Das Bildnis des Dorian Gray (Zweisprachige Ausgabe: Deutsch-Englisch) - Oscar Wilde - E-Book

Das Bildnis des Dorian Gray (Zweisprachige Ausgabe: Deutsch-Englisch) E-Book

Oscar Wilde

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Beschreibung

In 'Das Bildnis des Dorian Gray' entfaltet Oscar Wilde eine fesselnde Erzählung über den Verfall der Moral und die Suche nach Schönheit in der Dekadenz des Victorianischen Zeitalters. Der literarische Stil ist geprägt von Wilescher Witterschaft, scharfen Dialogen und einer gleichsam kritischen wie bewundernden Betrachtung der Kunst und der Ästhetik. Die spannende Handlung folgt Dorian Gray, einem jungen Mann, dessen Porträt von einem Maler geschaffen wird und der, durch den Einfluss des hedonistischen Lord Henry Wotton, ein Leben voller Ausschweifungen und schließlich moralischen Verfalls führt. Das Werk beleuchtet die innere Zerrissenheit des Menschen zwischen äußerer Schönheit und innerer Verderbnis und stellt zentrale Fragen zu Identität und Verantwortung. Oscar Wilde, ein Meister der scharfen Formulierung und eine schillernde Figur des 19. Jahrhunderts, reflektiert in diesem Roman seine eigenen Erfahrungen mit Gesellschaft, Kunst und den sozialen Normen seiner Zeit. Sir Oscar Fingal O'Flahertie Wills Wilde war nicht nur Dramatiker und Dichter, sondern auch ein scharfer Kritiker der Doppelmoral seiner Zeit, was ihm bei der Schaffung von Dorian Gray eine unverkennbare Tiefe verleiht. Diese autobiografischen Elemente und die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität machen das Werk zu einem komplexen Spiegel der Gesellschaft, in der Wilde lebte. 'Das Bildnis des Dorian Gray' ist nicht nur ein außergewöhnliches literarisches Werk, sondern auch eine tiefgründige Reflexion über die menschliche Natur und den Preis der Schönheit. Leser werden von der spannungsgeladenen Handlung mitgerissen und sind eingeladen, über die ergreifenden Themen der Selbstfindung und der moralischen Verantwortung nachzudenken. Dieses Buch ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die die zeitlosen Fragen der menschlichen Existenz durch eine künstlerische Linse betrachten möchten. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Oscar Wilde

Das Bildnis des Dorian Gray (Zweisprachige Ausgabe: Deutsch-Englisch)

Bereicherte Ausgabe. Der Pakt mit der ewigen Jugend und Schönheit
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Einführung, Studien und Kommentare von Wren Sharp
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2023
EAN 8596547675341

Einführung

Inhaltsverzeichnis

Ein makelloses Gesicht bleibt jung, während ein verborgenes Bild alle Falten der Seele trägt. In dieser paradoxen Spiegelszene bündelt sich das Drama von Schönheit, Begehren und Verantwortung, das Oscar Wilde in seinem einzigen Roman unvergesslich gestaltet. Das Buch führt in eine Welt, in der Oberfläche nicht nur verführt, sondern herrscht, und in der Kunst zum Zeugen gelebter Konsequenzen wird. Aus einem ästhetischen Traum erwächst eine moralische Prüfung: Wie viel Wahrheit erträgt das Bild, das wir von uns selbst entwerfen? Und was geschieht mit dem Menschen, der sich ganz der Verführung einer makellosen Erscheinung verschreibt?

Das Bildnis des Dorian Gray gilt als Klassiker, weil es ästhetische Kühnheit mit erzählerischer Präzision verbindet und eine Frage stellt, die nie veraltet: Wie leben wir mit den Folgen unseres Handelns, wenn die Welt nur unsere Oberfläche sieht? Seit seinem Erscheinen hat der Roman Debatten über Moral und Kunst befeuert, Grenzen des viktorianischen Geschmacks herausgefordert und später Generationen von Autorinnen und Autoren zu kühnen Figuren der Ambivalenz inspiriert. Seine Verbindung von scharfem Witz, psychologischer Tiefenschärfe und symbolischer Bildkraft prägte die Moderne und wirkt in Erzähltraditionen des Fantastischen, Psychologischen und Philosophischen fort.

Verfasst von Oscar Wilde, einem irischen Dramatiker und Essayisten der Spätviktorianik, erschien der Roman 1890 zunächst in Lippincott’s Monthly Magazine und 1891 in erweiterter Buchform. Mit dieser Überarbeitung schärfte Wilde Struktur und Ton und stellte der Geschichte ein programmatisches Vorwort voran, das die Autonomie der Kunst verteidigt. Das Bildnis des Dorian Gray ist sein einziges Langwerk in Romanform und markiert einen Höhepunkt des Ästhetizismus, zugleich eine Schnittstelle zum Schauerroman. Der Publikationskontext war umkämpft: Kritiken warfen dem Text Unmoral vor, woraufhin Fassungen angepasst wurden, ohne dass die provokative Grundfrage an Schärfe verlor.

Im Zentrum steht ein außergewöhnlich schöner junger Mann in London: Dorian Gray. Ein Maler, Basil Hallward, hält seine Anmut in einem Porträt fest; ein brillanter Beobachter, Lord Henry Wotton, rahmt diese Begegnung mit einer Philosophie der Lust und des Augenblicks. Aus einer Mischung aus Bewunderung, Einfluss und Selbstverlangen entsteht eine Sehnsucht nach unvergänglicher Jugend. Fortan bleibt Dorians Antlitz unberührt, während das Bild die Spuren seiner Entscheidungen trägt. Die Erzählung folgt den Verwerfungen, die aus dieser Verschiebung von Erscheinung und Wahrheit hervorgehen, und erkundet die Macht der Suggestion, der Kunst und der gesellschaftlichen Bühne.

Wilde entfaltet hier eine Idee, die sein Denken durchzieht: Kunst besitzt eigene Gesetze, doch sie berührt das Leben in heiklen Zonen. Der Roman debattiert die Verführungskraft des Ästhetischen, ohne in einfache Moralismen zu flüchten. Er zeigt, wie Stil und Haltung zu Lebensmaximen werden können, und wie Sprache selbst zu einem Spiegel der Ethik wird. Dialoge ziselieren Gedanken wie Schmuckstücke, Bilder tragen doppelte Bedeutungen, die Oberfläche wird Labor und Bühne zugleich. So entsteht ein Text, der Freude am Glanz mit dem Ernst der Verantwortung verbindet und Leserinnen und Leser zur eigenen Urteilsbildung herausfordert.

Als Erzählung bewegt sich Das Bildnis des Dorian Gray souverän zwischen psychologischem Roman und Gothic-Tradition. Dunkle Räume, Spiegel, Leinwände und Blicke bilden ein Inventar der inneren Landschaft. Das Übernatürliche tritt nicht als grelles Spektakel auf, sondern als präzises Prinzip: Eine Verschiebung in der Ökonomie von Schuld und Schein erzeugt unablässige Spannung. Wilde interessiert die Dynamik von Einfluss und Selbstinszenierung, von Verlangen und Verdrängung. Entscheidend ist nicht der Effekt, sondern der Prozess der Verwandlung, der an Sprache, Gesten und Gewohnheiten ablesbar wird. So verdichtet sich das Unheimliche im Alltäglichen des modernen Großstadtlebens.

Der Klassikerstatus des Romans gründet in seiner formalen Eleganz, der kühnen Themenmischung und seiner Resonanz über Epochen hinweg. Kaum ein Werk hat das Spannungsfeld von Kunst und Ethik so prägnant als Erzählung modelliert. Es wurde vielfach interpretiert, gelehrt und adaptiert, weil es zugleich Zeitdiagnose und allgemeingültige Parabel ist. Autorinnen und Autoren fanden darin ein Modell für Figuren, die am eigenen Selbstbild erkranken, und für Geschichten, die das Verhältnis von Schein, Macht und Begehren verhandeln. Der Roman hat die Sprache der Modernität mitgeprägt, indem er Oberfläche nicht als Fluchtpunkt, sondern als Problemform ausstellt, und wirkt in Traditionen der Dekadenz fort.

Wilde schreibt mit einer Mischung aus geschliffenem Witz, lyrischer Sensibilität und dramaturgischem Timing. Sätze klingen und schneiden, Bilder funkeln und drohen zugleich. In der zweisprachigen Ausgabe tritt diese Qualität doppelt hervor: Das Englische zeigt Rhythmus, Tonfall und Wortspiel, das Deutsche eröffnet Präzision und Nuance für ein anderes Sprachgefühl. Wer beide Sprachen nebeneinander liest, erkennt, wie Bedeutungen wandern, wie Klang Farbe trägt und wie Entscheidungen der Übersetzung Perspektiven schärfen. So wird die Lektüre selbst zu einem Experiment über Oberfläche und Tiefe, über Form und Gehalt – ganz im Sinne des Romans.

Die frühe Rezeption war von heftigen Debatten geprägt. In der Zeitschriftenfassung von 1890 stießen einzelne Passagen auf Widerstand in einem Klima strenger viktorianischer Moralvorstellungen. Die erweiterte Buchausgabe von 1891 modifizierte und vertiefte die Anlage, ohne den provokativen Kern zu glätten. Diese Geschichte der Publikation ist Teil seiner Wirkung: Das Werk steht exemplarisch für eine Moderne, die künstlerische Freiheit behauptet und zugleich die Grenzen ihrer Zeit auslotet. Die Kontroverse schärfte die Lektüre und trug dazu bei, dass das Buch als Prüfstein für Urteile über Kunst, Sittlichkeit und Öffentlichkeit gelesen wurde.

Absicht und Zielsetzung des Romans lassen sich als doppelte Bewegung verstehen: Er will die Faszination des Schönen radikal auskosten und zugleich zeigen, welche ethischen Verwerfungen entstehen, wenn Schönheit zum alleinigen Maß wird. Erzählerisch verfolgt er nicht das Spektakel des Schocks, sondern die Logik der Verführung, der Gewöhnung und der inneren Verschiebung. Damit eröffnet er einen Denkraum, in dem Leserinnen und Leser Position beziehen können. Das Buch ist keine Predigt, sondern ein präzises Instrument der Prüfung: Es stellt Fragen, die nicht veralten, und es inszeniert sie mit unverminderter ästhetischer Kraft.

Diese zweisprachige Ausgabe lädt dazu ein, den Roman in seinem historischen Klang und in seiner gegenwärtigen Lesbarkeit zu erfahren. Im Englischen schwingen die Londoner Salons, die Sprödigkeit und der Glanz des fin de siècle, im Deutschen lässt sich deren Wirkung transparent nachvollziehen. Wer zwischen den Sprachen pendelt, spürt, wie Pointen gebaut sind, wie rhythmische Linien Bedeutung tragen und wie Subtext entsteht. So wird die Lektüre zu einer Schule der Aufmerksamkeit: für Tonlagen, Perspektivwechsel, semantische Feinheiten. Damit eröffnet sich ein Zugang, der sowohl literarisches Vergnügen als auch analytische Schärfe fördert.

Am Ende steht ein Werk, das Schönheit, Einfluss, Selbstbild und Gewissen in eine fesselnde Form bringt. Es zeigt, wie Bilder Macht über Leben gewinnen, wie Sprache Wirklichkeit modelliert und wie Entscheidungen Spuren hinterlassen – auch wenn die Oberfläche makellos scheint. Gerade in einer Gegenwart, die von Bildkulturen, Jugendidealen und kuratierten Identitäten geprägt ist, bewahrt der Roman seine Relevanz. Er fordert zur Selbstprüfung auf und belohnt mit stilistischer Brillanz. Das Bildnis des Dorian Gray bleibt deshalb nicht nur ein Dokument seiner Zeit, sondern eine dauerhaft wirksame Erzählung über Verheißung und Verantwortung.

Synopsis

Inhaltsverzeichnis

Im London der viktorianischen Epoche porträtiert der Maler Basil Hallward den schönen jungen Dorian Gray. Während Basil auf aufrichtige Bewunderung und künstlerische Reinheit setzt, tritt Lord Henry Wotton hinzu, ein geistreicher Flaneur mit provokanter Lebensphilosophie. Seine Aphorismen über Genuss, Jugend und Konsequenzlosigkeit beeindrucken Dorian tief. Beim Anblick des vollendeten Gemäldes wird Dorian seiner vergänglichen Jugend schmerzlich bewusst und spricht den impulsiven Wunsch aus, dass nicht er, sondern das Bild altern möge. Dieser Wunsch markiert den Ausgangspunkt einer Entwicklung, in der ästhetische Ideale, Verführung durch Ideen und die Frage nach Verantwortung unauflöslich miteinander verknüpft werden.

Dorian gerät zunehmend unter den Einfluss Lord Henrys, der ihn zu einer experimentellen, lustbetonten Lebensführung ermuntert. Das Bildnis, von Basil fast ehrfürchtig gemalt, wird für Dorian zum Spiegel seiner Selbstwahrnehmung. Er entdeckt das Theater und verliebt sich in die junge Schauspielerin Sibyl Vane, deren Kunst ihn mit der Reinheit ihrer Darstellung bewegt. In seiner Begeisterung idealisiert er Liebe als höchste Bühne ästhetischer Erfahrung. Zugleich wächst die Distanz zu Basil, der vor geistiger Verführung warnt. Die Begegnungen mit Henrys Salon setzen einen Ton aus Witz, Paradox und Verführung, der Dorians Entscheidungen prägt und sein Verhältnis zu Moral zu verschieben beginnt.

Als Sibyls Spiel durch persönliche Gefühle schwächer wird, reagiert Dorian unbedacht und verletzend. Diese erste große Verfehlung belastet sein Gewissen, doch an seinem Gesicht zeichnet sich nichts ab. Stattdessen scheint das Gemälde feine Spuren innerer Veränderung anzunehmen, als ob es Empfindung und Charakter speichere. Erschreckt über diese Möglichkeit, schwankt Dorian zwischen Reue und Flucht nach vorn. Der Impuls, sein Leben zu bessern, bleibt kurz, während der Reiz des Ungebundenen wächst. Das Bild verbannt er an einen versteckten Ort, fern von Blicken, und sein Verhältnis zu Basil, der Wahrheit und künstlerischer Lauterkeit verpflichtet ist, wird merklich komplizierter.

Mit den Jahren wird Dorian in Londons Gesellschaft zum Objekt von Bewunderung, Neid und Gerüchten. Äußerlich bleibt er auffallend unverändert, während sein Ruf von dunklen Andeutungen begleitet wird. Ein dekadentes französisches Buch, das er von Lord Henry erhält, fungiert als Leitfaden für ästhetische Experimente: Düfte, Musik, Edelsteine, Textilien und exotische Eindrücke sollen das Bewusstsein schärfen und Gewissensfragen übertönen. Das verborgene Bildnis registriert indes jede Neigung, jeden Zynismus, jede Flucht vor Verantwortung. Dorian intensiviert seine Heimlichkeit, lässt das Bild bewachen und meidet aufrichtige Nähe. So wächst die Kluft zwischen makelloser Fassade und einer Wahrnehmung, die er niemandem zeigt.

Basils Sorge um Dorians Ruf führt zu einer konfrontativen Begegnung. Er sucht Verständigung, erinnert an frühere Ideale und fordert eine ehrliche Bestandsaufnahme. Dorian, von Argwohn und Scham getrieben, sieht sich gezwungen, dem, was er verdrängt, ins Auge zu blicken. Das Bildnis, nun Träger einer Geschichte, die nur er kennt, steht als stumme Anklage vor ihm. Die Spannung zwischen Freundschaft, Wahrheit und Selbstschutz erreicht einen Höhepunkt. Diese Episode markiert eine zentrale Weggabelung, an der das Verhältnis von Kunst und Moral, von Bewunderung und Verantwortung, neu gewichtet wird — mit Folgen, die Dorians weitere Entscheidungen tief beeinflussen.

Dorian versucht, innere Unruhe durch immer raffiniertere Eindrücke zu betäuben. Er bewegt sich zwischen Opulenz und Schatten, führt Beziehungen, die Bewunderung und Abhängigkeit mischen, und nutzt Diskretion als Schutz. Zugleich taucht ein Verfolger aus der Vergangenheit auf, der Vergeltung sucht und Dorian mit den Konsequenzen früherer Taten konfrontiert. Diese Bedrohung schärft sein Bewusstsein für Gefahr und Zufall. Ein Netz aus Schweigen, Andeutung und Erpressbarkeit legt sich über sein Umfeld. Das Bildnis bleibt sein geheimes Zentrum, dessen Veränderungen nicht nur Alter, sondern Charakterverfall und Angst abbilden — ein sichtbarer Index für die unsichtbaren Kosten seiner Lebensweise.

Ein Landaufenthalt mit illustren Gästen zeigt, wie brüchig Dorians gesellschaftliche Immunität geworden ist. Ein tragischer Zwischenfall lenkt die Aufmerksamkeit auf das Thema Schuld, während beiläufige Bemerkungen und Blicke Misstrauen nähren. Dorian wirkt zugleich höflich und innerlich abwesend, als ob er eine Rolle spiele, deren Text er zu beherrschen glaubt, deren Unterton ihn jedoch beunruhigt. Das Zusammentreffen von Zufall, Gerücht und latenter Gefahr macht deutlich, wie prekär seine Balance ist. In dieser Atmosphäre wächst der Wunsch nach einem Neuanfang, doch die Frage bleibt, ob der Wille zur Änderung stark genug ist, um gelebte Muster und Bequemlichkeiten zu überwinden.

In einem Moment scheinbarer Umkehr sucht Dorian bewusst eine Gelegenheit, gut zu handeln, und prüft anschließend, ob die Wirkung seiner Absicht im Bildnis sichtbar wird. Die Reaktion bleibt ambivalent: Es scheint, als bewerte das Bild nicht bloß äußere Taten, sondern die Motive, die dahinterstehen. Diese Einsicht erschüttert die Hoffnung auf einfache Sühne durch einzelne Gesten. Dorian erkennt, wie sehr Selbsttäuschung und Eitelkeit sein Verständnis von Moral geprägt haben. Aus der Konfrontation mit dem Bild erwächst keine sofortige Erlösung, sondern ein schärferes Wissen um die Kluft zwischen Selbstbild, Wunsch nach Reinheit und der Realität seines Handelns.

Im letzten Abschnitt richtet Dorian seinen Blick auf die Wurzel seines Dilemmas: die Bindung an das Bild und die Faszination für folgenlose Schönheit. Er erwägt einen Schritt, der das belastende Geheimnis beenden soll, und stellt damit die grundlegenden Fragen des Romans noch einmal scharf: Kann Kunst sich von Ethik lösen? Was richtet Einfluss ohne Verantwortung an? Welche Wahrheit trägt ein unveränderliches Antlitz, wenn die Seele sich wandelt? Die Geschichte endet als warnendes Gleichnis über Verführungskraft, Selbstverleugnung und die Kosten radikaler Ästhetik. Ihre zentrale Botschaft betont, dass Schönheit ohne Gewissen den Menschen nicht befreit, sondern verzehrt.

Historischer Kontext

Inhaltsverzeichnis

Das Bildnis des Dorian Gray spielt im spätviktorianischen London der 1880er und frühen 1890er Jahre, einer Metropole im Zenith imperialer Macht und sozialer Gegensätze. Die Handlung bewegt sich zwischen eleganten West-End-Stadtpalais, Künstlerateliers und Gentlemen-Clubs in St James’s sowie ärmeren Vierteln im Osten. Zeitgenössische Infrastruktur wie Gaslaternen, Pferdedroschken und die wachsende Eisenbahn prägt den Rhythmus. Die Handlung greift private Innenräume, Sammlerkabinette und Ateliers als gesellschaftliche Bühnen auf, in denen Status, Geschmack und Reputation verhandelt werden. Gleichzeitig dringen Geräusche der Großstadt, Zeitungsgerüchte und moralische Kampagnen in diese Sphären ein und erzeugen einen Druck der öffentlichen Meinung.

Die Topographie Londons strukturiert die moralische Kartographie des Romans: West End und Mayfair stehen für Wohlstand, Clubs und Salons; der East End mit Docklands, Whitechapel und Limehouse verkörpert Armut, Migration und Halbwelt. Künstlerkreise konzentrieren sich um Chelsea und Kensington, während Theater und Musikbühnen entlang des Strand und in Soho blühen. Die Reisebewegungen der Figuren zwischen diesen Räumen markieren soziale Grenzüberschreitungen. Eine fiktive Landresidenz spiegelt die Bedeutung des Landsitzes als Rückzugsort der Oberschicht wider. Der Roman nutzt diese Orte, um die Spannungen einer Gesellschaft offenzulegen, die zwischen öffentlicher Tugend und privater Begierde, Klassenschranken und urbaner Durchlässigkeit zerrieben wird.

Unter Königin Victoria erreichte die britische Aristokratie in den 1880er Jahren eine Mischung aus splendider Repräsentation und politischer Defensive. Das Goldene Jubiläum 1887 feierte imperiale Größe, während der Prinz von Wales einen protokollarisch liberaleren Marlborough-House-Kreis pflegte. Adelstitel, Grundbesitz und Gentlemen-Etikette definierten Zugehörigkeit; exklusive Clubs regelten soziale Kontakte. Diese Welt bildet die Bühne, auf der Dorian als gut vernetzter Gentleman agiert. Höfische Manieren, Dinners und Salonkonversationen rahmen seine Selbstinszenierung. Der Roman zeigt, wie Reputation in dieser Gesellschaft als soziale Währung funktioniert und wie Skandalgerüchte existenzielle Folgen haben können.

Die rasante Urbanisierung Londons erzeugte sichtbare Armut und Slumbildung. Charles Booths kartografische Armutsstudien ab 1889 dokumentierten extreme Not in Vierteln wie Whitechapel. Philanthropische Einrichtungen wie Toynbee Hall (gegründet 1884) versuchten Gegensteuerung. Zugleich florierten Vergnügungsformen im Niedrigpreissektor der Theater. Diese Realität steht hinter den Bühnenbrettern, auf denen Sibyl Vane in einem schäbigen Haus spielt. Der Roman kontrastiert den polierten West-End-Lebensstil mit ökonomischen Zwängen der unteren Klassen und macht die Durchlässigkeit der Stadt sichtbar, in der Reiche anonym in ärmere Viertel vordringen können, ohne die Normen ihres Milieus mitzunehmen.

Das Empire prägte Konsum, Sammlerwesen und Innenraumkultur. Nach der Berliner Kongokonferenz 1884 bis 1885 wuchs der Zugriff auf koloniale Ressourcen. Museen wie das South Kensington Museum (später Victoria and Albert Museum) und Nachwirkungen der Weltausstellung 1851 etablierten einen Kanon exotischer Dinge. Die britische Handelsmacht, auch im Opiumgeschäft mit China, band Asien und Indien an Londoner Märkte. Der Roman spiegelt diese imperialen Warenströme, wenn Dorian kostbare Teppiche, Juwelen, Musikinstrumente und religiöse Artefakte hortet. Solche Sammelpraktiken zeigen Konsum als Statussymbol und verknüpfen ästhetische Lust mit globalen Machtverhältnissen, deren Schattenseiten in den Dockvierteln präsent sind.

Die Whitechapel-Morde von 1888, dem sogenannten Jack-the-Ripper-Fall, schockierten London und machten den East End zu einem Synonym für Gefahr, Armut und moralisches Verfallen. Zeitungen verstärkten Angst und Voyeurismus, während die Polizei scheiterte. Diese Atmosphäre beeinflusste Wahrnehmungen städtischer Nachtwelten, Opiumhöhlen und Gassen. Im Roman führen nächtliche Wege in den Osten der Stadt, in Räume, in denen Gesetze und soziale Aufsicht schwächer scheinen. Die Erzählung nutzt diese Topoi, um versteckte Verbrechen, Doppelleben und das Verschwinden von Spuren zu thematisieren, was die Ripper-Ängste zeitgenössischer Leser aufgreift, ohne das Ereignis explizit zu nennen.

Die Social-Purity-Bewegung gewann in den 1880er Jahren an Einfluss. Der Journalist W. T. Stead entfachte 1885 mit der Enthüllungsserie Maiden Tribute of Modern Babylon in der Pall Mall Gazette einen Sturm über Kinderprostitution und Zwang. Daraus erwuchs das Criminal Law Amendment Act von 1885, das das Schutzalter auf 16 anhob und in Sektion 11 die sogenannte grobe Unzucht zwischen Männern auch in privaten Räumen kriminalisierte. Nationale Vigilanzvereine vernetzten Moralreformer, Ermittler und Presse. Die verschärften Normen und die Macht der medialen Empörung bilden den Hintergrund, vor dem Wildes Erzählung von Verführung, Geheimnis und Ansehensverlust gelesen wurde.

Die Cleveland-Street-Affäre 1889 enthüllte ein Männerbordell in der Nähe der Posttelegrafen-Depeschen, verwickelte Telegraptenjungen und brachte hochgestellte Namen wie Lord Arthur Somerset in die Presse. Obwohl Verurteilungen begrenzt blieben, erzeugten Presseberichte, polizeilicher Druck und politische Interventionen ein Klima der Angst und diskreter Vertuschung. In diesem Umfeld wurden Beziehungen zwischen Männern zu politisch brisanten Angelegenheiten. Die Romanfigur Dorian bewegt sich in Kreisen, in denen Gerüchte Existenzen vernichten. Die Geschichte nutzt Andeutungen, schweigende Komplizenschaft und die Gewalt des Skandals, um die Risiken eines Lebens unter dem Blick eines moralisch alarmierten Staates zu zeigen.

Dieses moralpolitische Klima prägte auch Entstehung und Rezeption. 1890 erschien die Erzählung in einer Magazinversion in London, just während Kampagnen gegen Unmoral Konjunktur hatten. Kritiken warfen dem Text moralische Gefährdung vor. 1891 fügte der Autor ein Vorwort mit prägnanten Sätzen über Kunst und Moral hinzu und überarbeitete Passagen, um Anstößiges zu entschärfen. Diese Selbstabsicherung spiegelt juristische Risiken nach dem Gesetz von 1885 und die Macht der Zensur wider. Die Romanhandlung, in der privates Begehren in öffentlichen Ruin umschlagen kann, ist mit der politischen Realität verknüpft, dass der Staat intime Sphären kriminalisierte.

Die Publikationsgeschichte ist politisch aufgeladen. Der amerikanische Redakteur J. M. Stoddart akquirierte 1889 im Langham Hotel in London Beiträge für Lippincott’s Monthly Magazine, darunter diese Erzählung, die im Juli 1890 in London erschien. Redaktionen strichen schon vorab Passagen. Zeitungen wie The Scots Observer und St James’s Gazette attackierten den Text als unmoralisch. 1891 folgte eine erweiterte Buchausgabe bei Ward, Lock and Co. in London. Die Reaktionen zeigen die enge Verzahnung von Presse, Moralvereinen und Verlegern, die faktisch als Vorzensurinstanz wirkten. Der Roman steht exemplarisch für den Druck, dem Autoren in einem von Skandaljournalismus geprägten Markt ausgesetzt waren.

Zeitgenössische Wissenschaft und Politik verknüpften Moral mit Biologie. Nach Darwins Origin of Species von 1859 popularisierten Denker wie Herbert Spencer soziale Evolutionstheorien; Psychiater wie Henry Maudsley warnten vor Degeneration. Max Nordau publizierte 1892 Entartung, und Kriminologen wie Cesare Lombroso suchten in Physiognomien Zeichen des Verfalls. Diese Diskurse nährten den Glauben, Laster hinterlasse objektive Spuren. Die Idee des Porträts als Register moralischer Entstellung passt in eine Epoche, die Verbrechen zu messen versuchte und Sucht, Syphilis und Großstadtleben als Symptome degenerativer Moderne sah. Der Roman reflektiert diese Ängste, indem er die Sichtbarkeit des Unsichtbaren radikalisiert.

Die Auseinandersetzungen um die Contagious Diseases Acts von 1864, 1866 und 1869, die polizeiliche Zwangsuntersuchungen von Frauen in Garnisonsstädten erlaubten, führten nach Kampagnen um Josephine Butler 1886 zur Aufhebung. 1885 wurde das Schutzalter erhöht. Diese Reformen manifestierten gleichwohl eine Doppelmoral: weibliche Sexualität blieb polizeilich reglementiert, männliche Doppelleben wurden zugleich kriminalisiert. Im Roman trifft aristokratische Freizügigkeit auf weibliche Prekarität. Die Figuren um Sibyl Vane zeigen, wie verletzlich Frauen im Theater- und Vergnügungssektor waren, während Männer soziale Netzwerke zur Schadensbegrenzung besaßen. Die Handlung spiegelt so die asymmetrische Moralkultur der Stadt.

Das Theater war ein zentraler sozialer Ort. Nach dem Theatres Act von 1843 unterlagen Stücke der Vorzensur durch den Lord Chamberlain. Der Schauspieler-Manager Henry Irving dominierte mit dem Lyceum Theatre; Ellen Terry verkörperte Star-Ruhm. Neben den großen Häusern existierten billige Bühnen und Musikhallen, besonders im East End. Das Gefälle zwischen Shakespeare-Spiel als respektabler Kunst und dem Ruf der Halbwelt war groß. Der Roman nutzt diese Hierarchie: Sibyls Shakespeare-Darbietungen finden in einem armseligen Haus statt, dessen Publikum aus einfachen Leuten und neugierigen West-End-Besuchern besteht. Dadurch treten Klassengegensätze und der moralische Argwohn gegenüber Bühnenkünstlerinnen offen hervor.

Die irische Frage prägte die britische Politik. Gladstones erste Home-Rule-Initiative scheiterte 1886, die zweite passierte 1893 das Unterhaus und fiel im Oberhaus. Oscar Wilde, 1854 in Dublin geboren, entstammte der protestantischen Mittelklasse; sein Vater William war angesehener Arzt, seine Mutter Jane, bekannt als Speranza, schrieb nationalistische Gedichte. Die anglo-irische Erfahrung des Seins zwischen den Welten prägte viele Iren in London. Der Roman, obwohl unpolitisch in nationaler Hinsicht, durchdringt das Londonder Gesellschaftsporträt mit einem distanzierten Blick, der englische Heuchelei, Klassendünkel und den Kult der Respectability kenntnisreich und schonungslos beobachtet.

1895 kulminierten Moralpolitik und Medienmacht in den Prozessen gegen den Autor. Nach der Visitenkarte des Marquess of Queensberry im Albemarle Club am 18. Februar 1895 kam es im April zum Libel-Prozess und anschließend zu Strafverfahren wegen grober Unzucht. Vor dem Old Bailey verlas die Anklage belastende Texte; die Erzählung diente der Presse als Beleg moralischer Verderbnis. Am 25. Mai 1895 verhängte Richter Wills zwei Jahre Zuchthaus, verbüßt unter anderem in Pentonville, Wandsworth und Reading. Der Skandal ruinierte Reputation und Einkommen, bestimmte die Lektüre der Erzählung und zeigte, wie sehr Literatur in juristische und politische Konfliktfelder geraten konnte.

Das Buch funktioniert als gesellschaftliche Kritik, indem es die Mechanik der Respectability entlarvt. Reputation, Clubzugehörigkeit und Interieur werden als fragile Fassaden gezeigt, hinter denen Konsum, Grausamkeit und Ausbeutung lauern. Die Kluft zwischen West End und East End legt auf, dass moralische Empörung oft selektiv ist: Elend wird konsumiert, Laster exportiert. Das unsichtbare Altern des Porträts macht sichtbar, was Gesetz, Kirche und Presse behaupten zu disziplinieren, aber nicht verhindern. Indem private Schuld in ein öffentliches Kunstobjekt eingeschrieben wird, demonstriert die Erzählung, wie Gesellschaft Scham produziert und doch strukturelle Ungleichheit unangetastet lässt.

Politisch spiegelt der Roman die Kriminalisierung von Intimität und die Macht der Medien. Das Klima nach 1885, die Erpressbarkeit durch Skandale und die Kollision von Privatleben und Strafrecht zeigen sich in Figuren, die von Gerüchten zersetzt werden. Zugleich kritisiert die Erzählung eine Elite, die koloniale Beute in Ästhetik verwandelt und soziale Kosten externalisiert. Die Bühne der Stadt, vom Theater bis zur Opiumhöhle, macht sichtbar, wie Klassenordnung und Moralpolitik zusammenwirken. Der Text prangert damit keine Partei an, sondern die Logik einer Gesellschaft, die Schein heiligt, Gesetz zur Rute macht und die Verletzlichsten den Folgen überlässt.

Autorenbiografie

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Oscar Wilde (1854–1900) war ein irischer Schriftsteller, Dramatiker und Essayist, dessen Witz, Stil und kritische Schärfe das späte 19. Jahrhundert prägten. Er wurde mit der Komödie „The Importance of Being Earnest“ und dem Roman „The Picture of Dorian Gray“ berühmt, verfasste zudem Erzählungen, Essays und Gedichte. Als führende Stimme des Ästhetizismus verteidigte er die Autonomie der Kunst gegenüber moralisierenden Ansprüchen. Seine beispiellose Popularität wurde durch öffentliche Prozesse jäh gebrochen; zugleich begründeten sie seine anhaltende Symbolkraft für künstlerische Freiheit. Wildes Werk verbindet brillante Formulierungskunst mit Gesellschaftskritik und behält bis heute eine herausragende Stellung im englischsprachigen Kanon.

Bildung und literarische Einflüsse

Wilde wuchs in Irland auf und erhielt eine klassische Ausbildung, die seinen Geschmack für Antike, Rhetorik und Mythologie formte. Am Trinity College in Dublin entwickelte er sich zu einem herausragenden Studenten der Klassischen Philologie. Ein Stipendium führte ihn an das Magdalen College in Oxford, wo er akademisch glänzte und 1878 für das Gedicht „Ravenna“ den Newdigate Prize erhielt. In Oxford verfestigte sich sein Ruf als geistreicher Konversationalist und stilbewusster Ästhet. Studienreisen und intensive Lektüren vertieften sein Wissen über griechische Kunst und Literatur, deren Vorbilder sein Denken über Schönheit, Form und das Verhältnis von Kunst und Moral nachhaltig beeinflussten.

Wichtige geistige Impulse bezog Wilde von John Ruskin und Walter Pater. Ruskins sozialethische und kunsthistorische Perspektiven trafen auf Paters radikal ästhetische Forderung, das Leben selbst als Kunstwerk zu begreifen. Diese Spannweite prägte Wildes Paradoxien: die Verehrung reiner Form neben der scharfen Beobachtung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Hinzu kamen Einflüsse französischer Symbolisten und Dekadenter, die kultivierte Stimmungen, Masken und künstliche Welten favorisierten. Aus der Antike übernahm Wilde das Ideal hellenischer Anmut, aus der englischen Tradition die pointierte Komik der Restauration. Aus diesem Gemisch entstand sein unverwechselbarer Ton aus Epigramm, Ironie und intellektueller Eleganz.

Literarische Laufbahn

Nach dem Studium etablierte sich Wilde in London als Kritiker, Vortragsreisender und literarischer Dandy. 1882 unternahm er eine umfangreiche Vortragsreise in Nordamerika zum Ästhetizismus, die seine öffentliche Bekanntheit stark steigerte. Er veröffentlichte Gedichte, Essays und Märchen, darunter die Sammlung „The Happy Prince and Other Tales“ (1888). Als Redakteur eines Frauenmagazins („The Woman’s World“) modernisierte er in den späten 1880er-Jahren dessen Ausrichtung und erhob Fragen der Bildung und Kultur. Diese frühen Jahre zeigen Wilde als geschickten Kulturvermittler, der Literatur, Mode und Kritik verband und den ästhetischen Diskurs durch publizistische Präsenz verbreiterte.

Mit „The Picture of Dorian Gray“ (1890 in einer Zeitschriftenfassung, 1891 erweitert als Buch) schuf Wilde sein berühmtestes Prosawerk. Der Roman löste eine Kontroverse über Kunst und Moral aus: Kritiker warfen ihm „Unmoral“ vor, worauf Wilde mit dem berühmten Vorwort reagierte, das die Autonomie der Kunst in prägnanten Aphorismen verteidigt. „Dorian Gray“ zeigt die Verführungskraft des Schönen, die Masken der Gesellschaft und die Zersetzung durch Schuld – Themen, die Wilde fortan in verschiedenen Gattungen variiert. Stilistisch vereint der Roman glänzende Dialoge, intertextuelle Anspielungen und eine ausgeprägte Symbolik zu einer provokativen Form der Moderne.

In den frühen 1890er-Jahren erreichte Wilde auf der Bühne seinen Zenit. Mit den Gesellschaftskomödien „Lady Windermere’s Fan“ (1892), „A Woman of No Importance“ (1893), „An Ideal Husband“ (1895) und „The Importance of Being Earnest“ (1895) brillierte er im Londoner West End. Diese Stücke verbanden rasch geschnittene Dialoge, paradoxen Witz und elegante Konstruktion. Wilde entlarvte höflich, aber unbarmherzig die Heuchelei einer moralisch strengen, zugleich genussfreudigen Gesellschaft. Die Publikumsresonanz war enorm; Kritiker lobten Sprachwitz und dramaturgische Präzision. Insbesondere „Earnest“ gilt als Meisterwerk der englischen Komödie, das den „comedy of manners“-Traditionsstrang bis in die Moderne fortschrieb.

Neben den Komödien veröffentlichte Wilde Essays und Dialoge, gesammelt in „Intentions“ (1891), darunter „The Decay of Lying“ und „The Critic as Artist“, die sein ästhetisches Programm scharf konturierten. Er schrieb das lyrisch-symbolistische Drama „Salomé“ (1891) auf Französisch; eine Londoner Aufführung scheiterte damals an Regularien, die biblische Stoffe auf der Bühne untersagten. Das Werk entfaltete gleichwohl europaweit Wirkung und inspirierte spätere Adaptionen. Wildes Lyrik, etwa „The Sphinx“ (1894), zeigt seine musikalische Prosa, kunstvolle Allusionen und eine Vorliebe für opulente Bilder. So entstand ein Œuvre, das Gattungsgrenzen lustvoll überschreitet und Kritik in Kunst verwandelt.

Wildes öffentliche Persona war Teil seines literarischen Projekts. Er kultivierte das Bild des geistreichen Flaneurs, der gesellschaftliche Konventionen charmant unterlief. Interviews, Vorträge und pointierte Aperçus formten eine medienwirksame Figur, die Bewunderung und Spott zugleich hervorrief. Diese Selbstdarstellung diente nicht bloß der Provokation, sondern der Demonstration ästhetischer Lebensführung: Eleganz, Stilisierung und bewusste Inszenierung als Statement gegen utilitaristische Nützlichkeitsideale. Zugleich blieb er ein sorgfältiger Handwerker, der die ökonomische Mechanik des Theaters beherrschte und die Reaktionsweisen des Publikums genau kannte. Öffentlichkeit und Kunst verschmolzen bei Wilde zu einer präzise komponierten Einheit.

Überzeugungen und Engagement

Wilde verstand Kunst als autonom und zielte auf Verfeinerung der Wahrnehmung statt moralischer Belehrung. Seine Essays betonten, dass Kritik eine schöpferische Praxis sei, die Wirklichkeiten erst hervorbringe. In „The Soul of Man under Socialism“ (1891) skizzierte er eine Vision individuellen Gedeihens jenseits repressiver Konventionen und polemisierte gegen wohltätige, doch hierarchische Moralmodelle. In seinen Komödien entlarvte er die Diskrepanz zwischen öffentlicher Tugend und privater Begierde, ohne didaktisch zu werden. Der paradoxale Stil – scheinbar leicht, tatsächlich analytisch – war sein Instrument, um Macht, Klasse, Ansehen und das Begehren nach Anerkennung zu untersuchen.

Im Konflikt mit Zensur und moralischer Empörung verteidigte Wilde konsequent die Freiheit der Kunst. Die Debatte um „Dorian Gray“ schärfte seine Argumente gegen die Gleichsetzung von ästhetischem Wert und sittlicher Nützlichkeit. Nach seiner Verurteilung reflektierte er in „De Profundis“ die zerstörerische Macht öffentlicher Beschämung sowie Möglichkeiten innerer Wandlung. „The Ballad of Reading Gaol“ prangerte entmenschlichende Haftbedingungen an und gab Gefangenen eine Stimme. Damit verband Wilde ästhetische Prinzipien mit humanistischer Sensibilität: Er insistierte auf Individualität, sprach gegen institutionalisierte Grausamkeit und zeigte, wie moralische Dogmen soziale Realität verdecken, statt sie zu verbessern.

Letzte Jahre und Vermächtnis

1895 führten Skandale und Prozesse zu Wildes Verurteilung und zwei Jahren Haft mit harter Arbeit. Im Gefängnis verfasste er „De Profundis“, einen langen Brief von großer seelischer und künstlerischer Spannweite. Nach seiner Entlassung 1897 lebte er überwiegend im Exil auf dem europäischen Kontinent. 1898 erschien „The Ballad of Reading Gaol“, zunächst anonymisiert, deren nüchtern-mitfühlender Ton weithin Beachtung fand. Gesundheitlich und finanziell angeschlagen, publizierte er in den späten Jahren nur noch wenig. 1900 starb Wilde in Paris an einer Meningitis. Zeitgenössische Reaktionen schwankten zwischen moralischer Distanz und Anerkennung seiner unbestreitbaren literarischen Bedeutung.

Langfristig überstrahlte Wildes Werk die Umstände seines Falls. Seine Komödien bleiben Repertoirestücke, deren Witz und Präzision moderne Publika weiterhin begeistern. „Dorian Gray“ fordert nach wie vor Diskussionen über Schönheit, Verführung und Verantwortung heraus. „De Profundis“ und die „Ballad of Reading Gaol“ prägen das Verständnis von Kunst unter Druck und Leid. Wildes Aphorismen sind in Sprache und Denken eingegangen; sein Schicksal wurde zu einem Bezugspunkt für Debatten über Zensur, Sexualität und Menschenwürde. Im 20. und 21. Jahrhundert erfuhr er eine breite Neubewertung: als stilbildender Dramatiker, scharfsinniger Kritiker und Symbol künstlerischer und persönlicher Freiheit.

Das Bildnis des Dorian Gray (Zweisprachige Ausgabe: Deutsch-Englisch)

Hauptinhaltsverzeichnis
Englisch

Das Bildnis des Dorian Gray

Inhalt

Vorbekenntnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis - Table of Contents

Das Bildnis des Dorian Gray
The Picture of Dorian Gray - Zweisprachige Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Synopsis
Historischer Kontext
Autorenbiografie
Das Bildnis des Dorian Gray (Zweisprachige Ausgabe: Deutsch-Englisch)
Analyse
Reflexion
Unvergessliche Zitate
Notizen
Englisch

Vorbekenntnis

Inhaltsverzeichnis

Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.

Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, ist die Aufgabe der Kunst.

Ein Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in eine andere Form oder in einen anderen Stoff zu übertragen vermag.

Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine Art Autobiographie.

Wer in schönen Dingen einen häßlichen Sinn findet, ist verderbt, ohne anmutig zu sein. Das ist ein Fehler.

Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn findet, hat Kultur. Er berechtigt zu Hoffnungen.

Das sind die Auserwählten, für die schöne Dinge lediglich Schönheit bedeuten.

Ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt's überhaupt nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst nichts.

Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel erblickt.

Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel nicht sieht.

Das sittliche Dasein des Menschen liefert dem Künstler einen Teil des Stoffgebietes, aber die Sittlichkeit der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mittels.

Kein Künstler empfindet das Verlangen, etwas zu beweisen. Selbst Wahrheiten können bewiesen werden.

Kein Künstler hat ethische Neigungen. Eine ethische Neigung beim Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.

Kein Künstler ist an sich krankhaft. Der Künstler kann alles aussprechen.

Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst.

Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer Kunst.

Was die Form betrifft, so ist die Kunst des Musikers die Urform aller Künste. Was das Gefühl betrifft, so ist der Beruf des Schauspielers diese Urform.

Alle Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol.

Wer unter der Oberfläche schürft, tut es auf eigene Gefahr.

Wer das Symbol herausdeutet, tut es auf eigene Gefahr.

In Wahrheit wird der Betrachter und nicht das Leben abgespiegelt.

Meinungsunterschiede über ein Kunstwerk beweisen seine Neuheit, Vielfältigkeit und Lebenskraft.

Sind die Kritiker uneinig, so ist der Künstler einig mit sich selbst.

Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches schafft, solang er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung für den, der etwas Nutzloses schuf, besteht darin, daß es äußerst bewundert wird.

Alle Kunst ist völlig nutzlos.

Englisch

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Das Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und wenn der leichte Sommerwind die Bäume im Garten wiegte, so floß durch die offene Tür der schwere Geruch des Flieders herein oder der zartere Duft des Rotdorns.

Aus der Ecke seines Diwans mit persischen Satteltaschen, auf dem Lord Henry Wotton lag und wie gewöhnlich unzählige Zigaretten rauchte, konnte er gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten eines Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige nur seufzend die Last einer so flammenden Schönheit zu tragen schienen, und dann und wann huschten die phantastischen Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen bastseidenen Vorhänge, die vor das große Fenster gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art japanischer Stimmung und ließ den Lord an die bleichen, nephritgelben Maler der Stadt Tokio denken, die mit Hilfe einer Kunst, die notwendigerweise erstarrt genannt werden muß, das Gefühl von Schnelligkeit und Bewegung hervorzubringen suchen. Das tiefe Gesumme der Bienen, die ihren zweifelnden Flug durch das hohe, ungemähte Gras nahmen oder mit eintöniger Zähigkeit um die bestaubten Goldtrichter des wuchernden Geißblattes kreisten, ließ die Stille noch drückender scheinen. Das dumpfe Brausen Londons murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen Orgel.

In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgestellten Staffelei das lebensgroße Bildnis eines außerordentlich schönen Jünglings, und ihm gegenüber, ein paar Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren bei der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu so vielen seltsamen Vermutungen Anlaß gegeben hatte.

Während der Maler die anmutige und liebenswürdige Gestalt betrachtete, die seine Kunst so prachtvoll wiedergespiegelt hatte, huschte ein freudiges Lächeln über sein Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. Plötzlich aber fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit den Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen Traume zu erwachen, und als suche er ihn im Gehirn einzuschließen.

»Es ist dein bestes Werk, Basil, das beste, was du jemals gemacht hast«, sagte Lord Henry schläfrig-müde. »Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins Grosvenor[1] schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich. Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele Leute da, daß ich die Bilder nicht sehen konnte, und das war schlimm, oder so viel Bilder, daß ich die Leute nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das Grosvenor ist der einzig richtige Platz.«

»Ich denke überhaupt nicht daran, es auszustellen«, antwortete der Maler und warf den Kopf in jener merkwürdigen Art zurück, über die schon oft seine Freunde in Oxford gelacht hatten. »Nein, ich will es nirgends ausstellen.«

Lord Henry hob die Augenbrauen und sah den anderen erstaunt durch die dünnen blauen Raucharabesken an, die in so abenteuerlichen Wirbeln von der starken opiumgetränkten Zigarette aufstiegen. »Nirgends ausstellen? Ja warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür? Was ihr Maler doch für Käuze seid! Ihr tut alles in der Welt, um euch einen Namen zu machen. Habt ihr ihn endlich, so wollt ihr ihn scheinbar wieder loswerden. Das ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges Ding auf Erden, das peinlicher ist als in aller Leute Munde zu sein, und das ist: nicht in aller Leute Munde zu sein. Ein Porträt wie das da höbe dich weit über alle jungen Leute in England empor und würde die Alten vor Neid platzen lassen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung fähig sind.«

»Ich weiß, du wirst mich auslachen,« entgegnete er, »aber ich kann es wahrhaftig nicht ausstellen. Es steckt da zuviel von mir selbst drin.«

Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.

»Ja, ich habe das gewußt; es bleibt aber doch wahr, ganz sicher.«

»Zuviel von dir soll darin sein? Auf mein Wort, Basil, ich hätte nie geahnt, daß du so eitel bist; ich kann wirklich nicht die blasseste Ähnlichkeit entdecken zwischen dir mit deinem groben, eckigen Gesicht und deinem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht, als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein lieber Basil, es ist ein Narziß, und du – natürlich hast du ein geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit, wirkliche Schönheit hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck anfängt. Geist ist an sich eine Art Übermaß und zerstört das Ebenmaß jedes Gesichts. Im Moment, wo man sich ans Denken begibt, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder sonst etwas Greuliches. Sieh dir doch mal alle die Männer an, die in gelehrten Berufen etwas geleistet haben. Sind sie nicht alle ausgesprochen häßlich? Natürlich die Männer der Kirche ausgenommen. Aber in der Kirche denken sie eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig Jahren noch unveränderlich dasselbe, was ihm als achtzehnjährigem Bengel beigebracht wurde, und infolgedessen sieht er immer entzückend aus. Dein geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast, dessen Bild mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses schönes Geschöpf, das wir im Winter immer bei uns haben sollten, wenn es keine Blumen zum Anschauen gibt, und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du siehst ihm ganz und gar nicht ähnlich.«

»Du verstehst mich gar nicht, Henry«, antwortete der Künstler. »Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Das weiß ich selbst. In Wirklichkeit wäre ich sogar traurig, sähe ich ihm ähnlich. Du brauchst nicht mit den Achseln zu zucken. Ich sage dir die Wahrheit. Jede körperliche und geistige Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so eine Tragik etwa, wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen in der Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint. Es ist besser, nicht anders zu sein als die Nebenmenschen. Die Häßlichen und die Dummen haben das beste Leben der Welt[1q]. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel sorglos begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber dafür bleibt ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen erspart. Sie leben dahin, wie wir es alle sollten: ungestört, gleichgültig und ohne Mißbehagen. Sie bringen anderen kein Unheil und empfangen es auch nicht von fremder Hand. Dein Stand und dein Reichtum, Harry, mein Geist, soviel ich davon habe, meine Kunst, soviel sie wert ist, Dorian Gray für sein schönes Aussehen – wir müssen alle für die Geschenke der Götter leiden, schrecklich leiden.«

»Dorian Gray? Heißt er so?« fragte Lord Henry und ging durch das Atelier auf Basil Hallward zu.

»Ja, so heißt er. Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen.«

»Aber warum nicht?«

»Oh, ich kann's nicht so erklären. Wenn ich einen Menschen sehr, sehr lieb habe, verrate ich an niemand seinen Namen. Das käme mir so vor, als lieferte ich damit einen Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich allmählich eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint noch die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös und wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit wird reich an Schönheit, wenn man sie verbirgt. Ich sage auch nie, wohin ich reise, wenn ich mal die Stadt verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine ganze Freude daran hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie bringt doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben. Du denkst jetzt gewiß, ich bin furchtbar närrisch?«

»Nicht im geringsten,« antwortete Lord Henry, »nicht im geringsten, mein lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, daß ich verheiratet bin, und daß der Hauptreiz der Ehe darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der Täuschung zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und meine Frau weiß nie, was ich tue und treibe. Wenn wir beisammen sind – wir sind gelegentlich beisammen, wenn wir zu einem Diner eingeladen sind oder zum Herzog aufs Land fahren – so erzählen wir uns die verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. Meine Frau versteht das vorzüglich, ohne Frage besser als ich. Sie verwickelt sich bei den Tatsachen nie in Widersprüche, und bei mir kommt es beständig vor. Wenn sie mich aber ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Ich wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht mich nur aus.«

»Ich kann die Art nicht leiden, wie du über deine Ehe sprichst«, sagte Basil Hallward und ging langsam auf die Tür zu, die in den Garten führte. »Ich glaube, du bist in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und schämst dich nur immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein sonderbarer Kauz: du sagst nie was Moralisches und tust nie was Schlechtes. Dein Zynismus ist nichts als Pose.«

»Natürlichkeit ist immer eine Pose, und zwar die ärgerlichste Pose, die ich kenne«, rief Lord Henry lachend aus, und die beiden jungen Männer gingen zusammen in den Garten und ließen sich auf einer langen Bambusbank nieder, die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand. Das Sonnenlicht flirrte tanzend über die glatten Blätter. Im Grase zitterten weiße Gänseblümchen.

Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr: »Ich fürchte, ich muß gleich fort, Basil,« brummte er, »aber bevor ich gehe, mußt du mir noch unbedingt die Frage beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.«

»Was war das?« sagte der Maler, die Augen fest zu Boden gerichtet.

»Na, du weißt doch.«

»Sicher nicht, Harry.«

»Gut, dann will ich's dir nochmals sagen. Du sollst mir erklären, warum du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen willst. Ich bestehe darauf, den wirklichen Grund zu wissen.«

»Ich habe dir den wirklichen Grund schon gesagt.«

»Nein, das hast du nicht getan. Du hast nur gesagt, weil zuviel von dir selbst in dem Bilde stecke. Das ist aber kindisch.«

»Harry,« sagte Basil Hallward und sah dem anderen gerade ins Gesicht, »jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt ist, ist ein Porträt des Künstlers, nicht des Modells. Das Modell ist nur der Anlaß, die Gelegenheit. Nicht dies wird vom Maler enthüllt; nein, der Maler offenbart auf der farbigen Leinwand eher sich selbst. Ich will also dies Bild darum nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe das Geheimnis meiner eigenen Seele darin aufgedeckt.«

Lord Henry lachte. »Und worin bestünde das?« fragte er.

»Ich will es sagen«, antwortete Hallward; aber in sein Gesicht trat ein Ausdruck von Ratlosigkeit.

»Ich bin äußerst gespannt, Basil«, fuhr sein Gefährte mit einem Blick nach ihm fort.

»Oh, es ist wirklich nicht viel zu berichten, Harry,« entgegnete der Maler, »und du verstehst es wohl kaum, wie ich fürchte. Vielleicht auch glaubst du mir nicht einmal.«

Lord Henry lächelte und bückte sich dann, um ein rosa angehauchtes Gänseblümchen aus dem Grase zu pflücken, das er betrachtete. »Ich werde dich ganz gewiß verstehen,« erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die kleine, goldene, weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, »und was das Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, daß es unwahrscheinlich genug ist.«

Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, und die schweren, vielgesternten Traubendolden der Fliederbüsche bewegten sich in der schwülen Luft. Eine Grille begann an der Gartenmauer zu zirpen, und wie ein blauer Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil Hallwards Herz pochen zu hören und war neugierig, was wohl kommen möchte.

»Die Geschichte ist einfach die«, sagte der Maler nach einer Weile. »Vor zwei Monaten ging ich mal zu einem der Massenempfänge bei Lady Brandon. Du weißt, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, daß wir keine Wilden sind. Du sagtest mir einmal: in Frack und weißer Binde kann selbst ein Börsenmensch in den Verdacht von Bildung kommen. Nun also, ich war etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten, vornehmen Witwen und platten Akademikern, da merkte ich plötzlich, daß mich jemand anblickte. Ich drehte mich halb um und sah zum ersten Male Dorian Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich unsere Blicke begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich. Ich wußte, ich stand einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber, dessen bloße Erscheinung so bezaubernd auf mich wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine ganze Natur, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst an sich reißen müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben irgendwelcher Einwirkung von außen her. Du weißt ja selbst, Harry, wie unabhängig ich von Haus aus bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; war es wenigstens so lange, bis ich Dorian Gray traf. Dann – aber ich weiß nicht, wie ich dir das begreiflich machen soll. Irgend etwas schien mir im voraus zu sagen, daß ich an einem schrecklichen Wendepunkt in meinem Leben stand. Ich hatte die eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich die ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten Schmerzen in Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich wandte mich zum Gehen. Das Gewissen trieb mich nicht dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir nichts darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.«

»In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit ein und dasselbe. Gewissen lautet nur die eingetragene Firma. Weiter gar nichts.«

»Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, du wohl auch nicht. Einerlei aber, aus welchem Grunde es geschah – es mag auch Stolz gewesen sein, denn ich war schon immer sehr stolz – jedenfalls eilte ich der Türe zu. Natürlich prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen. ›Sie wollen doch nicht etwa schon davonlaufen, Herr Hallward?‹ kreischte sie auf. Du kennst ja ihre schrille Stimme.«

»Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf die Schönheit«, sagte Lord Henry und zerrupfte das Gänseblümchen zwischen seinen langen nervösen Fingern.

»Ich konnte sie nicht loswerden. Sie zerrte mich zu den königlichen Hoheiten hin, zu den Leuten mit Orden und Sternen und zu den ältlichen Damen mit riesenhaften Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich dabei ihren besten Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal vorher gesehen, aber sie setzte es sich in den Kopf, aus mir den Löwen des Tages zu machen. Ich glaube, damals hatte gerade ein Bild von mir großen Erfolg gehabt, wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz darüber gebracht, und das ist ja im neunzehnten Jahrhundert das Eichungsmaß der Unsterblichkeit. Plötzlich stand ich dem jungen Manne gegenüber, dessen Äußeres mich vorhin so merkwürdig erschüttert hatte. Wir standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah. Unsere Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig von mir, aber ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Vielleicht war es aber doch alles in allem nicht so leichtsinnig. Es war einfach nicht zu umgehen. Wir hätten auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Ich bin dessen gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch er fühlte, daß unsere Bekanntschaft Schicksalsfügung war.«

»Und wie hat Lady Brandon den wunderbaren Jüngling beschrieben?« fragte sein Gefährte. »Ich weiß, es ist ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine kleine Skizze zu geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem schrecklichen, alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen Brust mit Orden und Bändern beklext war, und mir in einem tragischen Flüsterton, der für jedermann im Zimmer hörbar war, die erstaunlichsten Einzelheiten über ihn ins Ohr zischelte. Ich mußte einfach davonlaufen. Ich entdecke die Leute gerne von mir selbst aus. Aber Lady Brandon behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator seine Waren. Sie erklärt sie einem entweder so lange, bis nichts mehr davon übrigbleibt, oder sie sagt alles, gerade mit Ausnahme dessen, was man wissen will.«

»Die arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie«, sagte Hallward zerstreut.

»Mein guter Junge, sie wollte einen Salon gründen und hat es nur bis zu einem Restaurant gebracht. Wie soll ich sie da bewundern? Aber sage nun endlich, was sie über Herrn Dorian Gray erzählt hat?«

»Oh, so irgend was wie ›Entzückender junger Mensch – seine arme Mutter und ich ganz unzertrennlich – vergaß ganz was er treibt – fürchte fast – gar nichts – ach ja, spielt Klavier – oder war es die Geige, lieber Herr Gray?‹ Wir mußten beide lachen und wurden sofort Freunde.«

»Lachen ist wohl lange nicht der schlechteste Anfang für eine Freundschaft, und gewiß ihr schönstes Ende«, sagte der junge Lord und pflückte sich noch ein Gänseblümchen.

Hallward schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Ahnung, was Freundschaft ist, Harry,« murmelte er, »und ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast alle Welt gern; mit anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.«

»Wie grausam ungerecht von dir!« rief Lord Henry, stieß seinen Hut in den Nacken und sah zu den Lämmerwolken empor, die gleich verwirrten Knäueln glänzendweißer Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels dahinschifften. »Ja, grausam ungerecht von dir. Ich unterscheide die Leute sehr scharf. Ich wählte meine Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug sein in der Wahl seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen, der ein Narr ist. Es sind sämtlich Leute von einer gewissen geistigen Höhe, und daher schätzen sie mich auch alle. Bin ich sehr eitel? Ich glaube, es ist ein bißchen eitel.«

»Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung zählte ich nur unter deine Bekanntschaften.«

»Mein lieber, alter Basil, du bist weit, weit mehr als ein Bekannter.«

»Und weit weniger als ein Freund! Wohl so eine Art Bruder?«

»Pah, Bruder! Bleibe mir mit Brüdern vom Halse. Mein ältester will nicht sterben, und meine jüngeren tun scheinbar nichts anderes.«

»Harry!« rief Basil mit gerunzelter Stirne.

»Mein lieber Junge, ich meine es nicht so ernst. Aber ich kann mir nicht helfen, ich verabscheue meine Verwandten. Ich vermute, das schreibt sich daher, daß kein Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen kann. Ich verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten auf die sogenannten Laster der oberen Stände. Die Massen fühlen, daß Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit zu ihren Vorrechten gehören sollten, und daß jeder von uns, der sich darin bloßstellt, gewissermaßen auf ihrem Gebiete wildert. Als damals der Scheidungsprozeß des armen Southwark spielte, war ihre Entrüstung wirklich prachtvoll. Und trotzdem lebt meiner Überzeugung nach nicht der zehnte Teil des Proletariats der Sitte gemäß.«

»Ich stimme keinem einzigen deiner Worte bei, und, was mehr ist, Harry, du selbst glaubst ja auch nicht im mindesten daran.«

Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und stieß mit dem zierlichen Spazierstock aus Ebenholz gegen die Kappe seines eleganten Lackstiefels. »Wie englisch du bist, Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen Einwurf. Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt – an sich schon immer eine Unüberlegtheit –, so fällt es ihm nicht im Traum ein, zu erwägen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das einzige, was ihm von Belang scheint, ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt. Aber der Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Idee um so geistreicher sein, je unaufrichtiger der Mann ist, weil sie in diesem Fall weder die Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner Wünsche noch seiner Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht die Absicht, politische, soziale oder metaphysische Diskussionen mit dir zu führen. Mir sind Menschen lieber als Grundsätze und grundsatzlose Menschen überhaupt das Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von Dorian Gray. Wie oft siehst du ihn?«

»Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn mal einen Tag nicht sähe. Er ist für mich einfach ein Bedürfnis.«

»Wie merkwürdig! Ich glaubte immer, du kümmertest dich um nichts anderes als um deine Kunst.«

»Er ist für mich jetzt meine ganze Kunst«, sagte der Maler ernsthaft. »Manchmal glaube ich, Harry, daß es nur zwei wichtige Epochen in der Weltgeschichte gibt. Die erste ist das Auftreten einer neuen Kunsttechnik und die zweite die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit in der Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war, das war das Gesicht des Antinous[2] für die spätgriechische Bildhauerkunst, und das wird eines Tages für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf es dabei ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere. Natürlich hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für mich als ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich will gewiß nicht behaupten, daß ich unzufrieden mit dem bin, was ich nach ihm gemacht habe, oder daß seine Schönheit derart ist, daß sie die Kunst nicht ausdrücken könne. Es gibt überhaupt nichts, was die Kunst nicht ausdrücken kann, und ich weiß: was ich gemacht habe, seitdem ich Dorian Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste Arbeit meines Lebens. Aber auf irgendeine seltsame Weise – ich glaube kaum, daß du das verstehen wirst – hat mir seine Persönlichkeit eine vollständig neue Art der Kunst, einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge anders, ich denke darüber anders. Ich kann jetzt das Leben auf eine Art festhalten, die mir früher nicht gegeben war. ›Ein Traum von Form in unseren Tagen des Denkens‹: wer war es, der so sagte? Ich hab's vergessen; aber das bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare Gegenwart dieses Knaben – denn für mich ist er kaum mehr als das, wenn er auch schon über die Zwanzig – seine bloße sichtbare Gegenwart – ach! ich glaube nicht, daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich bedeutet! Ohne es selbst zu wissen, enthüllt er mir die Linien einer neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die ganze Leidenschaft der Romantik und die ganze Vollkommenheit des griechischen Geistes. Die Harmonie von Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserer Verblendung haben die beiden voneinander gerissen und haben uns einen Realismus erfunden, der gewöhnlich ist, und einen Idealismus, der leer ist. Harry! wenn du wissen könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst du dich an die Landschaft von mir, für die mir Agnew[3] ein so wahnsinniges Geld angeboten hat und von der ich mich doch nie trennen wollte? Es ist sicher eins der besten Stücke, die ich je gemacht habe. Und warum? Weil Dorian Gray neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein ganz feines Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal in meinem Leben entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft das Wunder, nach dem ich immer gesucht und das ich nie gefunden hatte.«

»Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte. Ich muß Dorian Gray kennenlernen.«

Hallward schnellte von der Bank auf und ging im Garten hin und her. Nach einer Weile kam er zurück.

»Harry,« sagte er, »Dorian Gray, ist für mich nichts als ein künstlerisches Motiv. Vielleicht fändest du gar nichts in ihm. Ich finde alles in ihm. Er ist in Wirklichkeit nie mehr in meiner Arbeit lebendig, als wenn kein Schatten von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich sagte, die Anregung zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen gewisser Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit gewisser Farben. Das ist alles.«

»Warum aber willst du dann sein Bild nicht ausstellen?« fragte Lord Henry.

»Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck all dieser ganz merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt habe, von der ich natürlich nie zu ihm sprechen wollte. Er hat von alledem keine Ahnung. Er soll nie etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und ich will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht entblößen. Mein Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop bekommen. Es ist zu viel von mir selbst in dem Dinge, Harry – zu viel von mir selbst.«

»Dichter nehmen's nicht so genau wie du. Die wissen, wie einträglich es ist, Leidenschaft zu veröffentlichen. Ein gebrochenes Herz bringt es heutzutage zu einer ganzen Reihe von Auflagen.«

»Ich finde sie darum eben abscheulich!« rief Hallward aus. »Ein Künstler soll Schönes schaffen, aber er soll nichts von seinem eigenen Leben hineintragen. Wir leben in einer Zeit, wo die Menschen aus der Kunst eine Art Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben den klaren Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will ich der Welt zeigen, was sie ist, und deshalb soll die Welt mein Bild Dorian Grays niemals sehen.«

»Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will mit dir nicht streiten. Nur die geistig Entkernten streiten sich gern. Sag' mir, hat dich Dorian Gray sehr lieb?«

Der Maler dachte ein paar Augenblicke nach. »Er hat mich gern«, antwortete er nach einer Weile; »sicher hat er mich gern. Natürlich schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich finde eine ganz besondere Lust daran, ihm Dinge zu sagen, die mir später leid tun, wie ich ganz genau weiß. In der Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im Atelier und schwatzen von tausend Dingen. Dann und wann ist er allerdings greulich gedankenlos und scheint große Freude darin zu finden, mir wehe zu tun. Dann, Harry, habe ich das Gefühl, daß ich jemand meine ganze Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine Blume für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen, mit dem man seine Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat für einen Sommertag.«

»Sommertage, Basil, pflegen manchmal lange zu währen«, murmelte Lord Henry. »Vielleicht wirst du seiner früher müde, als er deiner. Es ist sehr traurig, daran zu denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das Genie die Schönheit überlebt. Das erklärt auch die Tatsache, daß wir uns soviel Mühe geben, uns mit Bildung vollzupfropfen. In dem wilden Existenzkampfe ums Dasein wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und so füllen wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der dummen Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten. Der durch und durch unterrichtete Mann – das ist das moderne Ideal. Und das Gehirn dieses durch und durch unterrichteten Mannes hat etwas Fürchterliches. Es gleicht einem Kuriositätenladen, in dem es lauter Ungeheuerlichkeiten voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand über seinen wahren Wert hinaus ausgezeichnet ist. Immerhin, ich glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines Tages wirst du deinen jungen Freund anschauen und finden, daß er etwas verzeichnet ist, oder du wirst an seiner Farbe etwas auszusetzen haben oder irgend so etwas. Du wirst ihm dann in deinem Herzen bittere Vorwürfe machen und ganz ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht schlecht gegen dich benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal besucht, wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das wird sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern. Was du mir da erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine Romanze der Kunst möchte man es nennen, und das Schlimmste beim Erleben von Gedichten ist nur, daß es einen so ganz unpoetisch zurückläßt.«

»Harry, ich bitte, sprich nicht so. Solang' ich lebe, wird mich die Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Du kannst meine Empfindung nicht nachfühlen. Du wandelst dich zu oft.«

»Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich sie nachempfinden. Die treuen Menschen kennen nur die triviale Seite der Liebe; die Treulosen allein erfahren die Tragödien der Liebe.« Und Lord Henry zündete an einem zierlichen silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann eine Zigarette zu rauchen, mit jener so selbstbewußten, zufriedenen Miene, als hätte er den Sinn der ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man hörte ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den grünen, wie mit glänzendem Lack überzogenen Efeublättern, und die blauen Wolkenschatten jagten wie Schwalben über das Gras. Wie reizend war es doch in dem Garten und wie entzückend waren die Gefühlsregungen anderer Leute! – weit entzückender als ihre Gedanken, so schien es ihm. Des Menschen eigene Seele und die Leidenschaft seiner Freunde – das sind die fesselnden Dinge des Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen das langweilige Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch bei Basil Hallwald versäumt hatte. Wäre er zu seiner Tante gegangen, hätte er dort sicher Lord Goodbody getroffen, und das ganze Gespräch hätte sich mit der Armenernährung und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern beschäftigt. Menschen jedes Standes hätten die Wichtigkeit gerade jener Tugenden gepredigt, für die sie in ihrem eigenen Leben gar keine Verwendung hatten. Der Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit geredet, und der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde der Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein. Als er an seine Tante dachte, schien ihm etwas einzufallen. Er wandte sich zu Basil und sagte: »Mein lieber Junge, ich erinnere mich jetzt.«

»Woran erinnerst du dich, Harry?«

»Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.«

»Wo war das?« fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.

»Schau' doch nicht so böse drein, Basil. Es war bei meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie sei einem wunderhübschen jungen Menschen begegnet, der ihr im East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray. Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt, daß er so hübsch sei. Frauen haben kein Verständnis für Schönheit, wenigstens gute Frauen nicht. Sie sagte, daß er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich stellte mir natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem Haar und gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf riesigen Füßen umherstapfe. Ich wünsche jetzt, ich hätte gewußt, daß er dein Freund ist.«

»Ich bin sehr froh, daß du es nicht gewußt hast, Harry.«

»Warum?«

»Ich will nicht, daß du ihn kennenlernst.«

»Du willst nicht, daß ich ihn kennenlerne?«

»Nein.«

»Herr Dorian Gray ist im Atelier«, sagte der Diener, der in den Garten hinaustrat.

»Jetzt mußt du mich vorstellen!« rief Lord Henry lachend. Der Maler wandte sich zu seinem Diener, der blinzelnd in der Sonne dastand: »Bitten Sie Herrn Gray, zu warten, Parker; ich komme in ein paar Minuten.« Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus.