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In "Das Bildnis des Dorian Gray", einem Meisterwerk von Oscar Wilde, entfaltet sich die Geschichte eines jungen Mannes, Dorian Gray, dessen äußere Schönheit und jugendliche Unschuld ihn in das Zentrum einer gefährlichen Welt der Ästhetik und Moral führen. Wilde kombiniert eindrucksvoll einen feinsinnigen literarischen Stil mit tiefgründigen philosophischen Fragen zu Schönheit, Sünde und dem Preis der Unsterblichkeit. Vor dem Hintergrund des viktorianischen Englands spiegelt das Werk die Spannungen zwischen dem gesellschaftlichen Konformismus und individuellen Begierden wider, während es die Leser zu reflektierenden Überlegungen über das eigene Leben und die moralischen Konsequenzen ihrer Entscheidungen anregt. Oscar Wilde, ein führender Vertreter der ästhetischen Bewegung, war bekannt für seinen scharfen Verstand und seinen Umgang mit Ironie. Durch seine eigenen Erfahrungen als Außenseiter und sein Leben in einer von strengen Normen geprägten Gesellschaft wurde er zu einem scharfen Beobachter menschlicher Schwächen und gesellschaftlicher Heuchelei. Diese Aspekte fließen unweigerlich in "Das Bildnis des Dorian Gray" ein und machen es zu einem zeitlosen Kommentar über den Einfluss von Kunst auf das Leben und umgekehrt. Dieses Buch ist nicht nur eine fesselnde Erzählung, sondern auch eine Einladung zur kritischen Auseinandersetzung mit den Themen von Moral, Identität und der ewigen Suche nach dem Sinn des Lebens. Leser*innen, die sich für tiefgründige Fragen der Existenz und die düsteren Facetten der menschlichen Natur interessieren, werden in dieser zweisprachigen Ausgabe sowohl den ästhetischen Reichtum als auch die philosophische Tiefe Wildes erleben. Ein Must-Read für jeden Literaturfreund! In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Ein Mensch bleibt makellos jung, während sein Bild all das auf sich nimmt, was das Leben sonst sichtbar macht. In dieser radikalen Umkehrung schlägt Das Bildnis des Dorian Gray den Grundton an: die Konfrontation von Schönheit und Verantwortung, Oberfläche und innerem Gehalt. Oscar Wilde gestaltet daraus kein bloßes Schauerstück, sondern eine elegante Versuchsanordnung, in der Fragen nach Identität, Einfluss und Gewissen ästhetisch verhandelt werden. Der Roman lädt dazu ein, über die Macht der Verführung und die Kosten des Begehrens nachzudenken, ohne moralische Parolen vorwegzunehmen. Sein Reiz liegt im Schwebezustand zwischen Faszination und Unbehagen, der die Leserinnen und Leser produktiv beunruhigt.
Als Klassiker gilt dieses Werk, weil es eine zeitlose Spannung verdichtet: den Kult der Jugend und Schönheit in einer Gesellschaft, die zugleich moralische Maßstäbe beschwört. Wilde verbindet die Intelligenz des Salons mit der Suggestion des Gothischen und schafft eine Erzählung, die sowohl glänzt als auch sticht. Das Buch hat Generationen von Autorinnen und Autoren, Kritikerinnen und Kritikern sowie Kunstschaffenden inspiriert, indem es ästhetische Autonomie gegen pädagogische Zweckbindung verteidigt. Zugleich entfaltet es eine nachhaltige Reflexion über Freiheit, Verantwortung und Selbstinszenierung – Themen, die weit über die Entstehungszeit hinaus resonieren und stets neu gelesen werden können.
Der Autor, Oscar Wilde (1854–1900), gehört zu den prägenden Stimmen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. The Picture of Dorian Gray erschien erstmals 1890 in Lippincott’s Monthly Magazine und wurde 1891 als überarbeitete, erweiterte Buchausgabe mit einem programmatischen Vorwort veröffentlicht. Das Werk steht im Kontext des Ästhetizismus und der Décadence des fin de siècle und spiegelt das London der viktorianischen Spätzeit mit seinen sozialen Ritualen und moralischen Debatten. Die Publikationsgeschichte ist untrennbar mit Fragen der literarischen Freiheit verbunden: Fassungen, Zusätze und Streichungen dokumentieren, wie stark Wildes Roman die Grenzen des jeweiligen Geschmacks herausforderte.
In knappen Zügen lässt sich die Ausgangssituation so beschreiben: Ein begabter Maler schafft das Porträt eines außergewöhnlich schönen jungen Mannes. Ein brillanter Dandy öffnet diesem die Welt des geistreichen Gesprächs, der Genüsse und der provokanten Gedanken. In dieser Konstellation entsteht ein Wunsch, der eine sonderbare Macht entfaltet und sich in der gemalten Oberfläche niederlegt. Fortan wird das Bild zum stummen Gegenüber eines Lebens, das sich am Schein misst. Schauplatz ist vor allem London, mit seinen Ateliers, Salons und Theatern, in denen Anziehung, Einfluss und Entscheidung in feinen sozialen Bewegungen sichtbar werden.
Das Buch verhandelt grundlegende Themen: die Verführungskraft des Hedonismus und die Frage, ob Schönheit eine moralische Qualität besitzt; die Wirkung von Einfluss und Nachahmung auf eine formbare Persönlichkeit; den Kampf zwischen Selbstbild und Selbstkenntnis. Zentral ist das Motiv des Doppelgängers, hier als Kunstwerk, das zum Spiegel des Inneren wird. Wilde stellt dabei keine Lehrsätze auf, sondern komponiert Situationen, Stimmen und Atmosphären, die die Lesenden selbst zu Urteilen herausfordern. Der Roman lädt ein, über die Grenzen zwischen Kunst und Leben, Rolle und Charakter, Augenblick und Dauer nachzudenken.
Gleichzeitig ist Das Bildnis des Dorian Gray eine formbewusste Mischung aus Gesellschaftsroman, psychologischer Studie und Schauerliteratur. Das Gothische liefert das Unheimliche und das Motiv des Verborgenen; der Salondialog bringt Witz, Paradox und Eleganz; die psychologische Beobachtung schenkt Nuancen des inneren Zögerns und der Selbstrechtfertigung. Wilde nutzt diese Gattungen, um Wahrnehmung und Urteil der Lesenden zu modulieren: funkelnde Gespräche lenken, dichte Beschreibungen verlangsamen, abrupte Stimmungswechsel lassen die moralische Topographie ruckartig aufscheinen. So entsteht ein Erzählraum, der zugleich schmeichelt und prüft, betört und befragt.
Die zeitgenössische Rezeption war heftig: Das Werk wurde von Teilen der Presse als anstößig und gefährlich kritisiert. Redaktionelle Eingriffe und Wildes spätere Überarbeitung zeugen von einem Umfeld, das ästhetische Grenzgänge misstrauisch beäugte. Gerade dieser Konflikt machte den Roman zu einem Brennpunkt der Diskussion um Kunstfreiheit, Geschmack und Zensur. Das Vorwort der Buchausgabe verteidigt die Autonomie der Kunst in prägnanten Sentenzen und rahmt die Lektüre als ästhetische Erfahrung. Die Kontroversen, die das Buch begleiteten, haben seinen Rang gefestigt: Es wurde zum Prüfstein für Debatten über Moral und Ästhetik.
Sein Einfluss reicht weit über die Literatur hinaus. Das Motiv des Bildnisses, das die Last des Lebens trägt, hat Theater, Film, Bildende Kunst und Musik inspiriert und zahlreiche Adaptionen angeregt. Der Roman wirkt in Diskursen über Selbstinszenierung, die Macht der Bilder und die Ökonomie der Aufmerksamkeit nach. Er berührt Fragen, die moderne Kultur prägen: Wie viel Gestaltung verträgt ein Ich, bevor es zur Maske erstarrt? Wie formen Medien das Verhältnis zwischen dem, was erscheint, und dem, was ist? In dieser Spannweite bleibt Wildes Buch ein Reservoir für Interpretationen und künstlerische Weiterführungen.
Wildes Stil verbindet scharfsinnige Pointen mit klangvollen Bildern. Dialoge funkeln vor paradoxen Einfällen, während Beschreibungen von Räumen, Farben und Texturen eine sinnliche Bühne schaffen, auf der moralische Entscheidungen umso deutlicher hervortreten. Die Sprache arbeitet mit Kontrasten: Leichtigkeit und Schwere, Spiel und Ernst, Ornament und Präzision. Diese Kunst der Balance hält die Erzählung in Bewegung und bewahrt sie vor Eindeutigkeit. Wer aufmerksam liest, entdeckt, wie häufig Rhythmus, Wiederholung und motivische Spiegelungen das Thema der Verdopplung auf der Ebene der Form nachbilden. Die stilistische Meisterschaft ist Teil des bleibenden Vergnügens an diesem Text.
Eine zweisprachige Ausgabe eröffnet einen besonderen Zugang. Im direkten Vergleich von Deutsch und Englisch lässt sich Wildes Wortkunst in ihrer Nuancierung verfolgen: Klang, Doppelbödigkeit, Ironie und Rhythmus. Die deutsche Fassung macht Bedeutungsräume sichtbar, die in der Übertragung entstehen; der englische Originaltext zeigt, wie sehr Tonfall und Satzmusik die Wirkung tragen. Wer zwischen den Sprachen pendelt, schärft den Blick für Details und für die Art, wie jedes Idiom moralische und ästhetische Feinheiten akzentuiert. So wird das Lesen zugleich zur Entdeckungsreise in Stil, Begrifflichkeit und kulturellen Kontext.
Für die Lektüre empfiehlt es sich, auf wiederkehrende Motive zu achten: Spiegel, Düfte, Farben, Gewebe, Räume und Lichter. Sie bilden ein Netz von Anspielungen, das die Handlung kommentiert, ohne sie zu erklären. Wer die Figurenbeziehungen als Wechselspiel von Einfluss und Widerstand versteht, wird die leisen Verschiebungen bemerken, mit denen der Roman seine Spannung steigert. Wichtig ist, sich der Versuchung zu entziehen, das Buch als bloßes Sittenbild zu lesen. Es ist auch eine Meditation über Wahlfreiheit, Selbstdeutung und die Grenzen ästhetischer Rechtfertigung. Die Unbestimmtheit ist Teil seiner intellektuellen Energie.
Warum ist dieses Buch heute noch relevant? Es spricht in eine Gegenwart, in der Bilder zirkulieren, Jugendlichkeit kultiviert und Identität öffentlich inszeniert wird. Das Verhältnis von Selbstpflege und Selbstverlust, von Aufmerksamkeit und Abhängigkeit, von Glanz und Gewissen bleibt aktuell. Wilde zeigt, wie leicht Schönheit zur Währung und Einfluss zur Gewohnheit werden kann, und fragt zugleich, wie Kunst sich zu moralischen Erwartungen verhält. Zeitlos ist die Genauigkeit, mit der der Roman Verführung und Verantwortung in Balance hält. Seine Antworten sind nie endgültig; seine Fragen bleiben präzise. Darin liegt seine bleibende Modernität.
Oscar Wildes einziger Roman spielt im viktorianischen London und verknüpft Elemente des Schauerromans mit der Ästhetik der Décadence. Im Zentrum stehen drei Figuren: der Maler Basil Hallward, der an ein idealisches Bild von Schönheit glaubt; der brillante Zyniker Lord Henry Wotton, der Lust und Wirkung des Augenblicks propagiert; und Dorian Gray, ein außergewöhnlich schöner junger Mann. Das Buch untersucht, wie Einfluss wirkt, wie Moral sich verhüllt und wie stark das Begehren nach Jugend sein kann. Von Beginn an stellt der Roman die Frage, ob Kunst die Realität veredeln darf, wenn sie zugleich die Verantwortung für Taten überspielt.
Zu Beginn porträtiert Basil den jungen Dorian und empfindet sein Aussehen als Quelle künstlerischer Erneuerung. Lord Henry begegnet Dorian im Atelier und entfaltet eine verführerische Philosophie des Genusses, die dem Konventionellen trotzt. Dorian wird schlagartig der Vergänglichkeit seiner Schönheit gewahr und wünscht, die Last von Zeit und Schuld möge sich auf das Bildnis verlagern. Dieser unbedachte Wunsch markiert den zentralen Ausgangspunkt: Dorian bleibt nach außen unverändert, während sich im Hintergrund etwas zu verschieben scheint. Das Bild wird zur stummen Chronik seines inneren Lebens, ein Spiegel, der mehr als Äußerlichkeiten erfasst.
Eine frühe Bewährungsprobe für Dorians Charakter ist seine Begegnung mit der Schauspielerin Sibyl Vane. Ihr Talent und ihre Unschuld ziehen ihn an; er verklärt Kunst und Liebe zu einer Einheit. Unter dem Einfluss Lord Henrys betrachtet er ihre Kunst als Prüfstein seines Empfindens. Als eine Aufführung misslingt, reagiert er hart und impulsiv. Zurück zu Hause bemerkt er am Bildnis einen ersten, kaum fassbaren Ausdruck von Veränderung, der nicht zu seinem makellosen Gesicht passt. Dieser Moment legt nahe, dass seine Haltung Konsequenzen hat, die nicht an der Oberfläche bleiben, und verschiebt den inneren Maßstab des Geschehens.
Fortan gleitet Dorian in eine Lebensführung, die Rausch, Seltenes und Anregung sucht: kostbare Stoffe, exotische Düfte, Musik und Sammlungen, die alle Sinne beanspruchen. In der Gesellschaft zirkulieren Gerüchte, doch sein jugendliches Aussehen schützt ihn vor offener Ächtung. Hinter der Fassade wächst jedoch die Kluft zwischen Erscheinung und Wirklichkeit. Das Bildnis, verborgen vor Blicken, scheint jede Entscheidung zu registrieren und in hässlichen Nuancen fortzuschreiben, was Dorian nach außen zu verbergen weiß. Die Doppelung von Körper und Leinwand wird zum Kernkonflikt: Wie lange lässt sich ein Innenleben vor der Welt – und vor sich selbst – verleugnen?
Als Basil, beunruhigt über die Geschichten, Dorian zur Rede stellt, kulminiert die Spannung zwischen Kunstideal und gelebter Amoral. In einem folgenreichen Schritt zeigt Dorian dem Maler das Porträt. Die Enthüllung erzielt eine erschütternde Wirkung: Das Bild dokumentiert nicht nur Zeit, sondern Charakter. Statt die Wahrheit als Chance zur Umkehr zu nutzen, verstrickt Dorian sich tiefer in Geheimhaltung. Diese Begegnung markiert einen Wendepunkt, an dem Loyalitäten zerbrechen und das Werk, das zur Bewunderung gedacht war, seine dunkle Macht über die Beteiligten behauptet. Es wird deutlich, dass ästhetische Verehrung ethische Verantwortung nicht ersetzt.
Im Rückstoß dieser Begegnung versucht Dorian, Spuren zu verwischen und Kontrolle über Erzählungen zu behalten. Er sucht Orte auf, an denen Vergessen versprochen wird, und testet Grenzen von Abhängigkeit und Ablenkung. Zugleich gewinnt die Angst vor Entdeckung an Schärfe: Freunde wenden sich ab oder sind nur noch Komplizen der Fassade. Dorian benutzt Menschen, um seine Lage zu stabilisieren, und isoliert sich doch zunehmend. Die Stadt erscheint als Bühne, auf der er mühelos Rollen wechselt, während das Bildnis beharrlich Zeugnis ablegt. Der Roman verdichtet so das Motiv des Selbstbetrugs: der Versuch, Konsequenzen aus dem Blickfeld zu verbannen, ohne sie zu mindern.
Die Vergangenheit lässt sich jedoch nicht dauerhaft bannen. Zufälle und Begegnungen holen Dorian ein und machen die unsichtbare Schuld in den Straßen Londons greifbar. Blicke, Namen und Gerüchte werden zu Bedrohungen, die seine makellose Oberfläche perforieren könnten. Die Verfolgungsstimmung wächst, und mit ihr die Frage, ob Umkehr möglich ist oder nur ein weiteres Kapitel der Selbstinszenierung. Gleichzeitig verschärft der Zustand des Porträts den inneren Druck: Es ist nun nicht mehr bloß ein Mahnmal, sondern ein unerträglicher Kommentar. Dorian denkt über Veränderung nach, schwankt jedoch zwischen echtem Gewissen und berechnender Vorsicht.
In einem späten Versuch, seiner Geschichte eine Wendung zu geben, möchte Dorian eine moralische Entscheidung treffen, die ihm als Zeichen von Besserung dienen könnte. Er hofft, im Bild eine Bestätigung zu finden, dass Reue und Zurückhaltung Spuren auslöschen. Was er jedoch wahrnimmt, bleibt ambivalent und deutet darauf, dass Beweggründe zählen: Handelt er aus Einsicht oder aus Eitelkeit? Der Roman schärft damit sein zentrales Dilemma: Ist das Gute eine Frage des Handelns allein, oder verlangt es eine innere Umkehr, die sich nicht inszenieren lässt? Die Spannung treibt auf eine unausweichliche Konfrontation zu.
Das Bildnis des Dorian Gray entfaltet so eine Kritik am radikal verstandenen Ästhetizismus und am Kult der Oberfläche. Wilde zeigt, wie verführerisch Einfluss ist, wie brüchig moralische Selbstbilder sind und wie Kunst sowohl verschönen als auch entlarven kann. Der Roman, 1890 erstmals in einer Zeitschrift veröffentlicht und 1891 überarbeitet, provozierte Debatten über Kunst, Moral und Zensur. Seine anhaltende Wirkung liegt in der präzisen Metapher des Porträts: ein sichtbar gewordenes Gewissen, das keine Maske akzeptiert. Ohne die Auflösung vorwegzunehmen, bleibt die Frage nach Verantwortung und Selbstwahrheit als nachhaltige Zumutung bestehen.
Das Bildnis des Dorian Gray entsteht und spielt im spätviktorianischen Großbritannien, geprägt von Monarchie, Parlamentarismus und einem weitgespannten Empire. London ist das Zentrum von Finanzkapital, Weltverkehr und Kultur, zugleich Symbol sozialer Hierarchien und moralischer Konventionen. Die anglikanische Kirche, bürgerliche Wohlanständigkeit und Philanthropie setzen Normen des öffentlichen Auftretens. Industrialisierung, dichtes Eisenbahnnetz und neue Kommunikationstechnologien verdichten den Alltag. In diesem Milieu stehen Ansehen, Selbstdisziplin und respektable Fassaden hoch im Kurs, während urbane Vergnügungskulturen florieren und ebenso gefürchtet werden. Das Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher Moral und privater Lust bildet einen historischen Resonanzraum des Romans.
Publikationsgeschichtlich erscheint der Text zuerst im Juli 1890 in Lippincott’s Monthly Magazine, einem in Philadelphia verlegten Magazin mit britischer Ausrichtung. Vor Drucklegung wurde das Manuskript redaktionell gekürzt, um Angriffsflächen zu verringern. 1891 folgt bei Ward, Lock and Co. eine erweiterte Buchfassung mit zwanzig Kapiteln und einem programmatischen Vorwort in Aphorismenform. Diese Neuausgabe schärft die ästhetische Argumentation, glättet zugleich Passagen, die zeitgenössische Leser als anstößig empfanden. Der Publikationsweg – transatlantisches Magazin, danach britische Buchfassung – verknüpft die Geschichte mit Debatten beiderseits des Atlantiks über Kunst, Moral und Markt.
Die Ästhetik des Fin de Siècle liefert die zentrale Linse: Aestheticism und Decadence propagieren die Autonomie der Kunst und eine kultivierte Lebensform, deren Symbol der Dandy ist. Einflüsse von Walter Pater und der Leitsatz Kunst um der Kunst willen prägen den Ton. Das Vorwort der Buchausgabe formuliert eine knappe Ästhetik, die Kunst gegen moralische Zweckbindung in Schutz nimmt. Figurenrede, Interieurs und Objekte im Roman spiegeln diesen Stilwillen. In einer Kultur, die Nützlichkeit und Tugend hochhält, wirkt das ästhetische Programm bewusst provokant und öffnet den Raum für Debatten über den gesellschaftlichen Wert von Schönheit.
Der Roman erscheint in einem Klima verschärfter Sittenaufsicht. Das Obscene Publications Act von 1857 schafft rechtliche Instrumente gegen vermeintlich unsittliche Literatur; moralische Druckgruppen und mächtige Distributionsinstanzen wie Mudie’s Select Library und W. H. Smith beeinflussen, was das bürgerliche Publikum liest. Die Verurteilung des Verlegers Henry Vizetelly 1888/89 wegen Zola-Übersetzungen signalisiert, wie empfindlich die Grenze gezogen wird. Vor diesem Hintergrund werden an Dorian Gray sofort Fragen nach Anstößigkeit und Verführungsgefahr gestellt. Der literarische Markt ist nicht nur ökonomisch, sondern auch moralpolitisch reguliert.
Die Presse erlebt zugleich den Aufstieg des New Journalism, der Sensationen, Großstadtlaster und Skandale grell ausleuchtet. W. T. Steads Enthüllungsserie zur städtischen Prostitution 1885 trägt zum Criminal Law Amendment Act bei und schürt einen Reform- und Reinigungseifer. In dieser Öffentlichkeit verbindet sich die Faszination für urbane Vergnügungen mit Angst vor moralischem Zerfall. Der Roman, der Reiz und Gefahr des Hedonismus thematisiert, wird in solchen Medienlogiken gelesen: als Symptom, Warnung oder Provokation gegenüber einer Kultur, die sich selbst mit permanenter Enthüllung und Empörung beschäftigt.
London als Handlungsraum ist sozial und räumlich geteilt: West End, Clubs, Theater und elegante Salons stehen den überfüllten, ärmeren Vierteln des East End gegenüber. Die Ripper-Morde 1888 verdichten zeitgenössische Ängste vor anonymem Großstadtverbrechen. Opiumhöhlen und Hafengegenden sind in Presse und Literatur als topografische Chiffren für Dekadenz präsent. Der Roman nutzt diese urbanen Kontraste – Atelier, Salon, Bühne, Hinterzimmer – als moralische und ästhetische Kartografie. Bewegungen zwischen Bezirken markieren zugleich Bewegungen zwischen sozialen Welten, Öffentlichkeiten und Versuchungsräumen einer Metropole im Umbruch.
Naturwissenschaftliche und medizinische Diskurse verschieben moralische Fragen ins Terrain der Biologie und Psychologie. Seit Darwin steht die Evolutionstheorie gegen traditionelle Seelenlehren; Degenerationstheorien (z. B. Morel, Lombroso) behaupten Verfallstendenzen moderner Gesellschaften. Max Nordau popularisiert ab 1892 die Anklage der Entartung gegen Künstler der Décadence, namentlich auch gegen Wilde. Dorian Grays unversehrtes Äußeres bei verborgenem inneren Verfall spiegelt diese Furcht vor unsichtbarer Degeneration. Der Roman dramatisiert das Spannungsfeld von physiognomischer Lesbarkeit, wissenschaftlichem Determinismus und ethischer Verantwortung ohne es didaktisch aufzulösen.
Die viktorianische Bildkultur liefert eine weitere Folie. Repräsentative Ölporträts, die Tradition der Porträtgalerie, zugleich die Verbreitung der Fotografie mit Studios, Retuschen und Vervielfältigung verändern den Status der Abbildung. Künstler wie die Präraffaeliten und Debatten wie der Streit Ruskin gegen Whistler (mit dem berühmten Prozess 1878) prägen Gespräche über Zweck, Preis und Autonomie der Kunst. Basil Hallwards idealistisches Künstlerethos steht in diesem Feld, zwischen Markt, Mäzenatentum und ästhetischer Integrität. Der Roman macht das Porträt zur moralischen Projektionsfläche einer Gesellschaft, die Bilder kollektiv auflädt.
Starke französische Einflüsse prägen die literarische Atmosphäre: Baudelaire, die Symbolisten und vor allem Huysmans’ À rebours (1884) gelten als Kulminationspunkte der Décadence. Im Roman kursiert ein rätselhaftes gelbes Buch, das als Katalysator für Lebensstile und Lüste wirkt; viele Zeitgenossen erkannten Anspielungen auf Huysmans. Diese Intertextualität verweist auf einen regen Kulturtransfer zwischen Paris und London. Wichtig ist die Unterscheidung: Das gelbe Buch im Roman ist nicht identisch mit der späteren Londoner Zeitschrift The Yellow Book (ab 1894), die erst nach der Romankonzeption erscheint.
Religiöse Strömungen bilden ein weiterer Hintergrund. Evangelikales Pflichtethos, zugleich die Nachwirkungen der Oxfordbewegung und Impulse historisch-kritischer Bibelforschung schaffen Spannungen zwischen Ritual, Gewissen und Zweifel. In der Literatur verbindet sich dies mit der Faust-Tradition: Verträge mit dem Bösen, Tauschgeschäfte zwischen Seele, Zeit und Lust sind populäre Motive, um Moral im Zeitalter der Wissenschaft zu verhandeln. Dorian Grays zentrale Idee – der Aufschub sichtbarer Schuld – verwandelt eine religiös-ethische Frage in ein ästhetisches Experiment und stellt die Bedingungen von Schuld, Reue und Erlösung neu zur Debatte.
Die Konsumrevolution verwandelt Alltagsästhetik in ein Massenphänomen. Kaufhäuser, Luxusgewerbe und spezialisierte Händler wie Liberty & Co. bedienen die Sehnsucht nach Kunstobjekten, Stoffen, Düften, Möbeln. Zugleich propagiert die Arts-and-Crafts-Bewegung um William Morris eine Reform von Handwerk und Geschmack. Wilde selbst popularisiert Fragen der Innenraumgestaltung, unter anderem auf seiner USA-Vortragsreise 1882. Der Roman inszeniert Räume, Kostüme und Sammlungen als Schauplätze ästhetischer Selbstbildung – und als Versuchung, Schönheit zum Selbstzweck zu erheben. So wird Konsum zur Bühne, auf der sich Ethik, Stil und Identität kreuzen.
Geschlechterordnung und Sexualitätsregime strukturieren die Lektüre. Die Ideologie getrennter Sphären trennt männliche Öffentlichkeit und weibliche Häuslichkeit; zugleich existieren homosoziale Netzwerke der Clubs und Künste. Das Criminal Law Amendment Act von 1885 mit dem Labouchere-Zusatz kriminalisiert männliche gleichgeschlechtliche Handlungen unabhängig vom Ort. 1895 werden Wilde in aufsehenerregenden Prozessen verurteilt; Gegner führen dabei auch seine Schriften als Indizien eines verderbten Geschmacks an. Dorian Grays Anspielungen, Umwege und Leerstellen sind in dieser Lage nicht bloß Stilmittel, sondern Schutz- und Chiffriertechniken unter rechtlichem und sozialem Druck.
Wilde bringt transnationale Prägungen mit. 1854 in Dublin geboren, wächst er in einem gebildeten, kulturell aktiven Elternhaus auf, studiert in Dublin und in Oxford, wo ihn Walter Pater und John Ruskin beeinflussen. Akademische Auszeichnungen und frühe literarische Erfolge öffnen ihm Londons Salons. 1884 heiratet er Constance Lloyd; er arbeitet als Kritiker, Essayist und ab den frühen 1890er Jahren als Dramatiker mit großem Bühnenerfolg. Diese Laufbahn, zwischen Irland, England und Kontinent, verankert Dorian Gray in einem Netzwerk aus Universitätskultur, Kunstkritik und Theateröffentlichkeit.
Gegen Ende des Jahrhunderts verschränken sich Gattungen. Der Gothic-Roman erlebt eine Renaissance, die psychologische Spaltungsmotive kultiviert (Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde, 1886); die Sensationsliteratur mischt Kriminalität, Geheimnis und sozialen Kommentar. Dorian Gray verbindet Gesellschaftsroman, Künstlernovelle und modernes Moralspiel. Der Text nutzt das Fantastische nicht als bloße Flucht, sondern als scharfes Instrument zur Prüfung zeitgenössischer Lebensformen. Stilistisch oszilliert er zwischen ironischer Gesellschaftsbeobachtung und düsteren Allegorien, was die Vieldeutigkeit des historischen Kommentars verstärkt.
Der Weg über Magazin- und Buchmarkt bestimmt die Rezeption. Die Lippincott-Fassung provoziert unmittelbaren Widerspruch; die 1891er Ausgabe erweitert die Handlung und entschärft einzelne homoerotische Andeutungen, während das Vorwort eine autonome Ästhetik behauptet. Rezensionen schwanken zwischen Bewunderung für Stil und Form und Vorwürfen der Unsittlichkeit. Zirkulierende Bibliotheken und Buchhändler filtern das Angebot für das bürgerliche Publikum, was Verbreitung und Publikumsschichten beeinflusst. So wird der Roman an der Schnittstelle von Markterfolg, Zensurängsten und intellektueller Debatte verhandelt.
Auch international entfaltet der Text Wirkung. Um 1900 kursieren Übersetzungen in mehrere europäische Sprachen; Debatten über Décadence, Symbolismus und Jugendstil liefern auf dem Kontinent Aufnahmeraster. In deutschsprachigen Kontexten verknüpfen sich Fragen des Stils mit moralischer und psychologischer Interpretation. Bilinguale Ausgaben heute spiegeln diese transkulturelle Bewegung: Sie erlauben, Wildes Wortkunst mit ihren Klang- und Bedeutungsschichten im Original nachzuprüfen und zugleich Rezeptionswege in anderen Sprachräumen sichtbar zu machen. So wird Dorian Gray als europäisches Fin-de-Siècle-Dokument lesbar.
Der Roman kommentiert seine Zeit, indem er Oberfläche, Begehren und Gewissen in ein brisantes Gleichgewicht bringt. Er entlarvt die Rhetorik der Respektabilität als verletzlich gegenüber Luxus, Ruhm und Einfluss, und er befragt eine Gesellschaft, die Bilder verehrt und verdrängte Kosten ästhetischer Lebensführung externalisiert. Die Geschichte spiegelt mediale Sensationslust, urbanen Hedonismus und moralische Doppelmoral im Spiegel eines Porträts. Damit überschreitet sie den Moment der Entstehung: Sie bleibt ein Prüfstein dafür, wie moderne Kulturen Schönheit, Verantwortung und Selbstinszenierung aushandeln.
Oscar Fingal O’Flahertie Wills Wilde wurde am 16. Oktober 1854 in Dublin geboren und starb am 30. November 1900 in Paris. Er galt als einer der brillantesten Stilisten seiner Zeit: Dramatiker, Romancier, Essayist und Meister des Aphorismus. Wilde prägte den Ästhetizismus im späten Viktorianismus und verband scharfe Gesellschaftskritik mit schillernder Selbstinszenierung. Zu seinen bekanntesten Werken zählen der Roman Das Bildnis des Dorian Gray sowie Bühnenstücke wie Lady Windermeres Fächer, Ein idealer Gatte und The Importance of Being Earnest. Seine Karriere kulminierte in großem Theaterruhm, wurde jedoch durch öffentlichkeitswirksame Prozesse und Gefängnishaft tragisch gebrochen.
Wilde heiratete 1884 Constance Lloyd; das Paar hatte zwei Söhne. Neben seinem Ruhm als Unterhalter der Londoner Salons war er ein ernsthafter Theoretiker der Kunst. Seine Märchensammlungen The Happy Prince and Other Tales und A House of Pomegranates zeigten eine Seite von Mitgefühl und moralischer Imagination, die mit seinem Witz korrespondierte. In Dorian Gray und den Gesellschaftskomödien entfaltet er eine Kunst des Paradoxons, die das Verhältnis von Moral, Begehren und Maske durchspielt. Als literarische Ikone prägt er bis heute Debatten über die Autonomie der Kunst, queere Geschichte und das moderne Theater.
Wilde wuchs in einem intellektuellen Haushalt auf. Sein Vater, Sir William Wilde, war ein angesehener Augen- und Ohrenarzt sowie Volkskundler; seine Mutter, Jane Francesca Wilde, veröffentlichte als Poetin und Nationalistin unter dem Namen Speranza. Diese Umgebung, in der Gelehrsamkeit, politische Debatten und künstlerische Ambitionen selbstverständlich waren, prägte Wildes Selbstverständnis als Schriftsteller. Eine klassische Schulbildung erhielt er an der Portora Royal School in Enniskillen, wo er frühe Neigungen zu Sprachen, Mythologie und antiker Geschichte ausbildete, die später seine ästhetische Haltung und stilistische Präzision grundieren sollten.
1871 begann Wilde ein Studium der Klassischen Altertumswissenschaften am Trinity College Dublin. Er erzielte herausragende Leistungen, gewann prestigeträchtige Auszeichnungen und erwarb ein Stipendium für das Magdalen College in Oxford, wo er von 1874 bis 1878 studierte. In Oxford erhielt er für das Gedicht Ravenna den Newdigate-Preis und schloss die Greats mit Auszeichnung ab. Die intensive Beschäftigung mit griechischer Dichtung und Philosophie schärfte sein Sensorium für Form und Anspielung. Diese akademische Strenge verband er früh mit einer Vorliebe für Maskerade, Inszenierung und gesellschaftliche Rollenbilder.
Prägend wirkten in Oxford vor allem John Ruskin und Walter Pater. Von Ruskin übernahm Wilde Sinn für Handwerk, Ethos und die soziale Dimension von Kunst; von Pater das emphatische Bekenntnis zur Intensität ästhetischer Erfahrung. Reisen nach Italien und Griechenland vertieften seine klassische Orientierung. Gleichzeitig öffnete er sich französischen Strömungen, insbesondere der Décadence und Symbolik. Aus diesem Spannungsfeld entwickelte er eine Haltung, in der das Schöne als autonome Sphäre galt, die jedoch die Wirklichkeit durch Stil transformieren kann. So entstand die berühmte Mischung aus Ernst und Ironie, die sein späteres Werk charakterisiert.
Nach Oxford suchte Wilde in London Anschluss an die literarische Szene, veröffentlichte 1881 den Band Poems und kultivierte eine öffentliche Persona, die Aufmerksamkeit erregte. 1882 bereiste er die Vereinigten Staaten und Kanada auf einer Vortragsreise über Ästhetizismus; die Tour machte ihn einem breiten Publikum bekannt. Mitte der 1880er Jahre schrieb er Essays und Rezensionen und übernahm 1887 die Redaktion des Frauenmagazins The Woman’s World, das er zwei Jahre lang neu ausrichtete. Die journalistische Praxis schulte seine pointierte Prosa und bereitete den Stil vor, der seine Erzählungen und dramatischen Arbeiten bestimmen sollte.
Im Prosawerk verband Wilde Märchenhaftes, Satire und moralische Implikation. The Canterville Ghost und die Sammlung The Happy Prince and Other Tales zeigen Mitgefühl für Außenseiter, verbunden mit berührender Ironie. A House of Pomegranates vertieft diesen Ton, indem es Schönheit und Leid dicht verschränkt. Die Geschichten machen deutlich, wie souverän er zwischen Pathos und Witz, Allegorie und gesellschaftlicher Beobachtung wechselt. Zugleich erprobte er narrative Maskenspiele, die später in seinem Theater reifen: Figuren inszenieren sich, Rollen kippen, Identitäten werden performativ hergestellt – ein Kernmotiv seines gesamten Schaffens.
Das Bildnis des Dorian Gray erschien 1890 zunächst in einer Zeitschriftenfassung und 1891 als erweiterte Buchausgabe. Der Roman löste lebhafte Debatten über Moral, Kunst und Einfluss literarischer Bilder aus. Wilde verteidigte die Autonomie der Kunst, spielte aber bewusst mit Grenzziehungen zwischen Ästhetik, Ethik und Begehren. Die präzise, epigrammatische Prosa, das Spiel mit Einfluss und Spiegelung sowie das Motiv der Doppelbödigkeit machten das Buch zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Dorian Gray etablierte Wilde endgültig als Autor, der gesellschaftliche Tabus literarisch zu fassen wusste und sie durch Stil sowohl enthüllte als auch verhüllte.
Zwischen 1892 und 1895 eroberte Wilde die Londoner Bühne. Lady Windermeres Fächer, A Woman of No Importance, An Ideal Husband und The Importance of Being Earnest zeigten eine beispiellose Kontrolle über Timing, Sprache und soziale Masken. Ihre scheinbar leichte Konversation birgt präzise Konstruktion und moralische Ambivalenz. Parallel verfasste er Salome auf Französisch; das Stück wurde in Großbritannien wegen biblischer Darstellung untersagt und 1896 in Paris uraufgeführt. Die Triumphe kulminierten 1895 in einem Höhepunkt, der jedoch durch die Prozesse gegen Wilde abrupt in Krise und öffentlichen Sturz überging.
Wilde artikulierte seine ästhetische Programmatik in Essays, die 1891 in Intentions gesammelt wurden, darunter The Decay of Lying und The Critic as Artist. Er behauptete die Unabhängigkeit der Kunst und argumentierte, dass Stil die Welt neu erschaffe. Zeitgleich formulierte er in The Soul of Man under Socialism eine Vision von Individualismus, die künstlerische Freiheit und soziale Befreiung zusammendachte. Kunst sollte nicht der Nützlichkeit geopfert, sondern als Möglichkeitsraum verstanden werden. Diese Position stellte ihn in Opposition zu rigiden moralischen Normen seiner Zeit, ohne die gesellschaftlichen Bedingungen zu ignorieren, in denen Kunst entsteht und wirkt.
1895 führten eine verleumdungsrechtliche Auseinandersetzung und anschließende Strafprozesse zu seiner Verurteilung wegen grober Unzucht und zweijähriger Haft mit harter Arbeit. In der Reading Gaol verfasste er den langen Brief De Profundis, der erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde, und reflektierte Scheitern, Liebe, Kunst und Verantwortung. Nach der Entlassung entstand The Ballad of Reading Gaol, deren Mitgefühl für Gefangene das Gespräch über Strafe und Menschlichkeit erweiterte. Wildes Erfahrungen prägten spürbar seine spätere Haltung: Sein ästhetischer Individualismus verband sich stärker mit einer Ethik der Empathie gegenüber Ausgestoßenen.
Nach seiner Entlassung 1897 lebte Wilde überwiegend in Frankreich, oft zurückgezogen und in finanziell prekären Verhältnissen; zeitweise verwendete er das Pseudonym Sebastian Melmoth. Die Gesundheit blieb angeschlagen. Er starb 1900 in Paris an Meningitis; zeitgenössische Berichte halten fest, dass er kurz vor seinem Tod in die römisch-katholische Kirche aufgenommen wurde. Postum festigte sich sein Ruf: De Profundis erschien 1905, The Ballad of Reading Gaol blieb präsent. Seine Komödien werden weltweit gespielt, Dorian Gray gehört zum Kanon. Wildes scharfer Witz, seine Formkunst und sein couragiertes Leben prägen bis heute Theater, Prosa und Debatten über Identität und Freiheit.
Inhalt
Vorbekenntnis
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.
Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, ist die Aufgabe der Kunst.
Ein Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in eine andere Form oder in einen anderen Stoff zu übertragen vermag.
Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine Art Autobiographie.
Wer in schönen Dingen einen häßlichen Sinn findet, ist verderbt, ohne anmutig zu sein. Das ist ein Fehler.
Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn findet, hat Kultur. Er berechtigt zu Hoffnungen.
Das sind die Auserwählten, für die schöne Dinge lediglich Schönheit bedeuten.
Ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt's überhaupt nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst nichts.
Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel erblickt.
Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel nicht sieht.
Das sittliche Dasein des Menschen liefert dem Künstler einen Teil des Stoffgebietes, aber die Sittlichkeit der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mittels.
Kein Künstler empfindet das Verlangen, etwas zu beweisen. Selbst Wahrheiten können bewiesen werden.
Kein Künstler hat ethische Neigungen. Eine ethische Neigung beim Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.
Kein Künstler ist an sich krankhaft. Der Künstler kann alles aussprechen.
Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst.
Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer Kunst.
Was die Form betrifft, so ist die Kunst des Musikers die Urform aller Künste. Was das Gefühl betrifft, so ist der Beruf des Schauspielers diese Urform.
Alle Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol.
Wer unter der Oberfläche schürft, tut es auf eigene Gefahr.
Wer das Symbol herausdeutet, tut es auf eigene Gefahr.
In Wahrheit wird der Betrachter und nicht das Leben abgespiegelt.
Meinungsunterschiede über ein Kunstwerk beweisen seine Neuheit, Vielfältigkeit und Lebenskraft.
Sind die Kritiker uneinig, so ist der Künstler einig mit sich selbst.
Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches schafft, solang er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung für den, der etwas Nutzloses schuf, besteht darin, daß es äußerst bewundert wird.
Alle Kunst ist völlig nutzlos.
Das Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und wenn der leichte Sommerwind die Bäume im Garten wiegte, so floß durch die offene Tür der schwere Geruch des Flieders herein oder der zartere Duft des Rotdorns.
Aus der Ecke seines Diwans mit persischen Satteltaschen, auf dem Lord Henry Wotton lag und wie gewöhnlich unzählige Zigaretten rauchte, konnte er gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten eines Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige nur seufzend die Last einer so flammenden Schönheit zu tragen schienen, und dann und wann huschten die phantastischen Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen bastseidenen Vorhänge, die vor das große Fenster gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art japanischer Stimmung und ließ den Lord an die bleichen, nephritgelben Maler der Stadt Tokio denken, die mit Hilfe einer Kunst, die notwendigerweise erstarrt genannt werden muß, das Gefühl von Schnelligkeit und Bewegung hervorzubringen suchen. Das tiefe Gesumme der Bienen, die ihren zweifelnden Flug durch das hohe, ungemähte Gras nahmen oder mit eintöniger Zähigkeit um die bestaubten Goldtrichter des wuchernden Geißblattes kreisten, ließ die Stille noch drückender scheinen. Das dumpfe Brausen Londons murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen Orgel.
In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgestellten Staffelei das lebensgroße Bildnis eines außerordentlich schönen Jünglings, und ihm gegenüber, ein paar Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren bei der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu so vielen seltsamen Vermutungen Anlaß gegeben hatte.
Während der Maler die anmutige und liebenswürdige Gestalt betrachtete, die seine Kunst so prachtvoll wiedergespiegelt hatte, huschte ein freudiges Lächeln über sein Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. Plötzlich aber fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit den Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen Traume zu erwachen, und als suche er ihn im Gehirn einzuschließen.
»Es ist dein bestes Werk, Basil, das beste, was du jemals gemacht hast[1q]«, sagte Lord Henry schläfrig-müde. »Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins Grosvenor[1] schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich. Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele Leute da, daß ich die Bilder nicht sehen konnte, und das war schlimm, oder so viel Bilder, daß ich die Leute nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das Grosvenor ist der einzig richtige Platz.«
»Ich denke überhaupt nicht daran, es auszustellen«, antwortete der Maler und warf den Kopf in jener merkwürdigen Art zurück, über die schon oft seine Freunde in Oxford gelacht hatten. »Nein, ich will es nirgends ausstellen.«
Lord Henry hob die Augenbrauen und sah den anderen erstaunt durch die dünnen blauen Raucharabesken an, die in so abenteuerlichen Wirbeln von der starken opiumgetränkten Zigarette aufstiegen. »Nirgends ausstellen? Ja warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür? Was ihr Maler doch für Käuze seid! Ihr tut alles in der Welt, um euch einen Namen zu machen. Habt ihr ihn endlich, so wollt ihr ihn scheinbar wieder loswerden. Das ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges Ding auf Erden, das peinlicher ist als in aller Leute Munde zu sein, und das ist: nicht in aller Leute Munde zu sein. Ein Porträt wie das da höbe dich weit über alle jungen Leute in England empor und würde die Alten vor Neid platzen lassen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung fähig sind.«
»Ich weiß, du wirst mich auslachen,« entgegnete er, »aber ich kann es wahrhaftig nicht ausstellen. Es steckt da zuviel von mir selbst drin.«
Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.
»Ja, ich habe das gewußt; es bleibt aber doch wahr, ganz sicher.«
»Zuviel von dir soll darin sein? Auf mein Wort, Basil, ich hätte nie geahnt, daß du so eitel bist; ich kann wirklich nicht die blasseste Ähnlichkeit entdecken zwischen dir mit deinem groben, eckigen Gesicht und deinem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht, als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein lieber Basil, es ist ein Narziß, und du – natürlich hast du ein geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit, wirkliche Schönheit hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck anfängt. Geist ist an sich eine Art Übermaß und zerstört das Ebenmaß jedes Gesichts. Im Moment, wo man sich ans Denken begibt, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder sonst etwas Greuliches. Sieh dir doch mal alle die Männer an, die in gelehrten Berufen etwas geleistet haben. Sind sie nicht alle ausgesprochen häßlich? Natürlich die Männer der Kirche ausgenommen. Aber in der Kirche denken sie eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig Jahren noch unveränderlich dasselbe, was ihm als achtzehnjährigem Bengel beigebracht wurde, und infolgedessen sieht er immer entzückend aus. Dein geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast, dessen Bild mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses schönes Geschöpf, das wir im Winter immer bei uns haben sollten, wenn es keine Blumen zum Anschauen gibt, und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du siehst ihm ganz und gar nicht ähnlich.«
»Du verstehst mich gar nicht, Henry«, antwortete der Künstler. »Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Das weiß ich selbst. In Wirklichkeit wäre ich sogar traurig, sähe ich ihm ähnlich. Du brauchst nicht mit den Achseln zu zucken. Ich sage dir die Wahrheit. Jede körperliche und geistige Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so eine Tragik etwa, wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen in der Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint. Es ist besser, nicht anders zu sein als die Nebenmenschen. Die Häßlichen und die Dummen haben das beste Leben der Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel sorglos begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber dafür bleibt ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen erspart. Sie leben dahin, wie wir es alle sollten: ungestört, gleichgültig und ohne Mißbehagen. Sie bringen anderen kein Unheil und empfangen es auch nicht von fremder Hand. Dein Stand und dein Reichtum, Harry, mein Geist, soviel ich davon habe, meine Kunst, soviel sie wert ist, Dorian Gray für sein schönes Aussehen – wir müssen alle für die Geschenke der Götter leiden, schrecklich leiden.«
»Dorian Gray? Heißt er so?« fragte Lord Henry und ging durch das Atelier auf Basil Hallward zu.
»Ja, so heißt er. Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen.«
»Aber warum nicht?«
»Oh, ich kann's nicht so erklären. Wenn ich einen Menschen sehr, sehr lieb habe, verrate ich an niemand seinen Namen. Das käme mir so vor, als lieferte ich damit einen Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich allmählich eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint noch die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös und wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit wird reich an Schönheit, wenn man sie verbirgt. Ich sage auch nie, wohin ich reise, wenn ich mal die Stadt verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine ganze Freude daran hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie bringt doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben. Du denkst jetzt gewiß, ich bin furchtbar närrisch?«
»Nicht im geringsten,« antwortete Lord Henry, »nicht im geringsten, mein lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, daß ich verheiratet bin, und daß der Hauptreiz der Ehe darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der Täuschung zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und meine Frau weiß nie, was ich tue und treibe. Wenn wir beisammen sind – wir sind gelegentlich beisammen, wenn wir zu einem Diner eingeladen sind oder zum Herzog aufs Land fahren – so erzählen wir uns die verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. Meine Frau versteht das vorzüglich, ohne Frage besser als ich. Sie verwickelt sich bei den Tatsachen nie in Widersprüche, und bei mir kommt es beständig vor. Wenn sie mich aber ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Ich wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht mich nur aus.«
»Ich kann die Art nicht leiden, wie du über deine Ehe sprichst«, sagte Basil Hallward und ging langsam auf die Tür zu, die in den Garten führte. »Ich glaube, du bist in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und schämst dich nur immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein sonderbarer Kauz: du sagst nie was Moralisches und tust nie was Schlechtes. Dein Zynismus ist nichts als Pose.«
»Natürlichkeit ist immer eine Pose, und zwar die ärgerlichste Pose, die ich kenne«, rief Lord Henry lachend aus, und die beiden jungen Männer gingen zusammen in den Garten und ließen sich auf einer langen Bambusbank nieder, die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand. Das Sonnenlicht flirrte tanzend über die glatten Blätter. Im Grase zitterten weiße Gänseblümchen.
Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr: »Ich fürchte, ich muß gleich fort, Basil,« brummte er, »aber bevor ich gehe, mußt du mir noch unbedingt die Frage beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.«
»Was war das?« sagte der Maler, die Augen fest zu Boden gerichtet.
»Na, du weißt doch.«
»Sicher nicht, Harry.«
»Gut, dann will ich's dir nochmals sagen. Du sollst mir erklären, warum du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen willst. Ich bestehe darauf, den wirklichen Grund zu wissen.«
»Ich habe dir den wirklichen Grund schon gesagt.«
»Nein, das hast du nicht getan. Du hast nur gesagt, weil zuviel von dir selbst in dem Bilde stecke. Das ist aber kindisch.«
»Harry,« sagte Basil Hallward und sah dem anderen gerade ins Gesicht, »jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt ist, ist ein Porträt des Künstlers, nicht des Modells. Das Modell ist nur der Anlaß, die Gelegenheit. Nicht dies wird vom Maler enthüllt; nein, der Maler offenbart auf der farbigen Leinwand eher sich selbst. Ich will also dies Bild darum nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe das Geheimnis meiner eigenen Seele darin aufgedeckt.«
Lord Henry lachte. »Und worin bestünde das?« fragte er.
»Ich will es sagen«, antwortete Hallward; aber in sein Gesicht trat ein Ausdruck von Ratlosigkeit.
»Ich bin äußerst gespannt, Basil«, fuhr sein Gefährte mit einem Blick nach ihm fort.
»Oh, es ist wirklich nicht viel zu berichten, Harry,« entgegnete der Maler, »und du verstehst es wohl kaum, wie ich fürchte. Vielleicht auch glaubst du mir nicht einmal.«
Lord Henry lächelte und bückte sich dann, um ein rosa angehauchtes Gänseblümchen aus dem Grase zu pflücken, das er betrachtete. »Ich werde dich ganz gewiß verstehen,« erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die kleine, goldene, weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, »und was das Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, daß es unwahrscheinlich genug ist.«
Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, und die schweren, vielgesternten Traubendolden der Fliederbüsche bewegten sich in der schwülen Luft. Eine Grille begann an der Gartenmauer zu zirpen, und wie ein blauer Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil Hallwards Herz pochen zu hören und war neugierig, was wohl kommen möchte.
»Die Geschichte ist einfach die«, sagte der Maler nach einer Weile. »Vor zwei Monaten ging ich mal zu einem der Massenempfänge bei Lady Brandon. Du weißt, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, daß wir keine Wilden sind. Du sagtest mir einmal: in Frack und weißer Binde kann selbst ein Börsenmensch in den Verdacht von Bildung kommen. Nun also, ich war etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten, vornehmen Witwen und platten Akademikern, da merkte ich plötzlich, daß mich jemand anblickte. Ich drehte mich halb um und sah zum ersten Male Dorian Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich unsere Blicke begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich. Ich wußte, ich stand einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber, dessen bloße Erscheinung so bezaubernd auf mich wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine ganze Natur, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst an sich reißen müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben irgendwelcher Einwirkung von außen her. Du weißt ja selbst, Harry, wie unabhängig ich von Haus aus bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; war es wenigstens so lange, bis ich Dorian Gray traf. Dann – aber ich weiß nicht, wie ich dir das begreiflich machen soll. Irgend etwas schien mir im voraus zu sagen, daß ich an einem schrecklichen Wendepunkt in meinem Leben stand. Ich hatte die eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich die ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten Schmerzen in Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich wandte mich zum Gehen. Das Gewissen trieb mich nicht dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir nichts darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.«
»In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit ein und dasselbe. Gewissen lautet nur die eingetragene Firma. Weiter gar nichts.«
»Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, du wohl auch nicht. Einerlei aber, aus welchem Grunde es geschah – es mag auch Stolz gewesen sein, denn ich war schon immer sehr stolz – jedenfalls eilte ich der Türe zu. Natürlich prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen. ›Sie wollen doch nicht etwa schon davonlaufen, Herr Hallward?‹ kreischte sie auf. Du kennst ja ihre schrille Stimme.«
»Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf die Schönheit«, sagte Lord Henry und zerrupfte das Gänseblümchen zwischen seinen langen nervösen Fingern.
»Ich konnte sie nicht loswerden. Sie zerrte mich zu den königlichen Hoheiten hin, zu den Leuten mit Orden und Sternen und zu den ältlichen Damen mit riesenhaften Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich dabei ihren besten Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal vorher gesehen, aber sie setzte es sich in den Kopf, aus mir den Löwen des Tages zu machen. Ich glaube, damals hatte gerade ein Bild von mir großen Erfolg gehabt, wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz darüber gebracht, und das ist ja im neunzehnten Jahrhundert das Eichungsmaß der Unsterblichkeit. Plötzlich stand ich dem jungen Manne gegenüber, dessen Äußeres mich vorhin so merkwürdig erschüttert hatte. Wir standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah. Unsere Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig von mir, aber ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Vielleicht war es aber doch alles in allem nicht so leichtsinnig. Es war einfach nicht zu umgehen. Wir hätten auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Ich bin dessen gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch er fühlte, daß unsere Bekanntschaft Schicksalsfügung war.«
»Und wie hat Lady Brandon den wunderbaren Jüngling beschrieben?« fragte sein Gefährte. »Ich weiß, es ist ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine kleine Skizze zu geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem schrecklichen, alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen Brust mit Orden und Bändern beklext war, und mir in einem tragischen Flüsterton, der für jedermann im Zimmer hörbar war, die erstaunlichsten Einzelheiten über ihn ins Ohr zischelte. Ich mußte einfach davonlaufen. Ich entdecke die Leute gerne von mir selbst aus. Aber Lady Brandon behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator seine Waren. Sie erklärt sie einem entweder so lange, bis nichts mehr davon übrigbleibt, oder sie sagt alles, gerade mit Ausnahme dessen, was man wissen will.«
»Die arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie«, sagte Hallward zerstreut.
»Mein guter Junge, sie wollte einen Salon gründen und hat es nur bis zu einem Restaurant gebracht. Wie soll ich sie da bewundern? Aber sage nun endlich, was sie über Herrn Dorian Gray erzählt hat?«
»Oh, so irgend was wie ›Entzückender junger Mensch – seine arme Mutter und ich ganz unzertrennlich – vergaß ganz was er treibt – fürchte fast – gar nichts – ach ja, spielt Klavier – oder war es die Geige, lieber Herr Gray?‹ Wir mußten beide lachen und wurden sofort Freunde.«
»Lachen ist wohl lange nicht der schlechteste Anfang für eine Freundschaft, und gewiß ihr schönstes Ende«, sagte der junge Lord und pflückte sich noch ein Gänseblümchen.
Hallward schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Ahnung, was Freundschaft ist, Harry,« murmelte er, »und ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast alle Welt gern; mit anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.«
»Wie grausam ungerecht von dir!« rief Lord Henry, stieß seinen Hut in den Nacken und sah zu den Lämmerwolken empor, die gleich verwirrten Knäueln glänzendweißer Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels dahinschifften. »Ja, grausam ungerecht von dir. Ich unterscheide die Leute sehr scharf. Ich wählte meine Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug sein in der Wahl seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen, der ein Narr ist. Es sind sämtlich Leute von einer gewissen geistigen Höhe, und daher schätzen sie mich auch alle. Bin ich sehr eitel? Ich glaube, es ist ein bißchen eitel.«
»Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung zählte ich nur unter deine Bekanntschaften.«
»Mein lieber, alter Basil, du bist weit, weit mehr als ein Bekannter.«
»Und weit weniger als ein Freund! Wohl so eine Art Bruder?«
»Pah, Bruder! Bleibe mir mit Brüdern vom Halse. Mein ältester will nicht sterben, und meine jüngeren tun scheinbar nichts anderes.«
»Harry!« rief Basil mit gerunzelter Stirne.
»Mein lieber Junge, ich meine es nicht so ernst. Aber ich kann mir nicht helfen, ich verabscheue meine Verwandten. Ich vermute, das schreibt sich daher, daß kein Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen kann. Ich verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten auf die sogenannten Laster der oberen Stände. Die Massen fühlen, daß Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit zu ihren Vorrechten gehören sollten, und daß jeder von uns, der sich darin bloßstellt, gewissermaßen auf ihrem Gebiete wildert. Als damals der Scheidungsprozeß des armen Southwark spielte, war ihre Entrüstung wirklich prachtvoll. Und trotzdem lebt meiner Überzeugung nach nicht der zehnte Teil des Proletariats der Sitte gemäß.«
»Ich stimme keinem einzigen deiner Worte bei, und, was mehr ist, Harry, du selbst glaubst ja auch nicht im mindesten daran.«
Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und stieß mit dem zierlichen Spazierstock aus Ebenholz gegen die Kappe seines eleganten Lackstiefels. »Wie englisch du bist, Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen Einwurf. Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt – an sich schon immer eine Unüberlegtheit –, so fällt es ihm nicht im Traum ein, zu erwägen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das einzige, was ihm von Belang scheint, ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt. Aber der Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Idee um so geistreicher sein, je unaufrichtiger der Mann ist, weil sie in diesem Fall weder die Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner Wünsche noch seiner Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht die Absicht, politische, soziale oder metaphysische Diskussionen mit dir zu führen. Mir sind Menschen lieber als Grundsätze und grundsatzlose Menschen überhaupt das Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von Dorian Gray. Wie oft siehst du ihn?«
»Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn mal einen Tag nicht sähe. Er ist für mich einfach ein Bedürfnis.«
»Wie merkwürdig! Ich glaubte immer, du kümmertest dich um nichts anderes als um deine Kunst.«
»Er ist für mich jetzt meine ganze Kunst«, sagte der Maler ernsthaft. »Manchmal glaube ich, Harry, daß es nur zwei wichtige Epochen in der Weltgeschichte gibt. Die erste ist das Auftreten einer neuen Kunsttechnik und die zweite die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit in der Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war, das war das Gesicht des Antinous[2] für die spätgriechische Bildhauerkunst, und das wird eines Tages für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf es dabei ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere. Natürlich hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für mich als ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich will gewiß nicht behaupten, daß ich unzufrieden mit dem bin, was ich nach ihm gemacht habe, oder daß seine Schönheit derart ist, daß sie die Kunst nicht ausdrücken könne. Es gibt überhaupt nichts, was die Kunst nicht ausdrücken kann, und ich weiß: was ich gemacht habe, seitdem ich Dorian Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste Arbeit meines Lebens. Aber auf irgendeine seltsame Weise – ich glaube kaum, daß du das verstehen wirst – hat mir seine Persönlichkeit eine vollständig neue Art der Kunst, einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge anders, ich denke darüber anders. Ich kann jetzt das Leben auf eine Art festhalten, die mir früher nicht gegeben war. ›Ein Traum von Form in unseren Tagen des Denkens‹: wer war es, der so sagte? Ich hab's vergessen; aber das bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare Gegenwart dieses Knaben – denn für mich ist er kaum mehr als das, wenn er auch schon über die Zwanzig – seine bloße sichtbare Gegenwart – ach! ich glaube nicht, daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich bedeutet! Ohne es selbst zu wissen, enthüllt er mir die Linien einer neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die ganze Leidenschaft der Romantik und die ganze Vollkommenheit des griechischen Geistes. Die Harmonie von Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserer Verblendung haben die beiden voneinander gerissen und haben uns einen Realismus erfunden, der gewöhnlich ist, und einen Idealismus, der leer ist. Harry! wenn du wissen könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst du dich an die Landschaft von mir, für die mir Agnew[3] ein so wahnsinniges Geld angeboten hat und von der ich mich doch nie trennen wollte? Es ist sicher eins der besten Stücke, die ich je gemacht habe. Und warum? Weil Dorian Gray neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein ganz feines Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal in meinem Leben entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft das Wunder, nach dem ich immer gesucht und das ich nie gefunden hatte.«
»Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte. Ich muß Dorian Gray kennenlernen.«
Hallward schnellte von der Bank auf und ging im Garten hin und her. Nach einer Weile kam er zurück.
»Harry,« sagte er, »Dorian Gray, ist für mich nichts als ein künstlerisches Motiv. Vielleicht fändest du gar nichts in ihm. Ich finde alles in ihm. Er ist in Wirklichkeit nie mehr in meiner Arbeit lebendig, als wenn kein Schatten von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich sagte, die Anregung zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen gewisser Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit gewisser Farben. Das ist alles.«
»Warum aber willst du dann sein Bild nicht ausstellen?« fragte Lord Henry.
»Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck all dieser ganz merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt habe, von der ich natürlich nie zu ihm sprechen wollte. Er hat von alledem keine Ahnung. Er soll nie etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und ich will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht entblößen. Mein Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop bekommen. Es ist zu viel von mir selbst in dem Dinge, Harry – zu viel von mir selbst.«
»Dichter nehmen's nicht so genau wie du. Die wissen, wie einträglich es ist, Leidenschaft zu veröffentlichen. Ein gebrochenes Herz bringt es heutzutage zu einer ganzen Reihe von Auflagen.«
»Ich finde sie darum eben abscheulich!« rief Hallward aus. »Ein Künstler soll Schönes schaffen, aber er soll nichts von seinem eigenen Leben hineintragen. Wir leben in einer Zeit, wo die Menschen aus der Kunst eine Art Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben den klaren Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will ich der Welt zeigen, was sie ist, und deshalb soll die Welt mein Bild Dorian Grays niemals sehen.«
»Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will mit dir nicht streiten. Nur die geistig Entkernten streiten sich gern. Sag' mir, hat dich Dorian Gray sehr lieb?«
Der Maler dachte ein paar Augenblicke nach. »Er hat mich gern«, antwortete er nach einer Weile; »sicher hat er mich gern. Natürlich schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich finde eine ganz besondere Lust daran, ihm Dinge zu sagen, die mir später leid tun, wie ich ganz genau weiß. In der Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im Atelier und schwatzen von tausend Dingen. Dann und wann ist er allerdings greulich gedankenlos und scheint große Freude darin zu finden, mir wehe zu tun. Dann, Harry, habe ich das Gefühl, daß ich jemand meine ganze Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine Blume für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen, mit dem man seine Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat für einen Sommertag.«
»Sommertage, Basil, pflegen manchmal lange zu währen«, murmelte Lord Henry. »Vielleicht wirst du seiner früher müde, als er deiner. Es ist sehr traurig, daran zu denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das Genie die Schönheit überlebt. Das erklärt auch die Tatsache, daß wir uns soviel Mühe geben, uns mit Bildung vollzupfropfen. In dem wilden Existenzkampfe ums Dasein wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und so füllen wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der dummen Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten. Der durch und durch unterrichtete Mann – das ist das moderne Ideal. Und das Gehirn dieses durch und durch unterrichteten Mannes hat etwas Fürchterliches. Es gleicht einem Kuriositätenladen, in dem es lauter Ungeheuerlichkeiten voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand über seinen wahren Wert hinaus ausgezeichnet ist. Immerhin, ich glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines Tages wirst du deinen jungen Freund anschauen und finden, daß er etwas verzeichnet ist, oder du wirst an seiner Farbe etwas auszusetzen haben oder irgend so etwas. Du wirst ihm dann in deinem Herzen bittere Vorwürfe machen und ganz ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht schlecht gegen dich benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal besucht, wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das wird sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern. Was du mir da erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine Romanze der Kunst möchte man es nennen, und das Schlimmste beim Erleben von Gedichten ist nur, daß es einen so ganz unpoetisch zurückläßt.«
»Harry, ich bitte, sprich nicht so. Solang' ich lebe, wird mich die Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Du kannst meine Empfindung nicht nachfühlen. Du wandelst dich zu oft.«
»Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich sie nachempfinden. Die treuen Menschen kennen nur die triviale Seite der Liebe; die Treulosen allein erfahren die Tragödien der Liebe.« Und Lord Henry zündete an einem zierlichen silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann eine Zigarette zu rauchen, mit jener so selbstbewußten, zufriedenen Miene, als hätte er den Sinn der ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man hörte ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den grünen, wie mit glänzendem Lack überzogenen Efeublättern, und die blauen Wolkenschatten jagten wie Schwalben über das Gras. Wie reizend war es doch in dem Garten und wie entzückend waren die Gefühlsregungen anderer Leute! – weit entzückender als ihre Gedanken, so schien es ihm. Des Menschen eigene Seele und die Leidenschaft seiner Freunde – das sind die fesselnden Dinge des Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen das langweilige Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch bei Basil Hallwald versäumt hatte. Wäre er zu seiner Tante gegangen, hätte er dort sicher Lord Goodbody getroffen, und das ganze Gespräch hätte sich mit der Armenernährung und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern beschäftigt. Menschen jedes Standes hätten die Wichtigkeit gerade jener Tugenden gepredigt, für die sie in ihrem eigenen Leben gar keine Verwendung hatten. Der Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit geredet, und der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde der Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein. Als er an seine Tante dachte, schien ihm etwas einzufallen. Er wandte sich zu Basil und sagte: »Mein lieber Junge, ich erinnere mich jetzt.«
»Woran erinnerst du dich, Harry?«
»Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.«
»Wo war das?« fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.
»Schau' doch nicht so böse drein, Basil. Es war bei meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie sei einem wunderhübschen jungen Menschen begegnet, der ihr im East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray. Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt, daß er so hübsch sei. Frauen haben kein Verständnis für Schönheit, wenigstens gute Frauen nicht. Sie sagte, daß er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich stellte mir natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem Haar und gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf riesigen Füßen umherstapfe. Ich wünsche jetzt, ich hätte gewußt, daß er dein Freund ist.«
»Ich bin sehr froh, daß du es nicht gewußt hast, Harry.«
»Warum?«
»Ich will nicht, daß du ihn kennenlernst.«
»Du willst nicht, daß ich ihn kennenlerne?«
»Nein.«
»Herr Dorian Gray ist im Atelier«, sagte der Diener, der in den Garten hinaustrat.
»Jetzt mußt du mich vorstellen!« rief Lord Henry lachend. Der Maler wandte sich zu seinem Diener, der blinzelnd in der Sonne dastand: »Bitten Sie Herrn Gray, zu warten, Parker; ich komme in ein paar Minuten.« Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus.
Dann sah der Maler Lord Henry an. »Dorian Gray ist mein teuerster Freund«, sagte er. »Er hat eine schlichte und edle Seele. Deine Tante hatte ganz recht mit dem, was sie über ihn sagte. Verdirb ihn mir nicht. Versuche nicht, Einfluß auf ihn auszuüben. Dein Einfluß wäre verderblich. Die Welt ist groß, und es gibt eine Menge köstlicher Menschen auf ihr. Raube mir nicht den einzigen Menschen, der meiner Kunst ihren ganzen Zauber verleiht, den sie hat: mein Leben als Künstler hängt von ihm ab! Denke daran, Harry, ich vertraue dir.« Er sprach sehr langsam, und die Worte schienen sich ihm gegen seinen Willen zu entringen.
»Was für Unsinn du redest!« sagte Lord Henry lächelnd, nahm Hallward unter den Arm und führte ihn in das Haus.
Als sie eintraten, erblickten sie Dorian Gray. Er saß am Klavier, mit dem Rücken ihnen zu, und blätterte in einem Notenbande mit Schumanns Waldszenen[4]. »Die mußt du mir leihen, Basil!« rief er aus. »Ich möchte sie spielen lernen. Sie sind geradezu entzückend.«
»Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute sitzen wirst, Dorian.«
»Ach, ich habe das Sitzen lange satt, und ich will gar kein lebensgroßes Bild von mir«, antwortete der Jüngling und schwang sich in dem Musikstuhl auf eine eigensinnige, launische Knabenart herum. Als er aber Lord Henry erblickte, stieg für einen Augenblick ein schwaches Rot in seine Wangen, und er sprang auf. »Ich bitte um Entschuldigung, Basil, ich wußte nicht, daß jemand bei dir ist.«
