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42 Leichen aus verschiedenen Jahrhunderten werden in einem unterirdischen Gewölbe gefunden. Agent Jensen bittet seinen alten Freund Many um Hilfe bei dem ungewöhnlichen Fall. In der kleinen Stadt Bad Arolsen verschwindet zur gleichen Zeit eine junge Frau. Dr. Bloorham arbeitet an der Lösung des Falls. Wo könnte der Entführer sie versteckt haben? Kann Bloorham diese Aufgabe überhaupt alleine bewältigen?
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Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2024
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42 Leichen aus verschiedenen Jahrhunderten werden in einem unterirdischen Gewölbe gefunden. Agent Jensen bittet seinen alten Freund Many um Hilfe bei dem ungewöhnlichen Fall. In der kleinen Stadt Bad Arolsen verschwindet zur gleichen Zeit eine junge Frau. Dr. Bloorham arbeitet an der Lösung des Falls. Wo könnte der Entführer sie versteckt haben? Kann Bloorham diese Aufgabe überhaupt alleine bewältigen?
Oliver Kellisch wurde 1981 in Bad Arolsen, Hessen, geboren und lebt dort mit seiner Frau und seinen Kindern.
Für Hugo und Ellie
Für Oma Anni
Und für die kleine Marley
Und dann holt er dich
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Zurück auf der Osterinsel
Nachwort des Autors
Janina schnürte sich ihre Laufschuhe zu, führte noch einige Dehnübungen durch und lief dann los.
Während der ersten paar Meter schaltete sie ihr Smartphone ein, wählte das neues Hörbuch aus und steckte sich die Ohrhörer in beide Ohren. Sie hatte es eine Zeit lang mit Musik versucht, dabei kam sie aber immer aus dem Takt oder lief viel zu schnell. Heute wollte sie versuchen, ob sie beim Laufen einer Geschichte zuhören konnte. Im unteren Rückenteil ihres Trainingsanzuges war eine Tasche eingenäht, in der das Smartphone verschwand und sie nicht beim Laufen störte. Nach wenigen weiteren Metern hatte sie ihren Rhythmus gefunden und wurde schneller.
Sie hatte direkt am Twistesee geparkt, auf dem Parkplatz hinter der Brücke. Es war das erste Mal, dass sie hier geparkt hatte und auch das erste Mal seit ihrer Schulzeit, dass sie wieder um den See lief.
Bisher war sie immer im Wald direkt um Helsen und Bad Arolsen herumgelaufen. Heute jedoch wollte sie sich an einem Café am Twistesee mit ihrer Schwester treffen, die schon einige Male um den See gelaufen war, seit sie in Wetterburg wohnte. Wenn sie sich noch richtig an ihre Schulzeit erinnerte, waren es ungefähr sieben Kilometer um den Twistesee herum. Von hier bis zum Café sollten es also circa dreieinhalb Kilometer sein. Das würde in fünfzehn bis zwanzig Minuten zu schaffen sein.
Ihre Schwester wartete bestimmt schon auf sie. Zusammen würden sie noch die halbe Runde um den See zurück zum Parkplatz laufen und dann ging es für sie wieder nach Hause, während ihre Schwester zurück zum Café lief.
Sie war noch auf der Höhe des Parkplatzes, als sie sah, wie ein älteres Ehepaar in einem Fiat anhielt und sie mit ihrem Hund ausstiegen. Schon hatte sie die drei hinter sich gelassen und folgte dem Weg zwischen den Bäumen.
Der erste Kilometer war schnell geschafft, der zweite auch, aber dann kam ein steiler Abschnitt, der sich unangenehm in die Länge zog. Leider schaffte sie ihn nicht. Im oberen Viertel hörte sie auf zu joggen und wechselte in einen schnellen Schritt über. Der Anstieg hatte es wahrlich in sich, vielleicht war heute nicht ihr Tag.
Endlich ging es wieder bergab, doch kurz darauf kam noch einmal ein steiler Abschnitt. Sie nahm sich fest vor, dass sie diesen hier nicht gehen würde und kämpfte sich bis nach oben. Dort angekommen entspannte sie sich ein wenig und kurz darauf hatte sie wieder ihren normalen Rhythmus gefunden.
Sie überlegte, ob sie schon die halbe Strecke bis zum Café geschafft hatte und ob sie bei ihrer Schwester eine kurze Pause einlegen sollte. Aber sie verwarf der Gedanken wieder. Das Beste war, die Strecke in einem Stück hinter sich zu bringen. Nach einer Pause weiterzulaufen, empfand sie immer als ungewöhnlich schwierig. Außerdem würde ihre Schwester auch loslaufen wollen.
Plötzlich erlosch die Stimme des Vorlesers in ihren Ohrhörern. Der Stecker musste sich gelöst haben. Sie holte das Smartphone im Laufen hervor und stecke die Hörer wieder ein.
Als sie das Smartphone wieder weggesteckt hatte und nach vorne sah, erschrak sie plötzlich so fürchterlich, dass sie ins Stolpern kam und beinahe gefallen wäre. Ein Mann stand nur wenige Meter entfernt vor ihr mitten auf dem Weg. Sie fing sich und blieb wie angewachsen stehen. Der Mann sah irgendwie merkwürdig aus. War das da etwa Blut auf seiner Kleidung? Es war schwer zu erkennen. Hemd und Hose waren so dreckig, als hätte er tagelang, oder besser gesagt wochenlang in einem schlammigen Loch gelegen. Der verkrustete Dreck hatte sich nur stellenweise hier und da gelöst. Die langen fettigen Haare hingen ihm in dicken Strähnen vor dem Gesicht. Die glänzenden Augen funkelten sie durch die Strähnen an, was ihn noch furchterregender wirken lies. Außerdem war er ein Hüne von einem Mann, bestimmt über zwei Meter groß.
Er trat einen Schritt auf sie zu und wieder erschrak sie. Was hatte er vor? Sie wich einige Schritte zurück. Er folgte ihr. Jetzt war sie sich sicher, dass er es auf sie angesehen hatte. Sie drehte sich um und rannte los. Aber sie kam nur zwei Schritte weit, dann wurde sie an der Schulter gepackt. Wie konnte er so schnell sein? Das war doch nicht möglich. Sie versuchte sich loszureißen, doch es half nichts. Er packte sie mit der zweiten Hand um die Hüfte. Sie begann laut um Hilfe zu schreien.
„Hilfe! Hilfe! Hilfeeee!“, immer wieder schrie sie es.
Der Mann packte grob ihre Hände und schlang ein dickes Seil darum. Er warf sie sich über die Schulter und ging mit ihr in den Wald hinein.
Bald darauf verklang das laute Schreien der jungen Frau, verschluckt von der undurchdringlichen Dichte, des immer dunkler werdenden Waldes.
Saragossa, Spanien
Unbekannter Fundort
17. Juni, 07:00 Uhr
Auf die Minute pünktlich kam er an, genau wie verabredet. Aber so hatte er sich das nicht vorgestellt. Warum herrschte hier so ein Gedränge? Laute Stimmen riefen durcheinander. Wo war denn dieser Enrique? Er kannte sein Gesicht von einem Foto, konnte ihn hier aber nicht sehen. Kein Wort war in dem Durcheinander zu verstehen. Und das auch noch alles auf Spanisch.
Jensen wandte den Blick von der kleinen Menge hinter ihm ab, fand auf dem Boden vor ihm einen mittelgroßen Stein und stieß ihn mit dem Fuß in den dunklen Gewölbeeingang vor sich. Der Stein rollte zwei bis drei Meter weit in den Gang hinein und fiel dann mit einem lauten Widerhall von einer Steinstufe auf die nächste. Plötzlich war alles um ihn herum still. Die Arbeiter, die das Gewölbe zufällig freigelegt hatten, hatten aufgehört durcheinander zu reden und standen so plötzlich hinter ihm, als wären sie dorthin teleportiert worden. Alle schwiegen. Einige sahen neugierig, andere einfach nur ängstlich aus.
Jensen hatte schon auf dem kurzen Weg vom Auto bis hierher vermutet, dass die Menschen hier sehr gläubig - oder besser gesagt abergläubisch - waren. Er hatte mehrere Männer gesehen, die sich bekreuzigt hatten und einige hatten sogar immer wieder ein kleines Kreuz an ihrer Halskette geküsst. Seiner Meinung nach war das alles Unsinn. Vor kurzem hatte er irgendwo einen Spruch auf einem T-Shirt gelesen – Hexenverbrennungen und Inquisition – Wir wissen, wie man feiert – Ihre Kirche. Er musste sich ein Grinsen verkneifen, davon sollte er hier besser nichts erzählen, sonst würde er vermutlich gesteinigt werden. Jensen riss sich zusammen und strich sich eine imaginäre Falte aus seinem Anzug. Er verurteilte diese Menschen nicht, er konnte ihre Meinung nur nicht teilen.
„Señor Agent Jensen!“, hörte er plötzlich eine laute Stimme rufen. Das war Enrique, endlich war er da. Die beiden gaben sich die Hand.
„Jensen reicht vollkommen aus“, sagte Jensen.
„Gut, Señor Agent Jensen.“
Jensen verdrehte kurz die Augen. „Es freut mich sehr, Sie persönlich kennenzulernen“, sagte Jensen und musste sich wieder ein Grinsen verkneifen. Ob er ihm wohl für immer Señor nennen würde? Vielleicht machte man das hier so. „Dann kann es ja endlich losgehen.“
Enrique war der Vorarbeiter der Großbaustelle, hatte kurze dunkle Haare und einen schmal rasierten Schnurrbart, und er war einer von den sehr Gläubigen. Alle paar Minuten holte er ein kleines, silbernes Kreuz unter seinem Hemd hervor und küsste es.
Jensen starrte nachdenklich in den dunklen Gang hinein und zog eine kleine Lampe aus einer seiner Jackettaschen. Für das, was er gleich in dem Gewölbe unter der Erde sehen würde, waren weder Gott noch Teufel verantwortlich. Es gab genug böse Menschen auf diesem Planeten, die keinen persönlichen Dämonen brauchten, um schreckliche Dinge zu tun. Er warf einen letzten Blick auf den Kreuz küssenden Enrique, dann schaltete er seine Taschenlampe ein und setzte den Fuß ins Unbekannte.
Die ersten Schritte führten über groben Kiesboden. Dann, nach wenigen Metern, erreichte er eine Steintreppe. Die Stufen waren feucht und vollständig von rutschigem Moos überzogen. Da es kein Geländer und keinen Handlauf gab, ging er sehr langsam und vorsichtig hinunter. Am Ende der Treppe hatte Jemand einen hellweißen LED-Strahler aufgestellt. Jensen schaltete seine Taschenlampe aus und blieb stehen. Im Licht des Scheinwerfers konnte er erkennen, dass er in einem kleinen Gewölbe stand. Es maß höchstens drei mal drei Meter und war zweieinhalb Meter hoch.
In der gegenüberliegenden Wand war ein weiterer Gang zu erkennen. Dieser war jedoch höchstens einen Meter hoch. „Ich hasse es, durch enge dunkle Tunnel zu kriechen“, murmelte er vor sich hin. Jensen legte die Taschenlampe auf den Boden, zog sein Jackett aus und hing es an ein rostiges Stück Eisen, das aus der Wand rechts neben ihm ragte. Er krempelte die Ärmel seines weißen Hemdes bis zu den Ellenbogen hoch und ging dann auf die Knie. Doch bevor er in den niedrigen Gang kriechen konnte, verrieten ihm leise Schritte, dass jemand die glitschigen Stufen zu ihm herunterkam.
Es war Enrique. Er kam mit zögernden Schritten näher und blieb dann neben Jensen stehen. „Señor Agent Jensen, sind Sie wirklich sicher“, Enriques Englisch war ausgesprochen gut, „dass Sie dort allein hineingehen wollen?“
Jensen, der noch immer kniete, fand es unhöflich, ohne Worte zu dem Mann in den Gang zu kriechen und ließ sich auf das Gespräch ein. „Warum sollte ich das nicht tun? Soweit ich weiß, ist dort drin niemand, der mir gefährlich werden könnte.“
„Aber Señor Agent Jensen, dieser Ort ist verflucht!“
Jensen schüttelte den Kopf. „Davon gehe ich nicht aus. Wenn jemand diesen Ort verflucht hätte, müssten über oder neben dem Durchgang Zeichen an der Wand angebracht sein. Egal ob schwarze Magie, weiße Magie, Voodoo oder Ähnliches. Das alles kommt nicht ohne Symbole oder Gegenstände aus.“
„Señor Agent Jensen, dieser Ort ist trotzdem verflucht. Ich habe einen Blick in den Raum geworfen, bevor wir die Arbeiten unterbrochen haben. So etwas habe ich nie zuvor in meinem Leben gesehen.“
„Vielen Dank für den Hinweis Enrique. Sie sollten jetzt besser wieder nach oben gehen. Sie könnten mir aber noch einen großen Gefallen tun.“
„Sehr gerne, Señor Agent Jensen.“
„Besorgen Sie mir doch bitte mehrere durchsichtige Plastiktüten, ungefähr so groß wie ein handelsüblicher Schreibblock und bringen Sie sie mir. Ich habe meine anscheinend im Wagen liegen lassen.“
„Sehr gerne, Señor Agent Jensen.“ Enrique verschwand schnell, aber nicht ohne noch einmal mit dem Daumen über sein Kreuz zu reiben.
Da Jensen jetzt wieder alleine war, konnte er sich auf seine bevorstehende Aufgabe konzentrieren. Er griff nach seiner Taschenlampe und ließ sie mit Schwung über den Boden und durch den niedrigen Gang rutschen. Die Lampe hatte sich durch den Schwung um hundertachtzig Grad gedreht und blieb mit dem Schein zu ihm leuchtend liegen. Jensen setzte sich in Bewegung und kroch auf allen Vieren durch die kleine Öffnung.
Bei der Taschenlampe angekommen, hielt er an und hob sie auf. Zuerst leuchtete er über sich an die Decke, um sicherzustellen, dass er sich aufrecht hinstellen konnte. Kopfschmerzen durch Unachtsamkeit konnte er jetzt nicht gebrauchen. Aber deshalb brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Die Decke war gute drei Meter hoch, an manchen Stellen vielleicht sogar bis zu vier. Sie bestand aus kleinen quadratischen Steinen und hatte eine nach oben gewölbte Form mit vereinzelt herausragenden Steinen.
Jensen richtete den Lichtstrahl auf den Boden und zog im gleichen Moment verwundert die rechte Augenbraue hoch. Direkt vor seinen Füßen lag die Hälfte eines menschlichen Oberschenkelknochens. An der Bruchstelle konnte Jensen erkennen, dass der Knochen weder zersägt, noch auf irgendeine andere mechanische Art zerteilt worden war. Er sah aus, als wäre er zerbrochen worden. Jensen hatte keine Vorstellung, wie viel Kraft aufgebracht werden musste, um einen menschlichen Oberschenkelknochen, der immerhin der größte Knochen im Körper war, mit bloßen Händen zu zerbrechen, doch genau so sah der Knochen aus.
Jensen griff in eine seiner Taschen und holte ein schwarzes Brillenetui hervor. Er nahm eine moderne randlose Brille mit Kunststoffgläsern heraus. Penibel setzte er sie auf, bevor er ein kleines, graues Notizheft aus der Tasche zog und darin die Frage nach der erforderlichen Kraft notierte.
Nachdem er die Lesebrille und das Notizheft wieder weggesteckt hatte, richtete er den Lichtstrahl auf das Stück Wand rechts neben dem Durchgang. Dort war eine Nische in die Wand eingelassen. Auf dem Stück Boden bis hin zur Wand hin lagen weitere Knochenstücke. Die meisten davon hatten ähnliche Bruchstellen wie der Oberschenkelknochen. Was er dann in dieser Nische entdeckte, war noch interessanter.
Die Nischen waren ungefähr achtzig Zentimeter breit und einen Meter tief in die Wand eingelassen. In ihr lag eine mumifizierte menschliche Leiche. Ihr fehlten beide Beine und der linke Unterarm. Der Torso war an die Rückwand der Nische gelehnt, wobei das Kinn der Leiche auf die Brust gesunken war. Lange dunkle Haare ragten noch aus dem Schädel und die Lippen hatten sich soweit zurückgezogen, dass die zwei verbliebenen Schneidezähne gut zu erkennen waren. Da es die beiden einzigen Zähne waren, die noch in dem Kiefer steckten, konnte man darauf schließen, dass das Opfer zu Lebzeiten keine Zahnpflege betrieben hatte. Meistens war dies ein Zeichen dafür, dass der Mensch sehr mittellos war, oder vor langer Zeit gelebt hatte, als die Zahnpflege noch nicht so betrieben wurde wie heute. Wegen der mumifizierten Gewebereste konnte Jensen nicht einschätzen, wie lange die Leiche schon hier lag. Es konnten fünfhundert oder tausendfünfhundert Jahre sein.
In diesem Moment hörte Jensen Schritte die moosbedeckte Treppe herunterkommen. Kurz darauf steckte Enrique seinen Arm durch die Öffnung in den Raum und reichte ihm mehrere kleine Plastiktüten. Jensen nahm sie. „Vielen Dank, Enrique. Sie können oben auf mich warten. Ich werde ungefähr in dreißig Minuten bei Ihnen sein.“ Enriques Hand verschwand und er konnte ihn kurz darauf die Treppe hinaufgehen hören, diesmal ging er schneller als beim Herunterkommen und er flüsterte wieder eines seiner Gebete.
Jensen zog einen wasserfesten Stift aus einer seiner Jackettaschen und schrieb auf den ersten Beutel die Ziffer eins. Dann zupfte er der Mumie einige Haare aus, nahm eine Gewebeprobe des Oberkörpers und steckte alles in den Beutel. Nachdem er den Beutel sorgfältig verschlossen hatte, steckte er ihn ebenso sorgfältig in die Hosentasche. Jensen war wirklich gespannt, wie alt diese Leiche wohl war.
Er hatte einen guten alten Freund, dem er die Proben schicken konnte. Die Radiokarbonmethode war eines seiner Spezialgebiete. Wenn er die Proben untersuchte, konnte man sich auf die Ergebnisse verlassen.
Der Schein der Lampe erhellte jetzt die Wand rechts neben der Nische. Sie bestand aus dem gleichen Material wie der Rest des Gewölbes, war aber nur einen Meter breit, dann folgte eine weitere Nische. Erneut erwarteten ihn menschliche Überreste. Diesmal war es ein nackter Schädel mit deutlich erkennbaren Kratzspuren auf der Oberseite und einige undefinierbare Knochensplitter. Der Schädel lag in der Nische wie eine Trophäe. Jensen fiel besonders auf, dass der Schädel in Gegensatz zur letzten Leiche keine mumifizierten Reste aufwies, weder Haare noch Gewebe. Auch der Unterkiefer fehlte, aber seltsamerweise war die obere Zahnreihe komplett erhalten. Er sah sich den Schädel genauer an, kniete sich sogar vor ihn hin, fasste ihn aber nicht an. Bald war er sich sicher, dass der Schädel etwas zu klein für einen ausgewachsenen Menschen war. Er schätzte, dass der Schädel von einem etwa zwölf Jahre alten Kind war. Kopfschüttelnd stand er wieder auf und ging weiter.
Nach einigen weiteren Schritten nach rechts stieß er auf die nächste Nische. Doch bevor er sie sich genauer ansah, leuchtete er mit der Lampe durch das gesamte Gewölbe. Es war ein ovaler Raum ohne Stützen in der Mitte. Bis auf den Eingang waren ringsherum Nischen in die Wand gemauert. Jensen zählte sie stumm. Es waren zweiundvierzig und jede sah aus, als wäre sie als Lagerplatz benutzt worden. Doch kein einziges Mal sah Jensen eine komplette Leiche. Mal waren nur Beine zu sehen, mal war es nur ein Totenschädel. Er zweifelte jedoch nicht daran, dass es sich um zweiundvierzig verschiedene Opfer handelte.
Jensen begann einmal rundherum zu gehen und entnahm aus jeder dritten Nische mehrere Proben, die er ordentlich eintütete und in den Tiefen seiner Taschen verstaute.
Als er den halben Raum durchquert hatte, beschlich ihn eine leise Vorahnung. Die menschlichen Überreste sahen von Nische zu Nische neuer und frischer aus. Als er wieder am Ausgangspunkt angekommen war, war er sich sicher. Von der ersten bis zur letzten Nische mussten Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte vergangen sein. Der Zustand der Überreste ließ keinen Zweifel daran. Die Knochen in der ersten Nische waren bereits gelblich verfärbt. Er hatte erst vor kurzem einen Artikel gelesen, in dem etwas von einer natürlichen Verfärbung durch Fettsäuren gestanden hatte. Das hatte er nicht ganz verstanden, aber auf jeden Fall konnte es einige Jahre dauern, bis die Knochen sich verfärbten.
Jensen trat noch einmal näher an die letzte Nische heran. Hier lagen frische Leichenteile. Ein linker Fuß, eine linke Hand und die obere Hälfte eines Kopfes, der unterhalb der Nase durchtrennt worden war. Es war ein junger Mann mit kurzgeschorenen, dunkelblonden Haaren. Seine toten Augen starrten Jensen trübe an. Er schätzte, dass seit dem Tod dieser Person höchstens einige Tage vergangen sein konnten.
So etwas hatte Jensen in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Warum verstümmelte jemand die Leiche eines Menschen auf diese ungewöhnliche Weise?
Hallende Schritte unterbrachen seine Gedanken. Dieses Mal von mehreren Personen, anscheinend war die Spurensicherung eingetroffen. Er überprüfte, ob er alle Beutel mit den gesicherten Spuren bei sich trug und verließ dann das Gewölbe, wobei er wieder auf allen Vieren durch die kleine Öffnung kriechen musste.
Nachdem er sich wieder erhoben hatte, stand er vier Gestalten in weißen Schutzanzügen gegenüber. Jeder trug ein oder zwei silbrig glänzende Koffer in den Händen.
„Ich hoffe, Sie haben nichts angerührt“, hörte Jensen eine durchdringende Frauenstimme sagen.
„Natürlich nicht, Ma’am.“
Die Frau funkelte ihn durch den Sehschlitz zwischen der Kapuze des Anzuges und dem Mundschutz wütend an. „Ich hoffe, das stimmt auch. Ich bin Dr. Partinez, die zuständige Pathologin. Und Sie sind wohl der FBIAgent?“
„Da muss ich Ihnen leider widersprechen. Ich bin nicht beim FBI.“
„Nicht vom FBI? Wer sind Sie denn dann? Von welcher Institution kommen Sie denn? Sie sind doch wohl hoffentlich kein Schaulustiger, der sich hier eingeschlichen hat und mal sehen wollte, was hier so los ist. In diesem Fall werde ich dafür sorgen, dass Sie sofort wegen Behinderung der Justiz festgenommen werden.“
Jensen strecke ihr seine Hand hin. „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Agent Jensen vom EDA.“
Dr. Partinez sah ihn misstrauisch an und beachtete seine ausgestreckte Hand nicht. „EDA? Was soll das sein? Davon habe ich noch nie gehört.“
„Das wundert mich nicht.“
„Dann klären Sie mich doch bitte auf. Ansonsten werde ich einen Polizisten von oben bitten, Sie in Gewahrsam zu nehmen.“
Jensen verzog keine Miene. „Ich schlage vor, wir klären das später. Ich werde Sie morgen früh in Ihrem Pathologiesaal aufsuchen. Falls Sie es bis dann geschafft haben, alle Leichen dorthin zu bringen.“
„Aber natürlich“, sagte sie mit einem süffisanten Grinsen. „Wie können Sie es wagen, unsere Arbeitskraft anzuzweifeln? Specialagent Jensen, Sie werden sich noch für ihr Verhalten verantworten müssen. So Jemand wie Sie ist mir in meiner ganzen Laufbahn als Pathologin noch nicht unter die Augen gekommen. Und jetzt entfernen Sie sich bitte. Meine Kollegen und ich haben noch zu tun. Es wird Zeit, dass die wichtigen Menschen mit der richtigen Arbeit anfangen.“
„Ich bin kein Specialagent. Einfach nur Agent Jensen.“ Jensen deutete eine Verbeugung an und ging die Stufen hoch, während Dr. Partinez auf die Knie ging und in das Gewölbe kroch.
Während Jensen die moosbewachsenen Stufen hochstieg, zog er sein Jackett an und strich es glatt. Bevor er wieder in das Tageslicht hinaustrat, überprüfte er noch einmal, ob er alle Proben bei sich trug.
Nun war es an der Zeit, seinen alten Freund zu besuchen.
Der Vesuv, Italien
17. Juni
15:00 Uhr
Seit Jensen mit dem Helikopter neben dem Vulkan gelandet war, war mindestens eine Stunde vergangen. Er schwitzte schon. Die Hitze war kaum auszuhalten. Sein Jackett hatte er trotz der Temperaturen angelassen, so bekam er wenigstens keinen Sonnenbrand an den Armen. Außerdem musste diese elende Sonne doch irgendwann auch wieder untergehen. Es war wirklich kaum auszuhalten.
Er hatte versucht, die Männer vom Helikopter aus zu finden. Aus irgendeinem Grund war ihm das nicht gelungen. Vielleicht lag es aber auch nur an diesem schlechten Piloten, der konnte ja Norden nicht von Süden unterscheiden. Schließlich hatte Jensen den Piloten gebeten, ihn einfach am Hang direkt unter ihnen herauszulassen. Er würde zu Fuß weitersuchen. Dies hatte sich leider als keine gute Idee herausgestellt. Es dauerte einfach zu lange, in dieser Landschaft etwas zu suchen, ständig musste er über den hügeligen Boden des Vulkankraters klettern.
Mittlerweile musste mindestens eine weitere halbe Stunde vergangen sein. Die Sonne brannte noch immer fürchterlich. Das Jackett hatte er sich dann doch noch als Sonnenschutz um den Kopf gebunden, aber nur, bis endlich das leise Rattern eingesetzt hatte, dann hatte er sich wieder wie üblich angezogen. Das Geräusch musste von irgendeinem mechanischen Gerät stammen, welches von einem Menschen bedient wurde, das konnte man an den unregelmäßigen Pausen zwischen dem Rattern erkennen. Das konnten nur die beiden Männer sein, die er suchte.
Jensen war dem Geräusch gefolgt. Da das Rattern allmählich lauter wurde, konnte es nicht mehr weit sein. Nach einigen weiteren Minuten sah er endlich zwei Männer. Einer von ihnen stand in einem knietiefen Loch und arbeitete dort mit irgendeiner großen Maschine. Der andere stand daneben und sah dem Arbeitenden zu. Den einen erkannte er sofort an seinem grässlich bunten Hawaii-Hemd, es war sein alter Freund. Den anderen kannte er nur vom Sehen aus der Zeitung. Die vielen Artikel, die in den letzten Jahren über ihn veröffentlich worden waren, hatte Jensen immer gierig verschlungen. Er freute sich darauf, den Mann endlich persönlich kennenzulernen.
Bald hatte Jensen sie erreicht. Er reichte seinem alten Freund Many die Hand und grinste dabei. „Es war echt schwer, euch beide hier zu finden.“
Many grinste ebenfalls. „Steven, darf ich dir einen alten Freund vorstellen. Das hier ist Agent Jensen.“
Steven van Horn fragte verwundert. „Agent? Vom FBI?“
„Nein. Da arbeite ich schon lange nicht mehr.“ Jetzt reichte Jensen Steven die Hand. „Ich arbeite seit einiger Zeit für eine Institution, die es offiziell nicht gibt.“
Steven sah ihn misstrauisch an.
Normalerweise würde ich euch nicht davon erzählen. Wie aber jeder weiß, hattet ihr es in den letzten Jahren schon einige Male mit sehr ungewöhnlichen Umständen zu tun. Mit genau solchen Sachen beschäftige ich mich auch.“
„Das muss aber sehr wichtig sein, wenn Sie uns bis hierher gefolgt sind“, sagte Steven.
„Ich arbeite an einem Fall, bei dem es schon Dutzende von Toten gab. Wir können es uns nicht erklären. Es gibt einige Blut- und Gewebeproben, die ich gerne von Many untersuchen lassen würde. Außerdem habe ich eine Theorie entwickelt, die bei meinen Kollegen nicht gut ankommt.“
„Ich verstehe langsam“, sagte Many. „Wir hatten es in den letzten Jahren mit Dingen zu tun, die den normalen Menschenverstand weit übersteigen. Wahrscheinlich wären wir eher bereit an deine Theorie zu glauben als deine Kollegen.“
Jensen grinste wieder. „So ungefähr habe ich mir das gedacht.“
Steven schüttelte den Kopf. „Also, ich mach da nicht mit.“ Er griff sich wieder seinen Bohrhammer und stieg in das kleine Loch. „Ich habe hier noch etwas zu erledigen.“
Agent Jensen sah jetzt Many an. „Wie sieht’s mit dir aus?“
Many überlegte nur kurz: „Ich bin dabei.“
„Sehr gut“, sagte Jensen, zog einige durchsichtige Beutel aus einer Jackettasche und übergab sie Many.
„Dann sag uns doch mal, für wen du arbeitest“, sagte Many und steckte die Proben in seine Tasche. „Wenn wir dir helfen sollen, dann will ich auch wissen warum und vor allem für wen.“
Jensen überlegte kurz. „Aber wenn ihr nicht helfen wollt, dürft ihr kein Wort darüber verlieren.“
Many hob die rechte Hand und sagte sofort: „Ich schwöre.“
„Wir nennen uns die EDA. Das steht für Earth Defence Agency. Seit ihr beiden diese Pyramide in Mexiko entdeckt habt, sieht die Welt nicht mehr so aus wie früher. Es laufen Kreaturen herum, die nicht in unsere Zeit passen. Von manchen Lebewesen hat die Menschheit bisher noch nicht einmal gewusst.
Man denke nur an den Minotaurus, der bei den Kämpfen um Stonehenge befreit wurde. Er lebt jetzt in einer Wohnung neben unserer Zentrale. Es hat sich herausgestellt, dass er am liebsten rohe Rinderleber und Ananas isst, das kostet uns ein Vermögen. Er ist auch das faulste Lebewesen, das ich je gesehen habe. Er sitzt den ganzen vor dem Fernseher, isst seine rohe Leber und guckt sich die Der Herr der Ringe Filme an.
Da war auch so ein gepanzerter Mann, den haben wir noch immer nicht finden können. Er macht jede Menge Schwierigkeiten, zieht von Kneipe zu Kneipe und betrinkt sich. Danach haut er meistens den ganzen Laden in Stücke. Er tut keinem Menschen etwas zu Leide, ist anscheinend nur immer völlig betrunken.
Wir kümmern uns um diese und ähnliche Lebewesen. Aber ebenso versuchen wir, weitere Taten zu verhindern. Wenn wir von sehr ungewöhnlichen Geschichten hören, wird einer unserer Mitarbeiter zur Bearbeitung auf die Suche geschickt. Aus diesen ganzen Gründen wurde die EDA gegründet.“
„Und warum existiert ihr offiziell nicht?“, fragte Many.
„Das kommt alles noch. Die ganze Prozedur läuft gerade erst an. Ich selbst bin erst seit einem halben Jahr dabei.“
Many nickte. „Das hört sich doch wenigstens gut an. Ihr macht etwas Sinnvolles.“
Jensen war zufrieden. „Dann hätten wir das ja geklärt. Wann seid ihr beide hier fertig?“
„Ich denke, Steven wird bald soweit sein. Er sucht seinen Ring. Hat ihn vor zweitausend Jahren hier verloren.“
Jensen sah erst völlig irritiert und dann geschockt aus.
„Ach, das ist eine lange Geschichte“, sagte Many grinsend, als er Jensens Gesichtsausdruck bemerkte. „Zu gegebener Zeit werde ich sie dir erzählen. Es hat viel mit der Pyramide und allem was danach folgte zu tun.“
Jetzt nickte Jensen langsam wissend und sagte dann: „Gut. Dann ruf mich an, wenn du wieder in deiner gewohnten Umgebung bist. Ich …“
Plötzlich wurde er vom noch im Loch stehenden Steven unterbrochen. „Ich habe ihn! Jaaaa!“ Er reckte die geschlossene Faust in die Höhe. Als er sie wieder runternahm und öffnete, lag ein glänzender Ring darin.
„Na endlich“, stieß Many ebenso freudestrahlend aus, dann sah er Jensen an. „Das wurde aber auch Zeit. Ich habe richtig Hunger und überlege schon die ganze Zeit, wo wir gleich am besten ein paar Chili-Cheeseburger herbekommen.“
„Dann wünsche ich weiterhin viel Erfolg“, sagte Jensen. „Ich denke, ich mache mich besser wieder auf den Weg. Es könnte etwas dauern, bis ich von hier aus wieder in der Zivilisation angekommen bin.“
Many hielt ihn an der Schulter fest. „Wir sind hier fertig. Wir können zusammen gehen. Unser Auto steht nicht weit von hier.“
Erst jetzt bemerkte Jensen, dass er sich keine Gedanken um den Rückweg gemacht hatte. Er müsste zu Fuß bis in die nächste Stadt laufen. „Gut, ich komme mit.“
„Wir müssen noch die Sachen zusammenpacken“, sagte Many und begann damit, ein Metallgestänge auseinander zu nehmen.
Währenddessen packte Steven seine Maschine zusammen und schon bald machten sich die drei auf den Weg zurück in die von Jensen herbeigesehnte Zivilisation.
Unterwegs besprachen sie die alte Geschichte von der Pyramide in Mexiko. Jensen erzählte, dass er die Geschichte aus der Sicht von Many schon gut kannte. Er würde aber auch sehr gerne Stevens Geschichte hören. Vor allem, da er alles ganz anders erlebt hatte. Steven hatte alles im Innern der Pyramide erlebt, während Many einen ganz anderen Weg genommen hatte. Steven erzählte viel, doch bald waren sie schon am Wagen angekommen. Der Weg war kürzer als Jensen gedacht hatte. Er musste auf dem Weg hierher die schlechteste Route erwischt haben, die es überhaupt gab.
Sie fuhren mit dem Wagen zurück in die Stadt und trennten sich am Autoverleih ohne viele Worte. Jensen und Many würden sich bald wiedersehen.
„Vielen Dank für die Informationen“, rief Jensen Steven hinterher, dann waren Many und Steven verschwunden.
Jensen nahm ein Taxi zum Flughafen, musste aber eine halbe Stunde auf den letzten Flug des Tages warten. Er zog sein Notizheft und ging zum Zeitvertreib seine Notizen durch.
Endlich war es soweit und schon stieg er in die Maschine ein. Die Stewardess deutete zur linken Seite, die andere Hand hatte sie hinter dem Rücken. Jensen wusste, warum die Flugbegleiterin immer eine Hand hinter dem Rücken hatte. Sie trug einen Zähler in der versteckten Hand, mit dem sie die Passagiere abklickte und so gleich die richtige Anzahl der Passagiere hatte.
Der zweieinhalbstündige Flug war sehr angenehm. Das Essen bestand aus zwei Käsebrötchen mit Tomatenscheiben und Möhrenstreifen. Er sah sich die erste Hälfte irgendeiner Komödie an, bei der er tatsächlich einige Male lachen musste.
Er hatte nach dem halben Film so lange es ging im Flugzeug geschlafen. Manchmal musste man nehmen, was man kriegen konnte. Als das Flugzeug wieder aufsetzte, war es schon dunkel und bis er am Hotel ankam, war es bestimmt nach Mitternacht.
Am nächsten Morgen musste er schon früh bei Dr. Partinez im Pathologiesaal sein und darauf sollte er sich auch noch etwas vorbereiten. Das würde eine kurze Nacht werden.
Bad Arolsen, Deutschland
Operationssaal
17. Juni
22:00 Uhr
Dr. James X. Bloorham hatte einen sehr ungewöhnlichen Notfallpatienten auf dem Operationstisch. Es schien, als wäre die junge Frau von einem wilden Hund angefallen worden. Es großes Stück Muskelgewebe war ihr aus dem rechten Oberschenkel gerissen worden. An den Wundrändern waren Spuren von Zähnen zu erkennen.
Im Gegensatz zur Kopfverletzung war dies allerdings das kleinere Übel. Der Grund für die Kopfverletzung war noch nicht bekannt, aber selbst Bloorham hatte so etwas selten gesehen. Die Schädeldecke war am Hinterkopf gesplittert, als wäre die Person von einem Auto angefahren worden. Genau das war es aber nicht gewesen, soviel hatte man feststellen können.
Bloorham hatte die Knochensplitter entfernt und alles gesäubert. Jetzt lag der hintere Teil des Gehirns frei und die Verletzung war gut zu erkennen. Bloorham hörte neben sich ein Aufstöhnen und sah zur Assistenzärztin. Sie war kreidebleich. Auch Bloorham war geschockt. Die Verletzung der Schädeldecke war schon heftig gewesen, doch die Wunde am Gehirn selbst war weitaus schlimmer.
Eigentlich war es ein Wunder, dass die Frau überhaupt noch lebte. Vermutlich würde das nicht mehr lange der Fall sein.
Bloorham tupfte noch einmal über die Wunde am Gehirn. Er gab keinen Zweifel. Das waren Bissspuren. Sie waren aber nicht von einem Hund. Das hier waren eindeutig die Spuren eines menschlichen Gebisses. Am Oberschenkel hatte man es nicht genau erkennen können, doch hier war es eindeutig.
„Ein Stück der Hirnmasse fehlt“, sagte Bloorham frustriert. „Da können wir nicht viel machen. Verschließen wir die Wunde wieder und falls die Patientin wieder zu sich kommen sollte, sehen wir, wie weit die Verletzung reicht.“
Bloorham überließ es seiner Assistentin, die Kopfhaut zu schließen und verließ den Operationssaal. Er hatte sich gerade die Hände gewaschen und die Kleidung in den Behälter für gebrauchte Wäsche geworfen, als er den Alarm hörte. Dann rief eine laute Stimme: „Kammerflimmern!“ Die Geräuschkulisse war erheblich lauter geworden. Jemand rief nach einem Defibrillator. Ein anderer nach Adrenalin.
In Windeseile zog sich Bloorham wieder an. Sterilisierte Hände und Arme, legte Haarschutz und Mundschutz an. Aber dies alles dauerte eben seine Zeit.
Als er wieder im Operationssaal war, hatte sich alles wieder beruhigt. Auf dem Boden lagen aufgerissene Plastikverpackungen. Die Patientin lag reglos da.
Die Assistenzärztin hatte sich dem Mundschutz heruntergezogen. Sie sah zu der Uhr über der Eingangstür hoch. „Todeszeitpunkt 22:35 Uhr.“
Bloorham zog sich Mundschutz und Haube runter, warf beides in einem Mülleimer in der Ecke und verließ den Saal wieder. Wenige Minuten später hatte er sich erneut seines Kittels entledigt und trat in normaler Kleidung auf den Flur hinaus. Es war Zeit, nach Hause zu fahren.
Sein Pick-Up, den er sich damals extra ins Land liefern lassen hatte, stand vor dem Krankenhaus auf seinem eigenen Parkplatz. Kurz darauf fuhr er die Bahnhofstrasse Richtung Kirche hoch und überlegte, ob er sich noch eine Mahlzeit mitnehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen.
Endlich Zuhause angekommen, warf er alles, was er in den Taschen trug, auf den Küchentresen.
Sein Blick fiel auf den Teller mit seinem Abendessen. Gut, dass er auf dem Weg nichts mitgenommen hatte. Der Teller war mit einer durchsichtigen Plastikhaube abgedeckt. Durch die Haube konnte Bloorham Königsberger Klopse erkennen. Er nahm die Haube ab und hielt sein Gesicht über den Teller. Das Essen war noch etwas warm. Seine neue Haushälterin Florentine konnte noch nicht lange weg sein.
Eine Haushälterin einzustellen, war die beste Idee seit langem gewesen und Florentine Teresa Bohn war genau die Richtige. Von Beruf her Krankenschwester, hatte sie nach zehnjähriger Laufbahn ein Medizinstudium begonnen, um noch etwas Anderes im Leben zu erreichen. Jetzt war sie Ende zwanzig und hatte sich zu einem halben Jahr Pause im Studium entschieden. Um sich die Miete ihrer Wohnung auch weiterhin leisten zu können, hatte sie den Job als Haushälterin bei Bloorham angenommen.
Endlich hatte er etwas Warmes zu Essen auf dem Tisch und unter seinen Schuhen knirschte es nicht mehr, wenn er nach Hause kam. Sie begegneten sich sogar oft, vor allem am Wochenende, und er hatte, das musste er zugeben, nicht mehr allzu oft das Gefühl allein zu sein.
Er nahm am Tresen Platz und ließ sich das wirklich hervorragende Essen schmecken. Danach stand er auf, um ins Schlafzimmer zu gehen, blickte aber noch einmal zurück zum Tresen. Er überlegt kurz, dann nahm er den benutzten Teller und trug ihn in die Spüle. Man musste es einer Haushälterin ja nicht noch schwerer machen. Zufrieden ging er den kurzen Flur zum Schlafzimmer entlang.
Währenddessen zog er sich aus. Hose und Schuhe blieben im Flur liegen, dann ließ er sich ins Bett fallen.
Mit letzter Kraft schaltete er den alten Kassettenrekorder neben dem Bett ein. Ein Science-Fiction-Hörspiel aus den späten Siebzigern startete mit seiner Anfangsmusik.
Bloorham wippte im Takt der Musik mit den Zehen, dachte noch einmal an Florentines hervorragendes Essen und schlief sofort ein.
Saragossa, Spanien
Pathologie
18. Juni
08:00 Uhr
Dr. Josephine Partinez stieg aus ihrem Audi A4 B7 und setzte sich für den kurzen Weg vom Parkplatz zur Pathologie die Sonnenbrille auf. Ein Blick auf ihr Smartphone verriet ihr, dass es heute bis zu zweiunddreißig Grad heiß werden würde. Zum Glück lag ihr Arbeitsplatz tief unter der Erde.
Sie schritt schwungvoll durch die Eingangstür und begrüßte Jimena Martin, ihre Sekretärin, die wie jeden Morgen vor ihr hier ankam und schon alle Türen aufgeschlossen hatte, mit einem Nicken. Im Vorbeigehen rief Jimena ihr hinterher: „Heute Nacht sind keine neuen Fälle eingetroffen.“
Dr. Partinez gab nicht zu erkennen, ob sie dies gehört hatte und eilte ohne aufzublicken weiter. Das sehr leise geflüsterte „Estúpida“ konnte sie deshalb schon nicht mehr hören.
In ihrem Büro legte sie ihre neue Handtasche und ihre Ringe ab, zog den weißen Kittel an und ging dann zum Fahrstuhl, der sie eine Etage nach unten brachte.
Der Pathologiesaal war komplett in künstliches weißes Licht gehüllt, da es hier unten keine Fenster gab. Im ganzen Saal standen regelmäßig verteilte Edelstahltische. Normalerweise waren nicht so viele Tische hier, sie hatten kurzfristig organisiert werden müssen, deshalb war es jetzt auch ein wenig zu eng hier. Im Hintergrund konnte man das leise Summen der Klimaanlage hören. Obwohl es oben immer unerträglicher vor Hitze wurde, spürten sie hier unten nichts davon. Wenn man still dasaß und sich lange Zeit nicht viel bewegte, konnte es sogar ein wenig kühl werden.
Dr. Partinez ging zum vordersten Tisch. Auf ihm lagen die Leichenteile aus der letzten Nische der unterirdischen Kammer. Sie ging langsam einmal um den Tisch herum und betrachtete die Leichenteile sorgfältig. Der linke Fuß und die linke Hand waren grob vom Körper abgerissen worden. Der Täter musste Bärenkräfte haben, um so etwas zu schaffen. Bei dem Kopf, der unter der Nase durchtrennt worden war, sah das ganz anders aus. Sie war sich nach kurzer Zeit ziemlich sicher, dass diese Tat mit irgendeiner motorbetriebenen Säge begangen wurde. Mit endgültiger Sicherheit konnte sie das erst nach der mikroskopischen Untersuchung der Schnittstelle sagen, sie würde aber viel Geld darauf verwetten.
Sie streifte sich gerade Handschuhe über, als die Tür zum Pathologiesaal hinter ihr aufschwang. Genervt sah sie zur Tür und stöhnte dann laut auf. „Jetzt haben Sie meine ganzen Hoffnungen zunichte gemacht. Ich hatte gehofft, dass sie nicht kommen würden, Agent Jensen.“
„Da muss ich Sie leider enttäuschen“, sagte der Agent mit einem freundlichen Grinsen. Er sah sich im Saal um und zählte mit schnellen Blicken die Edelstahltische. Es waren zweiundvierzig. „Haben Sie schon etwas herausgefunden?“
„Außer dem Offensichtlichen noch nichts.“
„Was wäre denn das Offensichtliche?“
„Dass sie alle tot sind.“
Jensen zog die rechte Augenbraue hoch, dann setzte er sich in Bewegung. Er schlich zwischen den Toten umher, hielt bei einigen an, sah sie sich genauer an und ging dann weiter. Dr. Partinez folgte ihm währenddessen mit feindseligen Blicken.
„Können Sie mir etwas über den Zeitpunkt des Todes sagen?“, fragte Jensen.
Dr. Partinez sah aus, als würde sie ihm nicht gerne antworten wollen, rang sich dann aber doch dazu durch. „Sie stammen nicht alle aus der gleichen Zeit. Zwischen dem ersten und dem letzten Mord müssen sehr viele Jahre vergangen sein.“
Jensen blieb wieder stehen und sah sich eine der Leichen genauer an. „Das sehe ich auch so. Diese hier scheint mir die älteste zu sein, zumindest wenn man vom augenscheinlichen Verwesungsgrad ausgeht. Jetzt müssen wir versuchen, den tatsächlichen Todeszeitpunkt herauszufinden. Das könnte der Schlüssel zum großen Ganzen sein.“
Dr. Partinez sah Jensen verärgert an. „Sie verschweigen mir doch etwas. Sie scheinen schon mehr über diesen Fall zu wissen. Der Schlüssel zum großen Ganzen? Was soll das bedeuten? Worum geht es hier eigentlich?“
Jensen zögerte.
Dr. Partinez stieg die Zornesröte ins Gesicht. „Sie sagen mir jetzt, was Sie wissen. Wenn Sie es nicht tun, werde ich Sie ohne zu zögern melden. Das nennt sich Zurückhaltung von Beweisen.“
Jensen zögerte noch immer. Und jetzt sah er zum ersten Mal eine Veränderung in ihrer sonst immer so strengen Miene.
„Wir könnten uns vielleicht gegenseitig helfen“, sagte sie, auch wenn es nicht gerade nett klang.
Jensen überlegte. Dass diese Frau dergestalt auf ihn zukam, passte irgendwie nicht zu ihr und es kam so plötzlich. Vielleicht war es nun an der Zeit, jemand anderes mit ins Boot zu holen.
„Es ist nicht das erste Gewölbe, das gefunden wurde. Es existieren noch mindestens zwei weitere. Eines in Polen und eines in Rumänien.“
„Das hört sich interessant an, aber Polen und Rumänien sind weit von hier entfernt. Haben Sie schon eine Vermutung, wer dahintersteckt?“
„Ich habe eine Theorie“, sagte Jensen, blieb dann aber still.
„Würden Sie sie mir vielleicht auch verraten?“
„Nein!“
Dr. Partinez wurde wieder aufbrausend. „Das gibt es doch nicht. Jetzt dachte ich, wir würden aufeinander zugehen und Sie kommen mir wieder so.“
Jensen erkannte langsam, wie man mit dieser Frau umgehen musste. Man durfte ihr nicht zu viel auf einmal verraten, sondern musste sie mit kleinen Stückchen füttern. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich es Ihnen erzählen kann. Immerhin ist es eine laufende Ermittlung. Wenn meine Theorie an die falschen Ohren dringt, könnte das schaden.“
„Ich kann schweigen wie ein Grab“, sagte Partinez.
Ein Glänzen erfüllte ihre Augen. Sie schien neugieriger zu werden. Jensen war sich sicher, dass sie bereits irgendwelche Pläne entwarf. Aber was hatte die Frau vor?
„Was würden Sie davon halten, wenn ich Ihnen sage, dass ich unter anderem an eine Sekte denke?“
Dr. Partinez sah nachdenklich an die Decke und rieb sich mit dem linken Handrücken über die Lippen. „Das wäre eine Idee“, sagte sie nach einer Weile.
„Es könnte eine international arbeitende Sekte sein, die sich ihre Opfer für irgendwelche Rituale sucht. Das könnte auch die Vielzahl der Opfer erklären“, sagte Jensen.
„Vielleicht sind die Opfer deshalb auch auf die ungewöhnliche Weise zerteilt“, sagte Partinez.
„Welche Weise?“
„Ich meine diese vielen Körperteile. Hier ist es ein halber Kopf, dort ein Fuß und dann wieder etwas anderes.“
„Das ist ein Thema, über das ich noch einmal nachdenken muss“, sagte Jensen. „Bis jetzt bin ich davon ausgegangen, dass die Opfer dem Täter nur als Nahrung dienen.“
„Aber die Aufbahrung in dem runden Raum unter der Erde. Das muss doch eine Bedeutung haben. Es sieht für mich wie ein Ritual aus.“
„Ich sage ja, dass ich darüber noch einmal nachdenken muss. Vielleicht wäre es gut zu erfahren, was das für ein Raum ist. Wenn wir herausfinden, ob das Gewölbe schon vorher dort war, würde uns das helfen.“
„Warum das?“, fragte Dr. Partinez stirnrunzelnd.
Jensen ging ein paar Schritte langsam umher. „Wenn das Gewölbe vorher dort war, dann haben der oder die Täter es nur als Lager verwendet. Wenn es extra für die Opfer gebaut wurde, dann könnte es auf ein Ritual hindeuten.“
„Das könnte ich herausfinden.“
„Dann hätten wir ja den nächsten Schritt geklärt“, sagte Jensen.
Partinez begann zwischen den Tischen umherzugehen. „Ich könnte Verbindung mit einem mir bekannten Journalisten aufnehmen. Er kennt sich besser mit dem Beschaffen von Informationen aus. Vielleicht kann er etwas finden.“
Jensen zog die rechte Augenbraue hoch und sah Dr. Partinez ärgerlich an. „Ich habe doch gesagt, dass die Theorie nicht an die Falschen geraten darf. Wenn es in der Zeitung steht und der oder die Täter davon lesen, sind sie gewarnt und wir finden sie vielleicht nie.“
„Mein Bekannter wird das gewiss diskret behandeln.“