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Lothar-Günther Buchheim

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Beschreibung

Jedes Wort dieses Buches ist wahr. Lothar-Günther Buchheim war im Zweiten Weltkrieg Marinekriegsberichterstatter. Als ein Mann, der sich zur Zeugenschaft aufgerufen fühlt, weil er extreme Situationen erlebte und überlebte, geht es ihm um die genaue Wiedergabe der Ereignisse, um die Beschwörung der Wochen und Monate quälender Gefangenschaft in der Enge des Bootes, um die Stunden der Angst und die dramatischen Augenblicke des Kampfes.

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

ISBN 978-3-492-95669-7 Mai 2017

© Piper Verlag GmbH, München, 1973 Umschlaggestaltung: semper smile, München unter Verwendung der Titelschrift »Das Boot« von Jan Buchholz / Reni Hirsch Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.   In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Dieses Buch ist ein Roman, aber kein Werk der Fiktion. Der Autor hat die Ereignisse, von denen hier berichtet wird, erlebt; sie sind die Summe der Erfahrungen, die er an Bord von U-Booten machte. Dennoch sind die Schilderungen der handelnden Gestalten keine Portraits einst oder heute noch lebender Personen.

 

Die, Operationen, um die es in diesem Buch geht, fanden überwiegend im Herbst und Winter 1941 statt. Zu dieser Zeit zeichnete sich auf allen Kriegsschauplätzen die Wende ab. Vor Moskau wurden die Truppen der Wehrmacht zum erstenmal in diesem Krieg zum Stehen gebracht. In Nordafrika gingen die britischen Truppen in die Offensive. Die Vereinigten Staaten bereiteten Hilfslieferungen an die Sowjetunion vor und wurden – unmittelbar nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor – selber kriegführende Macht.

 

Von den 40 000 deutschen U-Boot-Männern des Zweiten Weltkrieges kehrten 30 000 nicht zurück.

Bar Royal

Von der Offiziersunterkunft im Hotel »Majestic« zur »Bar Royal« führt die Straße dicht am Strand entlang, eine einzige langgestreckte Kurve von fünf Kilometern Länge. Der Mond ist noch nicht heraus. Trotzdem ist die Straße als fahles Band zu erkennen.

Der Kommandant hat das Gaspedal durchgedrückt, als sei er auf einer Nachtrennbahn. Aber plötzlich muß er vom Gas weg auf die Bremse. Die Reifen quietschen. Bremsen, nachlassen, scharf nachbremsen. Der Alte macht es gut und bringt den schweren Wagen, ohne daß er schleudert, vor einem wild fuchtelnden Kerl zum Stehen. Blaue Uniform. Oberfeldwebelmütze. Was für ein Zeichen am Ärmel? – Bootsmann!

Jetzt steht er gestikulierend neben dem Lichtkegel unserer Scheinwerfer. Sein Gesicht ist nicht zu sehen. Der Kommandant will gerade den Wagen langsam wieder anrollen lassen, da drischt der Bootsmann mit den flachen Händen auf unsere Kühlerhaube und brüllt: »Du munteres Rehlein du, ich brech dir das Herz im Nu!«

Pause, dann wieder ein Trommelwirbel auf die Kühlerhaube und noch einmal: »Du munteres Rehlein du, ich brech dir das Herz im Nu!« Der Kommandant verkneift das Gesicht. Gleich wird er explodieren. Aber nein, er legt den Rückwärtsgang ein. Der Wagen macht einen Satz, daß ich fast gegen die Scheibe knalle.

Dann erster Gang. Slalomkurve. Heulende Reifen. Zweiter Gang. »Das war unsere Nummer Eins!« gibt mir der Kommandant zu verstehen, »voll bis Oberkante Unterkiefer.«

Der Leitende Ingenieur, der hinter uns sitzt, schimpft Unverständliches.

Kaum hat der Kommandant ordentlich aufgedreht, muß er schon wieder auf die Bremse. Doch diesmal kann er sich etwas Zeit lassen, denn schon von weitem erkennen wir im Scheinwerferlicht eine hin und her schwankende Reihe. Mindestens zehn Mann quer über die Straße. Alles Matrosen im Kulani.

Beim Näherkommen sehe ich, daß allen über die heruntergeklappten Hosenlätze der strahlende Penis hängt.

Der Alte gibt Signal. Die Reihe teilt sich, und wir fahren durch ein pissendes Spalier.

»Sprengwagen nennen die das – alles Leute von unserem Boot.«

Hinten mault der Leitende.

»Die anderen sind im Puff«, sagt der Kommandant. »Da ist heute sicher allerhand Betrieb. Merkel läuft ja morgen auch aus.«

Auf gut tausend Meter ist kein Mensch zu sehen. Dann kommt eine Doppelstreife der Feldgendarmerie in die Scheinwerferbahnen.

»Hoffentlich fehlen uns morgen früh keine Leute«, kommt es von hinten, »wenn die besoffen sind, legen die sich leicht mit den Kettenhunden an.«

»Erkennen den eigenen Kommandanten nicht«, murmelt der Alte vor sich hin, »ganz schön starkes Stück!«

Er fährt jetzt langsamer.

»Der Frischeste bin ich ja nicht mehr«, sagt er halb nach hinten, »bißchen viel Feierlichkeiten für einen Tag. Erst die Beerdigung im Stützpunkt heute früh – der Bootsmann, dens beim Fliegerangriff in Châteauneuf erwischt hat. Und während der Beerdigung wieder ein Fliegerangriff mit allem Brimborium. So was schickt sich doch nicht: während ner Beerdigung! Die Flak hat drei Bomber runtergeholt.«

»Und was gabs noch?« frage ich den Alten.

»Heute nichts mehr. Aber die Erschießung von gestern liegt mir noch im Magen. Fahnenflucht. Klarer Fall. Dieselheizer. Neunzehn Jahre alt. Reden wir nicht darüber. Und dann nachmittags das Schweineschlachten im ›Majestic‹. War wohl als Fest gedacht. Metzelsuppe oder wie das Zeug heißt – geschmeckt hat die keinem.«

Der Alte hält vor dem Etablissement an, an dessen Gartenmauer in ein Meter hohen Buchstaben BAR ROYAL steht: ein Betonbau in der Form eines Schiffes zwischen der Strandstraße und einer im spitzen Winkel aus den Kiefernwäldern kommenden Nebenstraße. Quer über das Ganze ist eine Fensterfront wie ein großer Brückenaufbau gesetzt.

In der »Bar Royal« tritt Monique auf. Eine Elsässerin, die als deutsche Brocken nur Landserkauderwelsch kennt. Schwarzhaarige, schwarzäugige Temperamentsnudel mit Busen.

Außer ihr gibt es als Attraktion drei Bedienerinnen in durchbrochenen Blusen und eine Dreimannkapelle: farblose, verängstigte Gesellen – bis auf den Schlagzeuger, einen Halbneger, dem die Sache Spaß macht.

Die Organisation Todt hatte das Lokal requiriert und ausmalen lassen. Jetzt ist es eine Mischung aus Fin de siècle und Haus der Deutschen Kunst. Das Wandgemälde über dem Orchesterpodium zeigt die fünf Sinne oder die Grazien. Fünf Grazien – drei Grazien? Der Flottillenchef hat das Etablissement der OT wieder abgenommen, mit Begründungen wie: »U-Boot-Soldaten brauchen Entspannung!« – »U-Boot-Offiziere können nicht dauernd im Puff hocken!« – »Wir brauchen gehobenere Atmosphäre für unsere Leute!«

Die gehobenere Atmosphäre besteht aus zerfransten Teppichen, verschlissenen Ledersesseln, weißlackierten Holzstaketen mit künstlichem Weinlaub à la Rüdesheim an den Wänden, roten Schirmen über den Wandleuchtern und verschossenen roten Samtportieren vor den Fenstern.

Der Kommandant grient erst einmal ringsum, bedenkt dann die Tischrunden mit Seelsorgerblick, das Kinn an den Hals gedrückt, die Stirne kraus. Dann schiebt er sich umständlich einen der Sessel zurecht, läßt sich schwer hineinsacken und streckt die Beine von sich. Die Kellnerin Clementine trippelt sofort mit hüpfenden Brüsten heran, und der Alte bestellt Bier für uns alle.

Wir haben das Bier noch nicht, da springt mit einem Knall die Tür auf, und ein Pulk von fünf Männern drängt herein, den Ärmelstreifen nach alles Kapitänleutnants – und hinterher noch drei Oberleutnants und ein Leutnant. Drei von den Kaleuns tragen weiße Mützen: Bootskommandanten.

Im Gegenlicht kann ich Floßmann erkennen. Ein unangenehmer, jähzorniger Bursche, breit gebaut und blondschöpfig, der sich kürzlich damit brüstete, während seiner letzten Reise bei einem Artillerieüberfall auf einen Einzelfahrer zuerst mal die Rettungsboote mit Maschinenwaffen zerschossen zu haben, »um klare Verhältnisse zu schaffen …«.

Die zwei anderen sind Kupsch und Stackmann, die Unzertrennlichen, die bei ihrer Fahrt in den Urlaub nicht über Paris hinauskamen und seitdem randvoll von Bordellerlebnissen stecken.

Der Alte mault: »Wenn wir noch ne Stunde warten, ist die gesamte U-Waffe hier. Ich frag mich schon lange, wieso die Tommies den Laden nicht mal mit ner schneidigen Kommandounternehmung hopsnehmen und den BdU in seinem Schlößchen in Kernével dazu. Versteh nicht, daß der Laden nicht ausgehoben wird – so nah am Wasser und dichtebei die ganze Wuhling von Port Louis. Uns hier können die, wenn sie wollen, ja auch mit dem Lasso fangen. Heute zum Beispiel wär ne schöne Nacht dazu.«

Der Alte hat weder das schmale, rassige Gesicht des U-Boot-Helden aus dem Bilderbuch noch die drahtige Figur. Er sieht eher biedermännisch aus, wie ein Hapag-Kapitän, und seine Bewegungen sind schwerfällig.

Der Rücken seiner Nase wird in der Mitte schmal, macht einen Knick nach links und verbreitert sich wieder. Seine hellblauen Augen liegen versteckt unter den vom vielen angespannten Sehen zusammengezogenen Brauen. Meist kneift er die Lidspalten so dicht zusammen, daß man im Schatten der Brauen nur noch zwei dünne Striche erkennt. An deren äußeren Enden sammeln sich strahlenförmig eine Menge Falten. Seine Unterlippe ist voll, das Kinn stark ausgeprägt, schon am frühen Nachmittag von rötlichen Stoppeln bedeckt. Die groben, starken Formen geben seinem Gesicht Ernst. Wer sein Alter nicht kennt, hält ihn für einen Vierziger, dabei ist er zehn Jahre jünger. Im Vergleich zum Durchschnittsalter der Kommandanten ist er mit dreißig Jahren freilich schon ein alter Mann.

Der Kommandant ist kein Freund großer Worte. In seinen Kriegstagebüchern nehmen sich seine Unternehmungen wie Kinderspiele aus. Nur mit Mühe ist aus ihm etwas herauszuholen. Gewöhnlich verständigen wir uns mit einem brockenweisen Hin und Her: Tangentialgerede. Nur ja die Dinge nicht beim Namen nennen. Ein leichter Anklang von Ironie, ein leichtes Lippenschürzen genügt, und ich verstehe, was der Alte wirklich meint. Wenn er den BdU lobt und dabei schräg an mir vorbeiguckt, weiß ich, was das heißen soll.

Unsere letzte Nacht an Land. Unter dem Hinundhergerede immer die ziehende Angst: Wirds klargehen – werden wirs schaffen?

Um mich zu beruhigen, rede ich mir vor: Der Alte – ein erstklassiger Mann. Durch nichts zu erschüttern. Kein Schinder. Kein blindwütiger Draufgänger. Verläßlich. Schon auf Segelschiffen gefahren. Fäuste, wie gemacht, um schlagendes Tuch zu bezwingen und mit schwerem Tauwerk zu hantieren. Der hats noch immer geschafft. Zwohunderttausend Tonnen – ein ganzer Hafen voll Schiffe. Immer davongekommen, noch aus der dicksten Malaise …

Mein Isländer wird gut zu brauchen sein, wenns nach dem Norden raufgehen sollte. Simone soll nicht mit in den Hafen kommen. Gibt bloß Scherereien. Die Flaschen vom SD, die passen ja auf uns auf wie die Luchse. Neidische Säue. Freikorps Dönitz – da können die nicht ran.

Keine Ahnung, wos wirklich hingeht. Mittelatlantik wahrscheinlich. Wenig Boote draußen. Ganz schlechter Monat. Verstärkte Abwehr. Die Tommies haben ne Menge dazugelernt. Das Blatt hat sich gewendet. Jetzt sind die Geleitzüge bestens gesichert. Prien, Schepke, Kretschmer – alle an Geleitzügen draufgegangen. Alle abgesoffen außer Kretschmer. Und alle hats fast zur gleichen Zeit erwischt – Februar, März. Schepke besonders böse. Der war eingeklemmt zwischen Sehrohrbock und Schanzkleid, als der Zerstörer seinen gebombten Schlitten rammte. Die Asse! Viele gibts nicht mehr. Endrass ist mit den Nerven fertig. Der Alte aber ist noch intakt: ganz ruhiger Vertreter. Introvertiert. Macht sich nicht durch Sauferei fertig. Wirkt richtig entspannt, wie er so dahockt und sinniert.

Ich muß mal raus. In der Toilette höre ich zwei Wachoffiziere, die neben mir an der gelb verfärbten Kachelwand stehen: »… muß ich noch mal vernaschen.«

»Steckn bloß nicht daneben. Du bist ja blau wie ne Strandhaubitze!«

Als der eine schon halb in der Tür ist, brüllt der andere noch hinterher: »Steckn schönen Gruß von mir mit rein!«

Leute von Merkels Boot. Besoffen – sonst würden sie nicht diese Töne spucken.

Ich komme zurück an den Tisch. Unser Leitender Ingenieur angelt sich mit langgestrecktem Arm sein Glas. Ganz anderer Mann als der Alte. Sieht aus wie ein Spanier mit seinen schwarzen Augen und dem schwarzen Bartschatten – wie aus einem Bild von El Greco. Nervöser Typ. Kennt aber seinen Laden von A bis Z. Siebenundzwanzig Jahre alt. Die rechte Hand des Kommandanten. Immer mit dem Alten gefahren. Die beiden verstehen sich ohne langes Reden.

»Wo steckt denn unser II WO?« will der Alte wissen.

»An Bord. Der hat noch Wache, kommt aber wahrscheinlich noch!«

»Na ja, irgend jemand muß die Arbeit ja machen«, sagt der Alte »Und der I WO?«

»Im Puff!« quatscht der LI so hin.

»Der und im Puff? Zum Lachen!« sagt der Alte. »Wahrscheinlich schreibt er sein Testament – der hat ja immer alles in Ordnung.«

Nach dem Ingenieurschüler, der mit von der Partie sein wird und den Leitenden nach dieser Unternehmung ablösen soll, fragt der Alte nicht einmal.

Wir werden also zu sechst in der Offiziersmesse sein: viel Leute für die kleine Back.

»Wo bleibt denn Thomsen?« fragt der LI, »der kann uns doch nicht verschaukeln!«

Philipp Thomsen, Kommandant von UF und seit neuestem Ritterkreuzträger, gab am Nachmittag Bericht. Tief in einem Ledersessel sitzend, beide Unterarme aufgestützt, die Hände in Beterhaltung, den Blick über die Hände weg fest auf die gegenüberliegende Wand gerichtet: »… wir sind dann etwa dreiviertel Stunden mit Wasserbomben beharkt worden. Sofort nach der Detonation bekamen wir in etwa sechzig Meter Tiefe sechs bis acht Bomben, ziemlich nahe am Boot. Flache Einstellung. Eine lag besonders gut über dem Boot, etwa in der Höhe des Geschützes und siebzig Meter ab seitlich. Genaues ist schwer zu sagen. Die anderen Bomben lagen alle achthundert bis tausend Meter ab. Dann, nach etwa einer Stunde, kam wieder eine Serie. Das war abends, etwa von dreiundzwanzig Uhr dreißig bis ein Uhr. Wir blieben erst mal unten und gingen dann auf Schleichfahrt, immer etwas höher. Dann sind wir aufgetaucht und hinter dem Geleitzug her. Am nächsten Morgen machte ein Zerstörer einen Vorstoß in unsere Richtung. Seegang drei und etwas Wind, Regenböen. Ziemlich bewölkt. Für Überwasserangriffe recht günstig. Wir sind dann unter Wasser gegangen und haben uns zum Angriff hingelegt. Schuß. Daneben geschossen. Dann nochmals. Zerstörer hatte kleine Fahrt. Versuchten mit Heckrohr zu schießen. Und da hats dann geklappt. Und dann sind wir hinter dem Geleitzug hergelaufen, bis wir Befehl bekamen, umzudrehen. – Der zweite Geleitzug war uns von Zetschke gemeldet. Wir haben Fühlung gehalten und laufend Meldung erstattet. Gegen achtzehn Uhr sind wir rangekommen. Gutes Wetter, See zwei bis drei. Ziemlich bewölkt.« Hier machte Thomsen eine Pause. »Sehr komisch: Alle Erfolge haben wir an Tagen erschossen, an denen gerade ein Mann der Besatzung Geburtstag hatte. Wirklich merkwürdig. Beim ersten Mal hatte der Dieselheizer Geburtstag. Beim zweiten ein Funkgast. Der Einzelfahrer fiel auf den Geburtstag des Schmutts und der Zerstörer auf den des Torpedomechmaaten. Das ist doch verrückt!«

Thomsens Boot hatte vier Wimpel am halb ausgefahrenen Sehrohr, als es reinkam heute früh mit der Flut. Drei weiße für versenkte Handelsschiffe und einen roten für einen Zerstörer.

Thomsens rauhe Stimme klang wie Hundebellen über das ölbedeckte Brackwasser: »Beide Maschinen zwomal stop!«

Das Boot hatte noch genug Bewegung in sich, um lautlos an die Pier heranzugleiten. Dabei zeigte es sich spitz: Aus der zähen Ölsoße des stinkenden Hafenbrackwassers ragte es wie eine Vase hoch, mit einem allzu dicht gestopften Strauß darin. Wenig Farben – Immortellenstrauß. Die Blumenköpfe als fahle Flecken zwischen dunklem Bartmoos. Die Flecken wurden im Näherkommen zu bleichen, ausgemergelten Gesichtern. Tief umschattete, in die Höhlen zurückgewichene Augen. Kreidehaut. Einige Augenpaare glänzten wie im Fieber. Schmutziggraues, salzverkrustetes Lederzeug. Haarwülste, auf denen die Kappen kaum noch hielten. Thomsen sah richtig krank aus: zur Bohnenstange abgemagert, das Backenfleisch eingefallen. Sein Grinsen – sicher freundlich gemeint – war wie eingefroren.

»Melde gehorsamst UF von Feindfahrt zurück!« Und wir darauf: »Heil UF!« aus vollen Lungen.

Vom Lagerschuppen I kam ein krähendes Echo zurück, und dann kam noch eins, schwächer, von der Penhoët-Werft.

Der Alte trägt sein ältestes Jackett und demonstriert damit Verachtung für die Geschniegelten und Gebügelten. Die Vorderfront seiner Gammeljacke ist längst nicht mehr blau, sondern ins Graue verschossen, gebleicht von lauter Staub und Flecken. Die ehedem goldenen Knöpfe grünspanoxydiert. Auch das Oberhemd ist von undefinierbarer Farbe – ein ins Lila strebendes Blaugrau. Das schwarzweißrote Band, an dem sein Ritterkreuz baumelt, ist nur eine verdrallte Strippe.

»Das ist nicht mehr die alte Gang!« klagt der Alte und läßt seinen musternden Blick über eine Tischrunde junger Wachoffiziere in der Mitte des Lokals wandern. »Jetzt kommen die Quexe – die naßforschen Typen – die Maulhelden.«

Seit kurzem unterscheiden sich zwei Gruppen im Lokal: die »alten Säcke«, wie die Crewkameraden des Alten sich selber nennen, und die »jungen Marschierer«, die weltanschaulich Durchgeformten, die mit dem Glauben an den Führer im Blick, die Kinnmuskelspanner, wie sie der Alte nennt, die vor dem Spiegel den dräuenden Bella-Donna-Blick üben und den Hintern ohne Not verkneifen, nur weil es Mode ist, mit zusammengepreßten Gesäßbacken federnd auf den Ballen zu wippen, das Körpergewicht leicht nach vorn verlagert.

Ich starre diese Versammlung junger Helden an, als sehe ich sie zum erstenmal. Strichmünder mit scharfen Kerben zu beiden Seiten. Schnarrstimmen. Geschwellt von Elitebewußtsein und ordenssüchtig bis dorthinaus. Nichts anderes im Kopf als: Der Führer schaut auf dich – Unsere Fahne ist mehr als der Tod.

Vor vierzehn Tagen erschoß sich einer im »Majestic«, weil er sich die Syphilis geholt hatte. »Gefallen für Volk und Vaterland«, wurde der Braut mitgeteilt.

Außer der Crew der alten Recken und der Nachwuchsgang gibt es noch den Außenseiter Kügler, der dicht an der Tür zum Klo mit seinem I WO allein an einem Tischchen sitzt. Kügler mit dem Eichenlaub, der nach allen Seiten Abstand wahrt. Kügler, ein edler Ritter der Tiefe, ein Parsival und Fackelträger, ein unerschütterlicher Endsieggläubiger. Blauer Stahlblick, stolze Haltung. Kein Gramm Fett zuviel – ganz und gar makellose Herrenrasse. Mit gespitzten Zeigefingern hält sich Kügler die Ohren zu, wenn er die Sauigeleien oder das Gestichel der zweifelnden Zyniker nicht hören will.

Der Flottillenarzt residiert am Tisch nebenan. Auch er nimmt eine Sonderstellung ein. Sein Hirn hat eine Sammlung der verwegensten Zoten gespeichert. Deshalb wird er kurz und bündig »die alte Sau« genannt. Neunhundertfünfundneunzig Jahre des Tausendjährigen Reiches hält der Flottillenarzt schon für verstrichen und verkündet das vernehmlich, wenn er es für angebracht hält oder besoffen ist.

Mit seinen dreißig Jahren erfreut sich der Stabsarzt allgemeiner Achtung: Bei seiner dritten Feindfahrt hatte er das Kommando übernommen und das Boot in den Stützpunkt zurückgebracht, nachdem im konzentrischen Angriff von zwei Flugzeugen der Kommandant gefallen war und beide Wachoffiziere mit schweren Verwundungen auf den Kojen lagen.

»Hier gabs wohl nen Exitus? Is das hier ne Leichenfeier?« brüllt er jetzt. »Wo sind wir denn eigentlich?«

»Is doch Krawall genug!« mault der Alte und nimmt einen vorsichtigen Schluck.

Monique muß den Flottillenarzt verstanden haben. Sie nimmt das Mikrofon so dicht vor den grellrot geschminkten Mund, als wolle sie es ablutschen, schwenkt mit der linken Hand ein Büschel violetter Straußenfedern und plärrt mit rauchiger Stimme los:

»J'attendrai – le jour et la nuit!«

Der Schlagzeuger rührt auf silbern armierter Trommel mit einem Schlaglesen Teig dazu.

Gekreisch, Geschluchze, Gestöhn: Monique dramatisiert den Song mit Körperkrümmen, Dehnen und Recken ihres opulenten, bläulichweiß schimmernden Busens, wackerer Hinternarbeit und einer Menge Firlefanz mit dem Federbüschel. Sie hält es sich wie einen Indianerkopfputz an den Hinterkopf und führt mit der flachen Hand ein paar schnelle Schläge gegen ihren gespitzten Mund. Dann zieht sie den Federbusch von unten her zwischen den Beinen hoch – »… le jour et la nuit« – und verdreht die Augen nach oben. Zärtliches Gestreichel über den Federbusch, Beckenzucken dem Federbusch entgegen – wieder von unten hochsteigen lassen – Hüften wiegen – aus vorgestülpten Lippen haucht sie dem gefiederten Ding entgegen …

Plötzlich zwinkert sie über die Tischrunden mit einem Auge zur Tür hin. Aha, der Herr Flottillenchef mit seinem Adjutanten! Mehr als ein flinkes Augenzwinkern dürfte sich auch kaum lohnen für dieses lange Gestell mit dem viel zu kleinen Gymnasiastengesicht obendrauf. Der Flottillenchef leistet sich nicht mal ein Verstanden-Grinsen, dafür aber einen vergrellten Rundumblick, als suche er schon jetzt einen zweiten Ausgang, um unbemerkt wieder davonzukommen.

»Oho, welch hoher Besuch mischt sich da unters niedere Volk!« dröhnt Trumann, ein besonders widerborstiger Typ der alten Garde, in Moniques Geschluchze – »… car l'oiseau qui s'enfuit …« – hinein. Jetzt wankt er gar auf den Sessel des Flottillenchefs zu: »Na, oller Azteke. Maln Vorstoß zur Front unternehmen, was? Komm, hier is ein feines Plätzchen … Orchestersitz … die ganze Landschaft von unten … Was, willste nich? – Auch gut! … Jeder nach seinem Flakong – un ganz wie er kann!«

Trumann ist wie immer stockbetrunken. Sein igelborstiges schwarzes Haar ist mit Zigarettenasche beschneit. Drei, vier Zigarettenstummel haben sich im Haarpelz verfangen. Einer qualmt noch. Trumann kann jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Das Ritterkreuz trägt er achtern: »Kieler Kragen – eiserner Kieler Kragen« nennt er diesen Aufputz.

Trumanns Boot ist als »das Trommelfeuerboot« bekannt. Seit seiner fünften Reise blieb er von legendärem Pech verfolgt: Länger als eine Woche war er kaum mehr in See. »Auf Kniescheiben und Brustwarzen zurückkriechen«, wie er es nennt, ist für ihn schon zur Routine geworden. Immer wurde er schon auf dem Anmarsch ins Operationsgebiet erwischt: von Fliegern gebombt, mit Wasserbomben beharkt. Es gab stets Ausfälle noch und noch, gebrochene Abgasleitungen, abgerissene Verdichter – aber keine Erfolgschance mehr für Trumann und seine Besatzung. Jeder in der Flottille wundert sich im stillen, wie er und seine Leute die dauernden Nackenschläge bei absoluter Erfolglosigkeit überhaupt noch aushalten.

Der Ziehharmonikaspieler starrt über den aufgefalteten Balg hinweg, als hätte er eine Erscheinung. Der Halbneger ragt nur bis zum dritten Hemdknopf hinter dem Mond seiner großen Trommel hervor: muß ein Zwerg sein, oder sein Hocker ist zu niedrig. Monique macht ihre rundeste Karpfenschnauze und stöhnt ins Mikrofon: »In my solitude …« Dabei beugt sie sich Trumann so weit entgegen, bis der plötzlich: »Hilfe – Gift!« schreit und sich hintenübersinken läßt. Monique stockt. Trumann rudert mit den Armen, dann stemmt er sich wieder halb hoch und brüllt: »Der reinste Flammenwerfer – die muß nen ganzen Strang Knoblauch gefressen haben Gottogottogott!«

Trumanns Leitender erscheint: August Mayerhofer. Seit er das Deutsche Kreuz am Jackett trägt, wird er »August mit dem Spiegelei« genannt.

»Na, wie wars im Puff?« brüllt Trumann ihm entgegen. »Haste dich richtig ausgevögelt? Is immer gut fürn Teint. Dein alter Papa Trumann muß es schließlich wissen.«

Am Nebentisch grölen sie gemeinsam: »O du schöner We-e-esterwald …« Der Flottillenarzt dirigiert den schleppenden Chor mit einer Weinflasche. Um den großen runden Tisch dicht am Podium, der nach stillem Übereinkommen für die alte Garde reserviert ist, sitzen oder hängen mehr oder weniger betrunken in den Ledersesseln lauter Crewkameraden des Alten: Kupsch und Stackmann, die »siamesischen Zwillinge«, Merkel, Keller, genannt »der Steinalte«, Kortmann, genannt »Indianer«. Allesamt sind sie zu früh ergraute Männer, von der Schippe gesprungene Seegladiatoren, die kaltschnäuzig tun, obwohl sie bestens im Bilde sind, wie ihre Chancen stehen. Sie können stundenlang mit ausdruckslosem Blick im Sessel hocken – fast reglos. Dafür sind sie unfähig, ihr Glas ohne Zittern zu halten.

Alle haben schon mehr als ein halbes Dutzend schwerer Reisen hinter sich, mit Nervenproben der schlimmsten Sorte, Torturen der höheren Grade, ausweglosen Situationen, die sich nur durch schiere Wunder zu ihren Gunsten wandten. Keiner, der nicht schon mit demoliertem Boot zurückgekommen wäre, wider Erwarten sozusagen – mit von Fliegerbomben verwüstetem Oberdeck, vom Rammstoß eingedrücktem Turm, eingeschlagener Bugschnauze, angeknacktem Druckkörper. Aber jedesmal haben sie bolzengerade in der Brücke gestanden und sich gebärdet, als wäre die ganze Unternehmung nichts Besonderes gewesen.

So zu tun, als wäre das alles nichts Besonderes, gebietet der Komment. Heulen und Zähneklappern ist nicht erlaubt. Der BdU hält dieses Spiel in Schwung. Für den BdU ist in Ordnung, wer am Rumpf noch Hals und Kopf und die vier Extremitäten hat. Für den BdU ist erst verrückt, wer tobt. Anstelle der alten Kommandanten hätte er längst unverbrauchte, unbelastete Leute auf die Frontboote schicken müssen. Aber leider sind die unbelasteten Novizen mit ihren intakten Nerven eben bei weitem nicht so fähig wie die alten Kommandanten. Und die wenden jeden nur erdenklichen Trick an, um sich nicht von einem guten, erfahrenen Wachoffizier, der Kommandant werden soll, trennen zu müssen.

Endrass hätte nicht mehr auslaufen dürfen – nicht in diesem Zustand. Der war ja völlig durchgedreht. Aber so ist es nun mal: Der BdU ist mit Blindheit geschlagen. Der sieht nicht, ob einer fertig ist. Oder wills nicht sehen. Die alten Asse sind es ja, die ihm die Erfolge holen – die Füllungen fürs Sondermeldungskörbchen.

Die Kapelle macht Pause. Ich kann wieder Bruchstücke der Unterhaltung vernehmen.

»Wo ist denn eigentlich Kallmann?«

»Der kommt sicher nicht!«

»Na ja, kann man ja verstehen!«

Kallmann kam vorgestern herein – mit drei Siegeswimpeln am halb ausgefahrenen Sehrohr: drei Dampfer. Den letzten hatte er im flachen Küstengewässer mit der Kanone versenkt: »Über hundert Schuß hat der geschluckt! Hatten schwere See. Mußten mit beigedrehtem Boot bei fünfundvierzig Grad zur See schießen. – Bei dem vorher kamen wir gegen neunzehn Uhr in der Dämmerung zum Unterwasserschuß. Zwei Treffer auf zwölftausend BRT – ein Fehlschuß. Dann hatten sie uns. Acht Stunden lang Wabos. Wahrscheinlich waren keine mehr an Bord, als sie aufhörten.«

Kallmann sah aus wie Jesus am Kreuz mit seinen hohlen Wangen und dem blonden, strähnigen Bart. Er schraubte die Hände, als brauche er das, um seine Worte hervorpressen zu können.

Wir hörten gespannt zu, wappneten unsere Unsicherheit mit betont zur Schau getragenem Interesse: Wann würde er endlich die Frage stellen, die wir fürchteten?

Als er seinen Bericht beendet hatte, schraubte er auch die Hände nicht mehr. Er blieb reglos sitzen, die Ellbogen hielt er aufgestützt und die Handflächen ineinandergelegt. Und jetzt fragte er, über seine Fingerkuppen den Blick über uns hinweggerichtet, mit forciertem Gleichmut in der Stimme: »Was ist mit Bartel?«

Keiner antwortete. Der Flottillenchef ließ den Kopf um eine Winzigkeit nach vorn nicken.

»So – na, ich habs geahnt, als kein Funkspruch mehr von ihm kam.« Eine Minute Schweigen, dann fragte er drängend: »Weiß man denn gar nichts?«

»Nein!«

»Gibt es noch eine Möglichkeit?«

»Nein!«

Der Zigarettenqualm hing unbewegt vor den Mündern.

»Wir waren noch die ganze Werftliegezeit zusammen. Ich hab ihn noch mit rausgebracht«, sagte Kallmann endlich. Hilflos, verlegen. Es war zum Kotzen. Wir wußten alle, wie sehr Kallmann und Bartel befreundet waren. Sie schafften es immer wieder, daß sie gemeinsam ausliefen. Sie griffen die gleichen Geleitzüge an. Kallmann hatte mal gesagt: »Das steift einem den Rücken, wenn man weiß, daß man nicht allein ist.«

Durch die Schwingtür kommt Bechtel. Er sieht mit seinen weißblonden Haaren, Wimpern, Brauen leicht überbrüht aus. Wenn er so bleich ist, wie jetzt, kommen seine Sommersprossen besonders gut zur Geltung.

Großes Hallo. Bechtel wird von einer Gruppe der Jüngeren umringt. Er soll eine Runde für seine Wiedergeburt ausgeben.

Bechtel hat ein Erlebnis hinter sich, das der Alte als »recht apart« bezeichnete: Bechtel war nach einer heftigen Wasserbombenverfolgung mit allerlei Schäden im Halbdunkel der Morgendämmerung aufgetaucht und hatte eine zischende Wasserbombe vor der Kanone an Oberdeck liegen. Die Korvette noch in der Nähe und die scharfe Bombe vor dem Turm. Sie war auf größere Tiefe eingestellt und ging deshalb nicht los, als sie bei sechzig Meter Bechtel aufs Oberdeck fiel.

Bechtel ließ sofort beide Diesel auf große Fahrt gehen, und der Bootsmann mußte die Wasserbombe wie ein Teerfaß über Bord rollen. »Die rumste schon nach fünfundzwanzig Sekunden. War also auf hundert Meter Tiefe eingestellt.« Und dann mußte Bechtel wieder auf Tiefe gehen und bekam noch mal zwanzig Bomben.

»Ich hätte den Knallbonbon ja mitgebracht«, brüllt Merkel.

»Hätten wir auch ganz gerne. Bloß das lästige Gezische ließ sich nicht abstellen. Wir fanden den Knopf einfach nicht. War lustig!«

Die Bude wird immer voller. Aber Thomsen fehlt noch immer.

»Wo bleibt der denn bloß?«

»Vielleicht steckt er schnell noch mal einen weg?«

»Na, ich weiß nicht – in dem Zustand?«

»Mitm Ritterkreuz am Hals – mußn ganz neues Lustgefühl sein!«

Bei der Ritterkreuzverleihung durch den Flottillenchef heute nachmittag stand Thomsen noch eisern wie ein Standbild. Er nahm sich derart zusammen, daß er kaum noch Farbe im Gesicht hatte. In seiner Verfassung konnte er von der markigen Rede des FdU kaum ein Wort gehört haben.

»Der soll bloß aufpassen, daß ich seinen Scheißköter nicht fresse«, hatte Trumann gemurmelt. »Jedesmal bei der Berichterstattung die Töle. Das ist hier doch keine Menagerie. Soll er sich doch gleich nen Berberlöwen halten.«

»Son Lackaffe!« schimpfte er dann dem FdU nach, der sich mit mannhaftem Händedruck und Augenblitzen verzog. Und dann zynisch in die Runde: »Feines Tapetenmuster«, wobei er mit spitz gerecktem Zeigefinger auf die Fotos der Gefallenen an den drei Wänden wies: Bildchen neben Bildchen in schwarzen Rahmen. »Neben die Türe gehen auch noch welche hin!«

Da sah ich auch schon das Foto, das wohl als nächstes im schwarzen Rähmchen an die Wand kommen würde: Beckmann.

Beckmann müßte längst zurück sein. Die Dreisternemeldung wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Stinkbesoffen haben sie ihn aus dem Zug von Paris geholt. Vier Leute waren nötig, um ihn rauszuwuchten. Der D-Zug mußte so lange halten. Über eine Leine hätte man ihn hängen können. Völlig ausgevögelt. Albinoaugen. Und das vierundzwanzig Stunden vor dem Auslaufen. Wie den wohl der Flottillenarzt wieder auf die Beine gestellt hat? – Wahrscheinlich hat ihn ein Flugzeug erwischt. Beckmann hat sich ja schon kurz nach dem Auslaufen nicht mehr gemeldet. Kaum zu glauben: Die Tommies wagen sich jetzt schon bis an die Ansteuerungsboje Nanni I heran.

Ich muß an den Admiralstabsoffizier Bode in Kernével denken, einen alten einsamen Mann, der sich spät abends allein in der Messe zu betrinken pflegte. Dreißig Boote waren in einem einzigen Monat verlorengegangen. »Man wird – man wird zum Säufer, wenn man jedesmal einen hebt.«

Flechsig, ein schwerer grobschlächtiger Mann aus der Crew der Alten, wirft sich in den letzten freien Sessel an unserem Tisch. Flechsig kam vor einer Woche aus Berlin zurück. Seitdem hat er fast keinen Ton gesagt. Aber jetzt legt er los:

»Sagt doch dieser blöde Affe, so ein richtiger geschniegelter Stabsheini, zu mir: ›Daß Kommandanten weiße Mützen tragen sollen, ist in keiner Bekleidungsvorschrift enthalten!‹ – ›Möchte gehorsamst empfehlen, Versäumnis nachzuholen!‹ hab ich da gesagt.«

Flechsig nimmt ein paar kräftige Schlucke Martell aus einem Wasserglas und wischt sich ausführlich mit dem Handrücken das Feuchte vom Mund.

»So hab ichs gerne: Theater wegen ner Kommandantenmütze! Und hier müssen wir uns nen Rennfahrer anhören. Was denken die sich denn eigentlich? Uns nen Rennfahrerheini herzuschicken. Herrn Stuck! Fotos mit Unterschrift! Zum Kichern! Und dann dieser Goldfasan! Das ham wir wohl nötig, uns von so nem Schwadronierer moralisch aufpäppeln zu lassen!«

Erler, ein junger Oberleutnant, der seine erste Reise als Kommandant hinter sich hat, läßt mit einem Fußtritt die Schwingtür bis zum Anschlag aufknallen. Aus der Brusttasche hängt ihm ein Ende eines rosa Schlüpfers. Erst heute früh aus dem Urlaub zurückgekommen, hat er schon am Nachmittag im »Majestic« mit seinen Erlebnissen gewaltig aufgetrumpft. Wie er erzählte, wurde ihm in seinem Kaff ein Fackelzug gebracht. Vom Bürgermeister bekam er ein halbes Schwein. Er konnte alles mit Zeitungsausschnitten belegen: Da stand er auf dem Rathausbalkon, die Rechte zum deutschen Gruß erhoben, ein von der Heimat gefeierter deutscher Seeheld.

»Na, der wird auch noch stiller«, murmelt der Alte.

In Erlers Gefolge kommt der Rundfunksprecher Kreß, ein öliger, mit großer Schuhnummer lebender Anschmeißer, und der ehemalige Gauredner Marks, der jetzt phrasenstrotzende Aushalteartikel schreibt. Die beiden sehen aus wie Pat und Patachon in Marineuniformen: der Rundfunkmensch lang und schlaksig, der Aushalte-Marks feist und knubblig.

Bei ihrem Anblick zieht der Alte geräuschvoll das Feuchte in seiner Nase hoch.

Die Lieblingsvokabel des Rundfunkmenschen ist »kontinuierlich«. »Der kontinuierlich gesteigerte Einsatz« – Rüstung, Erfolgsziffer, Angriffswille – alles muß kon-ti-nu-ier-lich vorangetrieben werden.

Erler pflanzt sich vor dem Alten auf und lädt ihn zackig zum Umtrunk ein. Der Alte reagiert eine ganze Weile gar nicht, aber dann gibt er mit schief gelegtem Kopf aus seinem Rasiersitz heraus zum besten: »Für eine alte Flasche haben wir immer Zeit!«

Ich weiß schon, was nun kommt: Erler führt mitten in der Bude seine Methode vor, Sektflaschen mit einem einzigen kurzen, mit dem Messerrücken von unten gegen den Wulstring am Flaschenhals geführten Schlag zu öffnen. Darin ist er groß. Der Korken fliegt mit dem gläsernen Wulstring davon, ohne daß es Splitter gibt, und der Sekt schießt wie aus einem Schaumlöscher hoch. Gleich muß ich an eine Übung der Dresdner Feuerwehr denken: Vor der Oper hatten die Feuerwehrleute zum Reichsfeuerwehrtag einen Stahlmast mit einem Hakenkreuz aus Rohren oben dran errichtet. Um den Mast herum war eine Herde roter Feuerwehrwagen aufgefahren. Der ganze riesige Platz vollgestopft mit einer erwartungsvollen Menge. Da dröhnte aus den Lautsprechern das Kommando: »Schaum marsch!«, und aus den vier Enden des Hakenkreuzes schoß Schaum, das Hakenkreuz begann sich zu drehen, schneller und schneller – es wurde zu einem schaumsprühenden Windrad. Die Menge machte: »Aaah!« Und da begann der Schaum sich allmählich rosa zu verfärben, dann rot, dann violett, dann blau, dann grün, dann gelb. Die Leute klatschten, während sich vor der Oper ein knöcheltiefes Anilingeschliere ausbreitete.

Wieder der Türknall. Da ist er endlich – Thomsen. Von seinen Offizieren halb gestützt, halb geschoben, schwankt er mit verglastem Blick herein. Ich bugsiere schnell Sessel herbei, damit wir Thomsen in unsere Runde aufnehmen können.

Monique singt französisch eingefärbt: »Perhaps I am Napoleon – perhaps I am the king …«

Ich sammle die vergammelten Blumen von den Tischen und streue sie Thomsen auf den Kopf. Thomsen läßt sich grinsend schmücken.

»Wo steckt denn der Flottillenchef?« fragt der Alte.

Erst jetzt werden wir gewahr, daß der Flottillenchef schon wieder verschwunden ist. Noch vor der eigentlichen Feier also. Kügler ist auch nicht mehr da.

»Feige Säcke!« schimpft Trumann, erhebt sich mühevoll und wankt zwischen den Tischen davon. Mit einer Klosettbürste in der Hand kommt er zurück.

»Pfui Deibel!« stößt der Alte hervor.

Aber Trumann wankt nur näher. Er stellt sich, mit der Linken auf unseren Tisch gestützt, vor Thomsen hin, holt ein paarmal Luft und brüllt mit aller Kraft: »Ruhe im Puff!«

Sofort setzt die Musik aus, Trumann führt die tropfende Klosettbürste dicht vor Thomsens Gesicht auf und ab und salbadert mit weinerlich gefärbter Stimme los:

»Unser herrlicher, wertgeschätzter, abstinenter und unbeweibter Führer, der in glorreicher Karriere vom Malerlehrling zum größten Schlachtenlenker aller Zeiten … stimmts etwa nicht?«

Trumann weidet sich in seinem Suff ein paar Sekunden lang an der eigenen Ergriffenheit, ehe er weiterdeklamiert:

»Also, der große Flottensachverständige, der unübertroffene Seestratege, dem es gefallen hat, in seinem unermeßlichen Ratschluß … wie gehtsn weiter?«

Trumann richtet einen fragenden Blick in die Runde, rülpst von tief unten hoch, und legt wieder los: »Der große Flottenführer, der diesem englischen Bettnässer, diesem zigarrequalmenden Syphilitiker … hihihi, was hat er noch gedichtet? –, also dem Arschloch von Churchill mal gezeigt hat, wo Dingsbums den Most holt!«

Trumann läßt sich erschöpft in den Sessel fallen und bläst mir seinen Cognacatem mitten ins Gesicht. In der miesen Beleuchtung sieht er grün aus. »… Ritter weihen – den neuen Ritter weihen!« stottert er heraus. »Der Scheißgröfaz und der Scheißchurchill!«

Pat und Patachon drängeln mit ihren Stühlen in unsere Runde. Sie biedern sich bei Thomsen an, um seine Besoffenheit auszunützen und etwas über seine letzte Reise zu erfahren. Kein Mensch weiß, wozu sie für ihre Klischeeartikel sich immer wieder um Interviews bemühen. Doch Thomsen ist längst nicht mehr berichtfähig. Er guckt die beiden halb verblödet an und gibt, wenn sie ihm fleißig vorgeredet haben, nur hin und wieder zum besten: »Ja, genau richtig – ging prompt hoch – wie erwartet! – Treffer genau hinter der Brücke – Blue-Funnel-Dampfer. Verstehen Sie nicht? Nein, nicht funny – funnel!«

Kreß fühlt sich von Thomsen auf die Schippe genommen, er schluckt trocken. Sieht komisch aus, wie sein Adamsapfel auf und ab steigt.

Der Alte genießt das mühselige Geacker. Er denkt nicht daran, zu helfen.

Thomsen begreift schließlich gar nichts mehr.

»Alles Scheiße! Diese Scheißaale!« brüllt er heraus.

Ich weiß, was er meint: In den letzten Wochen gab es einen Torpedoversager nach dem anderen. So viele Ausfälle können kein Zufall sein. Es wird von Sabotage gemunkelt.

Plötzlich springt Thomsen hoch, Entsetzen im Blick. Unsere Gläser gehen zu Bruch. Das Telefon hat geklingelt. Thomsen muß das Telefonklingeln für die Alarmglocke gehalten haben.

»Eine Dose Rollmöpse!« verlangt er jetzt unter heftigem Hinundherschwanken. Er tut so, als wäre er nur hochgekommen, um diesen Wunsch besser quer durchs Lokal brüllen zu können: »Rollmöpse für die ganze Bande!«

Mit halbem Ohr höre ich Bruchstücke eines Berichts, den aus dem Sessel hinter mir Merkel seiner Runde gibt:

»Der Zentralemaat war gut. Erstklassiger Mann. Den Dieselmaschinisten muß ich loswerden, der taugt nichts … Die Korvette hatte Lage Null. Der Leitende brachte das Boot nicht schnell genug runter … Da schwamm einer im Bach. Sah aus wien Seehund. Wir sind rangefahren, weil wir den Namen wissen wollten. Der Kerl war ganz schwarz von Öl. Hing in ner Boje.«

Erler hat entdeckt, daß es einen mörderischen Lärm gibt, wenn man mit einer leeren Weinflasche über die Heizungsrippen fährt. Zwei, drei Flaschen zerspringen, aber Erler läßt nicht locker. Zertretenes Glas knirscht. Monique wirft wütende Blicke, weil sie kaum noch gegen den Krawall anstöhnen kann.

Merkel erhebt sich umständlich und kratzt sich durch die Hosentasche ausführlich zwischen den Beinen. Jetzt erscheint auch sein Leitender Ingenieur. Wegen seiner Fähigkeit, auf zwei Fingern zu pfeifen, wird er allgemein beneidet. Er kann alles: schrille Ganovenpfiffe, Überfallkommandosignale, tolle Tonkapriolen, tremolierende Phantasien.

Er ist gut aufgelegt und macht sich gleich erbötig, mir das Fingerpfeifen beizubringen. Zuerst müsse er aber mal aufs Klo. Als er zurückkommt, fordert er mich auf: »Los, die Pfoten waschen!«

»Wieso das?«

»Wenns Umstände machen sollte – also von mir aus – eine genügt.«

Nach der Waschung betrachtet Merkels LI eingehend meine rechte Hand. Dann steckt er sich kurz entschlossen meinen Zeigefinger und meinen Mittelfinger in den Mund und beginnt, darauf ein paar probierende Töne zu pfeifen – und schon wird daraus eine ganze Melodie, immer schriller und gepfefferter.

Merkels Leitender verdreht die Augen dabei nach oben. Ich bin einfach überwältigt. Noch ein paar hüpfende Kapriolen und Schluß. Mit Achtung betrachte ich meine feuchten Finger. Die Fingerstellung solle ich mir merken, sagt Merkels Leitender.

»Schön!« Nun versuche ich auf den eigenen Fingern loszupfeifen, aber ich entlocke ihnen nur ein paar quengelige Töne und das Fauchen eines undichten Preßluftschlauches.

Merkels Leitender quittiert den Versuch mit einem verzweifelten Blick. Mit gespielter Unschuld, nimmt er meine Finger wieder in den Mund und pfeift auf ihnen Fagott.

Wir einigen uns, daß es an der Zunge liegen müsse.

»Die könnt ihr ja nun leider nicht austauschen!« sagt der Alte.

»Ne freudlose Jugend!« brüllt Kortmann unvermittelt in eine Lärmpause. Kortmann mit dem Adlergesicht, Indianer genannt. In Kernével beim BdU ist Kortmann unten durch seit seiner Geschichte mit dem »Bismarck«-Tanker. Befehlsverweigerer Kortmann. Deutsche Seeleute retten! Die Kampfkraft seines Bootes außer Betrieb setzen! Strategische Aufgaben nicht erfüllen bloß wegen Gefühlsduselei! Das konnte auch nur Kortmann passieren, einem von den Alten mit der antiquierten Brandmalerei im Hirn: »Die Sorge um das Los der Schiffbrüchigen ist jedem Seemann erstes Gebot!«

Jetzt kann er gut brüllen, der altmodische Herr Kortmann, der für den BdU ein bißchen zu langsam begreift und noch nicht gemerkt hat, daß die Bräuche strenger geworden sind.

Pech war natürlich auch im Spiel: Mußte der englische Zerstörer auch gerade aufkreuzen, als Kortmann Schlauchverbindung mit dem Tanker hatte? Der Tanker war eigentlich für die »Bismarck« bestimmt. Aber die »Bismarck« brauchte keine Treibölversorgung mehr. Die »Bismarck« war schon abgetakelt worden – mit 2500 Mann. Und der Tanker schwabbelte bis oben voll ohne Abnehmer durch die Gegend. Da entschied die Führung, daß ihn U-Boote leersuckeln sollten. Und gerade als Kortmann dabei war, passierte es: Die Engländer schossen ihm den Tanker vor der Nase weg, und die 50 Mann Tankerbesatzung schwammen im Bach – und der warmherzige Kortmann brachte es nicht über sich, sie schwimmen zu lassen.

Kortmann war auch noch stolz auf den Fischzug: 50 Seeleute mit einem VII C-Boot, auf dem kaum Platz für die eigene Besatzung ist. Wo er sie untergebracht hat, bleibt sein Geheimnis, wahrscheinlich mit der Ölsardinenmethode: einer Kopf rechts, der andere Kopf links – und alle in ausgeatmetem Zustand. Der gute Kortmann dachte sicher, wunder was er geleistet hatte.

Die Betrunkenheit beginnt die Grenzen zwischen dem Lager der alten Recken und den jungen Marschierern zu verwischen. Alle wollen jetzt zugleich reden. Ich höre Böhler räsonieren: »Da gibts doch Richtlinien – klare Richtlinien, meine Herren! Befehle! Ganz klare Befehle!«

»Richtlinien, meine Herren, klare Befehle«, äfft Thomsen nach »Daß ich nicht lache. Unklarer gehts wohl kaum noch!«

Thomsen fixiert Böhler schräg von unten. Er hat auf einmal ein tückisches Funkeln im Auge und ist ganz bei der Sache: »Da ist doch System dabei, daß man uns im unklaren läßt.«

Saemisch steckt seinen Karottenkopf in die Runde. Er hat schon gut geladen. In der schummrigen Beleuchtung sieht seine Gesichtshaut aus wie die eines gerupften und abgebrühten Huhns.

»Was denkense denn so viel«, lallt er, »ich sach immer: Pferde ham große Köpfe. Also lassense doch die Pferde denken.«

Jetzt redet Böhler auf den Karottenkopf Saemisch ein: »Die Sache ist doch so: Im totalen Krieg kann sich die Wirkung unserer Waffen …«

»Leitartikel-PK-Gequatsche!« höhnt Thomsen.

»Lassen Sie mich doch mal ausreden! – Nehmen Sie mal das Beispiel: Da ist doch von einem Hilfskreuzer ein Tommy aufgefischt worden, der war schon dreimal im Bach. – Was solln das? Führen wir nun Krieg oder machen wir bloß Demontage? – Was nützt es denn, wenn wir Dampfer versenken, und die fischen dann ihre Schiffbrüchigen auf, und die Leute steigen auf dem nächsten Dampfer wieder ein … Die kriegen ja ne Menge Pinke dafür!«

Jetzt läufts richtig, jetzt hat Böhler das Stichwort gegeben für das brennende, aber tabuisierte Thema: den Feind vernichten oder nur seine Schiffe? Auch die Seeleute killen oder nur die Dampfer versenken?

»Das ist hüben wie drüben«, beharrt Saemisch Aber da mischt sich Trumann ein. Der Agitator Trumann fühlt sich jetzt angesprochen. Ein heißes Thema, um das sich alle herumdrücken – nur der alte Trumann nicht. Jetzt wirds spannend. Gleich wird Klartext geredet werden.

»Mal bissel systematisch«, kommandiert er »Der BdU hat befohlen: den Gegner vernichten – in ungebrochenem Kampfgeist, mit entschlossener Härte, unerbittlichem Einsatz und so weiter – der ganze Quatsch. Der BdU hat aber keinen Ton davon gesagt, daß Leute, die im Wasser treiben, angegriffen werden sollen – oder?«

So wach ist er also noch, das Ledergesicht Trumann, um erst mal den Provokateur zu spielen. Thomsen steigt auch sofort ein: »Nee, hat er natürlich nicht. Er hat bloß un-miß-ver-ständ-lich deutlich gemacht, daß gerade Verluste von Besatzungen den Gegner besonders schwer treffen würden.«

Trumann macht eine pfiffige Miene und stochert noch ein bißchen im aufglühenden Feuer: »Na und?«

Thomsen legt auch prompt mit vom Cognac angeheizter Proteststimme wieder los: »Da kann sich nun jeder seinen eigenen Vers drauf machen … Schlau gedacht!«

Jetzt bläst Trumann erst richtig ins Feuerchen: »Es gibt ja einen, der die Probleme auf seine Art gelöst hat und auch noch damit angibt: den Leuten kein Haar krümmen, aber die Rettungsboote zerschießen. Wenn die Wetterlage so ist, daß die Piepels im Bach bestimmt bald draufgehen, um so besser – dann ist ja die Sache geregelt! Die Konventionen sind beachtet … stimmt doch? Und der BdU kann sich verstanden fühlen!«

Jeder weiß, wer gemeint ist, aber keiner guckt in Floßmanns Richtung.

Ich muß an die Klamotten denken, die ich mitnehmen will. Nur das Allernötigste. Den neuen Isländer auf jeden Fall. Auch Kölnisch Wasser. Rasierklingen – die kann ich mir sparen …

»Das ganze Getue ist doch kalter Kaffee«, höre ich Thomsen wieder. »Solange einer seinen schwimmenden Untersatz noch unter den Füßen hat, darf er abgeknallt werden, aber wenn so ein armes Schwein dann im Bach liegt, rührt er ans Herz. Das ist doch komisch – oder?«

Trumann schaltet sich wieder ein: »Ich will mal sagen, wie die Sache in Wirklichkeit aussieht …«

»Ja?«

»Wenn man nen Kerl treiben sieht, stellt man sich vor, das könnte man selber sein. So isses doch. Mit nem ganzen Dampfer kann sich aber keiner identifizieren. Der greift nicht ans Gemüt. Aber der einzelne Mann – der schon! Und gleich sieht die Sache anders aus. Da wirds ungemütlich. Und weil ungemütlich nicht schön ist, wird eben ein Ethos zurechtgebastelt – und huschhusch is alles wieder in Butter!«

Der neue Isländer, den Simone gestrickt hat, ist schon ein Mordsding. Kragen bis zur Ohrenmitte, Zopfmuster – kein Arschbetrüger, sondern richtig schön lang. Vielleicht gehts doch nach Norden. Dänemarkstraße – oder ganz rauf. Die Rußlandgeleitzüge. Scheußlich, daß man keine Ahnung hat.

»Als Schiffbrüchige sind sie aber doch wehrlos!« hakt Saemisch mit klagend rechthaberischem Ton ein.

»Das hörten wir schon! Die alte Rille!«

Es geht wieder von vorn los. Thomsen verheddert sich aufs neue:

»Ich bemerkte bereits einmal, daß es die Leute auf den Tankern auch sind. Auch wehrlos – oder? – Na ja, auf Logik wird hier kaum Wert gelegt!«

Thomsen macht eine resignierende Handbewegung, murmelt noch »ach Scheiße!« und läßt den Kopf hängen.

Mich drängt der Wunsch, aufzustehen und mich davonzumachen, endlich meine Klamotten richtig einzupacken. Ein, zwei Bücher. Welche denn bloß? Nur keinen Schnaps mehr inhalieren! Das hier bringt den stärksten Mann um. Halbwegs klaren Kopf behalten. Die letzte Nacht an Land. Ersatzfilme. Das Weitwinkelobjektiv. Die Pudelmütze. Schwarze Pudelmütze zum weißen Isländer. Muß komisch aussehen.

Der Stabsarzt stützt sich mit abgespreizten Armen auf meine linke und des Alten rechte Schulter, als wolle er Barrenübungen vorführen. Dazu brüllt er in die wiedereinsetzende Musik mit voller Stimmkraft: »Is das nu ne Ritterkreuzfeier – odern Philosophentreffen? Schluß mit dem Scheißpalaver!«

Erst jetzt merke ich, daß an Thomsens Tisch noch weiterdiskutiert wird. Nur Thomsen hat sich sinken lassen und schweigt.

Das Gebrüll des Stabsarztes scheucht ein paar WOs hoch, die sofort zur Aktion schreiten, als hätten sie nur auf eine solche Aufforderung gewartet. Sie stellen sich auf Stühle und gießen von hoch oben her Bier ins Klavier, dessen Tasten ein Kaleun wie rasend bearbeitet. Eine Flasche nach der anderen. Das Klavier schluckt das Bier willig.

Und weil die Kapelle und das Klavier noch nicht genug Krawall hergeben, wird auch das Grammofon in Betrieb gesetzt. Es stöhnt mit äußerster Lautstärke: »Where is the tiger? – Where is the tiger?«

Da wirft ein lang aufgeschossener blonder Oberleutnant das Jackett von sich, kommt mit einer Hocke glatt auf den Tisch und läßt seinen Bauch zucken.

»Bühnenreif!« – »Sonderklasse!« – »Festhalten, ich werd schwul!« Einer wickelt sich während des frenetischen Applauses gemächlich in den roten Teppichläufer, hängt sich die weiße Rettungsboje, die zur Dekoration an der Wand hing, um den Hals und entschlummert sofort.

Bechtel, ein von Natur aus für zügellose Vergnügungen kaum begabter Mann, schlägt irren Blicks mit flachen Händen den Takt zu einer Rumba, die dem Bauchtänzer das Letzte abfordert.

Unser Leitender, der eben noch still vor sich hinsinnierend am Tisch saß, gerät auch außer Rand und Band: Er klettert in das Staket an der Wand über der Bühne und reißt, einen Affen mimend, im Takt der Musik das künstliche Weinlaub aus. Das Staket schwankt, bleibt wie in einem alten Buster-Keaton-Film eine Weile in Schräglage einen halben Meter von der Wand weg stehen und kracht dann mit dem Leitenden aufs Podium.

Jetzt hackt der Klavierspieler mit hintenüber gelegtem Kopf, gerade so, als müsse er die Noten mühselig von der Decke ablesen, einen Marschrhythmus zusammen. Eine Gruppe bildet sich ums Klavier und grölt: »Wir werden weitermarschieren, wenn Scheiße vom Himmel fällt – wir wollen zurück nach Schlicktown, denn hier ist der Arsch der Welt.«

»Kernig, mannhaft, teutonisch«, brummt der Alte.

Trumann stiert sein Glas an, dann ruckt er hoch, als hätte er eine elektrische Leitung berührt, und brüllt: »Skol!« Mit gut zehn Zentimeter Abstand vom Mund füllt er sich von oben herab das Bier ein und läßt dabei eine breite Sabberbahn über sein Jackett triefen.

»Verdammte Sauerei«, schimpft Trumann, als er die Bescherung sieht. Clementine wippt mit einem Handtuch heran. Der Reißverschluß hinten an ihrem Rock ist aus einer Naht geplatzt. Als sie sich über Trumann bückt, heben sich ihre Kniekehlen käsig weiß gegen den schwarzen Stoff ab.

»Cochon!« tuschelt sie Trumann ins Ohr und putzt ihn ausführlich sauber. Dabei hängt sie ihm ihre dicken Brüste so dicht vors Gesicht, daß er hineinbeißen könnte. Sie ist jetzt ganz besorgte Mammi.

»Ne richtige Orgie!« höre ich Meinig, der Flottillendreckschleuder genannt wird. »Fehlen bloß die Weiber!«

Als wäre das ihr Stichwort, verschwinden der Erste und der Zweite von Merkels Boot. Noch vor der Schwingtür werfen sie Seitenblicke, als hätten sie etwas angestellt. Ich dachte, sie wären schon längst weg.

»Angstvögler«, murmelt der Alte, »die brauchen das wie die Grabenkrieger den Schnaps!«

Mit halbem Ohr höre ich vom Nebentisch:

»… wenn den die Lust mal packte,

dann sprang er auf den Küchentisch

und vögelt ins Gehackte.«

So ist das immer: Des Führers edle Reisige, des Volkes strahlende Zukunft – und dann ein paar Lagen Cognac und Beck's Bier dazwischen, und aus ist der Traum von der unbefleckten gleißenden Brünne.

»Beachtlich«, muffelt der Alte und angelt mit ausgestrecktem Arm nach seinem Glas.

»Diese Scheißsessel – da kommt man ja überhaupt nicht mehr hoch!«

»Hahaha!« macht einer aus der Runde nebenan, »das sagt mein Mädchen auch: Kommt nicht mehr hoch – kommt nicht mehr hoch!«

Dem Alten bleibt der Mund halb offenstehen, so perplex ist er.

Der Steinalte schüttelt starrsinnig den Kopf: »Diesmal is Schluß. Kannste Gift drauf nehmen, ich komm nich wieder. Diesmal is Schluß!«

»Natürlich kommste wieder«, beschwichtigt Trumann ihn.

»Ne Kiste Cognac, daß ich nich wiederkomme – wetten?«

»Den soll ich dann wohl an nen Engel – an nen Engel in nem weißen Hemd zahlen?« erkundigt sich Trumann.

Der Steinalte stiert ihn verständnislos an.

»Also – also jetzt paßte mal auf: Wennde wiederkommst, dann haste doch verloren«, versucht Trumann sich verständlich zu machen, »das is doch klar, oder? Und dann zahlste ne Kiste Cognac. Wennde nich wiederkommst, haste gewonnen …«

»Genau!«

»Un dann zahl ich die Kiste Cognac!«

»So isses!«

»Nu fragt sich bloß noch, an wen denn?«

»An wen? Dann zahlste an mich – doch logisch!«

»Du bist aber abgesoffen!«

»Ich? Wieso?«

Auf dem Tisch hat sich ein wüstes Durcheinander von Sektflaschen mit geköpften Hälsen, Aschenbechern mit schwimmenden Kippen, Rollmopsdosen und zerscherbten Gläsern angesammelt. Trumann läßt wohlgefällige Blicke über das Glassammelsurium schweifen. Als die Klaviermusik endlich mal aussetzt, hebt er die rechte Hand hoch und brüllt: »Achtung!«

»Der Tischtuchtrick!« sagt unser Leitender.

Trumann dreht bedächtig einen Zipfel des Tischtuchs seilartig auf – er braucht dazu gute fünf Minuten Zeit, weil das Tischtuch ihm zweimal, halb aufgedreht, entwischt. Dann gibt er mit der freien Linken ein Zeichen für den Klavierspieler, der prompt, als wäre die Nummer eingeübt, einen Tusch auf die Tasten drischt. Trumann nimmt jetzt mit der Konzentration eines Gewichthebers festen Stand, starrt eine Minute lang reglos auf seine zwei Hände, die den aufgedrehten Zipfel gepackt halten, brüllt plötzlich urgewaltig »zack!« und reißt mit einem großen Armschwung das Tuch halb vom Tisch weg. Klingeling zerscherbender Gläser, Gebums und Gepolter der auf den Boden fallenden Flaschen und Teller.

»Scheiße – verdammte Scheiße!« flucht Trumann und stiefelt knirschenden Schrittes durch die Scherben. Er steuert schwankend die Küche an und brüllt nach Besen und Schaufel. Dann kriecht er im irren Gelächter der ganzen Meute zwischen den Tischen herum und kehrt verbissen die Scherben auf. Schon zieht er Blutspuren hinter sich her.

Der Handfegerstiel, der Kehrichtschaufelstiel – alles ist im Nu rot verschmiert. Zwei Oberleutnants wollen Trumann das Putzzeug abnehmen. Trumann aber hält eigensinnig daran fest, auch noch die letzte Scherbe aufzusammeln. »Auf-klaren – muß erst mal ornlich auf-klaren. Immer pico-bello Reinschiff …«

Endlich läßt er sich in einen Sessel fallen, und der Stabsarzt zieht ihm drei, vier Scherben aus den Handballen. Es tropft nur so auf die Back herab. Und jetzt wischt sich Trumann mit einer blutigen Hand auch noch durchs Gesicht.

»Pfui Deibel!« sagt der Alte.

»Doch scheißegal!« brüllt Trumann, läßt sich aber Heftpflaster, die Christel unter outriertem Augäpfelgerolle herbeibringt, auf die Handballen kleben.

Kaum hat er fünf Minuten im Sessel gehockt, reppelt er sich auch schon wieder hoch, zieht ein Stück abgegriffene Zeitung aus der Tasche und brüllt los: »Wenn euch nichts einfällt, ihr Hammel, hier – das sind goldene Worte …«

Ich sehe, was er da in der Hand hält: das Testament des Kapitänleutnants Mönkeberg, der angeblich vor dem Feind fiel, aber in Wirklichkeit auf eine ganz profane Weise ums Leben kam, durch Genickbruch nämlich. Und sein Genick brach er, als er irgendwo im Atlantik an einer ruhigen Stelle, weil gerade so schönes Wetter war, baden wollte. Gerade wie er vom Turm hechtete, rollte das Boot nach der anderen Seite, und Mönkeberg knallte mit dem Kopf auf die Tauchzelle.

Sein markiger Abgesang ging durch alle Zeitungen.

Trumann hält den Zeitungsausschnitt mit ausgestrecktem Arm von sich: »Einer wie der andere – alle für einen – einer für alle – und so sage ich euch denn: Kameraden – nur einmalige Einsatzhärte – der Hintergrund des dramatischen Kampfes von weltgeschichtlicher Bedeutung – namenloser Heldenmut – historische Größe – ganz unvergleichbar – einzig dastehend – das unvergängliche Kapitel männlicher Bewährung wie soldatischen Opfers – höchstes Ethos – Lebende und Kommende – fruchtbar werden – gemäß dem ewigen Vermächtnis würdig erweisen!«

Trumann schwankt, immer das besabberte und bestimmt nicht mehr lesbare Zeitungsblatt vor den Augen, vor und zurück – aber ohne hinzuschlagen. Es sieht aus, als wären seine Schuhe am Boden festgeklebt.

»Tolle Nummer«, sagte der Alte, »der läßt sich jetzt nicht mehr abstellen!«

Ein Oberleutnant hat sich ans Klavier gesetzt und spielt Jazz, aber Trumann ficht das nicht an, seine Stimme schnappt über: »Wir Kameraden – Bannerträger der Zukunft – Leben und Geist einer menschlichen Auslese mit dem Begriff ›dienen‹ als höchstes Ethos dieser Männer – leuchtendes Beispiel für die Hinterbliebenen – gewaltiger als das Schicksal ist der Mut – einsamer Entschluß – kühles Wägen – entschlossenes Wagen – Liebe und Treue von einer so enormen Größe, da habt ihr Knalltüten gar keine Ahnung – kostbarer als Diamanten – Bewährung – jawohl – stolz und männlich. Hurra! – In den Tiefen des Atlantik sein Grab gefunden. Hihihihi! Enge Verbundenheit – Front und Heimat – Opferbereitschaft bis zum Allerletzten. Unser geliebtes deutsches Volk. Unser herrlicher, gottgesandter Führer und oberster Befehlshaber – Heil! Heil! Heil!«

Einige schreien mit. Der Steinalte guckt betreten vor sich hin. Böhler bedenkt Trumann mit dem pikierten Blick einer Gouvernante, schiebt sich aus dem Sessel zu seiner ganzen Größe hoch und verschwindet grußlos.

Trumann verfällt in kicherndes Lachen. Mit einem langen Faden Spucke am Mund pliert er mit gesenktem Kopf in die Runde.

»Die feinen Leute sind ja schon alle weg. Die crème de la crème. Die Edelinge! Bloß noch Pro-pro-proleten da, Saufköppe verdammte und Hurenböcke – Abhub! Der Bodensatz des Freikorps Dönitz! – Wer jetzt nicht dableibt, wird erschossen!«

»Du – geh weg von meine Euter!« schreit Monique auf. Der Stabsarzt ist gemeint. Er hat sichs neben ihr anscheinend zu gemütlich gemacht.

»Dann zieh ich mich eben in meine Vorhaut zurück«, nöhlt er, und seine Runde bricht in brüllendes Gelächter aus.

Trumann läßt sich wieder in den Sessel sacken und klappt die Lider herunter. Ich denke schon: der Alte irrt sich doch. Jetzt entschläft der gute Trumann unter unseren Augen. Da kommt er wie von der Tarantel gestochen wieder hoch und fingert mit der Rechten aus seiner Jackentasche eine Pistole heraus.

Ein WO hat noch soviel Reaktionsfähigkeit, um ihm den Arm herunterzureißen. Ein Schuß knallt ins Parkett, dicht vor der Schuhspitze des Alten. Der schüttelt aber bloß den Kopf und sagt: »Bei soner Musik gar nicht mal besonders laut!«

Die Pistole verschwindet, und Trumann läßt sich mit einem schmollenden Ausdruck in seinen Sessel zurückfallen.

Monique, die den Schuß mit Verzögerung aufgenommen hat, springt hinter der Bar hervor, scharwenzelt an Trumann vorbei, fährt ihm unters Kinn, als wolle sie ihn für eine Rasur einseifen, macht dann einen schnellen Satz aufs Podium und stöhnt ins Mikrofon: »In my solitude …«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Trumann sich im Zeitlupentempo erhebt. Er zerlegt seine Bewegungen gleichsam in einzelne Abschnitte, dann steht er – pfiffig feixend – mindestens fünf Minuten wankend da, bis Monique ausgestöhnt hat, tastet sich, während alle frenetisch klatschen, zwischen den Tischen hindurch nach hinten bis zur Wand, lehnt sich an, feixt und feixt und zieht dann blitzschnell aus dem Hosenbund eine zweite Pistole und brüllt, daß ihm die Halsadern nur so heraustreten: »Alles unter die Tische!«

Diesmal steht keiner in der Nähe, um ihm auf die Hand zu schlagen.

»Na wirds?« schreit Trumann noch mal. Der Alte läßt sich einfach mit vorgestellten Beinen aus dem Sessel sinken. Drei, vier nehmen Deckung hinter dem Klavier. Der Klavierspieler ist auf die Knie gegangen. Ich hocke mich auch in Beterstellung auf den Boden. Auf einmal ist Totenstille in der Bude – und nun kracht ein peitschender Schuß nach dem anderen.

Der Alte zählt laut mit. Monique schreit schrille Obertöne, die bis ins Mark dringen, unter einem Tisch hervor. Der Alte ruft: »Aus!«

Trumann hat sein Magazin verballert.

Ich blinzele über eine Tischkante hoch: Den fünf Ladies an der Wand über dem Podium fehlen die Gesichter. Noch rieselt der Putz nach. Der Alte steht als erster wieder und betrachtet mit schief gelegtem Kopf den Schaden: »Phantastische Leistung – rodeoreif –, und das mit den zerschnittenen Pfoten!«

Trumann hat die Pistole schon weggesteckt und grinst befriedigt von einem Ohr zum anderen: »Wurde mal Zeit, was? Wurde mal Zeit, daß die treudeutschen Zicken eins drauf bekamen, was?«

Trumann zergeht fast vor selig plierender Genugtuung.

Da erscheint mit hochgehaltenen Armen, als wolle sie kapitulieren, und wie in Todesangst im höchsten Falsett kreischend, die »Puffmutter«.

Als der Alte sie sieht, läßt er sich gleich wieder schräg aus dem Sessel rutschen. Jemand brüllt: »Volle Deckung!«

Ein Wunder, daß sich die übertakelte alte Fregatte, die hier als Wirtin fungiert, noch nicht sehen ließ. Sie hat sich spanisch zurechtgeputzt: mit Spucke angeklebte »Herrenwinker« vor den Ohren, einen funkelnden Schildpattkamm im Haar – ein wabbelndes Fettmonument mit quellenden Wülsten überall. Sie trägt Pantoffeln aus schwarzem Samt. An den Wurstfingern hat sie Ringe mit riesigen falschen Steinen. Dieses Monstrum erfreut sich der besonderen Gunst des Standortkommandanten.

Gewöhnlich klingt ihre Stimme, als ob Speck ausbrät. Jetzt aber haspelt sie jaulend französisches Geschimpfe ab. »Kaputt, kaputt«, höre ich aus dem Gejammer heraus.

»Kaputt – da hatse recht«, sagt der Alte.

Thomsen nimmt die Flasche an den Mund und lutscht wie aus einer Zitze den Cognac in sich hinein.

Merkel rettet die Situation. Er klettert mühevoll auf einen Stuhl und hebt mit weitausholenden Dirigentenbewegungen an:

»O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit …«

Begeistert grölen wir alle mit.

Die »Puffmutter« ringt wie eine Hochdramatische die Hände. Ihr Gequieke schlägt nur hin und wieder durch unseren Chorgesang. Sie tut, als wolle sie sich ihre paillettenbestickte Stola vom Leibe reißen, dann krallt sie sich aber nur die dunkelrot lackierten Nägel in die Haare, macht mit einem schrillen Quieklaut kehrt und schießt davon.

Merkel fällt vom Stuhl, der Chorgesang verebbt.

»So was von Durcheinander! Herrgott, sone Rake!« sagt der Alte.

Die wärmende Leibbinde, denke ich, sollte ich auf jeden Fall mitnehmen. Angorawolle. Prima.

Der Stabsarzt zieht sich Monique auf den Schoß, umspannt mit der Rechten ihren Hintern und hebt mit der linken Hand ihre rechte Brust von unten an, als wolle er eine Melone abwiegen. Die üppige Monique in ihrem viel zu straff gespannten Stoffetzchen kreischt, reißt sich los, kracht gegen das Grammofon, daß die Nadel mit einem dumpf orgelnden Furzen quer über die Rillen fährt. Monique birst vor Gekicher fast auseinander.

Der Stabsarzt drischt mit der Faust auf den Tisch, daß die Flaschen springen, und läuft puterrot an von gestautem Prusten. Und einer langt ihm von hinten beide Arme um den Hals, als wolle er ihn umarmen, aber wie er die Hände wegnimmt, ist der Schlips des Stabsarztes direkt unter dem Knoten zu Ende, und der Stabsarzt merkt es gar nicht. Der Oberleutnant mit der Schere kappt schon Saemischs Krawatte und dann Thomsens, und Monique sieht es und läßt sich vor Lachen hintenüber aufs Podium fallen und zeigt mit strampelnden Beinen, daß sie nur einen klitzekleinen schwarzen Schlüpfer unter dem Rock hat, nur eine Art cache-sexe. Und »Holzauge« Belser hat schon eine Syphonflasche in der Hand und richtet einen scharfen Strahl zwischen Moniques Schenkel, und Monique quiekt wie ein Dutzend in den Schwanz gekniffener Ferkel. Merkel stellt fest, daß ihm die Krawattenenden fehlen, der Alte murmelt, »der reine Kapp-Putsch«, und Merkel greift sich eine halbvolle Cognacflasche und schleudert sie dem Schlipsabschneider in den Magen, daß der einkippt wie ein getroffener Boxer.

»Sauber – astreiner Wurf«, lobt der Alte.

Und jetzt fliegt ein Stück Staket durch die Gegend. Wir ziehen die Köpfe ein, und nur der Alte bleibt unbewegt grienend sitzen und deklamiert in Baßlage:

»… kam eine Marmorplatte geschwirrt,

rannte der große Spiegel gegen den kleinen Wirt.

Und die See ging hoch, und der Wind wehte.«

Das Klavier muß noch mehr Bier saufen.

»Schnaps macht im-po-tent!« lallt Thomsen. Er kann sich kaum noch auf den Beinen halten.

»Noch zum Schlößchen?« fragt mich der Alte.

»Nee – bißchen pennen! Wenigstens nochn paar Stunden!«

Thomsen rappelt sich mühsam hoch: »Mit – komme mit – verdammte Rakerei – los und ab – bloß noch ne Stange Wasser ne Stange Wasser – in die Ecke stellen!«

Das weiße Mondlicht hinter der Schwingtür trifft mich wie ein Schlag. Auf dieses Licht war ich nicht gefaßt: flirrendes, gleißendes Silber. Der Küstenstreifen ist ein weißblau in kaltem Brand glühendes Band, die Straße, die Häuser – alles ist in dieses kalt glühende Neonlicht getaucht.

Herrgott! Das gibts doch gar nicht – diesen Mond. Er ist rund und weiß wie ein Camembert. Gleißender Camembert. Da kann man ja glatt Zeitung lesen. Die ganze Bucht ein einziges Silberpapiergeknitter. Die riesige Fläche vom Strand bis hin zur Kimm: Millionen metallischer Facetten. Silberkimm gegen samtschwarzen Himmel.

Ich kneife die Augen zu Sehschlitzen. Die Insel draußen ist ein dunkler Karpfenrücken im Gleißen. Der Schornstein des versenkten Transporters, der Maststummel – alles messerscharf. Ich stütze mich gegen die Betonbrüstung: Bimssteingefühl an den Handflächen. Widerlich. Die Geranien in den Kästen: Jede Knospe ist zu erkennen. Gelbkreuzgiftgasbomben sollen wie Geranien riechen.

Die Schlagschatten! Das Sausen der Brandung auf dem Strand! Ich habe dünende Wogen im Kopf. Die gleißende Paillettenhaut der Mondsee trägt mich auf und ab – auf und ab. Ein Hund schlägt an: Der Mond bellt.

Wo ist Thomsen, der neue Ritter? Wo bleibt Thomsen bloß? Zurück und wieder hinein in die »Royal«. Die Luft ist zum Schneiden. Sedimentäre, in Lagen eingeschichtete Luft.

»Wo ist denn Thomsen?«

Thomsen war doch eben noch da. Der kann doch nicht einfach weg sein.

Mit dem Fuß stoße ich die Tür zum Klo auf. Nur nicht die Messinggriffe anfassen.

Da liegt er. Da liegt Thomsen längelang auf seiner rechten Seite in einer großen Pfütze gelben Urins, einen Breihaufen Erbrochenes neben dem Kopf, der den Urin in der Rinne hochgestaut hat. Über dem Abflußrost ist ein zweiter Breifladen Gekotztes. Mit der rechten Gesichtshälfte liegt Thomsen in der trübgelben Brühe. Das Ritterkreuz hängt auch im Urin. Vor Thomsens Mund bilden sich immer neue blubbernde Blasen, weil er Laute hervorstößt. Ich kann aus dem Gegurgel heraushören: »Kämp-fen – sie-gen oder un-tergehn! Kämp-fen, sie-gen oder un-ter-gehn! Kämp-fen, sie-gen oder un-ter-gehn!«

Gleich muß ich auch kotzen. Ein heftiges Würgen drängt von hinten gegen mein Gaumenzäpfchen.

»Los, hoch doch!« presse ich heraus und packe Thomsen am Kragen. Ich will den sattgelben Urin nicht an meine Hände kommen lassen.

»Wollt mich – wollt mich – wollt mich heut abend – ja – ja – ja eigentlich richtig ausvögeln«, lallt Thomsen, »now I am – in no condition to fuck.«

Der Alte erscheint. Wir packen Thomsen an Fuß- und Handgelenken. Halb tragend, halb schleifend bringen wir ihn bis vor die Klotür. Auch vom Gesicht tropft ihm die trübgelbe Brühe. Seine Uniform ist auf der rechten Seite ganz durchweicht.

»Los, langt mal mit hin!«

Ich muß Thomsen loslassen. Ich stürze ins Klo zurück. In einem gewaltigen Schwall lasse ich alles, was ich im Magen hatte, auf die Bodenkacheln pladdern. Konvulsivisches Würgen zieht mich zusammen. Tränen in den Augen, stütze ich mich mit gespreizten Fingern gegen die Kachelwand. Mein linker Ärmel ist zurückgeschoben. Ich kann das Zifferblatt der Armbanduhr erkennen: zwei Uhr. Mist: Sechs Uhr dreißig kommt der Wagen zur Fahrt in den Hafen.

Auslaufen

Es gibt zwei Straßen zum Hafen. Der Kommandant nimmt die etwas längere, die an der Küste entlangführt.

Mit brennenden Augen nehme ich die Dinge wahr, die an uns vorbeiziehen: die scheckig getarnten Flakbatterien im grauen Morgenlicht. Die Zeichen der Stabsquartiere: große Buchstaben und geheimnisvolle geometrische Figuren. Ein Ginsterwall. Ein paar weidende Kühe. Das hingeduckte Dorf Réception Immaculée. Reklameschilder. Ein halb verfallener Backofen. Zwei schwere Pferde, die am Halfter geführt werden. Späte Rosen in verwilderten Gärten. Das fleckige Grau von Häuserwänden.

Immer wieder muß ich mit den Liddeckeln schlagen, weil mir die Augen vom Tabakqualm schmerzen. Die ersten Bombentrichter: zerstörte Häuser, die den Hafen ankündigen. Alteisenhaufen. Von der Sonne versengtes Gras. Verrostete Kanister. Ein Autofriedhof. Windschiefe, dürre Sonnenblumen. Graue Wäschefetzen. Ein halb zerschossener Denkmalsockel. Gruppen von Franzosen mit Baskenmützen. Lastwagenkolonnen der OT. Die Straße senkt sich in die Flußniederung. In der Senke hängt noch dichter Nebel.

Ein müder Klepper im grauen Dunst vor einem Zweiradkarren mit mannshohen Rädern. Ein Haus mit glasierten Dachziegeln. Eine ehedem glasverkleidete, jetzt aber zerscherbte Veranda, klägliches Eisengerüst. Garagen. Ein Kerl mit einer blauen Schürze im Türrahmen, den speichelnassen Zigarettenstummel an die fleischige Unterlippe geklebt.

Scheppernder Pufferlärm. Abstellgleise. Der zerfetzte Bahnhof. Alles grau. Grau in unzählbaren Nuancen zwischen schmutzigem Gipsweiß und gelblichem Rußschwarz. Scharfe Pfiffe der Rangierer. Ich spüre Sand zwischen den Zähnen.

Französische Werftarbeiter mit schwarzen, primitiv genähten Umhängetaschen. Erstaunlich, daß die trotz der vielen Angriffe immer noch in der Gegend bleiben.

Ein mennigegeflecktes, halb gesunkenes Schiff. Wahrscheinlich ein alter Heringsdampfer, der umgebaut werden sollte zum Vorpostenboot oder was Ähnlichem. Ein auf Holzstapeln hochgebockter Schlepper mit bulligen Unterwasserformen. Weiber mit gewaltigen Hinterteilen in zerschlissenen Overalls, die ihre Niethämmer wie Maschinenpistolen halten. Das Feuer einer Feldschmiede glüht rot durch die graue Milch.

Die stelzbeinigen Kräne stehen alle noch – trotz der dauernden Luftangriffe. Die Druckwellen der Detonationen fanden in ihrem Eisenfiligran keinen Widerstand.

Unser Wagen kommt im Gleiswirrwarr nicht weiter. Hochgebogene Schienen. Die letzten paar hundert Meter zum Bunker müssen wir laufen. Vier dick vermummte Gestalten hintereinander im Dunst: der Kommandant, der Leitende, der II WO und ich. Der Kommandant geht gekrümmt. Sein Blick ist auf den Weg geheftet. Über dem steifen Kragen der Lederjacke hat sich sein roter Schal bis fast an die fleckigweiße Mütze herausgeschoben. Die rechte Hand hat er tief in die Tasche seiner Lederjacke gesteckt, die linke aber nur mit dem Daumen in die Jacke eingehakt. In der linken Armbeuge trägt er eine dick aufgebauchte Segeltuchtasche. Sein breitspuriger Gang wird durch die klobigen Seestiefel mit den dicken Korksohlen noch schwerer.

Ich folge ihm in zwei Schritt Abstand. Hinter mir geht der Leitende. Er hat eine unstete, tänzelnde Gehweise. Über Gleise, die den Kommandanten nicht aus dem Schrittmaß bringen, setzt er in kurzen federnden Sprüngen hinweg. Der Leitende trägt kein Lederzeug wie wir, sondern einen grüngrauen Overall: ein Maschinenschlosser, der sich eine Offiziersmütze aufgesetzt hat. Seine Tasche trägt der Leitende ordentlich am Bügel.

Den Abschluß macht der Zweite Wachoffizier, der Kleinste von uns allen. Aus seinem Gemurmel zum Leitenden hin höre ich heraus, daß er befürchtet, das Boot könne wegen des Nebels nicht zur rechten Zeit auslaufen. Es ist nicht mal der Hauch eines Windes im geronnenen Dunst zu spüren.

Wir gehen durch eine Kraterlandschaft, in der Tiefe jedes Trichters stockt der Nebel wie dicker Brei.