Das Bildnis des Dorian Gray - Oscar Wilde - E-Book

Das Bildnis des Dorian Gray E-Book

Oscar Wilde

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Beschreibung

Oscar Wildes Dorian Gray ist eine der berühmtesten Figuren der Weltliteratur: So stauneswert schön er ist, so unverdorben und naiv ist sein Blick auf die Welt. Verführt durch den geistreichen Zyniker Lord Wotton, stürzt Dorian sich haltlos ins lüsterne Londoner Nachtleben. Ausschweifung und Genuss wecken in ihm den innigen Wunsch nach unvergänglicher Jugend - und auf wundersame Weise altert fortan nicht mehr er selbst, sondern ein Porträt von ihm. Doch Dorians unbedachter Pakt mit dunklen Mächten hat grausame Folgen...

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Oscar Wilde

Das Bildnis desDorian Gray

Aus dem Englischen vonMeike Breitkreutz

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Titel der englischen Originalausgabe: The Picture of Dorian Gray (London: Ward, Lock & Co. 1891). Die Übertragung von Meike Breitkreutz erschien zuerst in der zweisprachigen Ausgabe The Picture of Dorian Gray / Das Bildnis des Dorian Gray. Köln: Anaconda Verlag 2007.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2012 Anaconda Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Umschlagmotiv: Henri Lehmann (1814–1882), »Portrait of Franz Liszt« (1839),Musée de la Ville de Paris, Musée Carnavalet, Paris / Giraudon / www.bridgemanart.comUmschlaggestaltung:www.katjaholst.de

ISBN 978-3-7306-9153-3V002

www.anacondaverlag.de

INHALT

Die Vorrede

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Glossar

DIE VORREDE

Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.

Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen ist dieAufgabe der Kunst.

Der Kritiker ist der, der seinen Eindruck von schönen Dingen in eineandere Form oder in ein neues Material übertragen kann.

Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine Art Autobiografie.

Jene, die in schönen Dingen Hässlichkeit entdecken, sind verdorben,ohne anmutig zu sein. Das ist ein Fehler.

Jene, die in schönen Dingen Schönheit entdecken, sind kultiviert.Für sie besteht Hoffnung.

Das sind die Auserwählten, denen schöne Dinge einzig Schönheit bedeuten.

Es gibt kein moralisches oder unmoralisches Buch.

Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles.

Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus istdie Wut Kalibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht.

Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen dieRomantik ist die Wut Kalibans, der sein eigenes Gesichtnicht im Spiegel sieht.

Das moralische Leben des Menschen bildet einen Teil des Stoffgebietsdes Künstlers, doch die Moralität der Kunst besteht imvollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mittels.

Kein Künstler will etwas beweisen. Selbst Dinge, die wahr sind,können bewiesen werden.

Kein Künstler hat sittliche Vorlieben. Eine sittliche Vorliebebei einem Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.

Ein Künstler ist niemals unsittlich. Der Künstler kann alles ausdrücken.

Denken und Sprechen sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst.

Laster und Tugend sind für den Künstler Materialien einer Kunst.

Unter dem Gesichtspunkt der Form ist die Kunst des Musikers dieUrform aller Künste. Unter dem Gesichtspunkt des Gefühls ist dieSchauspielkunst die Urform.

Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol.

Jene, die sich unter die Oberfläche begeben, tun dies auf eigene Gefahr.

Jene, die das Symbol deuten, tun dies auf eigene Gefahr.

In Wirklichkeit spiegelt die Kunst den Betrachter und nicht dasLeben wider.

Meinungsvielfalt über ein Kunstwerk zeigt, dass das Werk neuartig,vielschichtig und lebendig ist.

Wenn die Kritiker uneins sind, steht der Künstler im Einklangmit sich selbst.

Wir können einem Menschen verzeihen, dass er etwas Nützlichesschafft, solange er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigungdafür, dass er etwas Nutzloses schafft, ist, dass man es zutiefst bewundert.

Alle Kunst ist völlig nutzlos.

OSCAR WILDE

KAPITEL 1

Das Atelier war von starkem Rosenduft erfüllt, und wenn der leichte Sommerwind die Bäume des Gartens hin und her wiegte, strömte durch die offene Tür das schwere Aroma des Flieders oder das zartere Parfum des Rotdorns.

Von der Ecke des Diwans aus persischem Satteltaschenstoff, auf dem er lag und wie gewöhnlich unzählige Zigaretten rauchte, konnte Lord Henry Wotton gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbenen Blüten eines Goldregens erspähen, dessen zitternde Zweige die Last ihrer flammengleichen Schönheit kaum zu tragen vermochten; dann und wann huschten die fantastischen Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen Vorhänge aus Tussahseide, die vor das riesige Fenster gezogen waren, was für einen Augenblick eine Art japanischer Stimmung erzeugte und ihn an die bleichen, jadegesichtigen Maler Tokios denken ließ, die mittels einer Kunst, die naturgemäß unbeweglich ist, den Eindruck von Schnelligkeit und Bewegung zu erwecken suchen. Das träge Summen der Bienen, die sich ihren Weg durch das hohe, ungemähte Gras bahnten oder mit eintöniger Beharrlichkeit um die staubig goldenen Blütenkelche des wuchernden Geißblatts kreisten, ließ die Stille noch drückender erscheinen. Das dumpfe Dröhnen Londons glich dem Basston einer fernen Orgel.

In der Mitte des Raumes, auf einer hoch aufgerichteten Staffelei befestigt, stand das lebensgroße Porträt eines jungen Mannes von außergewöhnlicher Schönheit, und ihm gegenüber, etwas entfernt davon, saß der Künstler selbst, Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren seinerzeit so viel Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt und zu so vielen seltsamen Vermutungen Anlass gegeben hatte.

Als der Maler die anmutige und hübsche Gestalt betrachtete, die er so meisterhaft in seiner Kunst widergespiegelt hatte, glitt ein vergnügtes Lächeln über seine Züge und schien dort verweilen zu wollen. Plötzlich aber fuhr er auf, schloss die Augen und legte seine Finger über die Lider, als wolle er in seinem Hirn einen seltsamen Traum einsperren, aus dem zu erwachen er fürchtete.

»Es ist deine beste Arbeit, Basil, das Beste, was du je gemacht hast«, sagte Lord Henry mit träger Stimme. »Du musst es nächstes Jahr unbedingt zur Grosvenor schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich. Jedes Mal, wenn ich dort war, waren entweder so viele Leute dort, dass ich die Bilder nicht sehen konnte, was schrecklich war, oder so viele Bilder, dass ich die Leute nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Die Grosvenor ist wirklich der einzig richtige Ort.«

»Ich glaube nicht, dass ich es überhaupt irgendwohin schicken werde«, antwortete er und warf seinen Kopf auf jene merkwürdige Art zurück, die bereits seine Freunde in Oxford immer zum Lachen gebracht hatte. »Nein, ich werde es nirgendwo hinschicken.«

Lord Henry hob die Augenbrauen und sah ihn durch die dünnen blauen Rauchkringel, die sich in fantastischen Wirbeln von seiner starken, opiumhaltigen Zigarette emporkräuselten, erstaunt an. »Es nirgendwo hinschicken? Aber warum nicht, mein Lieber? Hast du irgendeinen Grund dafür? Ihr Maler seid wirklich komische Kerle! Ihr tut alles in der Welt, um euch einen Namen zu machen. Sobald ihr ihn habt, scheint ihr ihn wieder loswerden zu wollen. Das ist töricht von dir, denn es gibt nur eine Sache auf der Welt, die schlimmer ist, als dass über einen geredet wird, nämlich, dass nicht über einen geredet wird. Ein Porträt wie dieses würde dich weit über alle jungen Männer in England erheben und die alten ziemlich eifersüchtig machen, sofern alte Männer überhaupt noch einer Gefühlsregung fähig sind.«

»Ich weiß, du wirst mich auslachen«, entgegnete er, »aber ich kann es wirklich nicht ausstellen. Ich habe zu viel von mir selbst hineingelegt.«

Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.

»Ja, ich wusste, du würdest lachen; aber es ist trotzdem wahr.«

»Zu viel von dir selbst darin! Auf mein Wort, Basil, ich wusste nicht, dass du so eitel bist; ich kann wirklich keinerlei Ähnlichkeit zwischen dir mit deinem derben, markanten Gesicht und deinem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis entdecken, der aussieht, als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Weshalb er, mein lieber Basil, ein Narziss ist, und du – nun, natürlich hast du ein gebildetes Aussehen und so weiter. Aber Schönheit, wahre Schönheit, hört da auf, wo ein gebildetes Aussehen anfängt. Verstand ist an sich schon eine Form der Übertreibung und zerstört die Ebenmäßigkeit jedes Gesichts. In dem Augenblick, da man sich hinsetzt, um zu denken, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder sonst etwas Grässliches. Sieh dir die Männer an, die in irgendeinem gelehrten Beruf Erfolg haben. Wie vollkommen hässlich sie sind! Bis auf die in der Kirche, natürlich. Aber in der Kirche denken sie ja auch nicht. Ein Bischof gibt noch mit achtzig Jahren dasselbe von sich, was ihm als achtzehnjährigem Jungen beigebracht wurde, und als natürliche Folge davon sieht er immer ganz wonnig aus. Dein geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir nie genannt hast, dessen Bild mich aber wahrhaftig fasziniert, denkt niemals. Da bin ich mir ganz sicher. Er ist irgendein hirnloses, schönes Geschöpf, das im Winter stets hier sein sollte, wenn wir keine Blumen zum Anschauen haben, und das im Sommer stets hier sein sollte, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres Geistes brauchen. Schmeichle dir nicht selbst, Basil, du hast nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm.«

»Du verstehst mich nicht, Harry«, antwortete der Künstler.

»Natürlich bin ich nicht wie er. Das weiß ich sehr wohl. Ich wäre sogar bekümmert, wenn ich so aussähe wie er. Du zuckst mit den Schultern? Ich sage dir die Wahrheit. Über jeder körperlichen und geistigen Auszeichnung schwebt ein Verhängnis, die Art von Verhängnis, die durch die Geschichte hindurch den schwankenden Schritten der Könige zu folgen scheint. Es ist besser, sich von seinen Mitmenschen nicht zu unterscheiden. Die Hässlichen und die Dummen haben es am besten auf dieser Welt. Sie können bequem dasitzen und das Schauspiel begaffen. Wenn sie auch nichts vom Sieg wissen, so bleibt ihnen wenigstens die Bekanntschaft mit der Niederlage erspart. Sie leben, wie wir alle leben sollten, ungestört, gleichgültig und ohne Sorge. Weder bringen sie Verderben über andere noch empfangen sie es von fremder Hand. Dein Rang und dein Reichtum, Harry; mein Verstand, soviel ich davon habe – meine Kunst, was immer sie wert sein mag; Dorian Grays blendendes Aussehen – wir alle werden unter dem, was uns die Götter mitgegeben haben, leiden, schrecklich leiden.«

»Dorian Gray? So heißt er?«, fragte Lord Henry und ging durch das Atelier auf Basil Hallward zu.

»Ja, so heißt er. Ich wollte dir seinen Namen eigentlich nicht sagen.«

»Warum denn nicht?«

»Ach, das kann ich nicht erklären. Wenn ich Menschen ganz besonders gern habe, verrate ich niemandem ihren Namen. Es ist, als gäbe ich einen Teil von ihnen preis. Ich habe eine Vorliebe für Geheimhaltung entwickelt. Sie scheint das Einzige zu sein, was unser Leben heutzutage noch geheimnisvoll und wunderbar machen kann. Das alltäglichste Ding wird reizvoll, wenn man es nur verbirgt. Wenn ich jetzt die Stadt verlasse, sage ich meinen Leuten nie, wohin ich gehe. Täte ich es, wäre mein ganzes Vergnügen dahin. Es ist eine törichte Gewohnheit, das gebe ich zu, aber irgendwie scheint sie ein großes Maß an Romantik ins Leben zu bringen. Vermutlich hältst du mich deswegen für schrecklich albern?«

»Nicht im Geringsten«, antwortete Lord Henry, »nicht im Geringsten, mein lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, dass ich verheiratet bin und dass der einzige Reiz der Ehe darin liegt, dass es für beide Parteien absolut notwendig ist, einander zu täuschen. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und meine Frau weiß nie, was ich treibe. Wenn wir uns treffen – wir treffen uns gelegentlich, wenn wir zusammen Essen gehen oder zum Herzog aufs Land fahren –, erzählen wir uns mit den ernsthaftesten Mienen die abwegigsten Geschichten. Meine Frau versteht sich vorzüglich darauf – ohne Frage viel besser als ich. Sie bringt ihre Termine nie durcheinander, ich hingegen ständig. Aber wenn sie mich ertappt, macht sie mir überhaupt keine Szene. Manchmal wünschte ich, sie täte es; aber sie lacht mich nur aus.«

»Ich verabscheue die Art, wie du über deine Ehe sprichst, Harry«, sagte Basil Hallward und schlenderte auf die Tür zu, die in den Garten führte. »Ich glaube, in Wirklichkeit bist du ein sehr guter Ehemann, schämst dich aber zutiefst deiner eigenen Tugenden. Du bist ein sonderbarer Bursche. Du sagst nie etwas Moralisches und tust nie etwas Schlechtes. Dein Zynismus ist lediglich eine Pose.«

»Natürlich zu sein ist lediglich eine Pose, und zwar die ärgerlichste Pose, die ich kenne«, rief Lord Henry lachend aus; die beiden jungen Männer gingen zusammen in den Garten und ließen sich auf einer langen Bambusbank nieder, die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand. Das Sonnenlicht glitt über die glänzenden Blätter. Weiße Gänseblümchen zitterten im Gras.

Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr hervor: »Ich fürchte, ich muss gleich gehen, Basil«, murmelte er, »und bevor ich gehe, bestehe ich darauf, dass du mir eine Frage beantwortest, die ich dir vorhin gestellt habe.«

»Welche denn?«, fragte der Maler, den Blick fest auf den Boden geheftet.

»Das weißt du ganz genau.«

»Ich weiß es nicht, Harry.«

»Nun, dann will ich’s dir sagen. Du sollst mir erklären, warum du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen willst. Ich will den wahren Grund dafür wissen.«

»Ich habe dir den wahren Grund bereits genannt.«

»Nein, das hast du nicht. Du hast gesagt, weil zu viel von dir selbst darin sei. Das ist doch kindisch.«

»Harry«, sagte Basil Hallward und sah ihm offen ins Gesicht, »jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt ist, ist ein Porträt des Künstlers, nicht des Modells. Das Modell ist lediglich der Anlass, die Gelegenheit. Nicht dieses wird vom Maler offenbart; es ist vielmehr der Maler, der sich auf der farbigen Leinwand selbst offenbart. Ich fürchte, das Geheimnis meiner eigenen Seele darin aufgedeckt zu haben, das ist der Grund, weshalb ich dieses Bild nicht ausstellen werde.«

Lord Henry lachte. »Und das wäre?«, fragte er.

»Ich will es dir erklären«, begann Hallward, doch ein Ausdruck von Ratlosigkeit legte sich über sein Gesicht.

»Ich bin ganz Ohr, Basil«, fuhr sein Freund fort und blickte ihn an.

»Ach, da gibt es wirklich nicht viel zu erzählen, Harry«, antwortete der Maler, »und ich fürchte, du wirst es kaum verstehen. Vielleicht wirst du es kaum glauben.«

Lord Henry lächelte, dann bückte er sich, um ein rosablättriges Gänseblümchen aus dem Gras zu pflücken, und betrachtete es. »Ich bin ganz sicher, dass ich es verstehen werde«, erwiderte er, den Blick aufmerksam auf das kleine goldene, weißgefiederte Rund gerichtet, »und was das Glauben von irgendwelchen Dingen angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, es ist unwahrscheinlich genug.«

Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen und die schwere Fliederflor mit ihren dicht gedrängten Sternen bewegte sich in der schwülen Luft hin und her. Ein Grashüpfer begann an der Gartenmauer zu zirpen und eine lange, schlanke Libelle schwebte wie ein blauer Faden auf ihren braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry war, als könne er Basil Hallwards Herz pochen hören, und er war gespannt, was wohl kommen mochte.

»Die Geschichte ist einfach die«, sagte der Maler nach einer Weile. »Vor zwei Monaten ging ich zu einem völlig überlaufenen Empfang bei Lady Brandon. Du weißt, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, dass wir keine Wilden sind. In Frack und Fliege, wie du mir einmal gesagt hast, kann selbst ein Börsenmakler in den Ruf eines zivilisierten Menschen kommen. Nun, nachdem ich mich etwa zehn Minuten in dem Raum aufgehalten und mit korpulenten, aufgeputzten adeligen Witwen und langweiligen Akademiemitgliedern geplaudert hatte, wurde mir plötzlich bewusst, dass mich jemand ansah. Ich wandte mich halb um und sah Dorian Gray zum ersten Mal. Als unsere Blicke sich trafen, spürte ich, dass ich blass wurde. Ein seltsames Gefühl von Angst überkam mich. Ich wusste, ich stand einem Menschen gegenüber, dessen bloße Persönlichkeit so faszinierend war, dass sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine ganze Natur, meine ganze Seele, ja, selbst meine Kunst an sich reißen würde. Ich wollte keinerlei äußeren Einfluss auf mein Leben. Du weißt selbst, Harry, wie unabhängig ich von Natur aus bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; war es zumindest immer gewesen, bis ich Dorian Gray traf. Dann – aber ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Etwas schien mir zu sagen, dass ich kurz vor einer schrecklichen Lebenskrise stand. Ich hatte das seltsame Gefühl, das Schicksal halte erlesene Freuden und erlesene Schmerzen für mich bereit. Mir wurde angst und bange und ich wandte mich zum Gehen. Es war nicht das Gewissen, was mich dazu trieb: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir nichts darauf ein, dass ich zu fliehen versuchte.«

»Gewissen und Feigheit sind in Wahrheit ein und dasselbe, Basil. Gewissen ist der eingetragene Name der Firma. Weiter nichts.«

»Das glaube ich nicht, Harry, und ich glaube, du ebenso wenig. Doch einerlei, was mein Beweggrund war – es mag Stolz gewesen sein, denn ich bin immer sehr stolz gewesen –, jedenfalls schlug ich mich zur Tür durch. Dort stieß ich natürlich mit Lady Brandon zusammen. ›Sie wollen doch nicht so zeitig davonlaufen, Mr. Hallward?‹, kreischte sie. Du kennst doch ihre merkwürdig schrille Stimme?«

»Ja, von der Schönheit abgesehen ist sie ein Pfau in allem«, sagte Lord Henry und zerpflückte das Gänseblümchen mit seinen langen, nervösen Fingern.

»Ich konnte sie nicht loswerden. Sie schleppte mich zu königlichen Hoheiten, zu Leuten mit Orden und Sternen und zu älteren Damen mit riesigen Diademen und Papageiennasen. Sie sprach von mir als von ihrem besten Freund. Ich war ihr zuvor erst einmal begegnet, aber sie hatte sich in den Kopf gesetzt, mich als Berühmtheit zu behandeln. Ich glaube, ein Bild von mir hatte damals gerade großen Erfolg gehabt oder zumindest war in den Abendzeitungen darüber geklatscht worden, was im neunzehnten Jahrhundert der Maßstab für Unsterblichkeit ist. Plötzlich fand ich mich dem jungen Mann gegenüber, dessen Erscheinung mich so sonderbar erregt hatte. Wir waren einander sehr nahe und berührten uns fast. Unsere Blicke trafen sich wieder. Es war unbesonnen von mir, aber ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Vielleicht war es letztlich doch nicht so unbesonnen. Es war einfach unumgänglich. Wir hätten auch ohne jede Vorstellung miteinander gesprochen, da bin ich mir sicher. Dorian sagte es mir später. Auch er spürte, dass wir dazu bestimmt waren, einander kennenzulernen.«

»Und wie hat Lady Brandon diesen wunderbaren jungen Mann beschrieben?«, fragte sein Freund. »Ich weiß, sie liebt es, ein rasches précis von jedem ihrer Gäste zu liefern. Ich erinnere mich, wie sie mich einmal einem grimmigen, rotgesichtigen alten Herrn vorstellte, der über und über mit Orden und Bändern bedeckt war, und mir in einem tragischen Flüsterton, der für jedermann im Zimmer hörbar gewesen sein muss, die erstaunlichsten Details ins Ohr zischte. Ich bin schlicht geflohen. Ich mache mir gern selbst ein Bild von den Leuten. Aber Lady Brandon behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator seine Waren behandelt. Entweder sie erklärt sie vollständig hinweg oder erzählt einem alles über sie, ausgenommen das, was man wissen will.«

»Arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie, Harry!«, sagte Hallward zerstreut.

»Mein lieber Freund, sie wollte einen salon gründen und schaffte es lediglich, ein Restaurant zu eröffnen. Wie könnte ich sie bewundern? Aber sag mir, was hat sie über Mr. Dorian Gray erzählt?«

»Ach, so etwas wie ›Entzückender Junge – die liebe arme Mutter und ich ganz unzertrennlich. Vergaß ganz, was er tut – fürchte, er – tut gar nichts – ach ja, spielt Klavier – oder war es Geige, lieber Mr. Gray?‹ Wir mussten beide lachen und wurden sofort Freunde.«

»Lachen ist durchaus kein schlechter Anfang für eine Freundschaft, und es ist bei Weitem ihr bestes Ende«, sagte der junge Lord und pflückte noch ein Gänseblümchen.

Hallward schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht, was Freundschaft ist, Harry«, murmelte er, »und ebenso wenig, was Feindschaft ist. Du hast alle Welt gern; mit anderen Worten: Dir sind alle gleichgültig.«

»Wie schrecklich ungerecht von dir!«, rief Lord Henry, schob seinen Hut in den Nacken und sah zu den Wölkchen empor, die wie aufgelöste Stränge glänzend weißer Seide über das Türkisgewölbe des Sommerhimmels zogen. »Ja, schrecklich ungerecht von dir. Ich mache große Unterschiede zwischen den Leuten. Ich wähle meine Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem guten Verstand. Bei der Wahl seiner Feinde kann ein Mann nicht vorsichtig genug sein. Ich habe keinen Einzigen, der ein Dummkopf ist. Es sind alles Leute mit gewissen geistigen Fähigkeiten und daher schätzen sie mich alle. Ist das sehr eitel von mir? Ich glaube, es ist ziemlich eitel.«

»Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Klassifizierung kann ich nur ein Bekannter sein.«

»Mein lieber alter Basil, du bist viel mehr als ein Bekannter.«

»Und viel weniger als ein Freund. Wohl so eine Art Bruder?«

»Oh, Brüder! Ich mache mir nichts aus Brüdern. Mein ältester Bruder will nicht sterben und meine jüngeren Brüder scheinen nichts anderes zu tun.«

»Harry!«, rief Basil missbilligend.

»Mein Lieber, ich meine es nicht ganz ernst. Aber ich kann mir nicht helfen, ich verabscheue meine Verwandten. Ich vermute, das kommt daher, dass keiner von uns andere Leute ausstehen kann, die dieselben Fehler haben wie wir. Ich habe durchaus Verständnis für die Wut der englischen Demokraten auf das, was sie die Laster der Oberschicht nennen. Die Massen spüren, dass Trunkenheit, Dummheit und Unmoral ihre besonderen Eigenarten sein sollten und dass jeder von uns, der sich zum Narren macht, in ihrem Revier wildert. Als der arme Southwark vor dem Scheidungsgericht stand, war ihre Empörung wirklich großartig. Und dennoch glaube ich kaum, dass mehr als zehn Prozent des Proletariats untadelig leben.«

»Ich stimme keinem einzigen Wort zu, das du gesagt hast, und, mehr noch, Harry, ich bin mir sicher, du auch nicht.«

Lord Henry strich sich über seinen spitzen braunen Bart und tippte mit einem quastenverzierten Stock aus Ebenholz gegen die Kappe seines Lackschuhs. »Wie englisch du bist, Basil! Diese Bemerkung hast du jetzt schon zum zweiten Mal gemacht. Wenn man einem echten Engländer eine Idee vorträgt – was immer leichtsinnig ist –, denkt er nicht im Traum daran zu erwägen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das Einzige, was ihm von Bedeutung scheint, ist, ob man selbst daran glaubt. Aber der Wert einer Idee hat nicht das Geringste mit der Aufrichtigkeit des Menschen zu tun, der sie ausspricht. Vielmehr ist es wahrscheinlicher, dass, je unaufrichtiger der Mensch ist, desto geistreicher die Idee sein wird, weil sie in diesem Fall weder von seinen Bedürfnissen und Wünschen noch von seinen Vorurteilen gefärbt sein wird. Ich habe allerdings nicht die Absicht, mit dir über Politik, Soziologie oder Metaphysik zu diskutieren. Mir sind Menschen lieber als Grundsätze, und Menschen ohne Grundsätze sind mir lieber als alles andere auf der Welt. Erzähle mir mehr von Dorian Gray. Wie oft siehst du ihn?«

»Jeden Tag. Ich könnte nicht glücklich sein, sähe ich ihn nicht jeden Tag. Er ist mir völlig unentbehrlich.«

»Wie merkwürdig! Ich dachte, du würdest dich nie für etwas anderes als für deine Kunst interessieren.«

»Er ist mir jetzt meine ganze Kunst«, sagte der Maler ernst. »Manchmal glaube ich, Harry, dass es nur zwei wichtige Zeitalter in der Weltgeschichte gibt. Das erste ist das Aufkommen eines neuen künstlerischen Ausdrucksmittels und das zweite das Auftreten einer neuen Persönlichkeit, ebenfalls in der Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war, das war das Gesicht des Antinoos für die spätgriechische Skulptur und das wird eines Tages das Gesicht Dorian Grays für mich sein. Es ist nicht nur, dass ich ihn male, zeichne, skizziere. Natürlich habe ich all das getan. Aber er ist weit mehr für mich als eine Person, die mir Modell sitzt. Ich will damit nicht sagen, dass ich unzufrieden bin mit den Porträts, die ich von ihm gemacht habe, oder dass seine Schönheit durch die Kunst nicht ausgedrückt werden kann. Es gibt nichts, was die Kunst nicht ausdrücken kann, und ich weiß: Was ich gemacht habe, seit ich Dorian Gray begegnet bin, ist gute Arbeit, ist die beste Arbeit meines Lebens. Aber auf seltsame Weise – ich frage mich, ob du mich verstehen wirst? – hat mir seine Persönlichkeit eine völlig neue Art der Kunst, einen völlig neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge anders, ich denke anders über sie. Ich kann jetzt das Leben in einer Weise nachbilden, die mir bisher verschlossen war. ›Ein Traum von Form in Tagen des Denkens‹ – wer hat das gesagt? Ich habe es vergessen; aber das ist Dorian Gray für mich geworden. Die bloße sichtbare Gegenwart dieses Jungen – denn für mich ist er kaum mehr als ein Junge, obwohl er in Wirklichkeit über zwanzig ist –, seine bloße sichtbare Gegenwart – ach! Ich frage mich, ob du dir vorstellen kannst, was all das bedeutet? Ohne es zu wissen zeigt er mir die Richtung einer neuen Schule auf, einer Schule, die bestimmt ist, die ganze Leidenschaft des romantischen Geistes und die gesamte Vollkommenheit des griechischen Geistes in sich zu tragen. Die Harmonie von Seele und Körper – wie viel ist das! In unserem Wahnsinn haben wir die beiden voneinander getrennt und haben einen Realismus begründet, der vulgär ist, und einen Idealismus, der leer ist. Harry! Wenn du nur wüsstest, was Dorian Gray mir bedeutet! Erinnerst du dich an die Landschaft, für die Agnew mir eine so gewaltige Summe geboten hat, von der ich mich aber nicht trennen wollte? Sie gehört zu dem Besten, was ich je gemacht habe. Und warum? Weil Dorian Gray neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein geheimnisvoller Einfluss ging von ihm auf mich über und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich in der einfachen Waldlandschaft das Wunder, nach dem ich immer gesucht und das ich nie gefunden hatte.«

»Basil, das ist außerordentlich! Ich muss Dorian Gray treffen.«

Hallward stand von der Bank auf und ging im Garten auf und ab. Nach einer Weile kam er zurück. »Harry«, sagte er, »Dorian Gray ist nur ein Kunstmotiv für mich. Vielleicht sähest du gar nichts in ihm. Ich sehe alles in ihm. Er ist in meiner Arbeit niemals mehr gegenwärtig, als wenn kein Abbild von ihm darin ist. Er ist, wie ich sagte, die Anregung zu einem neuen Stil. Ich finde ihn in den Schwüngen gewisser Linien wieder, in der Schönheit und Zartheit gewisser Farben. Das ist alles.«

»Warum willst du dann sein Porträt nicht ausstellen?«, fragte Lord Henry.

»Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck all dieser merkwürdigen künstlerischen Vergötterung hineingelegt habe, von der ich ihm natürlich nie erzählt habe. Er weiß nichts davon. Er soll nie etwas davon erfahren. Aber die Welt könnte es erraten; und ich will meine Seele nicht vor ihren oberflächlichen, neugierigen Augen entblößen. Mein Herz soll nie unter ihr Mikroskop kommen. Es ist zu viel von mir selbst in dieser Arbeit, Harry – zu viel von mir selbst.«

»Dichter sind nicht so gewissenhaft wie du. Sie wissen, wie sehr Leidenschaft einer Publikation nützt. Heutzutage bringt ein gebrochenes Herz viele Auflagen.«

»Dafür hasse ich sie!«, rief Hallward aus. »Ein Künstler sollte schöne Dinge schaffen, aber nichts von seinem eigenen Leben in sie hineinlegen. Wir leben in einer Zeit, in der Menschen Kunst als etwas begreifen, das dazu bestimmt sei, eine Art Autobiografie zu sein. Wir haben den abstrakten Sinn für Schönheit verloren. Eines Tages werde ich der Welt zeigen, was das ist; und aus diesem Grund soll die Welt mein Porträt von Dorian Gray niemals sehen.«

»Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will nicht mit dir streiten. Nur die geistig Verirrten streiten sich. Sag mir, hat Dorian Gray dich sehr gern?«

Der Maler überlegte einige Augenblicke. »Er mag mich«, antwortete er nach einer Weile. »Ich weiß, dass er mich mag. Natürlich schmeichle ich ihm schrecklich. Ich empfinde ein merkwürdiges Vergnügen dabei, ihm Dinge zu sagen, von denen ich weiß, dass es mir leidtun wird, sie geäußert zu haben. In der Regel ist er reizend zu mir, wir sitzen im Atelier und reden über tausend Dinge. Hin und wieder ist er allerdings schrecklich gedankenlos und es scheint ihm wahre Freude zu bereiten, mir weh zu tun. Dann fühle ich, Harry, dass ich meine ganze Seele an einen hingegeben habe, der sie behandelt wie eine Blume, die man sich ins Knopfloch steckt, wie ein kleines Schmuckstück zur Befriedigung seiner Eitelkeit, einen Zierrat für einen Sommertag.«

»Sommertage, Basil, neigen dazu, lang zu sein«, murmelte Lord Henry. »Vielleicht wirst du seiner eher überdrüssig als er deiner. Eine traurige Sache, wenn man sie bedenkt, aber es besteht kein Zweifel, dass Genie Schönheit überdauert. Das erklärt auch die Tatsache, warum wir solche Mühen auf uns nehmen, um uns übermäßig zu bilden. In dem wilden Kampf ums Dasein ersehnen wir etwas, das von Dauer ist, und deshalb füllen wir unser Hirn mit Unsinn und Fakten in der törichten Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten. Der wohl unterrichtete Mensch – das ist das moderne Ideal. Und der Geist dieses wohl unterrichteten Menschen ist etwas Grauenvolles. Er gleicht einem Trödelladen voller Ungeheuerlichkeiten und Staub, in dem alles über seinem wahren Wert ausgezeichnet ist. Jedenfalls glaube ich, dass du seiner zuerst überdrüssig wirst. Eines Tages wirst du deinen Freund anschauen und er wird dir ein wenig verzeichnet Vorkommen oder dir wird sein Farbton nicht gefallen oder sonst etwas. Du wirst ihm in deinem Herzen bittere Vorwürfe machen und ernsthaft glauben, dass er sich dir gegenüber sehr schlecht benommen hat. Wenn er dich das nächste Mal besucht, wirst du Vollkommen kühl und gleichgültig sein. Das wird sehr bedauerlich sein, denn es wird dich Verändern. Was du mir erzählt hast, ist eine richtige Romanze, eine Romanze der Kunst könnte man es nennen, und das Schlimmste an jeder Romanze ist, dass sie einen so unromantisch zurücklässt.«

»Harry, sprich nicht so. Solange ich lebe, wird Dorian Grays Persönlichkeit mich beherrschen. Du kannst nicht empfinden, was ich empfinde. Du bist zu wankelmütig.«

»Oh, mein lieber Basil, gerade darum kann ich es nachempfinden. Treue Menschen kennen nur die triviale Seite der Liebe: Allein die Treulosen kennen die Tragödien der Liebe.« Und Lord Henry entzündete an einem zierlichen Silberetui ein Streichholz und begann mit selbstbewusster und zufriedener Miene eine Zigarette zu rauchen, als hätte er die Welt in einem Satz zusammengefasst. In den grün glänzenden Efeublättern vernahm man das Geraschel zwitschernder Spatzen und die blauen Wolkenschatten jagten einander wie Schwalben über den Rasen. Wie angenehm war es doch im Garten! Und wie reizvoll waren die Gefühlsregungen anderer Leute! – Viel reizvoller als ihre Gedanken, so schien es ihm. Die eigene Seele und die Leidenschaften der Freunde – das waren die faszinierenden Dinge im Leben. Er stellte sich mit stillem Vergnügen das langweilige Mittagessen vor, das er versäumt hatte, weil er so lange bei Basil Hallward geblieben war. Wäre er zu seiner Tante gegangen, hätte er dort sicher Lord Goodbody getroffen und die ganze Unterhaltung hätte sich um die Armenspeisung und die Notwendigkeit von vorbildlichen Wohnheimen gedreht. Jeder Stand hätte die Bedeutung jener Tugenden gepredigt, für die er in seinem eigenen Leben keine Verwendung hatte. Der Reiche hätte vom Wert der Sparsamkeit gesprochen und der Müßiggänger hätte sich beredt über die Würde der Arbeit ausgelassen. Es war herrlich, all dem entgangen zu sein! Als er an seine Tante dachte, schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er wandte sich an Hallward und sagte: »Mein Lieber, gerade fiel es mir ein.«

»Fiel dir was ein, Harry?«

»Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.«

»Wo war das?«, fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.

»Schau nicht so grimmig drein, Basil. Es war bei meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie habe einen wunderbaren jungen Mann aufgetan, der sie im East End unterstützen wolle, und sein Name sei Dorian Gray. Ich muss zugeben, sie hat mir nie erzählt, dass er gut aussieht. Frauen wissen gutes Aussehen nicht zu schätzen, zumindest ehrbare Frauen nicht. Sie sagte, dass er sehr ernsthaft sei und ein edles Wesen habe. Ich stellte mir natürlich sofort ein Geschöpf mit Brille und strähnigem Haar vor, schrecklich sommersprossig und auf riesigen Füßen daherstapfend. Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass es sich um deinen Freund handelte.«

»Ich bin sehr froh, dass du es nicht wusstest, Harry.«

»Warum?«

»Ich will nicht, dass du ihn kennenlernst.«

»Du willst nicht, dass ich ihn kennenlerne?«

»Nein.«

»Mr. Dorian Gray ist im Atelier«, sagte der Butler, der in den Garten hinaustrat.

»Jetzt musst du mich vorstellen!«, rief Lord Henry lachend.

Der Maler wandte sich seinem Diener zu, der blinzelnd im Sonnenlicht stand. »Bitten Sie Mr. Gray zu warten, Parker: Ich komme in ein paar Minuten.« Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus zurück.

Dann sah er Lord Henry an. »Dorian Gray ist mein teuerster Freund«, sagte er. »Er hat ein schlichtes und edles Wesen. Deine Tante hatte ganz recht mit dem, was sie über ihn sagte. Verdirb ihn nicht. Versuche nicht, ihn zu beeinflussen. Dein Einfluss wäre schlecht. Die Welt ist groß und es gibt viele wunderbare Menschen in ihr. Nimm mir nicht den einzigen Menschen, der meiner Kunst allen Zauber verleiht, den sie besitzt: Mein Leben als Künstler hängt von ihm ab. Denke daran, Harry, ich vertraue dir.« Er sprach sehr langsam und die Worte schienen sich ihm fast gegen seinen Willen zu entringen.

»Was für einen Unsinn du redest!«, sagte Lord Henry lächelnd, nahm Hallward beim Arm und zog ihn beinahe ins Haus.

KAPITEL 2

Als sie eintraten, erblickten sie Dorian Gray. Er saß am Klavier, hatte ihnen den Rücken zugewandt und blätterte in einem Band mit Schumanns Waldszenen. »Die musst du mir leihen, Basil«, rief er. »Ich möchte sie einstudieren. Sie sind einfach bezaubernd.«

»Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute Modell stehst, Dorian.«

»Ach, ich habe das Modellstehen satt und ich will gar kein lebensgroßes Porträt von mir«, antwortete der junge Mann und drehte sich widerspenstig und launisch auf dem Klavierhocker herum.

Als er Lord Henry erblickte, färbte eine leichte Röte für einen Augenblick seine Wangen und er sprang auf. »Ich bitte um Verzeihung, Basil, aber ich wusste nicht, dass jemand bei dir ist.«

»Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter Freund aus Oxforder Tagen. Ich habe ihm gerade erzählt, was für ein hervorragendes Modell du bist, und jetzt hast du alles verdorben.«

»Mein Vergnügen, Sie kennenzulernen, haben Sie nicht verdorben, Mr. Gray«, sagte Lord Henry, der vortrat und die Hand ausstreckte. »Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen. Sie sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, auch eines ihrer Opfer.«

»Ich stehe zur Zeit auf Lady Agathas schwarzer Liste«, antwortete Dorian mit schelmisch reuevollem Blick. »Ich hatte versprochen, sie am letzten Dienstag zu einem Klub in Whitechapel zu begleiten, und habe das Ganze völlig vergessen. Wir hätten vierhändig zusammen spielen sollen – drei Stücke, glaube ich. Ich weiß nicht, was sie mir sagen wird. Ich fürchte mich zu sehr, um sie aufzusuchen.«

»Ach, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie ist Ihnen äußerst zugetan. Und ich glaube nicht, dass es eine große Rolle spielt, dass Sie nicht dort waren. Dem Publikum kam es wahrscheinlich so vor, als sei vierhändig gespielt worden. Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht sie Lärm genug für zwei.«

»Das ist sehr abscheulich ihr gegenüber und nicht sehr schmeichelhaft für mich«, antwortete Dorian lachend.

Lord Henry sah ihn an. Ja, er war in der Tat außerordentlich hübsch mit seinen fein geschwungenen scharlachroten Lippen, seinen offenen blauen Augen, seinem gewellten, goldblonden Haar. In seinen Gesichtszügen war etwas, das sofort Vertrauen erweckte. Die ganze Aufrichtigkeit der Jugend lag darin und ebenso die ganze leidenschaftliche Reinheit der Jugend. Man spürte, dass er sich von der Welt unbefleckt bewahrt hatte. Kein Wunder, dass Basil Hallward ihn anbetete.

»Sie sind viel zu bezaubernd, um sich mit Philanthropie abzugeben, Mr. Gray – viel zu bezaubernd!« Lord Henry ließ sich auf den Diwan fallen und öffnete sein Zigarettenetui.

Der Maler war damit beschäftigt gewesen, seine Farben zu mischen und seine Pinsel bereitzulegen. Er sah beunruhigt aus und als er Lord Henrys letzte Bemerkung hörte, warf er ihm einen Blick zu, zögerte einen Augenblick und sagte dann: »Harry, ich möchte dieses Bild heute fertigstellen. Fändest du es sehr unhöflich von mir, wenn ich dich bäte zu gehen?«

Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. »Soll ich gehen, Mr. Gray?«, fragte er.

»Oh, bitte nicht, Lord Henry. Ich sehe, dass Basil wieder einmal schlechte Laune hat, und ich kann ihn nicht ausstehen, wenn er schmollt. Außerdem möchte ich, dass Sie mir erklären, warum ich mich nicht mit Philanthropie abgeben soll.«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Mr. Gray. Es ist ein so langweiliges Thema, dass man darüber ernsthaft reden müsste. Aber selbstverständlich werde ich nicht davonlaufen, nachdem Sie mich gebeten haben zu bleiben. Es macht dir doch nicht wirklich etwas aus, Basil, oder? Du hast mir oft gesagt, es gefalle dir, wenn deine Modelle jemanden zum Plaudern haben.«

Hallward biss sich auf die Lippen. »Wenn Dorian es wünscht, musst du natürlich bleiben. Dorians Launen sind Gesetz für jedermann, außer für ihn selbst.«

Lord Henry nahm seinen Hut und seine Handschuhe. »Du bist sehr hartnäckig, Basil, aber ich fürchte, ich muss gehen. Ich habe einem Herrn versprochen, ihn im Orleans zu treffen. Auf Wiedersehen, Mr. Gray. Besuchen Sie mich doch einmal nachmittags in der Curzon Street. Um fünf Uhr bin ich fast immer zu Hause. Schreiben Sie mir, wann Sie kommen. Es täte mir leid, Sie zu verfehlen.«

»Basil«, rief Dorian Gray, »wenn Lord Henry Wotton geht, dann gehe ich auch. Du machst nie den Mund auf, während du malst, und es ist entsetzlich langweilig, auf einem Podest zu stehen und zu versuchen, freundlich dreinzublicken. Bitte ihn zu bleiben. Ich bestehe darauf.«

»Bleib, Harry, Dorian zuliebe und mir zuliebe«, sagte Hallward, den Blick aufmerksam auf sein Bild gerichtet. »Es ist schon wahr, ich spreche nie, wenn ich arbeite, und höre auch nicht zu, und das muss schrecklich langweilig für meine bedauernswerten Modelle sein. Ich bitte dich zu bleiben.«

»Aber was ist mit meiner Verabredung im Orleans?«

Der Maler lachte. »Ich denke nicht, dass es damit irgendein Problem geben wird. Setz dich wieder, Harry. Und jetzt, Dorian, geh auf das Podest und bewege dich nicht zuviel und achte nicht auf das, was Lord Henry sagt. Er hat einen sehr schlechten Einfluss auf alle seine Freunde, mich allein ausgenommen.«

Dorian Gray bestieg das Podest mit der Miene eines jungen griechischen Märtyrers und zog einen kleinen, missvergnügten Schmollmund in Lord Henrys Richtung, zu dem er eine gewisse Zuneigung gefasst hatte. Er war so ganz anders als Basil. Sie bildeten einen reizvollen Gegensatz. Und er hatte eine so schöne Stimme. Nach ein paar Augenblicken sagte er zu ihm: »Haben Sie wirklich einen sehr schlechten Einfluss, Lord Henry? Einen so schlechten, wie Basil behauptet?«

»So etwas wie einen guten Einfluss gibt es nicht, Mr. Gray. Jeder Einfluss ist unmoralisch – unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus.«

»Warum?«

»Weil einen Menschen zu beeinflussen bedeutet, ihm seine eigene Seele zu geben. Er denkt nicht mehr seine natürlichen Gedanken oder wird nicht mehr von seinen natürlichen Leidenschaften entflammt. Seine Tugenden erscheinen ihm unwirklich. Seine Sünden, falls es so etwas wie Sünden überhaupt gibt, sind geborgt. Er wird zum Echo der Musik eines anderen, zum Schauspieler einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Das Ziel des Lebens ist Selbstentfaltung. Das eigene Wesen vollkommen zu verwirklichen – dazu ist jeder von uns hier. Die Menschen haben heutzutage Angst vor sich selbst. Sie haben die höchste aller Pflichten vergessen, die Pflicht, die man sich selbst schuldet. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren den Hungernden und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen hungern und sind nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht abhanden gekommen. Vielleicht haben wir nie wirklich welchen besessen. Die Furcht vor der Gesellschaft, das ist die Grundlage der Moral, die Furcht vor Gott, das ist das Geheimnis der Religion – dies sind die beiden Dinge, die uns beherrschen. Und doch –«

»Dreh einmal deinen Kopf ein wenig mehr nach rechts, Dorian, sei ein braver Junge«, sagte der Maler, der ganz in seine Arbeit vertieft war und nur merkte, dass in das Gesicht des jungen Mannes ein Ausdruck getreten war, den er vorher nie an ihm gesehen hatte.

»Und doch«, fuhr Lord Henry mit seiner leisen, musikalischen Stimme und mit jener anmutigen Handbewegung fort, die von jeher charakteristisch für ihn war und die er bereits in Eton an sich gehabt hatte, »ich glaube, wenn ein einziger Mensch sein Leben voll und ganz auslebte, jedem Gefühl Gestalt, jedem Gedanken Ausdruck, jedem Traum Wirklichkeit verliehe – ich glaube, die Welt erhielte einen derartig frischen Impuls der Freude, dass wir das gesamte Siechtum des mittelalterlichen Geistes vergäßen und zum hellenischen Ideal zurückkehrten – vielleicht sogar zu etwas Edlerem und Reicherem als dem hellenischen Ideal. Aber der Mutigste unter uns hat Angst vor sich selbst. Die Selbstverstümmelung des Wilden findet ihre tragische Fortsetzung in der Selbstverleugnung, die unser Leben zerstört. Wir werden bestraft für unsere Entsagungen. Jeder Trieb, den wir zu ersticken suchen, nistet weiter in unserer Seele und vergiftet uns. Der Körper sündigt einmal und hat dann mit seiner Sünde abgeschlossen, denn Tat ist immer eine Form der Läuterung. Nichts bleibt dann zurück außer der Erinnerung an eine Lust oder der köstliche Schmerz einer Reue. Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr zu erliegen. Widerstehe ihr, und deine Seele wird krank vor Sehnsucht nach den Dingen, die sie sich selbst verboten hat, vor Verlangen nach dem, was ihre ungeheuerlichen Gesetze zu etwas Ungeheuerlichem und Ungesetzlichem gemacht haben. Es heißt, dass die großen Ereignisse der Welt im Kopf stattfinden. Im Kopf, und im Kopf allein, vollziehen sich auch die großen Sünden der Welt. Sie, Mr. Gray, Sie selber mit Ihrer rosenroten Jugend und Ihrer Knabenhaftigkeit, die weißen Rosen gleicht, Sie haben bereits Leidenschaften erlebt, die Ihnen Angst machten, Vorstellungen, die Sie mit Schrecken erfüllten, Tagträume und Träume der Nacht, die, wenn sie nur daran denken, Ihre Wangen vor Scham verfärben könnten –«

»Hören Sie auf«, stammelte Dorian Gray, »hören Sie auf! Sie verwirren mich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort auf Ihre Worte, aber ich kann sie nicht finden. Sagen Sie nichts. Lassen Sie mich nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, nicht nachzudenken.«

Fast zehn Minuten lang stand er da, reglos, mit geöffneten Lippen und seltsam glänzenden Augen. Er war sich vage bewusst, dass vollkommen neue Einflüsse in ihm am Werk waren. Und doch schienen sie eigentlich aus seinem Innersten gekommen zu sein. Die wenigen Worte, die Basils Freund zu ihm gesagt hatte – zufällig gesprochene Worte, zweifellos, und voll absichtlichem Widerspruch –, hatten eine geheime Saite in ihm berührt, die nie zuvor berührt worden war, die er aber jetzt in seltsamem Takt vibrieren und pulsieren fühlte.

Musik hatte ihn ähnlich aufgewühlt. Musik hatte ihn oft in Aufruhr gebracht. Aber Musik war nicht fassbar. Sie erschuf keine neue Welt, sondern eher ein neues Chaos in uns. Worte! Bloße Worte! Wie schrecklich sie waren! Wie klar und lebendig und grausam! Man konnte ihnen nicht entrinnen. Und doch, welch verborgener Zauber lag in ihnen! Sie schienen imstande, formlosen Dingen eine greifbare Gestalt zu geben und eine eigene Musik zu besitzen, so süß wie die einer Gambe oder Laute. Bloße Worte! Gab es etwas, das so wirklich war wie Worte?

Ja; in seiner Kindheit hatte es Dinge gegeben, die er nicht verstanden hatte. Jetzt verstand er sie. Das Leben trug für ihn plötzlich glühende Farben. Ihm war, als sei er durch Feuer gegangen. Warum hatte er es nicht gewusst?

Lord Henry beobachtete ihn mit seinem feinen Lächeln. Er wusste um den exakten psychologischen Moment, in dem man nichts sagen darf. Er empfand höchstes Interesse. Er war erstaunt über die unmittelbare Wirkung, die seine Worte hervorgerufen hatten, er dachte an ein Buch, das er mit sechzehn gelesen hatte, ein Buch, das ihm vieles enthüllt hatte, was er bis dahin nicht gewusst hatte, und fragte sich, ob Dorian Gray gerade eine ähnliche Erfahrung durchlief. Er hatte nur einen Pfeil in die Luft geschossen. Hatte er ins Schwarze getroffen? Wie faszinierend der junge Mann war!

Hallward malte mit dem ihm eigenen wunderbar kühnen Pinselstrich weiter, der jene wahre Feinheit und vollkommene Zartheit besaß, die, in der Kunst jedenfalls, aus Stärke erwachsen. Er hatte das Schweigen gar nicht bemerkt.

»Basil, ich habe genug vom Stehen!«, rief Dorian Gray plötzlich. »Ich muss hinaus und mich im Garten hinsetzen. Die Luft hier ist zum Ersticken.«

»Mein Lieber, das tut mir wirklich leid. Wenn ich male, kann ich an nichts anderes denken. Aber du hast nie besser Modell gestanden. Du warst vollkommen ruhig. Und ich habe die Wirkung eingefangen, die ich wollte – die halb geöffneten Lippen und der Glanz in den Augen. Ich weiß nicht, was Harry zu dir gesagt hat, aber er hat auf jeden Fall bewirkt, dass du diesen äußerst wunderbaren Ausdruck hattest. Ich nehme an, er hat dir Komplimente gemacht. Du darfst nicht ein einziges Wort glauben, das er sagt.«

»Er hat mir keineswegs Komplimente gemacht. Vielleicht ist das der Grund, warum ich nichts von dem glaube, was er mir erzählt hat.«

»Sie wissen, dass Sie alles glauben«, sagte Lord Henry, der ihn mit versonnenem, trägem Blick ansah. »Ich werde mit Ihnen in den Garten hinausgehen. Es ist schrecklich heiß im Atelier. Basil, lass uns etwas Eisgekühltes zum Trinken bringen, etwas mit Erdbeeren darin.«

»Gewiss, Harry. Läute einfach die Glocke, und wenn Parker kommt, werde ich ihm sagen, was ihr haben wollt. Ich muss noch diesen Hintergrund ausarbeiten, deshalb werde ich mich euch erst später anschließen. Halte Dorian nicht zu lange auf. Ich war nie in besserer Form zum Malen als heute. Dies wird mein Meisterwerk werden. Es ist schon mein Meisterwerk, wie es da steht.«

Lord Henry ging in den Garten hinaus und sah, wie Dorian Gray sein Gesicht in den großen, kühlen Fliederblüten vergrub und fieberhaft ihren Duft trank, als wäre es Wein. Er trat nahe an ihn heran und legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Sie haben ganz recht, das zu tun«, murmelte er. »Nichts kann die Seele heilen als die Sinne, genauso wie nichts die Sinne heilen kann als die Seele.«

Der junge Mann schreckte auf und wich zurück. Er war barhäuptig, die Blätter hatten seine widerspenstigen Locken durcheinander gebracht und all ihre goldenen Strähnen verwirrt. In seinen Augen lag ein Ausdruck von Furcht, wie Menschen ihn haben, wenn sie jäh aufgeweckt werden. Seine fein geformten Nasenflügel bebten und irgendein verborgener Nerv durchzuckte das Scharlachrot seiner Lippen und ließ sie erzittern.

»Ja«, fuhr Lord Henry fort, »das ist eines der großen Geheimnisse des Lebens – die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele zu heilen. Sie sind ein wunderbares Geschöpf. Sie wissen mehr, als Sie glauben zu wissen, genauso wie Sie weniger wissen, als Sie möchten.«

Dorian Gray runzelte die Stirn und wandte seinen Kopf ab. Er konnte nicht umhin, den hochgewachsenen, eleganten jungen Mann, der neben ihm stand, zu mögen. Sein romantisches, olivfarbenes Gesicht und der abgespannte Ausdruck darin zogen ihn an. Es war etwas in seiner leisen, trägen Stimme, was einen völlig in Bann schlug. Selbst seine kühlen, weißen, blumengleichen Hände hatten einen seltsamen Reiz. Wenn er sprach, bewegten sie sich wie Musik und schienen eine eigene Sprache zu besitzen. Aber er empfand Angst vor ihm und zugleich schämte er sich dieser Angst. Warum war es einem Fremden Vorbehalten geblieben, ihn sich selbst zu offenbaren? Er kannte Basil Hallward seit Monaten, aber die Freundschaft zwischen ihnen hatte ihn überhaupt nicht verändert. Nun war plötzlich jemand in sein Leben getreten, der ihm das Geheimnis des Lebens aufgedeckt zu haben schien. Und doch, wovor sollte er Angst haben? Er war kein Schuljunge oder ein Mädchen. Es war töricht, sich zu fürchten.