Das Blühen der Finsternis - Florian Lang - E-Book

Das Blühen der Finsternis E-Book

Florian Lang

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Beschreibung

Camping, Bier und Rock 'n' Roll – dafür steht das Monster-FM, ein legendäres Musikfestival. Bugneat, Brenda und Chad genießen das Event in vollen Zügen. Doch als der Auftritt der Band Stretched näher rückt, werden sie Zeugen unheimlicher Vorkommnisse. Der junge Rockstar Mickey Hutton, Gitarrist der Band Stretched, ist ein Ausnahmetalent. Die Ausdruckskraft seiner Musik gleicht einem gespenstischen Bann, der das Publikum in Ekstase versetzt. Sein Geheimnis ist ein Buch, aus dem Dämonen sprechen. Das ›Collum Hermes Trismegistos‹ entführt ihn auf eine Seelenreise, deren Ausgang im Ungewissen liegt. Was wird der Preis sein für das ultimative Rockkonzert, welches Mickeys Namen unsterblich machen soll? Indessen gelangt der Dämonologe Doktor Price zu einer frappierenden Erkenntnis: Das sagenumwobene ›Collum Hermes Trismegistos‹, die verheerendste aller dämonischen Schriften, existiert tatsächlich. Er begibt sich auf die Jagd nach dem Buch. Doch er ist nicht der Einzige ... Und Sie? Ja, Sie. In diesem Moment halten Sie Mickey Huttons geheimes Buch in Ihren Händen. Sie können mit ihm lesen im ›Collum Hermes Trismegistos‹. Sind Sie bereit?

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Das

Blühen

der

Finsternis

von

Florian Lang

Alle Rechte vorbehalten.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit

Zustimmung des Verlags möglich.

Die Namen und Handlungen sind frei erfunden.

Evtl. Namensgleichheiten oder Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.

www.verlag-der-schatten.de

Erste Auflage 2021

© Florian Lang

© Coverbilder: Depositphotos Onradi, zacariasdamata

Covergestaltung: Verlag der Schatten

© Bilder: merrydolla (brennende Gitarre), SergeyNivens (brennendes Buch), VisualGeneration (Noten)

Lektorat: Verlag der Schatten u. M.S. Ode

© Verlag der Schatten, 74594 Kreßberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-946381-90-7

Camping, Bier und Rock ’n’ Roll – dafür steht das Monster-FM,

ein legendäres Musikfestival. Bugneat, Brenda und Chad

genießen das Event in vollen Zügen. Doch als der Auftritt der

Band Stretched näher rückt, werden sie Zeugen unheimlicher Vorkommnisse.

Der junge Rockstar Mickey Hutton, Gitarrist der Band Stretched, ist ein Ausnahmetalent. Die Ausdruckskraft seiner Musik gleicht einem gespenstischen Bann, der das Publikum in Ekstase versetzt. Sein Geheimnis ist ein Buch, aus dem Dämonen sprechen. Das ›Collum Hermes Trismegistos‹ entführt ihn auf eine Seelenreise, deren Ausgang im Ungewissen liegt. Was wird der Preis sein für das ultimative Rockkonzert, welches Mickeys Namen unsterblich machen soll?

Indessen gelangt der Dämonologe Doktor Price zu einer frappierenden Erkenntnis: Das sagenumwobene ›Collum Hermes Trismegistos‹, die verheerendste aller dämonischen Schriften, existiert tatsächlich. Er begibt sich auf die Jagd nach dem Buch. Doch er ist nicht der Einzige ...

Und Sie? Ja, Sie.

In diesem Moment halten Sie Mickey Huttons geheimes Buch in Ihren Händen. Sie können mit ihm lesen im ›Collum Hermes Trismegistos‹. Sind Sie bereit?

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Aus dem ›Collum Hermes Trismegistos‹, Band 3:

Prolog

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Aus dem ›Collum Hermes Trismegistos‹, Band 3:

Der Regen und der Donner

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Aus dem ›Collum Hermes Trismegistos‹, Band 3:

Die Wüste

Kapitel 17

Aus dem ›Collum Hermes Trismegistos‹, Band 3:

Was deiner ist, und was des Tieres ist

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Aus dem ›Collum Hermes Trismegistos‹, Band 3:

Die Spinnen

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Aus dem ›Collum Hermes Trismegistos‹, Band 3:

Das Feuer und der Schnee

Kapitel 27

Aus dem ›Collum Hermes Trismegistos‹, Band 3:

Wie du den Hügel des Thot erblickst

Kapitel 28

Kapitel 29

Aus dem ›Collum Hermes Trismegistos‹, Band 3:

Deine Augen und deine Geister

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Aus dem ›Collum Hermes Trismegistos‹, Band 3:

Auf dem Hügel des Thot

Autorenvorstellung

Kapitel 1

Hope – das war ein verschlafenes Nest, halb verloren im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Viele kleine Häuser mit Veranden, rechteckigen Gärten mit weißen Zaunpfählen, das Spiegelbild der abendlichen Glut in den Fenstern, wenn die Sonne hinter dem Tal verschwand. Hier kam der Strom noch aus Hochleitungen, die sich träge über die schnurgeraden Straßen zogen, von den baumgrünen Wohngegenden bis hinüber zum alten Industrieviertel mit seinen verlassenen Fabrikhallen, bröckeligem Asphalt und dem dreckigen Güterbahnhof. Der Verfall des Stahlpreises hatte das Gesicht der Stadt gezeichnet. Die alten Metallbetriebe, die das arthritische Skelett der Stadt waren, hingen am Tropf der staatlichen Subventionen. Die neuen Firmen residierten außerhalb entlang des Highways. Man konnte nicht behaupten, dass Hope so etwas wie ein Aushängeschild hatte. Es gab keine große Sportmannschaft, keine bekannten Persönlichkeiten, über die man auf Wikipedia hätte lesen können, und die Architektur war im sachlichen Stil der Siebzigerjahre stecken geblieben. Der Bahnhof mit gerade mal einem Kiosk-Container und tief zernarbten Holzbänken aus den Tagen der Prohibition galt sogar als der schäbigste in Mellow County. Die ganze Anlage wirkte ebenso provinziell wie die Streitigkeiten des Stadtrates über eine Erneuerung. Eine Station weiter, drüben in Eddisen, hatten sie ein brandneues Gebäude, das vor Glas und Stahl nur so blitzte. Dafür hatte Hope einen neuen Park – wenngleich niemand etwas damit anzufangen wusste. Die Leute waren nun mal vorstädtisch geprägt. Die meisten hatten ihr eigenes kleines Grün vor dem Haus, und so etwas will gehegt und gepflegt werden – nicht zuletzt aus rein repräsentativen Gründen. Aber vielleicht auch, um der Welt mit bescheidener Harmonie ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Und so schien es oft, als läge das Leben in Hope unbeweglich da; als schwebte die Zeit über der Stadt wie eine Wolke, die alles mit einem feinen Anachronismus berieselte.

In der Innenstadt gab es wenig Verkehr. Nicht einmal zu den Stoßzeiten, denn die meisten Fahrzeuge flossen vom Highway direkt in die einzelnen Stadtteile hinein. Die Autos, die man sah, fand man fein säuberlich geparkt am Straßenrand. Es gab keine nervösen Taxifahrer, kein schrilles Gehupe, keine fliegenden Schimpfwörter, keine zuckenden Neonlichter, Spielhallen, Diskotheken, keine Unruhe, die sich in den Nischen einer Skyline tummelt – nein, nicht in Hope. Pulsierende Urbanität war an diesem Ort nicht mehr als ein fernes Schauermärchen. In Hope hatte jegliche Urbanität die freundliche Mürbe von Pastelltönen angenommen.

Wer hätte ahnen sollen, dass ausgerechnet dieses Städtchen zum Austragungsort eines der größten Festivals zeitgenössischer Rockmusik werden sollte, wenn nicht einmal Ken Garwith es geahnt hatte. Denn vor dem Monster-FM hatte es nur Ken und dessen Gespür gegeben – was bis Mitte der Achtzigerjahre so gut wie gar nichts bedeutete. Damals hatte Garwith als Dienstbote beim lokalen Radiosender Hope Melody angeheuert. Hauptberuflich, so nannte Ken es jedenfalls der Tage, war er Roadie. Er arbeitete für Bands aus ganz Mellow, die meisten davon waren mittelklassige Rock- oder Punkbands, die solide Shows in Bars und Striplokalen abliefern konnten und hinterher sämtliche Schnapsbestände trockenlegten. Ken war immer der Mann für alles gewesen – von Schraubereien am Schlagzeug, dem Besaiten der Gitarren bis hin zum Bestatten von Whiskeyleichen. Sein Repertoire umfasste die gesamte Palette an kleinen Problemen, die im Leben einer Band so auftraten. Trotzdem fehlte ihnen allen etwas – genauer gesagt das gewisse Etwas: der feine Unterschied, ob das, was man tat, Kunst war oder nur das Abbild einer gewissen Geschicklichkeit, die man mehr oder minder zufällig an einem Instrument auslebte. Und Ken konnte das fühlen – von der ersten Sekunde an, von der er sie hörte. Aber bis dahin war es ihm recht egal. Er war ein glühender, wenngleich untalentierter Hobbymusiker, und von jedem dieser Typen konnte er sich den einen oder anderen Kniff abschauen. Vor allem von einem, dem einzigen wahren Künstler, für den er je die Saiten aufgespannt hatte: Joey Sola.

Anfangs war dieser Joey ein ruhiger, aber auch total verlotterter Kerl gewesen. Einer, von dem die Leute sagen, er könne nur Künstler oder Säufer werden. Joey hatte irgendwie beides hinbekommen. In seinen guten Jahren, Anfang der Achtzigerjahre, hatte er für einige talentierte Bands im Studio gearbeitet. Darunter Vertreter wie The Fresh Titans oder die Jungs von The Olliest aus Templeton, die, neben einer Tournee in Übersee, sogar einen Song in den Top 200 vorzuweisen hatten. Ken hatte den Gitarristen, den es damals von L.A. nach Mellow verschlagen hatte, für gerade noch zwei Jahre gekannt. Denn länger als bis zum Alter von siebenundzwanzig hatte Joey nicht durchgehalten – Todesursache unbestimmt, wie aus dem Nichts. Manche jedoch, die wenigen, die er bis zum Ende an sich heranließ, hatten seinen Tod auf eine unterschwellige Weise kommen gesehen; vielleicht so, wie man manchmal ein nahendes Unwetter in der Luft fühlt. Letzten Endes konnte niemand genau sagen, was die Veränderungen in Sola auslöste, oder ob es gar so etwas wie eine kausale Entwicklung hin zu seinem Tod gab.

Eines war für Ken jedoch klar: Joey war ein wahrer Künstler gewesen. Wenn er spielte, spielte er nicht einfach nur Gitarre. Er spielte die Gitarre mit sich selbst. Seine Zerrissenheit zwischen Sehnsüchten und Realität, sein Schmerz aus einer Kindheit zwischen Gewalt und Drogen – all dies hatte er nie in Worte fassen, jedoch aus seiner Fender holen können. Er vertonte Emotionen. Er konnte sie zuspitzen zu einem Bündel an berauschenden Gefühlen, konnte beim Hörer bis auf den Grund der Seele stoßen wie eine Fingerspitze, die in eine stille Wasseroberfläche tupft. Es war seine Magie, verborgene Gefühle, die in uns allen schlummern, anzurühren, sie mit den seinen schwingen zu lassen. Kein Schmerz war einsam vor der Musik von Joey Sola. Auch der geheimste nicht.

»Du musst eine Vision haben für jeden Ton«, hatte er einmal zu Ken gesagt.

Sie waren zusammengesessen, beide mit ihren Instrumenten.

»Hier, schau her!« Joey glitt mit dem Finger die Saite hinauf, um einen Ton zu greifen. Der Verstärker gab ihn als ein erstauntes Summen wieder.

Allein dieser einfache Griff hörte sich bei ihm schon an wie richtige Musik, fand Ken. »Ja, das ist stark«, sagte er.

Joey lachte sein schnoddriges, etwas dümmlich wirkendes Lachen. »Was ich meine, Kenny: Es reicht nicht, einfach so in einen Ton hineinzurutschen.«

Er wiederholte den Griff. Diesmal begannen seine Finger beim Greifen des Tons eine Schwingung aus dem Handgelenk auszuführen, und er zog die Schultern hoch, als der Sound aus dem Verstärker in einer intensiven, flehenden Färbung wimmerte. Ken hatte automatisch die Schultern mit hochgezogen.

Joey sagte: »Jeder Ton, den du spielst, ist dein Ton – er ist ein Teil von dir, du gibst ihn hinaus in die Welt. Und du kannst nicht unendlich viel geben. Also gib dein Bestes.«

Dann hob er die Gitarre an, verband drei schnelle Töne zu einem Jauler, ließ die Phrase die Tonleiter förmlich hinabpurzeln, bis er sie in einem immer schnelleren Abwärtsfall austrudeln ließ.

Ken sah ihn staunend an. Ihm fiel nichts darauf ein, er war überwältigt.

»Deine Greifhand, Mann«, sagte Joey. »Gib Leben in die Saiten! Lass sie schnaufen, lass sie keuchen, lass sie taumeln. Das ist die Einstellung, die du brauchst. Ansonsten machst du Schulchor, keinen Rock ’n’ Roll.«

Solche Dinge sagte er oft: Ansonsten machst du Schulchor. Oder auch:Ich mach dich Krankenhaus.…Das war Joey! Er war langsam, lachte bisweilen dümmlich und hatte eine kindliche Ausdrucksweise. Dafür war er ehrlich. Meistens betrunken oder stoned, aber ehrlich. Joey war okay, fand Ken. Er erzählte gern, dass er ihn kannte.

Was das Zwischenmenschliche betraf, veränderte Joey sich nicht. Seine Kontakte wurden nicht schlecht, sie wurden nur dünner, bruchstückhafter. Manchmal hörte man wochenlang nichts von ihm, bis er in irgendeinem Club auf der Bühne auftauchte.

Offensichtlich wurde die Veränderung bei seiner Musik. Natürlich spielte er die gleichen Songs, aber mit der Zeit bekamen sie ein dunkles, psychedelisches Flair. Seine Soli wurden zu Arien. Seine Intensität war nicht zu sagen unglaublich, doch zugleich überspannt von wachsender persönlicher Verzweiflung. Die Clubs wurden immer kleiner, die Gagen zerknüllte Bündel, die aus Hosentaschen gezogen wurden.

An einem Sonntagmorgen endete Joey Sola in seiner Badewanne.

Einmal, als Ken für ihn arbeitete, spielten sie mit einer Band in Blue Berry. Ken hatte mächtig zu tun gehabt, denn in dem hiesigen Club gab es eine kleine Bühne, die aufgebaut werden musste. Anderthalb Stunden hatte er Muttern festgezogen und Kabel verlegt. Zu Beginn der Show – er war gerade noch fertig geworden – saß er verschwitzt am Bartresen bei einem Light-Bier. Nach der zweiten oder dritten Nummer trat ein Typ neben ihn.

»Dieser Sola hat’s drauf. Daran gibt’s keinen Zweifel.«

Ken stimmte zu, drehte sich aber nicht zu dem Mann um, der weitersprach.

»Hab ihn schon letztes Jahr hier gesehen. Hatte das Vergnügen, ihn kennenzulernen. Feiner Kerl. Kann saufen, als hätte er Kiemen im Hals.«

Ken wandte sich um. »Das kann man wohl sagen, das kann er.« Er sah, dass der andere etwa Anfang zwanzig war, gerade in seinem Alter.

»Stell dir vor«, sagte der andere, »wir hatten mal Frank Zappa im Studio. Sogar der konnte was von Sola erzählen.«

Auf der Bühne begann Joey mit einem intensiven Solo.

»Was?«, fragte Ken.

»Frank Zappa!«, rief der andere. »Er hat uns Sola für Aufnahmen empfohlen, obwohl keiner kapiert hat, von wem er redet.«

Joeys Solo ging zurück.

»In eurem Studio?«, fragte Ken.

»Radio Studio.«

»Ach ja?«

»Mellow-FM. Du kennst vielleicht unsere neue Morning-Show.«

Ken nickte verhalten, auch wenn morgendliche Radiosendungen mit seinem Lebensrhythmus kaum vereinbar waren. Dennoch formte sich der Name des Senders wie ein Mantra in seinem Kopf: Mellow-FM.

Der Sound auf der Bühne bäumte sich erneut auf, und Ken musste sich zu seinem Nebenmann durchbrüllen. Aber er hatte kapiert.

»Mellow-FM, sagst du? Sind das nicht diese neuen Leute aus San Antonio, die kürzlich Mellow 92,1 geschluckt haben?«

»Genauer gesagt sind diese Leute die Angestellten meines Vaters! Ich will ihn überreden, eine kleine Rocksendung einzubauen für das Spätprogramm oder so. Mit lokalen Bands!«

In Kens Oberstübchen brannte auf einmal ein helles Licht. »Wie wär’s mit einem Drink?«, fragte er.

Im Frühjahr 1987 kündigte Ken seinen Aushilfsjob bei Hope Melody,weil er nun einen richtigen Job hatte. Das Ganze ergab sich aus der Freundschaft zu seinem neuen Kumpel. Huey Stratman war der Sohn des Geschäftsführers von Mellow-FM, und er hatte Ken zum Assistenten für seine Sendung Rock Eve ernannt. Die Show lief zweimal die Woche abends von neun bis zwölf. Gespielt wurde hauptsächlich Independent Rock – jene Art, die damals vom Nordwesten über das Land schwappte. Zwischendurch gab es ein paar Neuigkeiten aus der Musikwelt, gepaart mit mehr oder weniger sinnfreiem Geplapper von Huey. Mittelpunkt jeder Sendung war die Vorstellung einer lokalen Band aus Mellow. Für jede gab es ein Interview, in das je zwei Songs in voller Länge untergebracht wurden. Bald siebte Ken aus ihnen eine Handvoll heraus, um sie regelmäßig ins Programm aufzunehmen. Die Mischung machte sich gut. Sie verschaffte Rock Eve eine staatsweite Stammhörerschaft, und nicht zuletzt bildete sich aus ihr ein Kreis an Bands, der zu einer eigenständigen Szene in Mellow aufstieg. Es gab nun den Mellow-Sound. An und für sich war es eine Musik, die später irgendwo zwischen Grunge und Skateboards verschwinden sollte. Aber zu jener Zeit löste sie von Hope bis hinunter nach Brighton einen regionalen Boom aus. Innerhalb eines Jahres war Ken so etwas wie der Pate dieser Szene geworden. Er kannte jeden Einzelnen von ihnen. Er kannte ihre Hintergründe, ihre Ambitionen, er kannte ihr Talent; ja, er hätte jedem Gesicht ein Gitarrenmodell, eine Jeansmarke oder sogar einen Mundgeruch zuordnen können. Bevor irgendwer bei Rock Eve auf Sendung ging, musste seine Musik die Labyrinthe in Kens Gehörgängen bestehen.

Huey war derjenige von beiden, der in größeren Zusammenhängen dachte. Vielleicht weil er sich die Achtung seines Vaters zurückerobern wollte, nachdem er vom College geflogen war. Auf jeden Fall hatte er die Idee angestoßen, ein Festival zu veranstalten. Dies war im Frühjahr 1988 gewesen.

Kapitel 2

Der Fahrer fuhr das Taxi rechts ran. Eine Schwade Zigarettenqualm schwebte durch die Sonnenstrahlen an das Taxameter heran; die verheißend leuchtenden Ziffern auf dem Display zeigten achtzig Dollar.

War eine gute Fahrt, dachte der Fahrer, dafür lässt man sich gern den Wagen vollstinken.

Wieder kam eine Schwade Qualm von der Rückbank nach vorn. Das Gesicht mit der Designer-Sonnenbrille und den locker gegelten Strähnen huschte durch den Rückspiegel. Das Knarren von Leder vermengte sich mit dem Geklapper von Nieten und Schmuck, dann saß der Gast wieder gerade, mit seinem Portemonnaie in der Hand.

Der Fahrer wandte sich nach hinten. »Sie sind sicher, dass Sie hier aussteigen möchten?«

Der Gast zog einen abgegriffenen Notizzettel aus seiner Jeans, die mit den stilisierten Waschflecken und den Bleichstreifen dermaßen ›used‹ aussah, dass es schon beinahe einem Witz glich. Gemächlich hob er sich das Papier vor die Nase, während seine Finger es entfalteten. Das hatte nichts mit Genauigkeit oder Langsamkeit zu tun; es wirkte wie der Ausdruck eines Mannes, der es gewohnt war, dass die Zeit sich nach ihm richtete … Und wenn er einen Kater hatte, dann würde die Welt artig warten, bis er in aller Ruhe so weit war. Schließlich wartet das ganze Stadion auf den Rockstar, nicht wahr?

»Sechsundfünfzig Carlington Road«, las er vor. »Das ist doch hier.«

»Ja, Mister. Aber das ist eine echt heruntergekommene Gegend.« Der Fahrer deutete auf den offenbar leer stehenden Altbau, vor dem er gehalten hatte. »Diese Adresse … Ich meine, sehen Sie sich das Gebäude an. Da finden Sie höchstens ein paar Ratten. Vielleicht erlaubt sich da jemand einen Scherz mit Ihnen. Ich kann Sie nach Manhattan bringen, oder wohin Sie wollen. Ist kein Problem.«

Der Gast nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel. Er schob die Brille hinunter und warf seinen grünen Blick tief in die Augen des Fahrers. Dabei lehnte er sich vor, sodass er dem anderen ganz nahe kam, als hätte er ihm etwas unheimlich Persönliches mitzuteilen. »Lassen Sie mal die Scheiben runter, guter Mann.«

Der Fahrer stimmte schrägmündig zu. Seine Hand langte nach dem Knopf in der Mittelkonsole, der die Öffnungsautomatik auslöste. Das Geräusch der Fenstermotoren begann allmählich einem anderen, von draußen kommenden Geräusch Platz zu machen.

»Und jetzt halten Sie mal den Rüssel an die Luft und stellen Ihre Lauscher auf«, sagte der Gast und rückte seine Brille wieder zurecht.

Der Fahrer hielt den Kopf nach draußen, horchte. Von nicht weit her drang ein eigenartiges Rumpeln an seine Ohren, aber er konnte es nicht gleich zuordnen.

»Da ist irgendein Krach«, sagte er. »Vielleicht Musik. Da ist ein Schlagzeug zu hören und ein Brummen, oder?«

Der Gast lümmelte mit den Ellbogen auf den Lehnen der Vordersitze. Er grinste bis über beide Ohren, als er sagte: »Ja, guter Mann! It’s Rock ’n’ Roll, Baby! Hier sind wir genau richtig!« Er zupfte Scheine aus seinem Portemonnaie, als wären es ein paar Kleenex. »Hier sind Hundert für die Fahrt. Zudem noch mal Hundert für Sie. Kaufen Sie Ihrer Frau was Schönes.«

Nachdem er ausgestiegen war, steckte er noch einmal den Kopf in das Taxi. Erneut der Griff zur Brille, erneut die aufblitzenden Augen. Dann ein überspitztes Zwinkern als Trostpflaster eines bedeutenden Abschieds. »Ich bin Dave del Potro. Einen schönen Tag noch!« Er zog den Kragen seiner Lederjacke zurecht, dass die Nieten klirrten, schnippte die Zigarette auf den Bordstein und verschwand breitbeinig in Richtung des Gebäudes.

»Vielen Dank Mister del Potro, Ihnen auch einen schönen Tag!«, rief der Fahrer hinterher, aber seine Worte verloren sich. Er war erstaunt, wie merkwürdig berühmte Leute sein konnten. Und das, wo er diesen Mister del Potro überhaupt nicht kannte.

Der Eingang stand offen. Daves del Potros Stiefel hallten durch den Flur, an dessen Ende es schummrig wurde. Er peilte die hinterste Tür an, dort ging es hin – er konnte es hören, denn von dort kam die Musik. Er lief an der Wand entlang, vorbei an hängenden Tapetenfetzen und gesprungenem Kitt, während das Tageslicht sich hinter ihm schloss.

Aus der Welt des Lichts hinein in die Welt des Rock, dachte Dave und grinste sich eins.

Mit jedem Schritt näher zur Dunkelheit formte sich das dumpfe Dröhnen zu einem Spiel. Es war ein Schlagzeuger mit einem Bassisten. Es klang, als übten sie, Dave aber wusste, was sie wirklich taten: Sie spielten vor – der Bassist spielte vor. In irgendeiner Ecke würde Mickey stehen – gegen die Wand gelehnt mit einer Tasse Tee – und mit aller Kraft den Anschein verbreiten, als langweile er sich zu Tode. Zur Sache tat das nichts. Mickey war immerhin der musikalische Kopf von Stretched. Er war der Gitarrist, er musste den neuen Bassisten für die Band auswählen, ob er nun Lust hatte oder nicht.

In einer anderen Ecke würden die Kandidaten sitzen, die die Plattenfirma hergeschickt hatte. Allesamt gute Jungs, da war Dave sich sicher. Er würde jeden von ihnen nehmen. Aber gut, er hatte auch keine Ahnung, sondern einfach nur Lust, etwas herumzufeixen, Spaß zu machen; er freute sich darauf, Mickey Hutton wiederzutreffen, hatte er den Gitarristen doch seit zwei Monaten nicht gesehen.

Als Dave eintrat, erfolgte gerade der Schlusstakt, und Bradey, der Schlagzeuger, endete mit einem klirrenden Beckenschlag. Es war genau so, wie Dave es sich vorgestellt hatte: In dem Winkel neben der Tür hatte Bradey sein Drum-Set aufgetürmt, daneben standen hüfthohe Bass-Lautsprecher – einer verschwenderischer als der andere. Obenauf waren Verstärker- und Effektgeräte, aus denen eine Menge Kabel flossen. Die Kabel krochen über den Estrich hin zu einer Leiste mit Fußpedalen, vor der ein Typ mit einem Viersaiter stand. Dave verstand von dieser Leiste nur so viel: Mit einem der Pedale konnte man ein Wah-Wah auslösen, einen Effekt, der den Ton der Gitarre zu einer Art Blöken dehnte. Er nahm das Ganze mit Verwunderung zur Kenntnis; Mickey verwendete für sein Spiel grundsätzlich keine Effekte, und er hasste Wah-Wah, ja er verabscheute es geradezu. Wer auch immer damit angekommen war, hätte gleich damit zu Hause bleiben können.

Die Kandidaten saßen auf Stühlen gereiht neben der Tür. Abgesehen von dem Typen an der Pedalleiste waren gerade noch zwei übrig. Der erste kümmerte sich überhaupt nicht um Daves Eintreten, er war vollauf in seine Bassgitarre und seine Fingerübungen versunken. Der andere, ein Langhaariger mit Schirmmütze, sah von seinem Instrument auf und zeigte Dave ein erschrockenes Gesicht.

Als der Sänger ihn passierte, rief er: »Hey, du bist Dave del Potro!«

»Heute bin ich Doctor Feelgood, mein Guter«, gab Dave kurz angebunden zurück. In der hinteren Ecke hatte er bereits Mickey entdeckt. Als ihre Blicke sich trafen, begann Dave unwillkürlich zu lächeln und zeigte Mickey nach herrschender Sitte den Mittelfinger.

Der wiederum stieß einen freudigen Laut aus, besann sich aber sogleich wieder auf seine Langeweile, indem er sich seinen Finger demonstrativ in den Hals hielt.

Dave wechselte in eine Art Tanzschritt. Er zog die Schultern hoch und wackelte mit dem Oberkörper. Dann sang er in seiner angenehmen, genau auf den Punkt abgetakelten Rockstimme:

»Look at me, I’m Doctor Feelgood.

Look at me and just feel fine ...

Was macht das Gehänge, Häuptling Atmende Hand?«

Mickey johlte ihm entgegen. »Doctor Feelgood! Old Man!«

Er war nicht ganz zehn Jahre jünger, jedoch mehr als genug, um Dave ständig mit seinem Alter aufzuziehen. Er sprang auf, und im nächsten Moment klatschten die beiden Frontmänner von Stretched – jeder mit einer großspurigen Ausholbewegung – einander ab.

»Gut, dich zu sehen! Ich sitze hier schon seit zwei Stunden!«, sagte Mickey.

Drüben bei den Stühlen hob der Langhaarige neugierig die Nase.

Mickey dämpfte seine Stimme. »Hab sie alle rausgeschmissen. Bis jetzt.« Er stupste Dave mit dem Ellbogen. »Hat mir einer doch glatt ’nen Vortrag über die Achtziger gehalten. Dann fängt er an, mir was mit seinem Wah-Wah-Pedal vorzuschnarchen. Kannst du dir das vorstellen?«

»Hab’s mir schon vorgestellt. War mir klar, dass du noch keinen genommen hast.«

Der Kandidat an der Pedalleiste meldete sich zu Wort. »Hey Mickey, bin ich fertig, oder was?«

Mickey schlürfte ausgiebig an seinem Tee, bevor er antwortete: »Jaja, ähm – danke Mann. Unser Typ von der Plattenfirma gibt dir dann Bescheid.«

Der Kandidat nahm den Bass ab. Er winkte Dave zu. »Hey, del Potro, cool, dich mal zu sehen!«

Dave entgegnete ein freundliches Nicken. »Gut gespielt, Mann, gut gespielt!«

Als Nächster war der Langhaarige mit der Schirmmütze an der Reihe. Mickey sah sein T-Shirt: Metallica – ›Kill ’Em All‹. Sein Mund verzog sich. »Nicht schon wieder«, raunte er vor sich hin. »Das nächste Mal lassen wir die Effektgeräte zu Hause!«

»Na, komm schon«, sagte Dave. »Das sind alles Profis. Jeder hat eine Chance verdient.«

»Das ist es ja!« Mickey seufzte gedrückt aus dem Mundwinkel. »Ich will keinen Profi. Ich will jemanden, der seinen eigenen Kram macht.« Er lächelte Dave an und klopfte ihm auf die Schulter. »So wie du. Du machst, dass die Leute sich in Ordnung fühlen. Nicht mehr und nicht weniger!«

»Ich weiß, Kleiner: Sie richten sich zugrunde, und ich richte sie wieder auf. So hat jeder seinen Platz im Leben, hehe.«

»Mann, Old Man. Du bist wirklich dein eigener Profi.«

Dave sah das Leuchten im Gesicht des Jüngeren. Er schüttelte die Bewunderung von sich ab, indem er eine lapidare Kopfbewegung zur Seite machte. »Hören wir uns den Nächsten an. Was macht Bradeys Laune?«

»Unterirdisch wie immer. Vielleicht bringst du ja Licht ins Dunkle.«

Der neue Kandidat hatte inzwischen vor der Pedalleiste Stellung bezogen.

Mickey rief ihm zu: »Also gut! Was hast du denn von unserer Set-Liste so drauf?«

»›Lullabies Go By‹, ›Your Bell Is Tolling‹ – solche Sachen.«

»Schon okay. Womit willst du anfangen? ›Lullabies‹ wie die anderen?«

»Kann ich machen.«

Im Hintergrund leerte der Schlagzeuger eine Bierdose. Er zerdrückte sie und ließ sie mit einem Wurf über die Schulter über den Jordan gehen.

»Bradey«, rief Mickey, »noch mal ›Lullabies‹, hast du kapiert?«

Bradey ließ ein ungehemmtes Aufstoßen hören, ehe er seinem Gitarristen ein gleichgültiges Schulterzucken zukommen ließ. »Meinetwegen, Kleiner.«

Dann war es Dave, der dazwischenrief. »Wartet mal!« Er deutete zu dem Kandidaten. »Wie heißt du, Kumpel?«

»Matt.«

»Also Matt, wie wäre es, wenn du uns deinen Lieblingssong vorspielst?«

»Ich hab keinen Lieblingssong, Mister del Potro.«

»Dann irgendwas aus deiner Jugend – etwas, das dich geprägt hat.«

»Okay …«

Der Kandidat wechselte ein paar gedämpfte Worte mit Bradey. Ein Kopfnicken hier, ein Grunzen da und der Drummer wusste, wie der Hase lief. Also zählte er den Song ein – was an sich nicht bedeutete, dass er im eigentlichen Sinne zählte, etwa um sich zeitlich abzustimmen, denn was er da als Zahlenfolge aus seinem Mund schleuderte, war eine Art belangloses Gebell, eine ins Gegenteil verkehrte Konvention, deren schludriges Selbstverständnis an Zumutung kaum zu überbieten war. Und dennoch, der Bass war sofort zur Stelle, die Töne kamen praktisch wie aus der Hüfte geschossen – der Mann am Viersaiter schien offenbar schneller zu ziehen als sein Schatten.

Bradey trieb den Rhythmus schonungslos voran, eine Spur schneller als Normaltempo, als wolle er dem anderen Beine machen. Mister ›Kill ’Em All‹ seinerseits entfesselte eine wabernde Melodie, welche von Mühelosigkeit getragen durch die Tonleiter schwang und sich mit der Zeit durch den Rhythmus hangelte wie ein Kletteraffe in Partylaune. Das Schlagzeug trieb vorwärts. Der Bass hangelte cool auf und ab. Dave stimmte mit einem Nicken ein, während Mickey mit versteinerter Miene dem Spiel des Bassisten lauschte.

»Wow«, sagte Dave. »Klasse Timing. Was spielt er da?«

»›Valley Girl‹.«

Mickey hielt die Augen stur auf den Bassisten gerichtet. Der stand da wie eine Statue, während sein Sound das Haus komplett auf den Kopf zu stellen schien.

Dave wippte mit dem Fuß. »Also, ich find’s geil, Kleiner! Da kannst du sagen, was du willst.«

Mickey war wie festgefroren. »Es ist geil«, sagte er mechanisch.

Das Stück schloss. Der Kandidat kehrte sich bereits den Verstärkern zu, um sich auszuklinken, aber Bradey endete nicht im Einklang, sondern ließ einen Trommelwirbel auffahren, dem ein krachender Beckenschlag folgte. Mit einem spitzen Schrei schloss er ab. »Fuck, man!« rief er. »Endlich Rock ’n’Roll an diesem beschissenen Vormittag!« Er zog die nächste Dose aus seinem Reservoir, schnipste den Bügel ab und nahm einen großen Schluck. Dann saß er wieder ungerührt da, als sei nichts gewesen.

Sie saßen in einem kleinen Imbisslokal. Das Rot der lederbezogenen Bänke leuchtete in Mickeys Gesicht, während er an dem Strohhalm seines Milchshakes nuckelte. Dave behielt auch zum Essen Lederjacke und Sonnenbrille an – wie immer. Auch als er sich Ketchup aus seinem Cheeseburger auf den Ärmel kleckerte, kam er nicht auf die Idee, abzulegen. Er nahm den Ärmel zum Mund und leckte den roten Fleck weg. Dabei sah er grinsend in Mickeys Gesicht, der die Marotte mit unaufgeregter Selbstverständlichkeit verfolgte.

»Das ist das Gute an Leder«, sagte Dave. Dann fiel ihm etwas ein. »Sag mal, was ist das für eine Hütte, in der du hast vorspielen lassen?«

Mickeys Strohhalm röchelte vom Boden des Bechers. »Ich hab sie gekauft.«

Dave hob die Augenbrauen. Sie waren deutlich über dem Steg der Sonnenbrille zu sehen. Er lachte. »Du hast sie gekauft?«

»Voll super, oder? Total abgefuckt! Das wird meine Zentrale an der Ostküste. Ich schmeiß ein paar Matratzen rein und lass eine Bar aufbauen. Das werden Mörder-Partys!«

Dave verdrückte den letzten Happen seines Burgers und wischte sich den Mund ab. »Das ist stark, Kleiner. Kannst auf mich zählen, ich sorge für die Bräute.«

»Natürlich lasse ich alles noch etwas ausgestalten. Poster mit Hendrix und Morrison, ein bisschen Graffiti hier und da …«

»Das bricht doch nicht zusammen, oder?«

»Mann, wo denkst du hin? Nie im Leben – so alt ist das nicht, war nur ein Weilchen keiner drin.«

»Wer war denn drin?«

Mickey machte eine abweisende Handbewegung. »Eine Druckerei. Keine Teufelsanbeter oder so.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Wann kommt Steiner? Was hat er gesagt?«

»Halb drei. Downtown ist viel los. Aber so ein Arschloch wie der macht schon seinen Weg.«

Die Flügeltür des Lokals öffnete sich. Herein trat ein großer, kräftiger Mann. Er hatte dicke Backen und einen weißen Vollbart. Obenherum war er fast kahl bis auf einen Haarkranz an den Seiten. Er trug einen langen, edlen Mantel in gedecktem Grau, darunter lange schwarze Schuhe, auf Hochglanz poliert. Seine große Brille hatte leicht getönte Gläser. Dave und Mickey kannten ihn als Mister Steiner, er war ihr Kontaktmann zum Management der Plattenfirma. Über ihn liefen alle Verhandlungen, Verträge, Touren und das Merchandising der Band. Jetzt kam er über den verschmierten Gang herüber und ließ sich ungehalten neben Mickey auf das rote Polster sinken. Er hatte offensichtliche Probleme damit, seinen Wanst hinter das befestigte Tischchen zu zwängen.

»Hey, Mister Steiner«, sagte Dave.

Mister Steiner schnappte nach Luft. »Was ist das hier für eine Absteige, Jungs? Soll das ein Witz sein?«

Mickey rückte zur Seite, um ihm Platz zu schaffen. »Ist kein Witz, Mister Steiner. Ich habe in der Nähe ein Objekt erstanden.«

Dave grinste in den Kragen seiner Jacke hinein.

Mister Steiner sagte: »Das muss ja ein Scheißobjekt sein, Junge.« Er drehte sich Mickey zu. »Ist nämlich eine Scheißgegend hier.«

In diesem Augenblick kam die Bedienung. Sie war eine dürre Mittvierzigerin mit hochgesteckten Haaren unter dem weiß-blauen Häubchen ihrer Restaurant-Uniform. Offensichtlich schien sie Unfreundlichkeit als einen Teil von Effektivität zu erachten.

»Was darf’s sein, Mister?«, fragte sie Steiner.

Dieser sah abwertend an ihr hoch. Er zeigte ein grimmig-schmieriges Lächeln und sagte: »Single Malt, Schätzchen. Aber ohne Eis.«

Die hängenden Mundwinkel der Frau zeigten keinerlei Regung.

Irgendwie scheinen sie und Steiner wie für einander geschaffen, dachte Dave.

»Wir haben nur Bourbon. Sie sind hier nicht im Waldorf, Mister.«

Steiners widerwärtiges Lächeln mit den kleinen Zähnen wurde breiter. »Jetzt bringen Sie mir schon irgendeinen von Ihren beschissenen Drinks!«

Die Frau verschwand wortlos.

»Wie geht es Ihrer Tochter, Steiner?«, fragte Dave aus einem dummen Instinkt heraus.

Steiner ging nicht darauf ein. Stattdessen zog er einen Umschlag hervor. »Ihr Jungs …«

Die Frau kam zurück und stellte ihm ein Glas Whiskey hin.

»Na, geht doch, Schätzchen! … Ihr Jungs werdet auf Tournee gehen!«

Mickey rieb sich erschöpft das Gesicht.

Dave warf die Hände in die Luft. »Schon wieder? Wir haben eine vierzehnmonatige Tour hinter uns, das ist nicht okay! Ich wollte mit meiner Lady auf die Bahamas, wie soll ich ihr das erklären?«

»Obendrein müssen wir den neuen Bassisten noch einspielen«, warf Mickey ein.

Steiner kippte seinen Drink hinunter. Er atmete scharf ein, dann hielt er Dave den Finger vor die Nase. »Ihr Jungs werdet auf Tournee gehen. Und zwar eine Festival-Tour. Wir haben eine Anfrage für die Musicwave-Festivals! Muse fallen aus – nun wollen sie euch als Ersatz.«

Mickeys Augen richteten sich auf Dave. »Musicwave, das bedeutet das Monster-FM in Hope!«

»Oh ja, allerdings«, bekräftigte Steiner. »Die großen Musiksender, die großen Sponsoren.« Er zog einen Vertrag aus dem Umschlag. »Das ist ein Riesenfisch für euch. Meinen Leuten ist das unheimlich wichtig. Kapiert ihr das? Und könnt ihr das diesem verfluchten Bradey klarmachen?«

Dave nahm das Papier entgegen. Seine Augen überflogen den Vertrag. Die Gage war die höchste, die er jemals gesehen hatte.

Mickey packte ihn flehend am Arm. »Ich will das, Old Man. Das sind nur vier Wochen. Vor sechzigtausend Leuten auf der Streichholzfabrik zu spielen, das ist der Hammer – darauf warte ich mein ganzes Leben!«

»Ja, schon gut. … Hören Sie zu, Steiner, wir unterschreiben das nicht heute.«

»Geschissen, del Potro! Die ganze Sache startet in zwei Wochen! Ihr Jungs werdet das jetzt unterschreiben.«

»Ich unterschreibe«, sagte Mickey.

Steiner zückte einen Federhalter. »Bist ein guter Junge, Hutton. Es gibt keinen Haken bei der Sache. Ihr müsst nur vorher bei einer dieser Talkshows aufkreuzen, das Übliche eben.«

Mickey schob seinem Freund das Papier hin.

»Ach Scheiße, Mickey!«, rief Dave. Das Papier flatterte, als er es an sich riss. »Na, gib mir schon den verdammten Schreiber!«

Kapitel 3

Doktor Price war endlich zu Hause. Die Wohnung war dunkel und still wie immer. Er legte Schuhe und Mantel ab. Dann stand er da und blickte durch das Halbdunkel über den Flur, durch die offene Tür des Arbeitszimmers, geradewegs zum Fenster. Unzählige Schlieren aus Regentropfen glitten die Scheibe hinab, im Hintergrund glitzerte aufgescheuchtes Laub in einer wilden, lautlosen Dunkelheit; darunter fledderten die Umrisse einer papierenen Unordnung über den Schreibtisch: Aufzeichnungen, Briefe, aufgeschlagene Bücher, die von noch viel älteren Büchern berichteten. Einzig der große Drehstuhl mit dem Lederbezug stand noch beschützend zwischen ihm und diesen unerledigten Aufgaben, die, chaotisch, aber dennoch unbeugsam, auf den Doktor warteten.

Er schleppte sich nach drüben. Der Tag war die reinste Tortur gewesen. Kopfschmerzen gleich am Morgen, kläglicher Appetit zum Frühstück, dann die Nachricht, dass er heute zwei Führungen zu geben hatte – und das bei diesem schauderhaften Wetter. Zudem hatte er noch immer keine Antwort von Audrey wegen der paranormalen Verdachtsfälle draußen in Buckleton. Zwei weitere Fälle warteten: Wieder eine Weiße Frau, diesmal unten in Devon, sowie ein Poltergeist in irgendeinem Dorf am Wye, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte. Und dann waren da noch die zehntausend Dollar, die in seinem Gewissen schmorten. Die, welche er an die Leute aus Rhode Island geschickt hatte – jener Geheimgesellschaft aus Nordamerika, die den dortigen Schwarzmarkt für okkulte Reliquien beherrschte. Im Nachhinein hätte er sich besser nicht auf diese obskuren Nekromanten eingelassen. Halb Totenbeschwörer, halb Mafiosi konnten sie ihm irgendwann Probleme bereiten in Form von Erpressung, Verfolgung und wer weiß was alles. Sie waren dazu in der Lage, nicht zuletzt deswegen hatte er sie ja engagiert. Denn die Dinge, nach denen er suchte, lagen weit abseits von dem, was mit normalen Methoden zu ermitteln war. Indessen wurde er sich bewusst, dass er eine Frage noch gar nicht gestellt hatte: Was würde passieren, wenn sie wirklich etwas fänden? Und diesmal ging es nicht darum, ob die Leute aus Rhode Island etwas mit ihm anstellen würden. Es ging darum, was das Buch – sofern sie es gefunden hatten – mit ihm anstellen würde, wenn er es schließlich in die Finger bekäme. Inzwischen waren Monate vergangen, seitdem er das Geld abgeschickt hatte.

Er ließ sich in den Drehstuhl sinken. Auf dem Tisch stand noch ein Schluck kalter Tee, er trank ihn, obwohl er gar nicht wollte. Das Zeug schmeckte grauenhaft.

Er schloss die Augen und setzte das Kinn auf die Brust. Er wartete, bis die Stille sich über ihn legte – über die Hektik des Freitagabendverkehrs, über das finstere Regenwetter, über seine Unlust, über den ganzen fürchterlichen Tag.

Als er wieder aufsah, fielen ihm die Lichtchen am Telefon auf. Wie immer war aufs Band gesprochen worden, aber jetzt leuchtete ein weiteres Licht. Es war ein nervöses Blinken, das eine Fehlermeldung anzeigte.

Price stutzte einen Moment, griff dann kurz entschlossen zum Hörer und versuchte es mit der Abhörtaste. In Erwartung der gewohnten Standardansage lauschte er. Doch was dann ertönte, war nicht die freundliche Frauenstimme aus dem System, sondern eine schrille Sequenz aus scheinbar verrückt modulierten, elektronischen Signalen. Noch ehe Price die Stirn runzeln konnte, folgte eine Pause. Es knisterte und knackte in der Leitung. Und doch war da ein sachtes, unregelmäßiges Rauschen, welches das zweifelhafte Gefühl in ihm wachrief, die Stille eines Raumes hören zu können. Die Stimme, die aus dieser Präsenz hervorstieg, ließ ihn zusammenzucken. Sie war ein verfremdetes Dröhnen, das seine Aufmerksamkeit in die Mangel nahm.

»Hier ist R. I. Wir haben Ihre Zahlung erhalten. Die Ermittlungen in Ihrer Angelegenheit mussten abgebrochen werden. Dennoch haben wir Ergebnisse. Wir konnten die von Ihnen genannten Personen mit folgenden Büchern in Verbindung bringen:

Hendrix, Jim:›Ars De Nigrum Ignis‹

Morrison, Jim:›The Marriage Of Heaven And Hell‹, Originaldruck

Levy, Alexandre: ›Collum Hermes Trismegistos‹, Band 2

Sola, Joey:›Collum Hermes Trismegistos‹, Band 3

Unser Kontaktmann zur Widener Library konnte bestätigen, dass das erstgenannte Exemplar sich in Harvard befindet. Blakes Originaldruck befindet sich im Geheimarchiv der Brown Universität. Die Aufbewahrungsorte der letzten beiden Schriften sind nicht ermittelbar. Ferner lassen sich keine Hinweise finden, dass Überlieferungen dieser Natur jemals real existiert haben. Wenn überhaupt, gehen wir von Fälschungen aus. Wir betrachten Ihren Auftrag damit als erledigt.«

Der Doktor hielt noch immer den Hörer in der Hand, unfähig sich zu rühren. Er war wie vor den Kopf gestoßen. Das war sie also, die Nachricht, auf die er seit Monaten gewartet hatte, deren Erwartung ihm Kopfschmerzen und Übelkeit bereitet, ihn um den Schlaf gebracht hatte. Sie kam einfach vom Band, an irgendeinem miesen Tag. Es erschien schon fast lächerlich, doch zumindest war das Warten jetzt vorbei.

Draußen schlug der Donner. Price stand auf, knipste das Licht an, ehe er sich an der Schrankbar einen Brandy einschenkte. Er trank fast nie, aber jetzt fand er, dass der Zeitpunkt gekommen war. Er hörte das Band noch einmal ab. Die Stimme surrte durch den Raum und zählte die Namen auf:

Hendrix, Jim

Morrison, Jim

Levy, Alexandre

Sola, Joey

Allesamt Musiker. Allesamt gestorben im Alter von siebenundzwanzig Jahren – Teil der Legende, die man als den Club 27 bezeichnet. Darunter Namen wie Janis Joplin oder Kurt Cobain. Musiker, die ihren Zeitgeist verkörperten, die zu Ikonen der Jugendkultur aufstiegen. Verheißende Sterne am Musikhimmel, die wie Kometen leuchteten und bereits wieder erloschen, während sie noch sehnsüchtig gedeutet wurden. Vielleicht weil junger Ruhm das Leben vorschnell verbraucht, bis es schließlich in der Luft hängt wie ein ausgedienter Tank: Schwebend, voller Ungewissheit – zumindest endeten sie auf diese Weise. Ähnlich wie die vier, die auf Prices Liste standen.

Von Musik, oder gar Rock ’n’ Roll, hatte Price nicht die leiseste Ahnung. Audrey, seine Angestellte, hielt ihn sogar für merkwürdig, weil er keine Musik hörte. ›Mit Leuten, die keine Musik mögen, stimmt etwas nicht‹, pflegte sie zu sagen. Price war auf ganz andere Weise auf den Club 27 aufmerksam geworden. Er, ein Dämonologe reinsten Wassers, suchte nach verborgenen Büchern, nach okkulten Schriften und Mythen. Nicht weil er Dinge jenseits des Verstandes suchte. Was er suchte, war eine Wurzel, die dementsprechend unterhalb des Rationalen zu erwarten war. Mit dem feinwerklichen Rüstzeug, das er den Schriften der Alten entnahm, hatte er nach und nach die ehrwürdigen Schichten des Verstandes abgetragen. Anders gesagt, er hatte Elfenbeintürme gestürmt, er hatte Wolkenheime vom Himmel regnen lassen. Er hatte griechische Tempel auf den Kopf gestellt, und die Bärte der Philosophen reihten sich an seiner Wand wie die Hirschgeweihe kapitaler Böcke. Er hatte mageren Asketen Speck vor die Nase gehalten, er hatte erleuchtete Fürstensöhne in finsteren Wäldern ausgesetzt. Er hatte den modrigen Boden unter heiligen Steinen gelüftet und so ganzen Steinkreisen Parodontose verpasst – bis sie schließlich kippten wie die willensschwachen Klötzchen eines Dominospiels. Als auch die letzten Monolithe seufzend in Ohnmacht fielen, fand Price sich plötzlich vor einem feucht atmenden, wuchernden Dickicht wieder. Einem klebrigen Dschungel, bar jedweden Genies, angelegt von den schmutzigen Händen eines Kollektivs, um nicht zu sagen, einer Horde. Da stand er nun vor einem dämonischen Wissen, welches die Alten unter tonnenschweren Blöcken und systematischem Marmor beerdigt hatten. Und welches in seinem gewichtigen Grab nicht etwa erkaltet, sondern hitzig und infektiös geworden war. Und Price – vielleicht weil er inzwischen selbst die Wesenszüge eines Virus angenommen hatte – zögerte nicht eine Sekunde damit, sich die Hände schmutzig zu machen. Er wollte entwirren, klären, wollte das Chaos in die Sprache des Verstandes übersetzen. Auch wenn das bedeutete, schwitzige, geile Ranken und sterile Drähte miteinander zu verdrillen. Was oft ein geistiger Drahtseilakt war. Aber Price liebte die Gefahr, er brauchte die Gefahr. Für ihn war das Maß an einen Seiltänzer allein die Tiefe des Abgrunds, und er würde notfalls auch hinabstürzen, wenn er dafür einen Blick in die finstersten Nischen erhaschen durfte. Diesbezüglich waren die drei Bände des ›Collum Hermes Trismegistos‹, die sogenannte Triklopädie, die außergewöhnlichsten, ja die geradezu abscheulichsten Bücher, die es zu entdecken galt. Die Triklopädie: Das waren die stets verleugneten, undenkbaren Schriften der Götter Hermes und Thot. Hier vermutete Price die Substanz jenes winzigen, eigensinnigen Rests an Kehricht, der auch von den strengsten Kehrmeistern des Verstandes nicht auf eine Schaufel zu bringen war. Ein Überbleibsel, das womöglich der Keim all diesen Dschungels war, dem er sich gegenübersah: ein letztes, dissonantes Echo aus einer Zeit, als noch das blanke Grauen über die junge Menschheit herrschte.

Schon in der Antike galten sämtliche Abschriften der Triklopädie als verschollen. Und man hätte den Alten zu gern geglaubt, dass es sich bei der Sache um eine bloße Legende handle – hätten ihre Mundwinkel nur weniger verräterisch gezuckt, wenn sie von neuen Werken hörten, die angeblich verborgene Splitter des finsteren Wissens in sich trugen. Es waren dann die heraufziehenden Fegefeuer des christlichen Mittelalters, welche selbst die Schriften der Alten zu vertilgen drohten. Dass in ihrer Asche die Keimlinge des inzwischen längst vergessenen Trismegistos neu ergrünten, mag rückblickend wie eine Ironie des Schicksals erscheinen. Was sich herausbildete, war ein literarisches Pilzgeflecht: unsichtbar, untilgbar und in seinem Fortbestand umso fruchtbarer, je feiner es sich verzweigen konnte. Über die Jahrhunderte wuchs ein ganzer Kreis von unterwanderten Schriften heran, der auf einem Konzil im Jahr 1690 unter der Bezeichnung Die Verbotenen Bücher der Menschheit zusammengefasst wurde. Einige findige Geister jedoch, nämlich jene, die das Fach der Dämonologie begründeten, weigerten sich, die Bücher kurzerhand in Qualm und Ruß aufzulösen. Sie wollten dem verbotenen Wissen gegenübertreten, manche, um es kraft der Vernunft in die Knie zu zwingen, andere, um seiner dunklen Faszination auf den Grund zu gehen. Dadurch erfuhr der Kreis einige Veränderungen. Mal wurde er auf elf Exemplare erweitert, dann wiederum bis auf fünf gekürzt. Bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts konnten sechs Schriften ermittelt werden, die ihrer Wirkung nach als schwerwiegend galten, darunter das ›Grimorium Verum‹, das ›Testament Salomo‹ und die ›Ars Notoria‹. Des Schreckens nicht genug wiesen die Inhalte keine Eigenständigkeit auf. Der verheerende Verdacht, es könne einen gemeinsamen Ursprung, eine alle Kräfte vereinende Urquelle geben, war nicht mehr von der Hand zu weisen. Dass die Frage, ob es sich dabei um das sagenhafte ›Collum Hermes Trismegistos‹ handeln könnte, den beispiellosen Niedergang der Dämonologie einläutete, mag nur auf den ersten Blick wie eine Ironie des Schicksals erscheinen.

Price, der als Student das längst vergessene Thema wieder aufgriff, hegte bald seine Zweifel an der Unlösbarkeit dieses Rätsels. Eingangs waren seine Gedanken noch die vorschnellen Reflexe eines Studenten, der gerade dem wissenschaftlichen Geckentum entstieg. Doch mit der wachsenden Arbeit und unter der Gier seines Aufnahmevermögens entwickelte er eine Spürnase, deren Nasenflügel sich unabhängig voneinander bewegten wie zwei denkende Rüssel – und deren tastendes Schnuppern noch den allerfeinsten Staub des Verfalls zu filtern verstand. Bei seinen Nachforschungen stieß er auf den brasilianischen Komponisten Alexandre Levy. In dessen Nachlass aus dem Jahre 1892 war tatsächlich ein Buch mit dem Titel ›Collum Hermes Trismegistos‹ verzeichnet worden. Price konnte es zunächst kaum fassen. Allein die bloße Möglichkeit, dass Abschriften der Triklopädie überdauert haben könnten, elektrisierte ihn. Immerhin gab es ein paar Fälle, in denen verschollen geglaubte Stücke wiederaufgetaucht waren. Dass Levy eine Reihe aus Musikern begründete, von denen keiner älter als siebenundzwanzig wurde, blieb zunächst eine Randnotiz. In den 1930er-Jahren war einem Vagabunden namens Robert Johnson, später verehrt als König des Mississippi-Delta Blues, ein gleichsam kurzes Leben beschieden gewesen. Einem Mann, der kurz gesagt mit einer Mundharmonika im Gepäck auf eine einjährige Wanderschaft verschwand, um urplötzlich als sagenhafter Gitarrenspieler wiederzukehren – Pakt mit dem Teufel inklusive. Nur war Johnson nicht mit irgendwelchen Büchern oder Schriften in Verbindung zu bringen. Aber die Erben seines musikalischen Vermächtnisses waren es. Einem Vermächtnis aus einer Handvoll alter Schellackplatten, die nach seinem Tod rund dreißig Jahre in der Versenkung schlummerten. Und vielleicht ging es wirklich mit dem Teufel einher, dass sie ausgerechnet in den 1960er-Jahren neu entdeckt wurden, und zwar von einer Generation von Musikern, die sich aufmachte, die Grenzen des Bewusstseins voranzuschieben. Bands wie die Rolling Stones, The Doors oder auch Jimi Hendrix waren die Psychonauten einer Dionysos-Mission, die geradewegs auf die Schattenseite des Mondes zuhielt. Unter ihnen wurde Price fündig, und der Kreis zu Levy und dem ›Collum Hermes Trismegistos‹ begann sich zu schließen. Name auf Name erhob sich aus den Schnipseln alter Musikzeitschriften – in denen er watete –, und jedem Namen folgte Buch auf Buch, eines okkultistischer als das andere, und dann folgte immer wieder diese eine beklemmende Zahl, dieser Lebens- und Todesbetrag von siebenundzwanzig Jahren, in dem Ursache und Wirkung sich zu vermengen drohten. Was Price zuweilen dazu veranlasste, die Temperatur seiner Stirn zu prüfen, wenn das Gedankenkarussell im Begriff war, die Gesichter junger Ikonen durch eine zitternde Trennscheibe zu schleudern.

Die Fragezeichen formten sich wie von selbst. Waren diese Künstler vom Grauen ihrer Lektüre eingeholt worden? Waren die okkulten Bücher ihre Inspiration oder sogar ihre letzte Klippe auf dem Weg in ein verfrühtes Schicksal? War dies der Beweis, dass tatsächlich alle drei Bände der Triklopädie noch existierten? Fragen über Fragen – jede ein weiteres Feuer unter der nächsten.

Price nahm einen Schluck Brandy. Er atmete tief durch. Die Übereinstimmungen konnten kaum Zufall sein, er als Wissenschaftler wusste das.

Das Band des Anrufbeantworters kam zum Schluss.

»Die Aufbewahrungsorte der letzten beiden Schriften sind nicht ermittelbar … Wenn überhaupt, gehen wir von Fälschungen aus …«