und mit einer weißen Krawatte kann, wie du mir einmal sagtest, jeder, selbst ein Börsenmakler, in den Ruf gelangen, ein kultivierter Mensch zu sein. Nun, als ich mich etwa zehn Minuten in dem Raum aufgehalten und mit üppigen, übertrieben herausgeputzten Witwen und langweiligen Akademiemitgliedern gesprochen hatte, wurde mir auf einmal bewusst, dass jemand mich ansah. Ich drehte mich halb um und sah Dorian Gray zum ersten Mal. Als sich unsere Blicke trafen, spürte ich, dass ich blass wurde. Ein seltsames Gefühl der Beklemmung überkam mich. Ich wusste, ich stand jemandem von Angesicht zu Angesicht gegenüber, dessen bloße Persönlichkeit so faszinierend war, dass sie, wenn ich es zuließe, mein ganzes Wesen, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst vollkommen in ihren Bann ziehen würde. Ich wünschte keinerlei äußeren Einfluss auf mein Leben. Du weißt selbst, Harry, wie unabhängig ich von Natur aus bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; war es zumindest immer gewesen, bis ich Dorian Gray begegnete. Dann – aber ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Etwas schien mir zu sagen, dass ich am Rande einer schrecklichen Lebenskrise stand. Ich hatte das eigenartige Gefühl, das Schicksal halte unvergleichliche Freuden und unvergleichlichen Kummer für mich bereit. Ich bekam Angst, drehte mich um und wollte den Raum verlassen. Es war nicht das Gewissen, das mich dazu veranlasste; es war eine Art Feigheit. Ich rechne mir den Versuch zu fliehen nicht als Ehre an.«

»Gewissen und Feigheit sind in Wirklichkeit ein und dasselbe, Basil. Gewissen ist lediglich der Name der Firma. Das ist alles.«

»Das glaube ich nicht, Harry, und du glaubst es vermutlich ebenso wenig. Was immer indes mein Beweggrund war – und es kann auch Stolz gewesen sein, denn ich pflegte sehr stolz zu sein –, jedenfalls kämpfte ich mich zur Tür durch. Dort lief ich natürlich Lady Brandon in die Arme. ›Sie werden doch nicht schon so früh davonlaufen, Mr. Hallward?‹ kreischte sie. Du kennst doch ihre eigenartig schrille Stimme?«

»Ja, Schönheit ausgenommen, ist sie in jeder Hinsicht ein Pfau«, sagte Lord Henry, der mit seinen langen, nervösen Fingern das Gänseblümchen zerpflückte.

»Es gelang mir nicht, sie loszuwerden. Sie stellte mich königlichen Hoheiten und Leuten mit Ordenssternen und Hosenbandorden vor und ältlichen Damen mit riesigen Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich ihren teuersten Freund. Ich war ihr bis dahin erst ein einziges Mal begegnet, aber sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, mich zum Helden des Abends zu machen. Ich glaube, eines meiner Bilder war damals gerade ein großer Erfolg, zumindest wurde in der Boulevardpresse darüber geschrieben, was ja im neunzehnten Jahrhundert das maßgebliche Kriterium für Unsterblichkeit ist. Plötzlich sah ich mich dem jungen Mann gegenüber, dessen Erscheinung mich so sonderbar aufgewühlt hatte. Wir waren uns ganz nah, berührten uns fast. Wieder trafen sich unsere Blicke. Es war unbesonnen von mir, doch ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Aber vielleicht war es gar nicht so unbesonnen. Es war einfach unumgänglich. Wir hätten auch ohne förmliche Vorstellung miteinander gesprochen, dessen bin ich mir sicher. Dorian sagte das später ebenfalls. Auch er hatte gespürt, dass es unsere Bestimmung war, einander kennenzulernen.«

»Und wie beschrieb Lady Brandon diesen wunderbaren jungen Mann?«, fragte sein Gefährte. »Ich weiß, sie gibt mit Vorliebe ein rasch hervorgesprudeltes précis von jedem ihrer Gäste. Ich erinnere mich, wie sie mich einmal zu einem grimmig dreinblickenden, rotgesichtigen alten Herrn führte, der über und über mit Orden und Bändern behängt war, und mir dabei mit tragischem Getuschel, das für jedermann im Raum deutlich verständlich gewesen sein musste, die erstaunlichsten Einzelheiten ins Ohr zischte. Ich bin einfach geflohen. Ich mache mir gern selbst ein Bild von den Menschen. Aber Lady Brandon behandelt ihre Gäste geradeso wie ein Auktionator die ihm überlassenen Gegenstände. Entweder erklärt sie sie vollständig hinweg, oder sie erzählt einem alles über sie, nur nicht das, was man wirklich wissen möchte.«

»Arme Lady Brandon! Du gehst hart mit ihr ins Gericht, Harry«, bemerkte Hallward teilnahmslos.

»Mein lieber Freund, sie wollte einen Salon gründen und schaffte es nur, ein Restaurant zu eröffnen. Wie könnte ich sie bewundern? Aber erzähl doch: Was hat sie über Mr. Dorian Gray gesagt?«

»Ach, so etwas wie: ›Reizender Junge – arme, liebe Mutter und ich völlig unzertrennlich. Habe ganz vergessen, was er tut – fürchte, er – tut gar nichts – o doch, spielt Klavier – oder ist es Geige, lieber Mr. Gray?‹ Wir mussten beide lachen und wurden sofort Freunde.«

»Lachen ist durchaus kein schlechter Anfang und bei weitem das beste Ende für eine Freundschaft«, erklärte der junge Lord, während er noch ein Gänseblümchen pflückte.

Hallward schüttelte den Kopf. »Du weißt nicht, was Freundschaft ist, Harry«, murmelte er – »und ebenso wenig weißt du, was Feindschaft ist. Du magst alle, oder besser: Dir sind alle gleichgültig.«

»Wie schrecklich ungerecht von dir!«, rief Lord Henry, schob seinen Hut in den Nacken und blickte zu den Wölkchen hinauf, die wie verworrene glänzendweiße Seidensträhnen über das gewölbte Türkisblau des Sommerhimmels dahintrieben. »Ja, schrecklich ungerecht von dir. Ich mache große Unterschiede zwischen den Menschen. Meine Freunde wähle ich nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem scharfen Verstand. Ein Mann kann bei der Wahl seiner Feinde gar nicht sorgfältig genug sein. Ich habe nicht einen, der ein Dummkopf wäre. Sie sind ausnahmslos kluge Köpfe, und daher schätzen sie mich allesamt. Ist das sehr eitel von mir? Es ist wohl recht eitel.«

»Der Meinung bin ich allerdings auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung kann ich lediglich ein Bekannter sein.«

»Mein lieber alter Basil, du bist viel mehr als ein Bekannter.«

»Und viel weniger als ein Freund. Vermutlich eine Art Bruder?«

»Ach, Brüder! Ich mache mir nichts aus Brüdern. Mein älterer Bruder will einfach nicht sterben, und meine jüngeren Brüder scheinen nichts anderes zu tun.«

»Harry!«, rief Hallward missbilligend.

»Mein Lieber, ich meine es nicht ganz ernst. Aber ich kann nicht umhin, meine Verwandten zu verabscheuen. Wahrscheinlich liegt dies daran, dass keiner von uns es mag, wenn andere dieselben Fehler haben wie wir selbst. Ich habe durchaus Verständnis für den Zorn der englischen Demokratie auf das, was die Leute die Laster der Oberschicht nennen. Die Massen sind der Ansicht, Trunksucht, Dummheit und Unmoral sollten ihre alleinige Domäne sein, und wenn sich unsereins zum Narren mache, wildere er in ihrem Revier. Als der arme Southwark vor dem Scheidungsrichter stand, war ihre Empörung wirklich beeindruckend. Und doch führen vermutlich noch nicht einmal zehn Prozent des Proletariats ein anständiges Leben.«

»Ich stimme nicht mit einem einzigen Wort überein, das du eben gesagt hast, und, was noch wichtiger ist, Harry, ich bin überzeugt, du tust es ebenso wenig.«

Lord Henry strich über seinen braunen Spitzbart und schlug mit seinem quastenverzierten Ebenholzstock gegen die Spitze seines Lackstiefels. »Wie englisch du doch bist, Basil! Diese Bemerkung hast du jetzt schon zum zweiten Mal gemacht. Wenn man einem echten Engländer eine Idee darlegt – was immer ein tollkühnes Unterfangen ist –, denkt er nicht im Traum daran, zu erwägen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das Einzige, was ihm von Belang scheint, ist, ob man selbst daran glaubt. Nun hat aber der Wert einer Idee nicht das Geringste mit der Aufrichtigkeit desjenigen zu tun, der sie vorbringt. Ja, es ist vielmehr zu erwarten, dass die Idee umso mehr rein geistiger Natur sein wird, je unaufrichtiger der Betreffende ist, da sie in diesem Fall nicht von seinen Bedürfnissen, seinen Wünschen oder seinen Vorurteilen gefärbt wird. Ich habe indes nicht vor, mit dir über Politik, Soziologie oder Metaphysik zu diskutieren. Mir sind Menschen lieber als Grundsätze, und Menschen ohne Grundsätze schätze ich höher als alles andere auf der Welt. Erzähl mir mehr über Mr. Dorian Gray. Wie oft siehst du ihn?«

»Jeden Tag. Ich könnte nicht glücklich sein, sähe ich ihn nicht täglich. Er ist mir einfach unentbehrlich.«

»Wie sonderbar! Ich dachte immer, außer deiner Kunst könnte dich nie etwas wirklich interessieren.«

»Er ist jetzt für mich meine ganze Kunst«, erklärte der Maler ernst. »Zuweilen denke ich, Harry, es gibt in der Weltgeschichte nur zwei epochemachende Ereignisse. Das erste ist das Auftreten eines neuen künstlerischen Ausdrucksmittels, und das zweite ist das Auftreten einer neuen Persönlichkeit, ebenfalls in der Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war, das war das Antlitz des Antinoos für die spätgriechische Bildhauerei und wird das Gesicht Dorian Grays eines Tages für mich sein. Ich male, zeichne, skizziere ihn nicht nur. Natürlich habe ich all das getan. Aber er ist für mich viel mehr als jemand, der mir nur Modell sitzt. Ich will dir nicht erzählen, ich sei unzufrieden mit dem, wie ich ihn gezeichnet oder gemalt habe, oder seine Schönheit sei von solcher Art, dass die Kunst sie nicht auszudrücken vermöge. Es gibt nichts, was die Kunst nicht auszudrücken vermag, und ich weiß, dass das, was ich geschaffen habe, seit ich Dorian Gray kenne, gute Arbeit ist, die beste meines Lebens. Doch auf eigenartige Weise – ich frage mich, ob du mich verstehen wirst – regte mich seine Persönlichkeit zu einer gänzlich neuen Kunstform, einem vollkommen neuen Stil an. Ich sehe die Dinge anders, ich denke anders über sie. Ich vermag mit einem Mal, das Leben auf eine Art und Weise neu erstehen zu lassen, die mir bisher verschlossen war. ›Ein Traum der Form in Tagen des Denkens‹ – wer sagte das doch? Ich habe es vergessen; aber genau das ist Dorian Gray für mich. Die bloße Gegenwart dieses Jungen – denn für mich ist er kaum mehr als ein Junge, obgleich er tatsächlich schon über zwanzig ist –, seine bloße Gegenwart – ach, ich frage mich, ob du wirklich zu begreifen vermagst, was all das bedeutet. Ohne sich dessen bewusst zu sein, gibt er mir die Grundsätze einer neuen Kunstrichtung ein, einer Kunstrichtung, die alle Leidenschaft des romantischen, alle Vollkommenheit des griechischen Geistes in sich einschließen soll. Die Harmonie von Seele und Körper – wie viel ist das doch! In unserem Wahn haben wir sie getrennt und einen Realismus erfunden, der vulgär, eine Idealität, die hohl und leer ist. Harry! Wenn du nur wüsstest, was Dorian Gray für mich bedeutet! Du erinnerst dich an das Landschaftsbild, für das Agnew mir eine so horrende Summe bot, von dem ich mich aber nicht trennen wollte? Es gehört zum Besten, was ich je geschaffen habe. Und warum? Weil Dorian Gray neben mir saß, während ich es malte. Irgendein unterschwelliger Einfluss ging von ihm auf mich aus, und zum ersten Mal in meinem Leben gewahrte ich in der schlichten Waldlandschaft das Wunder, nach dem ich stets gesucht und das ich nie entdeckt hatte.«

»Basil, das ist außergewöhnlich! Ich muss Dorian Gray unbedingt kennenlernen.«

Hallward erhob sich von der Bank und ging im Garten auf und ab. Nach einer Weile kam er zurück. »Harry«, sagte er, »Dorian Gray ist für mich einfach ein künstlerisches Motiv. Du findest vielleicht gar nichts an ihm. Ich finde alles in ihm. Er ist in meinem Schaffen nie gegenwärtiger, als wenn sein Abbild gar nicht erscheint. Er ist, wie ich schon sagte, die Anregung zu einem neuen Stil. Ich finde ihn im Schwung bestimmter Linien, in der Schönheit und Zartheit bestimmter Farbtöne. Das ist alles.«

»Warum willst du dann sein Bild nicht ausstellen?«, fragte Lord Henry.

»Weil ich darin, ohne es zu wollen, etwas von dieser ganzen sonderbaren künstlerischen Vergötterung zum Ausdruck gebracht habe, die ich ihm gegenüber natürlich mit keinem Wort erwähnte. Er hat nicht die geringste Ahnung davon, und er soll auch nie etwas davon erfahren. Die Welt könnte es indes erraten; und ich will mein Innerstes nicht vor ihren oberflächlichen, neugierigen Blicken entblößen. Nie soll mein Herz unter ihr Mikroskop kommen. Es ist einfach zu viel von mir selbst in diesem Ding, Harry – zu viel von mir selbst!«

»Dichter sind da weniger zimperlich als du. Sie wissen, wie dienlich Leidenschaft einer Veröffentlichung ist. Ein gebrochenes Herz sichert heutzutage zahlreiche Auflagen.«

»Dafür verabscheue ich sie ja auch«, rief Hallward. »Ein Künstler sollte schöne Dinge schaffen, aber nichts von seinem eigenen Leben in sie hineinlegen. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen die Kunst behandeln, als sei sie dazu ausersehen, eine Art Autobiographie zu sein. Wir haben den Sinn für abstrakte Schönheit verloren. Eines Tages werde ich der Welt zeigen, was das ist; und deshalb soll sie auch mein Porträt von Dorian Gray niemals zu Gesicht bekommen.«

»Meiner Meinung nach hast du unrecht, Basil, aber ich will mich nicht mit dir streiten. Nur die intellektuell Unterlegenen streiten. Sag mir, mag Dorian Gray dich sehr?«

Der Maler überlegte einige Augenblicke. »Er hat mich gern«, antwortete er nach einer Weile. »Ich weiß, dass er mich gernhat. Natürlich schmeichle ich ihm entsetzlich. Ich empfinde ein seltsames Vergnügen dabei, ihm Dinge zu sagen, von denen ich weiß, dass es mir später leidtun wird, sie gesagt zu haben. In der Regel ist er reizend zu mir, und wir sitzen im Atelier und unterhalten uns über tausend Dinge. Mitunter ist er allerdings schrecklich gedankenlos, und es scheint ihm geradezu Freude zu bereiten, mir weh zu tun. Dann habe ich das Gefühl, Harry, meine ganze Seele einem Menschen überlassen zu haben, der damit umgeht, als sei sie eine Blume, die man sich ins Knopfloch steckt, ein Stück Dekoration, um der Eitelkeit zu schmeicheln, schmückendes Beiwerk für einen Sommertag.«

»Im Sommer neigen die Tage dazu, recht lang zu sein, Basil«, bemerkte Lord Henry leise. »Vielleicht wirst du seiner schneller überdrüssig als er deiner. Es ist zwar ein betrüblicher Gedanke, doch besteht kein Zweifel daran, dass Genie länger währt als Schönheit. Das erklärt auch, warum wir alle derartige Anstrengungen unternehmen, uns übermäßig zu bilden. Im stürmischen Kampf ums Dasein verlangt es uns nach etwas Dauerhaftem, und deshalb stopfen wir unsere Hirne mit Unsinn und Fakten voll, in der törichten Hoffnung, unseren Platz behaupten zu können. Der durch und durch wohlinformierte Mensch – das ist das Ideal unserer modernen Zeit. Das Hirn dieses durch und durch wohlinformierten Menschen ist etwas Grauenvolles. Es gleicht einem Trödelladen voller Ungeheuerlichkeiten und Staub, in dem alles über seinem eigentlichen Wert ausgezeichnet ist. Trotzdem glaube ich, dass du seiner zuerst überdrüssig werden wirst. Eines Tages wirst du deinen Freund ansehen, und er wird dir ein wenig verzeichnet vorkommen, oder dir missfällt sein Farbton oder sonst etwas. Du wirst ihm im Innersten deines Herzens bittere Vorwürfe machen und ernsthaft überzeugt sein, er habe sich dir gegenüber äußerst schlecht benommen. Bei seinem nächsten Besuch wirst du ihm vollkommen kühl und gleichgültig begegnen. Das wird jammerschade sein, denn es wird dich verändern. Was du mir erzählt hast, ist eine richtige Romanze, eine Romanze der Kunst könnte man es nennen, und das Schlimmste an jeder Romanze ist, dass man am Ende aller Romantik beraubt ist.«

»Harry, sprich nicht so. Solange ich lebe, wird Dorian Grays Persönlichkeit mich beherrschen. Du bist nicht imstande zu fühlen, was ich fühle. Du bist zu unbeständig.«

»Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich es nachempfinden. Treue Menschen lernen nur die triviale Seite der Liebe kennen: allein die Treulosen wissen auch um die Tragödien der Liebe.« Und Lord Henry entflammte ein elegantes silbernes Feuerzeug und begann mit selbstbewusster, zufriedener Miene eine Zigarette zu rauchen, als hätte er die Welt in einem einzigen Satz zusammengefasst. In den glänzendgrünen Efeublättern raschelten aufgeregt zwitschernde Spatzen, und die blauen Wolkenschatten jagten einander wie Schwalben über den Rasen. Wie angenehm war es doch im Garten! Und wie ergötzlich waren die Gefühlsregungen anderer Leute! Viel ergötzlicher als ihre Ansichten, so schien es ihm. Die eigene Seele und die Leidenschaften der Freunde – das waren die faszinierenden Dinge im Leben. Mit heimlichem Vergnügen malte er sich in Gedanken das langweilige Gabelfrühstück aus, das er versäumt hatte, weil er so lange bei Basil Hallward geblieben war. Wäre er zu seiner Tante gegangen, hätte er dort mit Sicherheit Lord Goodbody getroffen, und die ganze Unterhaltung hätte sich um die Armenspeisung und die Notwendigkeit von vorbildlichen Mietshäusern gedreht. Alle hätten die Bedeutung jener Tugenden gepriesen, für deren Ausübung sie im eigenen Leben keine Veranlassung sahen. Die Reichen hätten sich über den Wert der Sparsamkeit geäußert, und die Müßiggänger sich beredt über die Würde der Arbeit ausgelassen. Es war erfreulich, all dem entgangen zu sein! Bei dem Gedanken an seine Tante schien ihm etwas in den Sinn zu kommen. Er wandte sich Hallward zu und sagte: »Mein Lieber, eben fiel es mir wieder ein.«

»Was fiel dir ein, Harry?«

»Wo ich den Namen Dorian Gray schon gehört habe.«

»Und wo war das?«, fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.

»Mach nicht so ein grimmiges Gesicht, Basil. Es war bei meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie habe einen wundervollen jungen Mann entdeckt, der ihr im East End helfen wolle, und sein Name sei Dorian Gray. Allerdings erwähnte sie mit keinem Wort, dass er gut aussieht. Frauen vermögen gutes Aussehen nicht zu würdigen, zumindest anständige Frauen nicht. Sie sagte, er sei sehr ernst und habe ein einnehmendes Wesen. Ich sah sofort ein Geschöpf mit Brille, glattem Haar und schrecklich vielen Sommersprossen vor mir, das auf riesigen Füßen einhertrampelt. Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass es sich um deinen Freund handelt.«

»Ich bin froh, dass du es nicht wusstest, Harry.«

»Warum?«

»Ich möchte nicht, dass du ihn kennenlernst.«

»Du möchtest nicht, dass ich ihn kennenlerne?«

»Nein.«

In diesem Augenblick kam der Butler in den Garten und meldete: »Mr. Dorian Gray ist im Atelier, Sir.«

»Jetzt musst du mich vorstellen«, rief Lord Henry lachend.

Der Maler wandte sich an seinen Diener, der blinzelnd im Sonnenlicht stand. »Bitten Sie Mr. Gray zu warten, Parker; ich werde gleich hineinkommen.« Der Mann verbeugte sich und ging den Weg hinauf.

Dann sah Basil Hallward Lord Henry an. »Dorian Gray ist mir der teuerste Freund«, sagte er. »Er hat ein unkompliziertes, einnehmendes Wesen. Deine Tante hatte völlig recht mit dem, was sie über ihn sagte. Verdirb ihn nicht. Versuche nicht, ihn zu beeinflussen. Dein Einfluss wäre schädlich. Die Welt ist groß, und es gibt viele wundervolle Menschen in ihr. Nimm mir nicht den einen, der meiner Kunst allen Zauber verleiht, den sie besitzt; mein Leben als Künstler hängt von ihm ab. Vergiss nicht, Harry, ich vertraue dir.« Er sprach sehr langsam, und die Worte schienen sich ihm fast gegen seinen Willen zu entringen.

»Was für einen Unsinn du daherredest!«, erklärte Lord Henry lächelnd, nahm Hallward beim Arm und führte ihn beinahe ins Haus.

Kapitel 2

Als sie eintraten, sahen sie Dorian Gray. Er saß mit dem Rücken zu ihnen am Klavier und blätterte in einem Band mit Schumanns »Waldszenen«. »Die musst du mir unbedingt leihen, Basil«, rief er. »Ich möchte sie lernen. Sie sind einfach bezaubernd.«

»Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute Modell sitzt, Dorian.«

»Ach, ich habe keine Lust mehr, dir zu sitzen, und ich will gar kein lebensgroßes Porträt von mir«, erwiderte der junge Mann, während er trotzig und schmollend auf dem Klavierhocker hin und her schwang. Als er Lord Henry erblickte, färbte eine leichte Röte einen Moment lang seine Wangen, und er sprang auf. »Entschuldige, Basil, aber ich wusste nicht, dass du Besuch hast.«

»Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter Freund aus Oxforder Tagen. Ich habe ihm eben erzählt, was für ein großartiges Modell du bist, und nun hast du alles verdorben.«

»Mein Vergnügen, Sie kennenzulernen, haben Sie nicht verdorben, Mr. Gray«, erklärte Lord Henry, trat zu ihm und reichte ihm die Hand. »Meine Tante hat mir schon oft von Ihnen erzählt. Sie sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, auch eines ihrer Opfer.«

»Augenblicklich stehe ich bei Lady Agatha auf der schwarzen Liste«, antwortete Dorian mit drollig zerknirschtem Blick. »Ich hatte ihr versprochen, sie am letzten Dienstag in einen Klub in Whitechapel zu begleiten, und habe es tatsächlich völlig vergessen. Wir hätten zusammen vierhändig spielen sollen – drei Stücke, glaube ich. Ich weiß nicht, was sie sagen wird. Ich habe viel zu große Angst, um sie aufzusuchen.«

»Oh, ich werde Sie mit meiner Tante wieder aussöhnen. Sie schwärmt ja geradezu von Ihnen. Außerdem glaube ich, es macht wirklich nichts, dass Sie nicht dort waren. Das Publikum dachte wahrscheinlich, es werde vierhändig gespielt. Wenn Tante Agatha sich ans Klavier setzt, macht sie Lärm genug für zwei.«

»Das ist ganz abscheulich ihr gegenüber und nicht sehr schmeichelhaft für mich«, antwortete Dorian lachend.

Lord Henry sah ihn an. Ja, er war zweifellos außerordentlich hübsch mit seinen fein geschwungenen scharlachroten Lippen, seinen aufrichtigen blauen Augen, seinem gelockten goldblonden Haar. In seinem Gesicht war etwas, das sofort Vertrauen erweckte. Alle Offenheit der Jugend lag darin, und auch all ihre leidenschaftliche Reinheit. Man spürte, dass er sich noch nicht von der Welt hatte beflecken lassen. Kein Wunder, dass Basil Hallward ihn anbetete.

»Sie sind zu charmant, um sich mit Philanthropie abzugeben, Mr. Gray – viel zu charmant.« Lord Henry ließ sich auf den Diwan fallen und öffnete sein Zigarettenetui.

Der Maler war damit beschäftigt gewesen, seine Farben zu mischen und seine Pinsel bereitzulegen. Er wirkte beunruhigt, und als er Lord Henrys letzte Bemerkung hörte, sah er ihn an, zögerte einen Augenblick und sagte dann: »Harry, ich möchte dieses Bild heute fertigmalen. Fändest du es sehr unhöflich von mir, wenn ich dich bäte zu gehen?«

Lord Henry lächelte und blickte zu Dorian Gray. »Soll ich gehen, Mr. Gray?«, fragte er.

»Oh, bitte nicht, Lord Henry. Ich sehe, Basil hat heute offenbar wieder einmal schlechte Laune, und ich kann ihn nicht ausstehen, wenn er so mürrisch ist. Außerdem möchte ich, dass Sie mir erklären, warum ich mich nicht mit Philanthropie abgeben sollte.«

»Das werde ich wohl nicht, Mr. Gray. Es ist ein so langweiliges Thema, dass man ernsthaft darüber sprechen müsste. Aber gewiss werde ich nicht davonlaufen, nun, da Sie mich gebeten haben zu bleiben. Es macht dir doch nichts aus, Basil, nicht wahr? Du hast mir oft gesagt, es gefalle dir, wenn die Leute, die dir Modell sitzen, jemanden zum Plaudern haben.«

Hallward biss sich auf die Lippen. »Wenn Dorian es wünscht, musst du natürlich bleiben. Dorians Launen sind Gesetz für jedermann, außer für ihn selbst.«

Lord Henry griff nach Hut und Handschuhen. »Auch wenn du mich so eindringlich bittest, Basil, ich fürchte, ich muss gehen. Ich habe eine Verabredung im ›Orleans‹. Auf Wiedersehen, Mr. Gray. Besuchen Sie mich doch gelegentlich nachmittags in der Curzon Street. Um fünf Uhr bin ich fast immer zu Hause. Schreiben Sie mir, wann Sie kommen. Es täte mir leid, Sie zu verfehlen.«

»Basil«, rief Dorian Gray, »wenn Lord Henry Wotton geht, gehe ich auch. Du machst nie den Mund auf, während du malst, und es ist entsetzlich langweilig, auf einem Podest zu stehen und zu versuchen, ein freundliches Gesicht zu machen. Bitte ihn zu bleiben. Ich bestehe darauf.«

»Bleib, Harry, Dorian zuliebe und mir zuliebe«, sagte Hallward, den Blick aufmerksam auf das Bild gerichtet. »Es stimmt, ich spreche nie, wenn ich arbeite, und ich höre auch nicht zu, und es muss schrecklich langweilig für meine bedauernswerten Modelle sein. Ich bitte dich zu bleiben.«

»Aber was ist mit meiner Verabredung im ›Orleans‹?«

Der Maler lachte. »Ich glaube nicht, dass das ein Problem ist. Setz dich wieder, Harry. Und nun, Dorian, stell dich auf das Podest und bewege dich nicht allzu sehr und achte nicht auf das, was Lord Henry sagt. Er übt einen sehr schlechten Einfluss auf alle seine Freunde aus, ich bin die einzige Ausnahme.«

Mit der Miene eines jungen griechischen Märtyrers bestieg Dorian Gray das Podest und schnitt eine missvergnügte Grimasse in Richtung Lord Henry, den er recht sympathisch fand. Er war so ganz anders als Basil. Sie bildeten einen reizvollen Kontrast. Und er hatte eine so schöne Stimme. Wenig später fragte er ihn: »Üben Sie wirklich einen sehr schlechten Einfluss aus, Lord Henry? Einen so schlechten, wie Basil behauptet?«

»So etwas wie einen guten Einfluss gibt es nicht, Mr. Gray. Jeder Einfluss ist unmoralisch – unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus.«

»Warum?«

»Weil Beeinflussung eines Menschen bedeutet, dass man die eigene Seele auf ihn überträgt. Er denkt nicht mehr seine eigenen Gedanken, brennt nicht vor eigener Leidenschaft. Seine Tugenden sind nicht wirklich die seinen. Seine Sünden, wenn es denn so etwas wie Sünden gibt, sind geborgt. Er wird zum Echo der Musik eines anderen, zum Schauspieler, der eine Rolle spielt, die nicht für ihn geschrieben wurde. Das Ziel des Lebens ist Selbstentfaltung. Das eigene Wesen vollkommen zu verwirklichen – das ist es, wozu jeder von uns hier ist. Heutzutage haben die Menschen Angst vor sich selbst. Sie haben die vornehmste aller Pflichten vergessen, die Pflicht nämlich, die man dem eigenen Ich gegenüber hat. Natürlich sind sie mildtätig. Sie speisen den Hungernden und kleiden den Bettler. Ihre eigenen Seelen aber darben und sind nackt. Der Mut hat unsere Rasse verlassen. Vielleicht haben wir nie wirklich welchen besessen. Die Furcht vor der Gesellschaft, die die Grundlage der Moral, die Furcht vor Gott, die das Geheimnis der Religion ist – das sind die beiden Dinge, die uns beherrschen. Und doch –«

»Dreh bitte den Kopf ein wenig weiter nach rechts, Dorian, sei so lieb«, sagte der Maler, in seine Arbeit vertieft und sich nur der Tatsache bewusst, dass in das Gesicht des jungen Mannes ein Ausdruck getreten war, den er bisher noch nie darin wahrgenommen hatte.

»Und doch«, fuhr Lord Henry mit seiner leisen, wohlklingenden Stimme und jener anmutigen Handbewegung fort, die für ihn seit jeher so charakteristisch war und die er schon während seiner Schulzeit in Eton an sich hatte, »glaube ich, wenn nur ein einziger Mensch sein Leben voll und ganz auslebte, jedem Gefühl Gestalt, jedem Gedanken Ausdruck, jedem Traum Wirklichkeit verliehe – ich glaube, dann erhielte die Welt einen derartig neuen, freudigen Auftrieb, dass wir all die mittelalterlichen Übel und Krankheiten vergäßen und zum hellenischen Ideal zurückkehrten – vielleicht sogar zu etwas noch Edlerem, Köstlicherem als dem hellenischen Ideal. Doch der Tapferste unter uns hat Angst vor sich selbst. Die Selbstverstümmelung des Wilden findet ihre tragische Fortsetzung in der Selbstverleugnung, die unser Leben zerstört. Wir werden für unsere Verweigerung bestraft. Jeder Trieb, den wir zu unterdrücken suchen, lebt in unserem Innern unterschwellig weiter und vergiftet uns. Der Körper sündigt einmal, und damit ist die Sünde für ihn erledigt, denn Handeln ist eine Form der Läuterung. Nichts bleibt zurück als die Erinnerung an einen Genuss oder die Wollust der Reue. Der einzige Weg, sich einer Versuchung zu entledigen, ist, ihr nachzugeben. Widerstehe, und deine Seele wird krank vor Sehnsucht nach den Dingen, die sie sich selbst verboten hat, vor Verlangen nach dem, was ihre widernatürlichen Gesetze für widernatürlich und ungesetzlich erklärt haben. Es heißt, die großen Weltereignisse fänden im Gehirn statt. Im Gehirn, und im Gehirn allein, geschehen auch die großen Sünden der Welt. Sie, Mr. Gray, Sie mit Ihrer rosenroten Jugend und Ihrer rosenweißen Unschuld, wurden selbst schon von Leidenschaften ergriffen, die Ihnen Angst machten, hatten Gedanken, die Sie mit Entsetzen erfüllten, Wachträume und Träume im Schlaf, die, wenn Sie nur daran denken, Ihre Wangen vor Scham erröten lassen könnten –«

»Halten Sie ein«, stammelte Dorian Gray, »halten Sie ein! Sie verwirren mich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Entgegnung auf Ihre Worte, aber ich kann sie nicht finden. Sagen Sie nichts. Lassen Sie mich nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, nicht nachzudenken.«

Nahezu zehn Minuten lang stand er da, reglos, mit geöffneten Lippen und eigenartig glänzenden Augen. Er war sich dunkel bewusst, dass völlig neue Einflüsse in seinem Innern am Werke waren. Doch ihm war, als wären sie tatsächlich von ihm selbst ausgegangen. Die wenigen Worte, die Basils Freund zu ihm gesagt hatte – zufällig gesprochene Worte zweifellos und voller willkürlicher Widersprüche –, hatten eine geheime Saite in ihm berührt, die bis dahin noch nie berührt worden war, die er nun jedoch in sonderbaren Schwingungen vibrieren und erbeben fühlte.

Musik hatte ihn ähnlich erregt. Musik hatte ihn schon so manches Mal aufgewühlt. Aber Musik war nicht so bestimmt. Sie erschuf keine neue Welt in uns, sondern eher ein neues Chaos. Worte! Bloße Worte! Wie schrecklich sie waren! Wie klar, wie lebendig, wie grausam! Man vermochte sich ihnen nicht zu entziehen. Und doch, welch heimtückischer Zauber lag in ihnen! Sie schienen imstande, formlosen Dingen plastische Gestalt zu verleihen, und eine eigene Musik zu besitzen, so süß wie die einer Viola oder Laute. Bloße Worte! Gab es etwas, das so wirklich war wie Worte?

Ja, in seiner Knabenzeit hatte es Dinge gegeben, die er nicht verstanden hatte. Jetzt verstand er sie. Mit einem Mal schien ihm das Leben glutrot gefärbt. Ihm war, als sei er durch Feuer gegangen. Warum hatte er es nicht gewusst?

Lord Henry beobachtete ihn mit seinem hintergründigen Lächeln. Er wusste genau, wann es psychologisch geboten war, nichts zu sagen. Er empfand größtes Interesse. Er war erstaunt über die unmittelbare Wirkung, die seine Worte gezeitigt hatten. Er musste an ein Buch denken, das er mit sechzehn gelesen hatte, ein Buch, das ihm viel enthüllte, was er vorher nicht gewusst hatte, und er fragte sich, ob Dorian Gray gerade eine ähnliche Erfahrung durchmachte. Er hatte lediglich einen Pfeil in die Luft geschossen. Hatte er ins Schwarze getroffen? Wie faszinierend der junge Mann war!

Hallward malte, ganz in seine Arbeit versunken, mit jenem ihm eigenen wunderbar kühnen Pinselstrich, der die wahre Feinheit und vollendete Zartheit besaß, welche, jedenfalls in der Kunst, nur aus Stärke erwachsen. Er hatte das Schweigen gar nicht wahrgenommen.

»Basil, ich habe keine Lust mehr, noch länger zu stehen«, rief Dorian Gray plötzlich. »Ich muss hinausgehen und mich in den Garten setzen. Die Luft hier drinnen ist zum Ersticken.«

»Mein lieber Junge, entschuldige bitte. Wenn ich male, kann ich an nichts anderes denken. Aber du bist noch nie besser gewesen. Du standest vollkommen still. Und ich habe den Effekt eingefangen, den ich wollte – die halbgeöffneten Lippen und den Glanz in deinen Augen. Ich weiß nicht, was Harry dir gesagt hat, aber er hat zweifellos bewirkt, dass dein Gesicht den wundervollsten Ausdruck annahm. Vermutlich hat er dir Komplimente gemacht. Du darfst nicht ein Wort von dem glauben, was er sagt.«

»Er hat mir keineswegs Komplimente gemacht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich nichts von dem glaube, was er mir erzählt hat.«

»Sie wissen, dass Sie alles glauben«, widersprach Lord Henry und sah ihn dabei mit seinen träumerischen, müde blickenden Augen an. »Ich gehe mit Ihnen in den Garten hinaus. Es ist grauenvoll heiß hier im Atelier. Basil, lass uns doch etwas Eisgekühltes zum Trinken bringen, etwas mit Erdbeeren drin.«

»Aber gewiss, Harry. Läute doch bitte, und wenn Parker kommt, sage ich ihm, was ihr haben wollt. Ich muss den Hintergrund noch ausarbeiten, deshalb werde ich erst später zu euch stoßen. Halte Dorian nicht zu lange auf. Ich war noch nie in besserer Form zum Malen als heute. Dies wird mein Meisterwerk werden. Es ist schon jetzt mein Meisterwerk.«

Lord Henry ging in den Garten hinaus und sah, wie Dorian Gray sein Gesicht in den großen kühlen Fliederblüten vergrub und begierig ihren Duft trank, als wäre es Wein. Er trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie tun vollkommen recht«, sagte er leise. »Nichts vermag die Seele zu heilen außer den Sinnen, wie auch nichts die Sinne zu heilen vermag außer der Seele.«

Der junge Mann zuckte zusammen und hob den Kopf. Er war barhäuptig, und die Blätter hatten seine widerspenstigen Locken in Unordnung gebracht und all ihre goldenen Fäden verwirrt. In seinen Augen lag ein verängstigter Blick wie bei jemandem, der plötzlich aus dem Schlaf schreckt. Seine feingeformten Nasenflügel bebten, und irgendein verborgener Nerv durchzuckte das Scharlachrot seiner Lippen und ließ sie erzittern.

»Ja«, fuhr Lord Henry fort, »das ist eines der großen Geheimnisse des Lebens – die Seele mit Hilfe der Sinne zu heilen und die Sinne mit Hilfe der Seele. Sie sind ein wundervolles Geschöpf. Sie wissen mehr, als Sie zu wissen glauben, geradeso wie Sie weniger wissen, als Sie wissen möchten.«

Dorian Gray runzelte die Stirn und wandte den Kopf ab. Er konnte nicht umhin, den großgewachsenen, eleganten jungen Mann, der neben ihm stand, zu mögen. Sein romantisches olivfarbenes Gesicht und der müde Ausdruck darin erregten sein Interesse. In dieser leisen, schleppenden Stimme lag etwas absolut Betörendes. Selbst seine kühlen, weißen, blumengleichen Hände hatten einen sonderbaren Reiz. Wenn er sprach, begleiteten sie seine Worte wie Musik und schienen eine eigene Sprache zu besitzen. Aber er empfand auch Angst vor ihm und schämte sich doch gleichzeitig seiner Angst. Warum blieb es einem Fremden vorbehalten, ihm sein Innerstes zu offenbaren? Er kannte Basil Hallward seit Monaten, aber ihre Freundschaft hatte ihn nicht im Geringsten verändert. Plötzlich war jemand in sein Leben getreten, der ihm das Geheimnis des Lebens geoffenbart zu haben schien. Und doch, wovor sollte er Angst haben? Er war kein Schuljunge und auch kein kleines Mädchen. Es war lächerlich, sich zu fürchten.

»Kommen Sie, wir wollen uns in den Schatten setzen«, sagte Lord Henry. »Parker hat die Getränke herausgebracht, und wenn Sie sich noch länger diesem grellen Sonnenlicht aussetzen, werden Sie sich den Teint verderben, und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich nicht von der Sonne bräunen lassen. Es stünde Ihnen nicht.«

»Was macht das schon?«, rief Dorian Gray lachend, während er sich auf der Bank am Ende des Gartens niederließ.

»Es sollte Ihnen sehr viel ausmachen, Mr. Gray.«

»Warum?«

»Weil Sie die wunderbarste Jugend besitzen, und Jugend ist das Einzige, das zu besitzen sich lohnt.«

»Das empfinde ich nicht so, Lord Henry.«

»Nein, jetzt empfinden Sie es noch nicht. Eines Tages aber, wenn Sie alt und runzelig und hässlich sind, wenn das Denken Ihre Stirn mit seinen Furchen gezeichnet und die Leidenschaft sich mit ihrer furchtbaren Glut in Ihre Lippen eingebrannt hat, werden Sie es empfinden, werden Sie es auf schreckliche Weise empfinden. Heute bezaubern Sie alle Welt, wo Sie auch hingehen. Wird es immer so sein? … Sie haben ein außergewöhnlich schönes Gesicht, Mr. Gray. Runzeln Sie nicht die Stirn. Es ist so. Und Schönheit ist eine Form von Genie – ja, steht noch höher als Genie, da sie keiner Erklärung bedarf. Sie gehört zu den großen Wahrheiten der Welt wie das Sonnenlicht oder der Frühling oder die Spiegelung jener Silbermuschel, die wir Mond nennen, in dunklen Wassern. Sie kann nicht in Frage gestellt werden. Sie hat das göttliche Recht auf unumschränkte Herrschaft. Sie macht jene zu Prinzen, die sie besitzen. Sie lächeln? Ach! Wenn Sie sie einmal verloren haben, werden Sie nicht mehr lächeln … Man hört zuweilen, Schönheit sei nur etwas Oberflächliches. Das mag sein. Aber wenigstens ist sie nicht so oberflächlich wie das Denken. Für mich ist Schönheit das Wunder der Wunder. Nur einfältige Menschen urteilen nicht nach dem Äußeren. Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare … Ja, Mr. Gray, die Götter haben es gut mit Ihnen gemeint. Doch was die Götter geben, das nehmen sie auch bald wieder. Es sind Ihnen nur wenige Jahre vergönnt, während derer Sie Ihr Leben wirklich, vollkommen und ausgiebig auskosten können. Wenn Ihre Jugend Sie verlässt, wird mit ihr auch die Schönheit schwinden, und dann werden Sie mit einem Mal entdecken, dass es keine Triumphe mehr für Sie gibt oder Sie sich mit jenen armseligen Triumphen zufriedengeben müssen, die die Erinnerung an Ihre Vergangenheit bitterer machen werden als Niederlagen. Jeder Monat, der ins Land geht, bringt Sie etwas Schrecklichem näher. Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und führt Krieg gegen Ihre Lilien und Ihre Rosen. Sie werden bleich und hohlwangig, Ihre Augen stumpf werden. Sie werden grauenvoll leiden … Ach! Nutzen Sie Ihre Jugend, solange Sie sie haben. Vergeuden Sie nicht das Gold Ihrer Tage, indem Sie langweiligem Geschwätz lauschen, den hoffnungslosen Versager zu bessern trachten oder Ihr Leben an das Beschränkte, das Gewöhnliche und das Gemeine wegwerfen. Dies sind die krankhaften Ziele, die falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das wunderbare Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich nichts entgehen! Suchen Sie fortwährend nach neuen Empfindungen. Haben Sie vor nichts Angst … Ein neuer Hedonismus – das ist es, was unser Jahrhundert braucht. Sie könnten sein sichtbares Symbol sein. Bei Ihrem Äußeren gibt es nichts, das Sie nicht tun könnten. Eine Saison lang gehört die Welt Ihnen … Vom ersten Augenblick an, als ich Sie sah, war mir klar, dass Sie gar nicht wussten, was Sie eigentlich sind, was Sie eigentlich sein könnten. Es gab so viel an Ihnen, das mich bezauberte, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste Ihnen etwas über Sie selbst erzählen. Ich dachte, wie tragisch es doch wäre, wenn Sie Ihre Möglichkeiten nicht nutzten. Denn Ihre Jugend wird nur von kurzer Dauer sein – von sehr kurzer Dauer. Die gemeinen Wiesenblumen welken, aber sie erblühen immer wieder aufs Neue. Der Goldregen wird im nächsten Juni genauso gelb sein wie jetzt. In einem Monat werden an der Klematis purpurne Sterne prangen, und Jahr um Jahr wird die grüne Nacht ihrer Blätter solche Purpursterne tragen. Wir indes bekommen unsere Jugend nie zurück. Der Pulsschlag der Freude, der mit zwanzig in uns pocht, wird träge. Unsere Gliedmaßen lassen uns im Stich, unsere Sinne verfaulen. Wir degenerieren zu grässlichen Marionetten, verfolgt von der Erinnerung an die Leidenschaften, vor denen wir zu große Angst hatten, und an die köstlichen Versuchungen, denen nachzugeben es uns an Mut fehlte. Jugend! Jugend! Es gibt absolut nichts, das auf der Welt zählt, außer der Jugend!«

Dorian Gray hörte mit weitgeöffneten Augen staunend zu. Der Fliederzweig entglitt seiner Hand und fiel auf den Kies. Eine pelzige Biene kam angeflogen und umschwirrte ihn einen Augenblick. Dann begann sie über die länglichen Rispen aus winzigen Blütensternen zu krabbeln. Er beobachtete sie mit jenem merkwürdigen Interesse an trivialen Dingen, das wir zu entwickeln trachten, wenn uns Dinge von größerer Tragweite Angst machen oder wenn wir von einer neuen Empfindung aufgewühlt werden, die wir nicht auszudrücken vermögen, oder wenn ein erschreckender Gedanke ohne Vorwarnung unser Hirn bestürmt und uns zur Kapitulation auffordert. Nach einer Weile flog die Biene davon. Er sah, wie sie in den gefleckten Trichter einer Tyrischen Winde kroch. Die Blume schien zu erbeben und schwang dann sacht hin und her.