Das Bildnis des Dorian Gray - Oscar Wilde - E-Book

Das Bildnis des Dorian Gray E-Book

Oscar Wilde

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Beschreibung

Für den Müßiggänger Dorian Gray wird der ewige Menschheitstraum wahr: Er kann nicht altern. Stattdessen altert sein gemaltes Porträt. Sein Aussehen ebnet ihm den gesellschaftlichen Erfolg, Jahr ums Jahr zieht ins Land, aber Dorian Gray bleibt der begehrenswerte, blendend aussehende Jüngling. Während er immer maßloser und grausamer wird, bleibt sein Äußeres jung und makellos schön. Nur der Maler seines Bildes schöpft Verdacht, zu wunderlich scheint ihm Grays Alterslosigkeit. Das Geheimnis droht entdeckt zu werden. "Das Bildnis des Dorian Gray" ("The Picture of Dorian Gray") ist der einzige Roman des irischen Schriftstellers Oscar Wilde. Das seinerzeit als anrüchig geltende Werk war auch Gegenstand des Unzuchtprozesses gegen Wilde. Der Roman gilt als Oscar Wildes Hauptwerk und ist ein Klassiker der Weltliteratur. Null Papier Verlag

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Oscar Wilde

Das Bildnis des Dorian Gray

Oscar Wilde

Das Bildnis des Dorian Gray

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Herausgeber: J. SchulzeÜbersetzung: Hedwig Lachmann, Gustav Landauer EV: Insel-Verlag, Leipzig, 1914 3. Auflage, ISBN 978-3-954180-84-4

null-papier.de/151

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Inhaltsverzeichnis

Vor­wort zu Do­ri­an Gray

Das Buch

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

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Vorwort zu Dorian Gray

Der Künst­ler ist der Schöp­fer schö­ner Din­ge.

Die Kunst zu of­fen­ba­ren und den Künst­ler zu ver­ste­cken ist die Auf­ga­be der Kunst.

Der Kri­ti­ker ist der, der sei­nen Ein­druck von schö­nen Din­gen in eine neue Form oder ein neu­es Ma­te­ri­al über­tra­gen kann. Die höchs­te wie die nie­ders­te Form der Kri­tik ist eine Art Selbst­bio­gra­fie.

Wer häss­li­chen Sinn in schö­nen Din­gen fin­det, ist ver­derbt, ohne An­mut zu ha­ben. Das ist ein Feh­ler.

Wer schö­nen Sinn in schö­nen Din­gen fin­det, ge­hört zum Rei­che der Kul­tur. Für ihn ist Hoff­nung.

Die sind die Au­ser­wähl­ten, de­nen schö­ne Din­ge ein­zig Schön­heit be­deu­ten.

So et­was wie ein mo­ra­li­sches oder un­mo­ra­li­sches Buch gibt es nicht. Bü­cher sind gut ge­schrie­ben oder schlecht ge­schrie­ben, wei­ter nichts.

Das Miss­fal­len des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts am Rea­lis­mus ist die Wut Ka­li­bans, der sein ei­ge­nes Ge­sicht im Spie­gel sieht.

Das Miss­fal­len des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts an der Ro­man­tik ist die Wut Ka­li­bans, der sein ei­ge­nes Ge­sicht nicht im Spie­gel sieht.

Das mo­ra­li­sche Le­ben des Men­schen bil­det einen Teil des Stoff­ge­biets des Künst­lers, aber die Mora­li­tät der Kunst be­steht im voll­kom­me­nen Ge­brauch ei­nes un­voll­kom­me­nen Mit­tels.

Kein Künst­ler will et­was be­wei­sen. Selbst Wahr­hei­ten kön­nen be­wie­sen wer­den.

Kein Künst­ler bat ethi­sche Sym­pa­thi­en. Eine ethi­sche Sym­pa­thie bei ei­nem Künst­ler ist eine un­ver­zeih­li­che Ma­nie­riert­heit des Stils.

Kein Künst­ler ist je de­ka­dent. Der Künst­ler kann al­les aus­drücken.

Den­ken und Spre­chen sind für den Künst­ler Mit­tel ei­ner Kunst.

Las­ter und Tu­gend sind für den Künst­ler Ma­te­ri­al ei­ner Kunst.

Vom Stand­punkt der Form ist das Ur­bild al­ler Küns­te die Kunst des Mu­si­kers. Vom Stand­punkt des Ge­fühls ist das Hand­werk des Schau­spie­lers das Ur­bild.

Alle Kunst ist zu­gleich Ober­flä­che und Sym­bol. Wer un­ter die Ober­flä­che geht, tut es auf ei­ge­ne Ge­fahr.

Wer das Sym­bol deu­tet, tut es auf ei­ge­ne Ge­fahr.

Den Be­schau­er und nicht das Le­ben spie­gelt die Kunst in Wahr­heit.

Mei­nungs­ver­schie­den­heit über ein Kunst­werk zeigt, dass das Werk neu, viel­fäl­tig und be­deu­tend ist.

Wenn die Kri­ti­ker un­eins sind, ist der Künst­ler ei­nig mit sich selbst.

Wir kön­nen ei­nem Men­schen ver­zei­hen, dass er et­was Nütz­li­ches ge­macht hat, so­lan­ge er es nicht be­wun­dert. Die ein­zi­ge Ent­schul­di­gung da­für, dass ei­ner et­was Nutz­lo­ses ge­macht hat, ist, dass man es sehr be­wun­dert.

Al­le Kunst ist völ­lig nutz­los.Os­car Wil­de

Das Buch

Für den Mü­ßig­gän­ger Do­ri­an Gray wird der ewi­ge Mensch­heits­traum wahr: Er kann nicht al­tern. Statt­des­sen al­tert sein ge­mal­tes Por­trät.

Sein Aus­se­hen eb­net ihm den ge­sell­schaft­li­chen Er­folg, Jahr ums Jahr zieht ins Land, aber Do­ri­an Gray bleibt der be­geh­rens­wer­te, blen­dend aus­se­hen­de Jüng­ling. Wäh­rend er im­mer maß­lo­ser und grau­sa­mer wird, bleibt sein Äu­ße­res jung und ma­kel­los schön.

Nur der Ma­ler sei­nes Bil­des schöpft Ver­dacht, zu wun­der­lich scheint ihm Grays Al­ters­lo­sig­keit. Das Ge­heim­nis droht ent­deckt zu wer­den.

„Das Bild­nis des Do­ri­an Gray“ („The Pic­ture of Do­ri­an Gray“) ist der ein­zi­ge Ro­man des iri­schen Schrift­stel­lers Os­car Wil­de. Das sei­ner­zeit als an­rü­chig gel­ten­de Werk war auch Ge­gen­stand des Un­zucht­pro­zes­ses ge­gen Wil­de.

Der Ro­man gilt als Os­car Wil­des Haupt­werk und ist ein Klas­si­ker der Welt­li­te­ra­tur.

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Erstes Kapitel

Star­ker Ro­sen­duft durch­ström­te das Ate­lier, und als ein leich­ter Som­mer­wind die Bäu­me im Gar­ten hin und her wieg­te, kam durch die of­fe­ne Tür der schwe­re Ge­ruch des Flie­ders oder der fei­ne­re Duft des Rot­dorns.

Von dem Per­ser­di­wan, auf dem er lag und nach sei­ner Ge­wohn­heit un­zäh­li­ge Zi­ga­ret­ten rauch­te, konn­te Lord Hen­ry Wot­ton ge­ra­de die süß­duf­ten­den und ho­nig­far­be­nen Blü­ten ei­nes Gold­re­gen­strauchs ge­wah­ren, des­sen zit­tern­de Zwei­ge die Last ei­ner so flam­men­den Schön­heit kaum tra­gen zu kön­nen schie­nen; und hie und da flitz­ten die fan­tas­ti­schen Schat­ten vor­bei­flie­gen­der Vö­gel über die lan­gen bast­sei­de­nen Vor­hän­ge des großen Fens­ters und brach­ten eine Art ja­pa­ni­sche Au­gen­blicks­wir­kung her­vor, so­dass ihm die blas­sen, ne­phrit­far­be­nen Ma­ler To­ki­os ein­fie­len, die ver­mit­telst ei­ner Kunst, die nicht an­ders als un­be­weg­lich sein kann, den Ein­druck der Rasch­heit und Be­we­gung her­vor­zu­ru­fen su­chen. Das sum­men­de Mur­ren der Bie­nen, die in dem lan­gen un­ge­mäh­ten Gras hin und her tau­mel­ten oder mit ein­tö­ni­ger Hart­nä­ckig­keit die stau­big­gol­de­nen Blü­ten­t­rich­ter des wu­chern­den Geiß­blatts um­kreis­ten, schie­nen die Stil­le noch drücken­der zu ma­chen. Das dump­fe Ge­tö­se Lon­d­ons klang wie das Schnarr­werk ei­ner ent­fern­ten Or­gel.

In der Mit­te des Ge­ma­ches stand auf ei­ner hoch auf­ge­rich­te­ten Staf­fe­lei das le­bens­große Por­trät ei­nes un­ge­wöhn­lich schö­nen jun­gen Man­nes, und ihm ge­gen­über, et­was ent­fernt da­von, saß der Künst­ler, der es ge­malt hat­te, Ba­sil Hall­ward, des­sen plötz­li­ches Ver­schwin­den vor ei­ni­gen Jah­ren das Pub­li­kum er­regt und so vie­le selt­sa­me Ver­mu­tun­gen er­weckt hat.

Als der Ma­ler auf die an­mu­ti­ge Ge­stalt blick­te, die er so schön in sei­ner Kunst ge­spie­gelt hat­te, über­flog ein Lä­cheln der Freu­de sei­ne Züge und schi­en auf ih­nen ver­wei­len zu wol­len. Aber er fuhr plötz­lich auf, schloss die Au­gen und drück­te die Li­der mit den Fin­gern zu, wie wenn er einen ab­son­der­li­chen Traum, des­sen Er­wa­chen er fürch­te­te, im Hir­ne ge­fan­gen hal­ten woll­te.

»Es ist dei­ne bes­te Ar­beit, Ba­sil, das Bes­te, was du je ge­macht hast«, sag­te Lord Hen­ry mit mü­der Stim­me. »Du musst es be­stimmt nächs­tes Jahr ins Gros­ve­nor schi­cken. Die Aka­de­mie-Aus­s­tel­lung ist zu groß und zu ge­wöhn­lich. Je­des Mal, wenn ich hin­ging, wa­ren ent­we­der so vie­le Men­schen da, dass ich die Bil­der nicht se­hen konn­te, und das war schreck­lich, oder so vie­le Bil­der, dass ich die Men­schen nicht se­hen konn­te, und das war noch schlim­mer. Das Gros­ve­nor ist wirk­lich der ein­zi­ge Ort, der in Fra­ge kommt.«

»Ich den­ke nicht dar­an, es über­haupt aus­zu­stel­len«, ant­wor­te­te der Ma­ler und warf den Kopf in der be­son­de­ren Art zu­rück, über die sei­ne Freun­de in Ox­ford so oft ge­lacht hat­ten. »Nein, ich stel­le es nir­gends aus.«

Lord Hen­ry zog die Brau­en hoch und blick­te ihn durch die dün­nen blau­en Rauch­gir­lan­den, die sich in fan­tas­ti­schen Win­dun­gen aus sei­ner schwe­ren, opi­um­ge­tränk­ten Zi­ga­ret­te em­por­kräu­sel­ten, er­staunt an. »Nir­gends aus­stel­len? Mein Lie­ber, warum? Hast du einen Grund? Was ihr Ma­ler für ku­rio­se Ker­le seid! Ihr tut al­les in der Welt, um be­rühmt zu wer­den. So­wie ihr es seid, scheint ihr des Ruhms über­drüs­sig. Das ist dumm von dir, denn es gibt nur ein Ding in der Welt, das schlim­mer ist, als dass über einen ge­re­det wird, näm­lich, dass nicht über einen ge­re­det wird. Ein Por­trät wie die­ses muss dich weit über alle jun­gen Leu­te in Eng­land he­ben und die Al­ten ganz nei­disch ma­chen – wenn alte Leu­te über­haupt ei­ner Ge­müts­be­we­gung fä­hig sind.«

»Ich weiß, du wirst mich aus­la­chen«, er­wi­der­te je­ner, »aber ich kann es wirk­lich nicht aus­stel­len. Ich habe zu viel von mir selbst hin­ein­ge­bracht.«

Lord Hen­ry streck­te sich auf dem Di­wan aus und lach­te. »Ja, ja, das wuss­te ich, aber es ist völ­lig wahr, trotz­dem.«

»Zu viel von dir soll dar­in sein! Auf mein Wort, Ba­sil, ich wuss­te nicht, dass du so ei­tel bist; ich kann wahr­haf­tig nicht die ge­rings­te Ähn­lich­keit zwi­schen dir mit dei­nem ecki­gen stren­gen Ge­sicht und dei­nen kohl­schwar­zen Haa­ren und die­sem jun­gen Ado­nis fin­den, der aus­sieht, als sei er aus El­fen­bein und Ro­sen­blät­tern ge­macht. Nein, lie­ber Ba­sil, er ist ein Nar­cis­sus, und du – nun, na­tür­lich hast du geis­ti­gen Aus­druck und so wei­ter. Aber Schön­heit, wah­re Schön­heit hört auf, wo geis­ti­ger Aus­druck an­fängt. Geist ist an sich eine Art Über­trie­ben­heit und zer­stört das Eben­maß je­des Ge­sichts. So­wie man sich ans Den­ken macht, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder der­art Gräss­li­ches. Be­trach­te die Män­ner, die in ir­gend­ei­nem ge­lehr­ten Be­ruf Er­folg hat­ten. Wie vollen­det häss­lich sind sie! Aus­ge­nom­men na­tür­lich die Män­ner der Kir­che. Aber in der Kir­che den­ken sie eben nicht. Ein Bi­schof bleibt da­bei, mit acht­zig Jah­ren das­sel­be zu sa­gen, was man ihm als acht­zehn­jäh­ri­gem Jun­gen bei­ge­bracht hat, und die na­tür­li­che Fol­ge ist, dass er im­mer ganz won­nig aus­sieht. Dein ge­heim­nis­vol­ler jun­ger Freund, des­sen Na­men du mir nie ge­sagt hast, des­sen Bild mich je­doch wahr­haft be­zau­bert, denkt nie­mals. Das ist mir ganz si­cher. Er ist so ein hirn­lo­ses, schö­nes Ge­schöpf, das wir im Win­ter im­mer ha­ben soll­ten, wenn es kei­ne Blu­men gibt, auf die wir bli­cken kön­nen, und im­mer im Som­mer, wenn wir et­was zur Ab­küh­lung un­se­res Geis­tes brau­chen. Schmeich­le dir nicht, Ba­sil: du hast nicht die min­des­te Ähn­lich­keit mit ihm.«

»Du ver­stehst mich nicht, Har­ry«, ant­wor­te­te der Künst­ler. »Na­tür­lich habe ich kei­ne Ähn­lich­keit mit ihm – das weiß ich sehr wohl. Ich wäre so­gar trau­rig, wenn ich so aus­sä­he wie er. Du zuckst die Ach­seln? Ich sage dir die Wahr­heit. Es schwebt ein Ver­häng­nis um alle kör­per­li­che und geis­ti­ge Aus­zeich­nung; die Art Ver­häng­nis, die in der gan­zen Ge­schich­te den schwan­ken­den Schrit­ten der Kö­ni­ge auf dem Fuße zu fol­gen scheint. Es ist bes­ser, sich nicht von sei­nen Ge­nos­sen zu un­ter­schei­den. Die Häss­li­chen und die Dum­men sind in die­ser Welt am bes­ten dar­an. Sie kön­nen be­hag­lich da­sit­zen und sorg­los dem Spiel zu­schau­en. Wenn sie nichts von Sie­gen wis­sen, so ist ih­nen da­für auch er­spart, Nie­der­la­gen ken­nen zu ler­nen. Sie le­ben, wie wir alle le­ben soll­ten: sorg­los, gleich­gül­tig und ohne Un­ru­he. Sie brin­gen über an­de­re kein Ver­der­ben und emp­fan­gen es auch nicht aus frem­den Hän­den. Dein Rang und dein Reich­tum, Har­ry; mein Hirn, wie es nun schon ist – mei­ne Kunst, sie mag wert sein, was sie will – Do­ri­an Grays schö­nes Äu­ße­re: wir wer­den alle drei un­ter dem lei­den, was uns die Göt­ter ge­ge­ben ha­ben, schreck­lich lei­den.«

»Do­ri­an Gray? So heißt er?« frag­te Lord Hen­ry und ging durch das Ate­lier auf Ba­sil Hall­ward zu.

»Ja, so heißt er. Ich woll­te dir den Na­men nicht nen­nen.«

»Aber warum nicht?«

»Oh! Ich kann das nicht er­klä­ren. Wenn ich einen Men­schen un­mä­ßig lieb habe, sage ich nie je­man­dem sei­nen Na­men. Es ist, als über­gä­be man da­mit einen Teil von ihm. Ich bin dazu ge­kom­men, das Ge­heim­nis zu lie­ben. Das scheint al­lein im­stan­de zu sein, das Le­ben un­se­rer Zeit für uns zum Mys­te­ri­um oder zum Wun­der zu ma­chen. Das ge­meins­te Ding ist vol­ler Schön­heit, wenn man es nur ver­steckt. Wenn ich die Stadt ver­las­se, sage ich den Men­schen nie mehr, wo­hin ich gehe. Täte ich es, so büß­te ich all mei­nen Ge­nuss ein. Es ist eine tö­rich­te Ge­wohn­heit, ich gebe es zu, aber ir­gend­wie scheint da­durch viel Ro­man­tik ins Le­ben zu kom­men. Ver­mut­lich hältst du mich dar­um für schreck­lich ver­rückt?«

»Nicht im ge­rings­ten«, er­wi­der­te Lord Hen­ry, »nicht im ge­rings­ten, lie­ber Ba­sil. Du scheinst zu ver­ges­sen, dass ich ver­hei­ra­tet bin, und die Ehe hat den einen Reiz, dass sie bei­den Tei­len ein Le­ben der Täu­schung völ­lig zur Not­wen­dig­keit macht. Ich weiß nie, wo mei­ne Frau ist, und mei­ne Frau weiß nie, was ich trei­be. Wenn wir zu­sam­men sind – wir sind manch­mal zu­sam­men, wenn wir mit­ein­an­der ein­ge­la­den sind oder zum Her­zog aufs Land fah­ren –, er­zäh­len wir uns die ver­rück­tes­ten Ge­schich­ten mit der ernst­haf­tes­ten Mie­ne. Mei­ne Frau ver­steht sich treff­lich dar­auf – ei­gent­lich bes­ser als ich. Sie bringt ihre Da­ten nie durch­ein­an­der; und ich im­mer. Aber wenn sie mich er­tappt, macht sie kei­nen Lärm dar­über. Ich wünsch­te manch­mal, sie täte es; aber sie lacht mich bloß aus.«

»Die Art, wie du über dein Ehe­le­ben sprichst, ist mir ver­hasst, Har­ry«, sag­te Ba­sil Hall­ward und ging lang­sam zu der Tür, die in den Gar­ten führ­te. »Ich glau­be, du bist in Wahr­heit ein sehr gu­ter Ehe­mann, schämst dich je­doch hef­tig über dei­ne ei­ge­ne Tu­gend­haf­tig­keit. Du bist ein ab­son­der­li­cher Bur­sche. Du sagst nie et­was Mora­li­sches, und du tust nie et­was Schlech­tes. Dein Zy­nis­mus ist le­dig­lich Pose.«

»Na­tür­lich­sein ist le­dig­lich eine Pose, und die är­ger­lichs­te, die ich ken­ne«, rief Lord Hen­ry und lach­te; und die bei­den jun­gen Leu­te gin­gen mit­ein­an­der in den Gar­ten und setz­ten sich in dem Schat­ten ei­nes großen Lor­beer­bu­sches auf ein lan­ges Bam­bus­so­fa. Das Son­nen­licht glitt über die glän­zen­den Blät­ter. Im Gra­se zit­ter­ten wei­ße Gän­se­blüm­chen. Nach ei­ner Pau­se zog Lord Hen­ry sei­ne Uhr. »Ich fürch­te, ich muss gleich ge­hen, Ba­sil«, brumm­te er, »und ehe ich gehe, be­ste­he ich dar­auf, dass du mir die Fra­ge be­ant­wor­test, die ich vor­hin an dich rich­te­te.«

»Was denn?« frag­te der Ma­ler, ohne auf­zu­bli­cken.

»Du weißt schon.«

»Nein, Har­ry.«

»Nun, dann will ich dirs sa­gen. Du sollst mir er­klä­ren, warum du Do­ri­an Grays Bild­nis nicht aus­stel­len willst. Ich ver­lan­ge den wirk­li­chen Grund zu wis­sen.«

»Ich sag­te dir den wirk­li­chen Grund.«

»Nein, das ta­test du nicht. Du sag­test, der Grund sei, weil zu viel von dir in dem Bil­de sei. Nun, das ist kin­disch.«

»Har­ry«, sag­te Ba­sil Hall­ward und schau­te ihm ge­ra­de ins Ge­sicht, »je­des Por­trät, das mit Emp­fin­dung ge­malt ist, ist ein Por­trät des Künst­lers, nicht des­sen, der ihm sitzt. Der ist bloß der An­lass, die Ge­le­gen­heit. Nicht er wird vom Ma­ler of­fen­bart; es ist eher der Ma­ler, der auf der far­bi­gen Lein­wand sich sel­ber of­fen­bart. Der Grund, warum ich die­ses Bild nicht aus­stel­len will, ist, dass ich fürch­te, ich habe in ihm das Ge­heim­nis mei­ner ei­ge­nen See­le auf­ge­deckt.«

Lord Hen­ry lach­te. »Und das wäre?« frag­te er.

»Ich will es dir er­klä­ren«, sag­te Hall­ward; aber ein Aus­druck der Rat­lo­sig­keit leg­te sich über sei­ne Züge.

»Ich bin ganz Er­war­tung, Ba­sil«, fing sein Ge­fähr­te wie­der an und sah zu ihm hin.

»Oh! Es ist wirk­lich nicht viel zu er­zäh­len, Har­ry«, ant­wor­te­te der Ma­ler, »und ich fürch­te, du wirst es kaum ver­ste­hen. Vi­el­leicht wirst du es kaum glau­ben.«

Lord Hen­ry lä­chel­te; dann bück­te er sich, pflück­te ein rot ge­färb­tes Gän­se­blüm­chen aus dem Gras und be­trach­te­te es. »Ich be­zweifle gar nicht, dass ich es ver­ste­hen wer­de«, gab er zu­rück und blick­te an­hal­tend auf das klei­ne gol­de­ne, weiß­ge­fie­der­te Rund in sei­ner Hand; »und was das Glau­ben an­geht, so kann ich al­les glau­ben, vor­aus­ge­setzt, dass es un­wahr­schein­lich ge­nug ist.«

Der Wind schüt­tel­te ein paar Blü­ten von den Bäu­men, und die schwe­ren Ster­nen­bü­schel des Flie­ders schwank­ten in der schwü­len Luft hin und her. Eine Gril­le fing an der Mau­er zu zir­pen an, und wie ein blau­er Fa­den schweb­te eine lan­ge, dün­ne Li­bel­le auf ih­ren brau­nen Ga­ze­flü­geln durch die Luft. Lord Hen­ry war es, als könn­te er Ba­sil Hall­wards Herz klop­fen hö­ren, und war ge­spannt, was er hö­ren soll­te.

»Die Ge­schich­te ist ein­fach die«, sag­te der Ma­ler nach ei­ner Wei­le. »Vor zwei Mo­na­ten ging ich ein­mal zu ei­nem Ge­sell­schafts­rum­mel bei Lady Bran­don. Du weißt, wir ar­men Künst­ler müs­sen uns von Zeit zu Zeit in der Ge­sell­schaft se­hen las­sen, bloß um dem Pub­li­kum ins Ge­dächt­nis zu ru­fen, dass wir kei­ne Wil­den sind. Mit ei­nem Ge­sell­schafts­an­zug und ei­ner wei­ßen Bin­de, wie du mir ein­mal sag­test, kann je­der, selbst ein Bör­sen­mak­ler, in den Ruf ei­nes Ge­bil­de­ten kom­men. Nun, ich war etwa zehn Mi­nu­ten da und plau­der­te mit um­fang­rei­chen, über­la­de­nen, vor­neh­men Wit­wen und lang­wei­li­gen Aka­de­mi­kern, als mir plötz­lich ins Be­wusst­sein kam, dass mich je­mand an­sah. Ich dreh­te mich halb um und er­blick­te zum ers­ten Mal Do­ri­an Gray. Als uns­re Au­gen sich tra­fen, fühl­te ich, dass ich blass wur­de. Ein selt­sa­mes Ge­fühl des Ban­gens über­kam mich. Ich spür­te, ich stand ei­nem von An­ge­sicht zu An­ge­sicht ge­gen­über, des­sen blo­ße Er­schei­nung so be­zau­bernd war, dass sie, wenn ich es ihr ge­stat­te­te, mei­ne gan­ze Na­tur, mei­ne gan­ze See­le und so­gar mei­ne Kunst an sich rei­ßen muss­te. Ich brauch­te in mei­nem Le­ben kei­ner­lei Ein­wir­kung von au­ßen. Du weißt selbst, Har­ry, wie un­ab­hän­gig ich von Na­tur aus bin. Ich bin im­mer mein ei­ge­ner Herr ge­we­sen; war es zum min­des­ten ge­we­sen, bis ich Do­ri­an Gray ge­trof­fen habe. Dann – aber ich weiß nicht, wie ich es dir er­klä­ren soll. Ich hat­te ein Vor­ge­fühl, dass ich un­mit­tel­bar vor ei­ner furcht­ba­ren Kri­se in mei­nem Le­ben ste­he. Ich hat­te die selt­sa­me Emp­fin­dung, das Schick­sal hal­te er­le­se­ne Freu­den und er­le­se­ne Schmer­zen für mich in Be­reit­schaft. Mich schau­der­te, und ich wand­te mich zum Ge­hen. Es war nicht das Ge­wis­sen, was mich dazu trieb; es war eine Art Feig­heit. Ich rech­ne es mir nicht zur Ehre an, dass ich zu flie­hen ver­such­te.«

»Ge­wis­sen und Feig­heit sind in Wahr­heit ein und das­sel­be. Ge­wis­sen ist der ein­ge­tra­ge­ne Name der Fir­ma, wei­ter nichts.«

»Ich glau­be das nicht, Har­ry, und ich glau­be, auch du nicht. In­des­sen, das oder je­nes mag mein Mo­tiv ge­we­sen sein – viel­leicht war es Stolz, ich bin im­mer sehr stolz ge­we­sen –, ge­wiss ist, dass ich die Tür er­rei­chen woll­te. Dort na­tür­lich prall­te ich mit Lady Bran­don zu­sam­men. ›Sie wer­den doch nicht so früh weg­lau­fen wol­len, Herr Hall­ward?‹ schrie sie. Du kennst ihre selt­sam gel­len­de Stim­me?«

»O ja, die Dame ist, von der Schön­heit ab­ge­se­hen, ein Pfau«, sag­te Lord Hen­ry und zer­zupf­te mit sei­nen lan­gen, ner­vö­sen Fin­gern das Gän­se­blüm­chen.

»Ich konn­te mich nicht von ihr los­ma­chen. Sie pro­du­zier­te mich kö­nig­li­chen Ho­hei­ten und Leu­ten mit Ster­nen und Ho­sen­bandor­den und ält­li­chen Da­men mit rie­sen­haf­ten Dia­de­men und Pa­pa­gein­asen. Sie sprach von mir als von ih­rem bes­ten Freund. Wir hat­ten uns ein ein­zi­ges Mal vor­her ge­se­hen, aber sie hat­te es sich in den Kopf ge­setzt, mich als be­rühm­ten Mann zu be­han­deln. Ich glau­be, ir­gend­ein Bild von mir hat­te ge­ra­de großen Er­folg ge­habt, oder es war we­nigs­tens in den Abend­blät­tern da­von ge­schwatzt wor­den, und das ist der Uns­terb­lich­keits­maß­stab uns­res Jahr­hun­derts. Plötz­lich be­fand ich mich dem jun­gen Man­ne ge­gen­über, des­sen Er­schei­nung mich so son­der­bar er­schüt­tert hat­te. Wir wa­ren ein­an­der ganz nahe und be­rühr­ten uns fast. Uns­re Au­gen tra­fen sich wie­der. Es war un­be­dacht von mir, aber ich bat Lady Bran­don, mich ihm vor­zu­stel­len. Vi­el­leicht war es, al­les er­wo­gen, nicht so un­be­dacht. Es war ein­fach un­ver­meid­lich. Wir hät­ten an­ge­fan­gen, mit­ein­an­der zu spre­chen, auch ohne jede Vor­stel­lung – des­sen bin ich si­cher. Do­ri­an sag­te es mir spä­ter. Auch er hat­te das Ge­fühl, dass wir dazu be­stimmt wa­ren, ein­an­der ken­nen zu ler­nen.«

»Und was für eine Be­schrei­bung gab Lady Bran­don von die­sem wun­der­ba­ren Jüng­ling?« frag­te sein Ge­fähr­te. »Ich weiß, es ist ihre Art, von al­len ih­ren Gäs­ten einen kur­z­en Abriss zu ge­ben. Ich er­in­ne­re mich, sie stell­te mich ein­mal ei­nem schau­der­haf­ten rot­ba­cki­gen al­ten Herrn vor, der über und über mit Or­den und Bän­dern be­deckt war, und zisch­te mir da­bei mit ei­nem tra­gi­schen Ge­flüs­ter, das je­der im Zim­mer voll­kom­men deut­lich hö­ren muss­te, die er­staun­lichs­ten De­tails ins Ohr. Es blieb mir nichts üb­rig, als weg­zu­lau­fen. Ich kom­me den Men­schen gern von mir selbst auf den Grund. Aber Lady Bran­don be­han­delt ihre Gäs­te ge­nau wie ein Auk­tio­na­tor sei­ne Wa­ren. Sie er­klärt sie ent­we­der voll­stän­dig fort, oder er­zählt ei­nem al­les von ih­nen, mit Aus­nah­me des­sen, was man wis­sen möch­te.«

»Arme Lady Bran­don! Du bist hart ge­gen sie, Har­ry«, sag­te Hall­ward in zer­streu­tem Ton.

»Lie­ber Jun­ge, sie woll­te einen Sa­lon grün­den, aber es ge­lang ihr nur, ein Re­stau­rant zu er­öff­nen. Wie könn­te ich sie be­wun­dern! Aber, sage mir, wie sprach sie über Herrn Do­ri­an Gray?«

»Oh, etwa: ›Ein rei­zen­der jun­ger Mensch – die arme Mut­ter und ich ganz un­zer­trenn­lich. Ver­gaß ganz, was er tut – fürch­te, er – tut gar nichts – ach ja, er spielt Kla­vier – oder war es Gei­ge, Herr Gray?‹ Wir muss­ten bei­de la­chen, und wir wur­den so­fort Freun­de.«

»La­chen ist für eine Freund­schaft noch lan­ge nicht der schlech­tes­te An­fang, und ist weitaus das bes­te Ende für sie«, sag­te der jun­ge Lord und pflück­te ein neu­es Gän­se­blüm­chen.

Hall­ward schüt­tel­te den Kopf. »Du ver­stehst nicht, was Freund­schaft ist, Har­ry«, mur­mel­te er, »und eben­so­we­nig, was Feind­schaft ist. Du magst alle Welt; das heißt, dir sind alle gleich­gül­tig.«

»Wie schreck­lich un­ge­recht von dir!« rief Lord Hen­ry, schob sei­nen Hut zu­rück und blick­te zu den Wölk­chen em­por, die wie ver­wirr­te Sträh­nen glän­zen­der wei­ßer Sei­de über das Tür­kis­ge­wöl­be des Som­mer­him­mels da­hin­trie­ben.

»Ja, schreck­lich un­ge­recht von dir. Ich un­ter­schei­de sehr zwi­schen den Men­schen. Ich wäh­le mei­ne Freun­de nach ih­rem gu­ten Aus­se­hen, mei­ne Be­kann­ten nach ih­rem gu­ten Cha­rak­ter und mei­ne Fein­de nach ih­rem gu­ten Ver­stand. Man kann nicht vor­sich­tig ge­nug in der Aus­wahl sei­ner Fein­de sein. Ich habe kei­nen ein­zi­gen er­langt, der dumm ist. Es sind al­les Leu­te von ei­ner ge­wis­sen geis­ti­gen Stär­ke, und da­her schät­zen sie mich alle. Ist das sehr ei­tel von mir? Ich glau­be, es ist ein biss­chen ei­tel.«

»Ich glau­be auch, Har­ry. Aber nach dei­ner Ein­tei­lung kann ich bloß ein Be­kann­ter von dir sein.«

»Mein lie­ber al­ter Ba­sil, du bist viel mehr als ein Be­kann­ter.«

»Und viel we­ni­ger als ein Freund. Eine Art Bru­der ver­mut­lich?«

»Oh, Bru­der! Ich ma­che mir nichts aus Brü­dern. Mein äl­tes­ter Bru­der denkt nicht ans Ster­ben, und mei­ne jün­ge­ren schei­nen nichts an­de­res zu tun.«

»Har­ry!« rief Hall­ward und run­zel­te die Stirn.

»Lie­ber Jun­ge, ich rede nicht ganz ernst­haft. Aber ich kann mir nicht hel­fen. Ich ver­ab­scheue mei­ne Ver­wand­ten. Ich ver­mu­te, das ist der Tat­sa­che zu­zu­schrei­ben, dass kein Mensch an­de­re Men­schen aus­ste­hen kann, die die­sel­ben Feh­ler wie er selbst ha­ben. Ich ver­ste­he den Zorn der eng­li­schen De­mo­kra­tie ge­gen das, was sie die Las­ter der obe­ren Stän­de nen­nen, voll­kom­men. Die Mas­sen füh­len, dass Trun­ken­heit, Dumm­heit und Un­mo­ral ihre ei­ge­ne Do­mä­ne sein soll­ten, und dass je­mand von uns, der sich bloß­stellt, auf ih­ren Jagd­grün­den wil­dert. Beim Ehe­schei­dungs­pro­zess des ar­men Southwark war ihre Ent­rüs­tung ganz pracht­voll. Und doch möch­te ich be­haup­ten, dass nicht zehn Pro­zent im Pro­le­ta­ri­at vor­schrifts­ge­mäß le­ben.«

»Ich stim­me kei­nem ein­zi­gen Wort zu, das du da ge­sagt hast, und was mehr ist, Har­ry, ich bin si­cher, du auch nicht.«

Lord Hen­ry strich sei­nen brau­nen Spitz­bart und klopf­te mit sei­nem zier­li­chen Eben­holz­stock ge­gen die Spit­ze sei­nes ele­gan­ten Stie­fels. »Wie eng­lisch du bist, Ba­sil! Zum zwei­ten Mal hast du jetzt die­se Be­mer­kung ge­macht. Wenn man ei­nem rich­ti­gen Eng­län­der eine Idee vor­trägt – schon an sich eine Toll­kühn­heit –, denkt er nie dar­an, zu er­wä­gen, ob die Idee rich­tig oder falsch ist. Das ein­zi­ge, was ihm von Be­deu­tung scheint, ist, ob man selbst dar­an glaubt. Aber der Wert ei­ner Idee hat nicht das min­des­te mit der Auf­rich­tig­keit des Men­schen zu tun, der sie vor­bringt. In Wahr­heit ist es wahr­schein­lich, dass, je un­auf­rich­ti­ger der Mensch ist, umso mehr rein geis­tig die Idee sein wird, da sie in die­sem Fall we­der von sei­nen Be­dürf­nis­sen und Wün­schen noch von sei­nen Vor­ur­tei­len ge­färbt sein wird. In­des­sen habe ich nicht die Ab­sicht, Po­li­tik, So­zio­lo­gie oder Me­ta­phy­sik mit dir zu trei­ben. Ich ma­che mir mehr aus Per­so­nen als aus Prin­zi­pi­en, und nichts lie­be ich mehr als Per­so­nen ohne Prin­zi­pi­en. Er­zäh­le mir mehr von Herrn Do­ri­an Gray. Wie oft siehst du ihn?«

»Je­den Tag. Ich wäre un­glück­lich, wenn ich ihn nicht täg­lich sähe. Er ist mir ganz und gar ein Be­dürf­nis.«

»Wie un­ge­wöhn­lich! Ich hät­te ge­dacht, du küm­mer­test dich um nichts als dei­ne Kunst.«

»Er ist mir jetzt mei­ne gan­ze Kunst«, sag­te der Ma­ler ernst.

»Ich den­ke manch­mal, Har­ry, es gibt in der Welt­ge­schich­te nur zwei Pe­ri­oden von Be­deu­tung. Die ers­te ist das Auf­tre­ten ei­nes neu­en Kunst­mit­tels, und die zwei­te ist, eben­falls für die Kunst, das Auf­tre­ten ei­nes neu­en Men­schen­ty­pus. Was die Er­fin­dung der Öl­ma­le­rei für die Ve­ne­zia­ner war, das ist das Ant­litz des An­ti­nous für die spät­grie­chi­sche Skulp­tur ge­we­sen, und das wird ei­nes Ta­ges das Ant­litz des Do­ri­an Gray für mich sein. Es ist nicht bloß, dass ich nach ihm male, zeich­ne, skiz­zie­re. Na­tür­lich habe ich all das ge­tan. Aber er ist für mich viel mehr als ein Mo­dell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich möch­te nicht sa­gen, dass ich un­zu­frie­den mit dem bin, was ich aus ihm ge­macht habe, oder dass sei­ne Schön­heit der­art ist, dass die Kunst sie nicht aus­drücken kann. Es gibt nichts, was die Kunst nicht aus­drücken kann; und ich weiß: was ich ge­macht habe, seit ich Do­ri­an Gray ken­nen ge­lernt, ist gute Ar­beit, ist die bes­te Ar­beit mei­nes Le­bens. Aber auf selt­sa­me Wei­se – ich glau­be kaum, dass du mich ver­stehst – hat sei­ne Er­schei­nung in mir eine neue Art mei­ner Kunst wach­ge­ru­fen, eine völ­lig neue Stil­form. Ich sehe die Din­ge an­ders, ich den­ke an­ders über sie. Ich kann jetzt das Le­ben in ei­ner Wei­se ge­stal­ten, die mir vor­her ver­bor­gen war. ›Ein Traum von Form in den Ta­gen des Den­kens‹ – wer hat das ge­sagt? Ich habe es ver­ges­sen; aber das ist Do­ri­an Gray für mich ge­wor­den. Das blo­ße sicht­ba­re Da­sein die­ses Jüng­lings, der fast noch ein Kna­be ist – so er­scheint er, ob­wohl er in Wirk­lich­keit über zwan­zig ist – sein blo­ßes sicht­ba­res Da­sein – ah! ich glau­be nicht, dass du dir vor­stel­len kannst, was al­les dar­in liegt! Ohne es zu wis­sen, bil­det er für mich das Li­ne­a­ment ei­ner neu­en Schu­le, ei­ner Schu­le, die be­stimmt ist, alle Lei­den­schaft des ro­man­ti­schen Geis­tes, alle Voll­kom­men­heit des grie­chi­schen in sich zu fas­sen. Die Har­mo­nie der See­le und des Kör­pers – wie viel das ist! Wir in un­serm Wahn­sinn ha­ben die zwei ge­trennt und ha­ben einen Rea­lis­mus er­fun­den, der ge­mein ist, und einen Idea­lis­mus, der leer ist. Har­ry! wenn du nur wüss­test, was Do­ri­an Gray für mich ist! Erin­nerst du dich an die Land­schaft, für die Ag­new mir einen so un­ge­heu­ren Preis bot, von der ich mich aber nicht tren­nen woll­te? Sie ist eins der bes­ten Stücke, die ich je ge­macht habe. Und warum? Weil, wäh­rend ich sie mal­te, Do­ri­an Gray ne­ben mir saß. Ir­gend­ein fei­ner Ein­fluss ging von ihm zu mir, und zum ers­ten Mal in mei­nem Le­ben sah ich in der ein­fa­chen Wald­land­schaft das Wun­der, nach dem ich im­mer aus­ge­blickt und das ich nie ge­fun­den hat­te.«

»Ba­sil, das ist et­was Au­ßer­or­dent­li­ches! Ich muss Do­ri­an Gray se­hen.«

Hall­ward stand auf und ging im Gar­ten hin und her. Nach ei­ner Wei­le kam er zu­rück. »Har­ry«, sag­te er, »Do­ri­an Gray ist für mich le­dig­lich ein künst­le­ri­sches Mo­tiv. Vi­el­leicht sähst du nichts in ihm. Ich sehe al­les in ihm. Er ist in mei­ner Ar­beit nie mehr ge­gen­wär­tig, als wenn kein Ab­bild von ihm dar­in ist. Er ist, wie ich sag­te, eine An­re­gung zu ei­ner neu­en Art in der Kunst. Ich fin­de ihn in den Schwin­gun­gen ge­wis­ser Li­ni­en, in dem Zau­ber und der zar­ten Tö­nung ge­wis­ser Far­ben. Das ist es, und das ist al­les.«

»Wa­rum willst du dann aber sein Por­trät nicht aus­stel­len?« frag­te Lord Hen­ry.

»Weil ich, ohne es zu wol­len, einen ge­wis­sen Aus­druck all die­ser ab­son­der­li­chen künst­le­ri­schen Ab­göt­te­rei hin­ein­ge­legt habe, von der ich na­tür­lich zu ihm nie spre­chen woll­te. Er weiß nicht dar­um. Er soll nie dar­um wis­sen. Aber die Welt könn­te es er­ra­ten; und ich will mei­ne See­le ih­ren ober­fläch­li­chen, spä­hen­den Au­gen nicht ent­blö­ßen. Mein Herz soll nie un­ter ihr Mi­kro­skop kom­men. Es ist zu viel von mir in dem Ding, Har­ry – zu viel von mir!«

»Die Dich­ter sind nicht so pein­lich wie du. Sie wis­sen, wie nütz­lich es ist, Lei­den­schaft zu pu­bli­zie­ren. Heut­zu­ta­ge bringt es ein ge­bro­che­nes Herz zu vie­len Auf­la­gen.«

»Ich has­se sie dar­um«, rief Hall­ward. »Ein Künst­ler soll­te schö­ne Din­ge schaf­fen, soll­te aber nichts von sei­nem ei­ge­nen Le­ben hin­ein­tun. Wir le­ben in ei­ner Zeit, wo die Men­schen die Kunst be­han­deln, als ob sie be­stimmt wäre, eine Art Selbst­bio­gra­fie zu sein. Wir ha­ben den Sinn für ab­so­lu­te Schön­heit ver­lo­ren. Ei­nes Ta­ges wer­de ich der Welt zei­gen, was Schön­heit ist, und aus die­sem Grun­de soll sie nie mein Por­trät Do­ri­an Grays sehn.«

»Ich glau­be, du hast un­recht, Ba­sil, aber ich will nicht mit dir strei­ten. Nur die geis­tig Ent­erb­ten fin­den Ge­fal­len am Strei­ten. Sag mir, hat Do­ri­an Gray dich sehr lieb?«

Der Ma­ler über­leg­te ein paar Au­gen­bli­cke. »Er hat mich gern«, ant­wor­te­te er nach ei­ner Wei­le, »ich weiß, dass er mich gern hat. Na­tür­lich schmeich­le ich ihm schreck­lich. Ich fin­de ein schreck­li­ches Ver­gnü­gen dar­an, Din­ge zu ihm zu sa­gen, von de­nen ich weiß, dass sie mir spä­ter leid tun wer­den. In der Re­gel ist er rei­zend zu mir, und wir sit­zen im Ate­lier und plau­dern von tau­sen­der­lei Din­gen. Hie und da je­doch ist er schreck­lich ge­dan­ken­los und scheint eine rich­ti­ge Freu­de dar­an zu fin­den, mir weh zu tun. Dann füh­le ich, Har­ry, dass ich mei­ne gan­ze See­le an einen hin­ge­ge­ben habe, der sie be­han­delt, als ob sie eine Blu­me fürs Knopf­loch wäre, eine klei­ne De­ko­ra­ti­on, sei­ner Ei­tel­keit da­mit zu schmei­cheln, ein Schmuck für einen Som­mer­tag.«

»Im Som­mer, Ba­sil, zie­hen sich die Tage manch­mal lan­ge hin«, er­wi­der­te Lord Hen­ry. »Vi­el­leicht wirst du frü­her müde wer­den als er. Es ist eine trau­ri­ge Sa­che, wenn man es be­denkt, aber es ist kein Zwei­fel, dass das Ge­nie län­ger dau­ert als die Schön­heit. Das er­klärt die Tat­sa­che, dass wir alle uns so da­mit quä­len, uns mit Bil­dung voll­zu­stop­fen. In dem wil­den Kampf ums Da­sein wol­len wir alle et­was ha­ben, das dau­ert, und so fül­len wir un­sern Geist mit Schund und Tat­sa­chen in der tö­rich­ten Hoff­nung, un­sern Platz zu be­haup­ten. Der durch­aus wohl­un­ter­rich­te­te Mann – das ist das Ide­al un­se­rer Zeit. Und um den Geist des durch­aus wohl­un­ter­rich­te­ten Man­nes ist es et­was Schreck­li­ches. Er ist wie ein An­ti­qui­tä­ten­la­den, in dem es Aus­ge­bur­ten al­ler Art und Staub gibt und je­des Ding über sei­nen wirk­li­chen Wert aus­ge­zeich­net ist. Ich glau­be, du wirst trotz­dem zu­erst müde wer­den. Ei­nes Ta­ges wirst du dei­nen jun­gen Freund an­sehn, und er wird dir ein biss­chen ver­zeich­net vor­kom­men, oder du magst sei­nen Far­ben­ton nicht oder so was. Du wirst ihm in dei­nem Her­zen bit­te­re Vor­wür­fe ma­chen und ernst­haft der Mei­nung sein, er be­neh­me sich sehr schlecht ge­gen dich. Wenn er dich das nächs­te Mal be­sucht, wirst du völ­lig kalt und gleich­gül­tig sein. Es wird sehr scha­de sein, denn es wird dich än­dern. Was du mir er­zählt hast, ist völ­lig ein Ge­dicht, ein Ge­dicht von der Kunst möch­te man es nen­nen, und das Schlimms­te dar­an, ein Ge­dicht ir­gend­ei­ner Art er­lebt zu ha­ben, ist, dass es einen so un­poe­tisch zu­rück­lässt.«

»Har­ry, sprich nicht so. So­lan­ge ich lebe, wird die Er­schei­nung Do­ri­an Grays Herr in mir sein. Du kannst mei­ne Emp­fin­dung nicht nach­füh­len. Du wan­delst dich zu oft.«

»Ah, lie­ber Ba­sil, ge­nau dar­um kann ich sie nach­füh­len. Men­schen, die treu sind, ken­nen nur die ge­mei­ne Sei­te der Lie­be: die Treu­lo­sen sind es, die die Tra­gö­di­en der Lie­be er­fah­ren.« Und Lord Hen­ry zün­de­te an ei­ner wert­vol­len sil­ber­nen Büch­se ein Streich­holz an und be­gann mit selbst­be­wus­s­ter und zu­frie­de­ner Mie­ne, als ob er die Welt auf einen Satz ge­bracht hät­te, eine Zi­ga­ret­te zu rau­chen. Es war ein Lär­men von zwit­schern­den Sper­lin­gen in den Blät­tern des Efeus, die von grü­nem Lack über­zo­gen glänz­ten, und die blau­en Wol­ken­schat­ten jag­ten wie Schwal­ben über das Gras. Wie lieb­lich war es in dem Gar­ten, und wie rei­zend die Emp­fin­dun­gen an­de­rer Leu­te! – viel rei­zen­der als ihre Ide­en, schi­en es ihm. Des Men­schen ei­ge­ne See­le und die Lei­den­schaf­ten sei­ner Freun­de, – das wa­ren im Le­ben die fes­seln­den Din­ge. Er mal­te sich in stil­ler Ver­gnüg­lich­keit das lang­wei­li­ge Früh­stück aus, um das er ge­kom­men war, weil er sich so lan­ge mit Ba­sil Hall­ward ver­weilt hat­te. Wäre er zu sei­ner Tan­te ge­gan­gen, so wür­de er si­cher dort Lord Good­bo­dy ge­trof­fen ha­ben, und die gan­ze Un­ter­hal­tung hät­te sich um die Er­näh­rung der Ar­men und um die Not­wen­dig­keit ge­dreht, Mus­ter­ar­bei­ter­häu­ser zu er­rich­ten. Men­schen von al­ler­lei Art hät­ten über die Wich­tig­keit ge­ra­de der Tu­gen­den ge­pre­digt, für die sie in ih­rem ei­ge­nen Le­ben kei­ne Ver­wen­dung hat­ten. Der Rei­che hät­te vom Wert der Spar­sam­keit ge­spro­chen, und der Fau­le wäre über die Wür­de der Ar­beit zum Red­ner ge­wor­den. Es war präch­tig, al­le­dem ent­gan­gen zu sein. Als er an sei­ne Tan­te dach­te, schi­en ihm ein Ein­fall zu kom­men. Er wand­te sich zu Hall­ward und sag­te: »Mein Lie­ber, ich er­in­ne­re mich jetzt.«

»Woran er­in­nerst du dich, Har­ry?«

»Wo ich den Na­men Do­ri­an Grays ge­hört habe.«

»Wo war es?« frag­te Hall­ward mit leich­tem Stirn­run­zeln.

»Blick nicht so är­ger­lich drein, Ba­sil. Es war bei mei­ner Tan­te Lady Aga­tha. Sie er­zähl­te mir, sie habe einen präch­ti­gen jun­gen Men­schen ent­deckt, der ihr im East-End hel­fen woll­te, und er hei­ße Do­ri­an Gray. Ich muss al­ler­dings sa­gen, dass sie mir nie mit­teil­te, er sei schön. Frau­en ha­ben kei­nen Sinn für Schön­heit, we­nigs­tens gute Frau­en nicht. Sie sag­te, er sei sehr ernst und habe eine edle See­le. Ich mal­te mir für mich ein Ge­schöpf mit ei­ner Bril­le und her­ab­hän­gen­dem Haar aus, des­sen Ge­sicht furcht­bar mit Som­mer­spros­sen über­sät war und der auf rie­si­gen Fü­ßen ein­her­trat. Ich woll­te, ich hät­te ge­wusst, dass er dein Freund ist.«

»Ich bin sehr froh, dass du es nicht wuss­test, Har­ry.«

»Wa­rum?«

»Ich will nicht, dass du ihn ken­nen lernst.«

»Du willst nicht, dass ich ihn ken­nen ler­ne?«

»Nein.«

»Herr Do­ri­an Gray ist im Ate­lier«, sag­te der Die­ner, der in den Gar­ten her­austrat.

»Jetzt musst du mich vor­stel­len«, rief Lord Hen­ry la­chend.

Der Ma­ler wand­te sich zu dem Be­dien­ten, der blin­zelnd in der Son­ne stand. »Bit­ten Sie Herrn Gray, er möch­te war­ten, Par­ker; ich wer­de in ein paar Au­gen­bli­cken kom­men.« Der Mann ver­beug­te sich und ging ins Haus.

Dann schau­te der Künst­ler Lord Hen­ry an. »Do­ri­an Gray ist mein liebs­ter Freund«, sag­te er. »Er hat eine ein­fa­che und edle See­le. Dei­ne Tan­te hat­te mit dem, was sie von ihm sag­te, ganz recht. Verdirb ihn nicht! Ver­su­che nicht, Ein­fluss auf ihn zu üben! Dein Ein­fluss wäre schlimm. Die Welt ist weit und birgt vie­le wun­der­vol­le Men­schen. En­treiß mir nicht den ein­zi­gen Men­schen, der mei­ner Kunst al­len Zau­ber gibt, den sie be­sitzt: mein Le­ben als Künst­ler hängt von ihm ab! Denk dar­an, Har­ry, ich ver­las­se mich auf dich.« Er sprach sehr lang­sam, und die Wor­te schie­nen ihm ge­gen sei­nen Wil­len ent­presst zu wer­den.

»Was für einen Un­sinn du re­dest«, sag­te Lord Hen­ry lä­chelnd, nahm ihn un­term Arm und führ­te ihn ins Haus.

Zweites Kapitel

Sie tra­ten ein und er­blick­ten Do­ri­an Gray. Er saß am Kla­vier, wen­de­te ih­nen den Rücken und blät­ter­te in ei­nem Ban­de mit Schu­manns Walds­ze­nen. »Die musst du mir lei­hen, Ba­sil«, rief er. »Ich will sie spie­len ler­nen. Sie sind ganz ent­zückend!«

»Das hängt ganz da­von ab, wie du heu­te sitzt, Do­ri­an.«

»Oh, ich habe das Sit­zen satt, ich brau­che kein le­bens­großes Bild von mir«, ant­wor­te­te der jun­ge Mann und dreh­te sich nach Art ei­nes ei­gen­wil­li­gen, lau­ni­schen Kna­ben auf dem Kla­vier­stuhl her­um. Als er Lord Hen­ry ge­wahr­te, färb­te ein schwa­ches Rot einen Au­gen­blick sei­ne Wan­gen, und er sprang auf. »Ich bit­te um Ent­schul­di­gung, Ba­sil, aber ich wuss­te nicht, dass je­mand bei dir ist.«

»Das ist Lord Hen­ry Wot­ton, Do­ri­an, ein al­ter Freund von mir aus Ox­ford. Ich habe ihm eben er­zählt, wie fa­mos du sitzt, und jetzt hast du al­les ver­dor­ben.«

»Mein Ver­gnü­gen, Sie ken­nen zu ler­nen, ha­ben Sie nicht ver­dor­ben, Herr Gray«, sag­te Lord Hen­ry, in­dem er auf ihn zu­ging und die Hand aus­streck­te. »Mei­ne Tan­te hat mir oft von Ih­nen ge­spro­chen. Sie sind ei­ner ih­rer Günst­lin­ge und ich fürch­te, auch ih­rer Op­fer.«

»Ich ste­he zur­zeit bei Lady Aga­tha im schwar­zen Buch«, ant­wor­te­te Do­ri­an und mach­te ein ko­misch buß­fer­ti­ges Ge­sicht. »Ich ver­sprach ihr, letz­ten Diens­tag mit ihr in einen Klub in Whi­techa­pel zu ge­hen, und ich habe es in der Tat völ­lig ver­ges­sen. Wir hät­ten zu­sam­men vier­hän­dig spie­len sol­len – drei Stücke, glau­be ich. Ich weiß nicht, was sie zu mir sa­gen wird. Ich fürch­te mich hin­zu­gehn.«

»Oh, ich wer­de Sie mit mei­ner Tan­te ver­söh­nen. Sie ist Ih­nen über­aus ge­wo­gen, und ich glau­be nicht, dass es in Wahr­heit et­was aus­macht, dass Sie nicht dort wa­ren. Die Zu­hö­rer dach­ten ver­mut­lich, es sei vier­hän­dig. Wenn Tan­te Aga­tha sich ans Kla­vier setzt, macht sie völ­lig ge­nug Lärm für zwei Per­so­nen.«

»Das ist recht ab­scheu­lich ge­gen sie und nicht sehr hübsch ge­gen mich«, er­wi­der­te Do­ri­an und lach­te.

Lord Hen­ry sah ihn an. Ja, er war si­cher wun­der­bar schön mit sei­nen fein ge­schwun­ge­nen Pur­pur­lip­pen, sei­nen treu­her­zi­gen blau­en Au­gen und sei­nem ge­well­ten Gold­haar. Es lag et­was in sei­nen Mie­nen, das so­fort Ver­trau­en her­vor­rief. Al­ler Schim­mer der Ju­gend war da, und eben­so all die lei­den­schaft­li­che Keusch­heit der Ju­gend. Man fühl­te, er hat­te sich in sei­ner Un­be­fleckt­heit vor der Welt be­wahrt. Kein Wun­der, dass Ba­sil Hall­ward ihn an­be­te­te.

»Sie sind zu hübsch, um sich mit Wohl­tä­tig­keit zu be­fas­sen, Herr Gray – viel zu hübsch.« Und Lord Hen­ry warf sich auf den Di­wan und nahm eine Zi­ga­ret­te.

Der Ma­ler hat­te sich da­mit be­schäf­tigt, sei­ne Far­ben zu mi­schen und sei­ne Pin­sel zu­rechtzu­ma­chen. Er sah ge­quält aus, und als er Lord Hen­rys letz­te Be­mer­kung hör­te, sah er ihn an, zö­ger­te einen Au­gen­blick und sag­te dann: »Har­ry, ich möch­te die­ses Bild heu­te fer­tig be­kom­men. Fän­dest du es sehr grob von mir, wenn ich dich bäte fort­zu­gehn?«

Lord Hen­ry lä­chel­te und schau­te Do­ri­an Gray an. »Soll ich gehn, Herr Gray?« frag­te er.

»Oh, bit­te nein, Lord Hen­ry. Ich sehe, Ba­sil ist wie­der ein­mal schlecht auf­ge­legt, und ich kann ihn gar nicht lei­den, wenn er ver­dros­sen ist. Au­ßer­dem möch­te ich Sie gern fra­gen, warum ich mich nicht mit Wohl­tä­tig­keit be­fas­sen soll?«

»Ich weiß nicht, ob ich Ih­nen das sa­gen soll, Herr Gray. Es ist ein so lang­wei­li­ges The­ma, dass man ernst­haft dar­über re­den müss­te. Aber si­cher wer­de ich nicht fort­gehn, nach­dem Sie mir er­laubt ha­ben zu blei­ben. Du bist doch nicht im Ernst da­ge­gen, Ba­sil, nicht wahr? Du hast mir oft ge­sagt, es sei dir recht, wenn die, die dir sit­zen, einen ha­ben, mit dem sie plau­dern kön­nen.«

Hall­ward biss sich auf die Lip­pen. »Wenn Do­ri­an es wünscht, musst du na­tür­lich blei­ben. Do­rians Lau­nen sind für je­den Ge­setz, au­ßer ihm selbst.«

Lord Hen­ry griff nach Hut und Hand­schu­hen. »Trotz dei­ner dring­li­chen Auf­for­de­rung, Ba­sil, fürch­te ich, ich muss gehn. Ich habe ver­spro­chen, je­man­den im Or­leans zu tref­fen. Adieu, Herr Gray! Bit­te, be­su­chen Sie mich ein­mal nach­mit­tags in Eur­zon Street. Um fünf Uhr bin ich fast im­mer zu Hau­se. Schrei­ben Sie mir, an wel­chem Tage Sie kom­men. Es täte mir leid, wenn Sie mich ver­fehl­ten.«

»Ba­sil«, rief Do­ri­an Gray, »wenn Lord Hen­ry Wot­ton geht, gehe ich auch. Du machst nie den Mund auf, so­lan­ge du malst, und es ist schreck­lich er­mü­dend, auf ei­nem Po­di­um zu stehn und sich Mühe zu ge­ben, hübsch aus­zu­se­hen. Bit­te ihn zu blei­ben. Ich be­ste­he dar­auf!«

»Blei­be, Har­ry, du machst Do­ri­an ein Ver­gnü­gen da­mit und mir auch«, sag­te Hall­ward, ohne von sei­nem Bild auf­zu­schau­en. »Es ist völ­lig wahr, ich rede nie wäh­rend der Ar­beit und höre eben­so­we­nig zu, und das muss für die Un­glück­li­chen, die mir sit­zen, schreck­lich lang­wei­lig sein. Ich bit­te dich, bleib!«

»Aber was ma­che ich mit mei­nem Mann im Or­leans?«

Der Ma­ler lach­te. »Ich glau­be, das wird kei­ner­lei Schwie­rig­kei­ten ma­chen. Setz dich wie­der, Har­ry. Und nun, Do­ri­an, geh auf das Po­di­um und be­we­ge dich nicht zu viel und ach­te nicht auf das, was Lord Hen­ry sagt. Er hat einen sehr schlech­ten Ein­fluss auf alle sei­ne Freun­de, mich al­lein aus­ge­nom­men.«

Do­ri­an Gray ging mit der Mie­ne ei­nes jun­gen grie­chi­schen Mär­ty­rers die Stu­fen zum Po­di­um hin­auf und stieß ge­gen Lord Hen­ry einen leich­ten, drol­li­gen Seuf­zer aus. Er ge­fiel ihm gut. Er war so an­ders als Ba­sil. Sie bil­de­ten einen rei­zen­den Kon­trast. Und er hat­te so eine schö­ne Stim­me. Nach ein paar Au­gen­bli­cken sag­te er zu ihm: »Üben Sie wirk­lich einen sehr schlech­ten Ein­fluss aus, Lord Hen­ry? So schlecht, wie Ba­sil sagt?«

»So et­was wie gu­ten Ein­fluss gibt es nicht, Herr Gray. Je­der Ein­fluss ist un­mo­ra­lisch – un­mo­ra­lisch im wis­sen­schaft­li­chen Sin­ne.«

»Wa­rum?«

»Weil, wer einen Men­schen be­ein­flusst, ihm sei­ne ei­ge­ne See­le gibt. Er denkt nicht sei­ne na­tür­li­chen Ge­dan­ken und glüht nicht in sei­nem na­tür­li­chen Feu­er. Sei­ne Tu­gen­den ge­hö­ren nicht wirk­lich ihm. Sei­ne Sün­den, wenn es so et­was wie Sün­den gibt, sind ge­borg­te. Er wird ein Echo der Mu­sik ir­gend­ei­nes Frem­den, Schau­spie­ler ei­ner Rol­le, die nicht für ihn ge­schrie­ben wur­de. Das Ziel des Le­bens ist Selbs­t­ent­fal­tung. Sei­ne ei­ge­ne Na­tur voll­kom­men zu ver­wirk­li­chen – da­für ist je­der von uns da. Die Men­schen von heut­zu­ta­ge ha­ben Angst vor sich selbst. Sie ha­ben die höchs­te al­ler Pf­lich­ten ver­ges­sen, die Pf­licht, die man sich selbst ge­gen­über hat. Na­tür­lich sind sie wohl­tä­tig. Sie näh­ren den Hung­ri­gen und klei­den den Bett­ler. Aber ihre ei­ge­nen See­len ster­ben Hun­gers und sind nackt. Der Mut ist un­serm Ge­schlecht ver­lo­ren ge­gan­gen. Vi­el­leicht ha­ben wir ihn nie wirk­lich be­ses­sen. Die Furcht vor der Ge­sell­schaft, die die Grund­la­ge der Moral ist, die Furcht vor Gott, die das Ge­heim­nis der Re­li­gi­on ist – das sind die zwei Din­ge, die uns be­herr­schen. Und doch …«

»Bit­te, dre­he den Kopf ein we­nig mehr nach rechts, Do­ri­an, sei so lieb!« sag­te der Ma­ler, der tief in sei­ne Ar­beit ver­senkt war und nur ge­wahr­te, dass ein Zug in das Ge­sicht des Jüng­lings ge­kom­men war, den er vor­her nie dar­in ge­se­hen hat­te.

»Und doch«, fuhr Lord Hen­ry mit sei­ner sanf­ten, wohl­klin­gen­den Stim­me und mit der an­mu­ti­gen Hand­be­we­gung fort, die so be­zeich­nend an ihm war und die er schon sei­ner­zeit in Eton ge­habt hat­te, »ich glau­be, wenn ein ein­zi­ger Mensch sein Le­ben völ­lig und ganz aus­le­ben woll­te, je­der Emp­fin­dung Form, je­dem Ge­dan­ken Aus­druck, je­dem Traum Wirk­lich­keit ge­ben woll­te – ich glau­be, die Welt er­hiel­te einen sol­chen Schwung von Freu­dig­keit, dass wir all das Siech­tum aus den Zei­ten des Mit­tel­al­ters ver­gä­ßen und zum hel­le­ni­schen Ide­al zu­rück­kehr­ten – viel­leicht zu et­was, das in­ti­mer und rei­cher wäre als das hel­le­ni­sche Ide­al. Aber der Tap­fers­te un­ter uns hat Angst vor sich sel­ber. Die Selbst­ver­stüm­me­lung der Wil­den lebt in tra­gi­scher Wei­se in der Selbst­ver­leug­nung fort, die un­ser Le­ben ver­stüm­melt. Wir wer­den für un­ser Ver­leug­nen ge­straft. Je­der Trieb, den wir er­sti­cken möch­ten, wühlt sich im Geis­te fort und ver­gif­tet uns. Der Kör­per sün­digt nur ein­mal und hat die Sün­de ab­ge­tan, denn das Tun ist eine Art Rei­ni­gung. Es bleibt nichts üb­rig als die Erin­ne­rung an eine Lust oder der köst­li­che Schmerz, dass sie vor­bei ist. Der ein­zi­ge Weg, eine Ver­su­chung los­zu­wer­den, ist, ihr nach­zu­ge­ben. Wi­der­ste­he ihr, und dei­ne See­le wird krank vor Sehn­sucht nach den Din­gen, die sie sich sel­ber ver­bo­ten hat, vor Ver­lan­gen nach dem, was ihre un­ge­heu­er­li­chen Ge­set­ze zu et­was Un­ge­heu­er­li­chem und Ge­setz­wid­ri­gem ge­macht ha­ben. Man hat wohl ge­sagt, die größ­ten Ge­scheh­nis­se in der Welt er­eig­ne­ten sich im Hir­ne. Im Hir­ne, und ein­zig und al­lein im Hir­ne er­eig­nen sich auch die großen Sün­den der Welt. Sie, Herr Gray, Sie sel­ber mit Ih­rer ro­si­gen Ju­gend und Ih­rer Kna­be­nun­schuld, die wie wei­ße Ro­sen ist, Sie ha­ben Lei­den­schaf­ten ge­habt, die Ih­nen ban­ge mach­ten, Ge­dan­ken, die Sie in Schre­cken setz­ten, Träu­me bei Tag und Träu­me im Schlaf, die, wenn Sie nur dar­an den­ken, das Blut der Scham in Ihre Wan­gen ja­gen …«

»Hal­ten Sie ein!« rief Do­ri­an Gray mit ver­sa­gen­der Stim­me, »hal­ten Sie ein, mir wird wirr von Ihren Re­den. Ich weiß nicht, was ich sa­gen soll. Es gibt eine Ant­wort auf Ihre Wor­te, aber ich kann sie nicht fin­den. Spre­chen Sie nicht! Las­sen Sie mich nach­den­ken. Oder lie­ber, las­sen Sie mich den Ver­such ma­chen, nicht nach­zu­den­ken.«

Fast zehn Mi­nu­ten lang stand er da, ohne sich zu re­gen, mit ge­öff­ne­ten Lip­pen und ei­nem selt­sa­men Glanz in den Au­gen. Er war sich un­deut­lich be­wusst, dass völ­lig neue Ein­flüs­se in ihm am Wer­ke sei­en. Je­doch schie­nen sie ihm in Wahr­heit aus ihm selbst ge­kom­men. Die paar Wor­te, die Ba­sils Freund zu ihm ge­spro­chen hat­te – Wor­te, die ohne Zwei­fel von un­ge­fähr und mit ab­sicht­li­cher Pa­ra­do­xie ge­spro­chen wa­ren –, hat­ten eine ge­hei­me Sai­te be­rührt, die zu­vor nie be­rührt wor­den war, die er aber jetzt zit­tern und in selt­sa­mer Wild­heit rau­schen hör­te.

Die Mu­sik hat­te ihn so ähn­lich er­regt. Die Mu­sik hat­te ihn oft wirr ge­macht. Aber die Mu­sik war un­be­stimmt. Sie er­zeug­te in ei­nem nicht eine neue Welt, son­dern eher ein neu­es Cha­os. Wor­te! blo­ße Wor­te! Wie furcht­bar sie wa­ren! Wie deut­lich und le­ben­dig und grau­sam! Man konn­te ih­nen nicht ent­rin­nen. Und was war doch in ih­nen für eine fei­ne Ma­gie! Sie schie­nen im­stan­de, ge­stalt­lo­sen Din­gen plas­ti­sche Ge­stalt zu ge­ben und eine Mu­sik in sich zu ber­gen, die so süß war wie die der Brat­sche oder der Lau­te. Blo­ße Wor­te! Gab es denn ir­gen­det­was, das so wirk­lich war wie Wor­te?

Ja: es hat­te in sei­nem Jüng­lings­kna­ben­tum Din­ge ge­ge­ben, die er nicht ver­stan­den hat­te. Er ver­stand sie jetzt. Das Le­ben wur­de für ihn plötz­lich feu­er­far­ben. Ihm schi­en, er sei in leib­haf­tem Feu­er ge­wan­delt. Wa­rum hat­te er es nicht ge­merkt?

Mit sei­nem fei­nen Lä­cheln be­ob­ach­te­te ihn Lord Hen­ry. Er ver­stand sich auf den fei­nen psy­cho­lo­gi­schen Mo­ment, wo es galt, nicht zu re­den. Er war stark in­ter­es­siert. Er war über den plötz­li­chen Ein­druck er­staunt, den sei­ne Wor­te her­vor­ge­bracht hat­ten; er er­in­ner­te sich an ein Buch, das er mit sech­zehn Jah­ren ge­le­sen, ein Buch, das ihm vie­les of­fen­bart hat­te, was er zu­vor nicht ge­kannt, und so war er neu­gie­rig, ob Do­ri­an Gray jetzt ein ähn­li­ches Er­leb­nis hät­te. Er hat­te nur einen Pfeil in die Luft ge­schos­sen. Hat­te er ins Schwar­ze ge­trof­fen? Wie be­zau­bernd der Jun­ge war!

Hall­ward mal­te mit sei­nem wun­der­vol­len küh­nen Pin­sel­strich, der die wah­re Fein­heit und voll­kom­me­ne Zart­heit an sich hat­te, die, in der Kunst je­den­falls, nur aus der Kraft kommt, drauf los. Er merk­te nichts von dem Schwei­gen.

»Ba­sil, ich habe ge­nug ge­stan­den!« rief Do­ri­an Gray plötz­lich. »Ich muss hin­aus­gehn und mich in den Gar­ten set­zen. Die Luft hier ist zum Er­sti­cken.«

»Mein Lie­ber, das tut mir sehr leid. Wenn ich beim Ma­len bin, kann ich an nichts an­de­res den­ken. Aber du hast nie bes­ser ge­ses­sen. Du warst völ­lig ru­hig. Und ich habe den Ef­fekt er­hascht, den ich brauch­te, die halb of­fe­nen Lip­pen und den Glanz in den Au­gen. Ich weiß nicht, was Har­ry zu dir ge­sagt hat, aber si­cher hat er be­wirkt, dass du den wun­der­volls­ten Aus­druck hast. Ich ver­mu­te, er hat dir Schmei­che­lei­en ge­sagt. Du musst kein Wort von al­lem, was er sagt, glau­ben.«

»Er hat mir ge­wiss kei­ne Schmei­che­lei­en ge­sagt. Vi­el­leicht glau­be ich dar­um nichts von al­lem, was er ge­sagt hat.«

»Sie wis­sen, dass Sie es al­les glau­ben«, sag­te Lord Hen­ry und sah ihn mit sei­nen träu­me­ri­schen, lo­cken­den Au­gen an. »Ich kom­me mit Ih­nen in den Gar­ten. Es ist furcht­bar heiß im Ate­lier. Ba­sil, ver­schaf­fe uns ein Eis­ge­tränk, mit Erd­bee­ren dar­in.«

»Gern, Har­ry. Drücke nur auf die Klin­gel, und wenn Par­ker kommt, wer­de ich ihm sa­gen, was ihr ha­ben wollt. Ich bin jetzt mit dem Hin­ter­grund hier be­schäf­tigt und wer­de also spä­ter zu euch kom­men. Hal­te Do­ri­an nicht zu lan­ge auf! Ich bin nie bes­ser zum Ma­len auf­ge­legt ge­we­sen als heu­te. Das wird mein Meis­ter­werk wer­den! Wie es da­steht, ist es mein Meis­ter­werk!«

Lord Hen­ry ging in den Gar­ten hin­aus und fand Do­ri­an Gray, wie er sein Ge­sicht in den großen küh­len Flie­der­blü­ten­bü­scheln ba­de­te und fie­brig ih­ren Duft schlürf­te, als wäre er Wein. Er trat nahe zu ihm hin und leg­te ihm die Hand auf die Schul­ter. »Sie tun ganz recht dar­an, es so zu ma­chen«, sprach er lei­se. »Nichts kann die See­le hei­len als die Sin­ne, ge­ra­de wie nichts die Sin­ne hei­len kann als die See­le.«

Der Jüng­ling fuhr zu­sam­men und trat zu­rück. Er war bar­häup­tig, und die Zwei­ge hat­ten sei­ne wi­der­spens­ti­gen Lo­cken ver­wirrt und ihre gol­de­nen Sträh­nen in Un­ord­nung ge­bracht. Es war ein furcht­sa­mer Aus­druck in sei­nen Au­gen, wie ihn Men­schen ha­ben, die man plötz­lich ge­weckt hat. Sei­ne fein ge­bau­ten Nüs­tern beb­ten, und ir­gend­ein ver­steck­ter Nerv riss lei­se an sei­nen Pur­pur­lip­pen, so­dass sie in ei­nem Zit­tern blie­ben.

»Ja«, fuhr Lord Hen­ry fort, »das ist eins der großen Ge­heim­nis­se des Le­bens: die See­le mit­telst der Sin­ne, und die Sin­ne mit­telst der See­le zu hei­len. Sie sind ein präch­ti­ges Men­schen­kind! Sie wis­sen mehr, als Sie den­ken, ge­ra­de wie Sie we­ni­ger wis­sen, als Ih­nen zu wis­sen not­tut.«

Do­ri­an Gray run­zel­te die Stirn und wand­te den Kopf ab. Er muss­te den jun­gen Mann, der groß und an­mu­tig ne­ben ihm stand, lieb­ha­ben. Sein ro­man­ti­sches, oli­ven­far­be­nes Ge­sicht und der müde Aus­druck dar­in in­ter­es­sier­ten ihn. Es war et­was in dem mü­den Ton sei­ner Stim­me, was völ­lig be­zau­ber­te. Auch sei­ne küh­len, wei­ßen, blu­men­haf­ten Hän­de hat­ten einen be­son­de­ren Reiz. Sie be­weg­ten sich wie Mu­sik, wenn er sprach, und schie­nen eine ei­ge­ne Spra­che zu ha­ben. Aber er fühl­te Angst vor ihm und schäm­te sich, Angst zu ha­ben. Wa­rum war es ei­nem Frem­den vor­be­hal­ten ge­blie­ben, ihn sich selbst zu of­fen­ba­ren? Ba­sil Hall­ward kann­te er seit Mo­na­ten, aber die Freund­schaft zwi­schen ih­nen hat­te ihn nie ge­än­dert. Plötz­lich war ei­ner in sein Le­ben ein­ge­tre­ten, der ihm das Ge­heim­nis des Le­bens ent­hüllt zu ha­ben schi­en. Und doch, wo­vor soll­te er Angst ha­ben? Er war kein Schul­kna­be und kein jun­ges Mäd­chen. Es war tö­richt, zage zu sein.