Der Abschied - Lothar-Günther Buchheim - E-Book

Der Abschied E-Book

Lothar-Günther Buchheim

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Beschreibung

Es ist Der Abschied von der unvergänglichen See, den Schiffen, die nicht mehr sind, und den Männern, deren Tage nicht mehr wiederkehren. Zwei Männer machen sich noch einmal gemeinsam auf den Weg: Lothar-Günther Buchheim und der »Alte«, Buchheims Kommandant auf der U 96. An Bord des Nuklearschiffes »Otto Hahn«, dem absurdesten Schiff der deutschen Nachkriegszeit, fahren sie von Rotterdam nach Durban. Unendlich viele Fragen sind noch offen – für die Antworten, beide wissen es, bleibt nicht mehr viel Zeit. »Liest sich wahnwitzig spannend.«Süddeutsche Zeitung

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Für Ditti, die mir den Rücken freihielt

ISBN 978-3-492-97079-2 November 2015 ©

Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2000 Covergestaltung: Büro Hamburg: Heike Dehning, Charlotte Wippermann, Alke Bücking, Kathrin Hilse Covermotiv: Lothar-Günther Buchheim Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Viele, ja die meisten Erzeugnisse moderner Zivilisation sind oberflächlich monströs, wir räumen ihnen aber mit Recht nicht den Rang von Ungeheuern ein. Der dümmste Bauer auf dem fernsten Feldweg nimmt immer noch mehr Notiz von einem scheckigen Pferd als von zwanzig Überlandomnibussen. Und das einmal so moderne Kinderspiel des Bestaunens der wissenschaftlichen Fortschritte ist gänzlich abgekommen, denn die Wissenschaft hat Siebenmeilenstiefel angezogen und den Horizont des Laien übersprungen. Jedenfalls sind wir auch alle schon zu blasiert geworden, um uns in der Haltung von Wilden ertappen zu lassen, die vor einem Grammophon den Mund aufsperren. Sehr wenig Bemerkenswertes ist unter der Sonne übriggeblieben: ich meine Bemerkenswertes in dem besonderen Sinn, der auch Ehrfurcht umfaßt.

Peter Flemming

Der Himmel über Rotterdam ist Grau in Grau. Das Taxi fährt unter der Maas hindurch, dann an einem riesigen Containerhafen entlang, schließlich an einer Raffinerie hin, von der es heißt, sie sei die größte der Welt. Die Destillieranlagen sind schierer Futurismus. Danach nehmen wir eine Parade von schwarzen Tankwagen der Esso ab. Dann folgen wie zur Abwechslung grüngestrichene Tanks, dann graue, dann weiße. Und immer neue Destilliertürme. Hinter den Destilliertürmen das Filigran der Kräne. Von oben gesehen muß sich das Areal, das ich nur regenverhangen und in perspektivischer Verkürzung wahrnehme, unermeßlich weit strecken.

Nach den Kränen die geknickten Insektenbeine der Getreideheber. Immer merkwürdigere Formen tauchen nun auf: graue Kugelbehälter einer Karbonfabrik, riesige Zementabfalltrichter, monumentale kantige Müllverbrennungsanlagen, die halbringförmigen Spanten halbfertiger Lagerhallen.

Über eine Hebebrücke geht es weiter in Richtung »Botlek«, einem Becken dieses Monsterhafens, in dem NS Otto Hahn liegen soll. Das »NS« steht für »Nuklearschiff«, eine Bezeichnung, die auf der ganzen Welt einzig und allein die Otto Hahn führt. Dabei ist die Otto Hahn ein durchaus konventioneller Dampfer, nur die Krafterzeugung ist nicht die normale.

Die Reise soll nach Durban gehen. Straight ahead zur Südspitze Afrikas und dann um die Spitze herum. Kein einziger Hafen dazwischen. Ein langer Seetörn also und für den Alten seine letzte Fahrt. Der Alte ist Sechsundsechzig Jahre alt, Seemann von Jugend an. Im Krieg war er mein U-Boot-Kommandant, eines der hoch dekorierten Asse.

Durban in Südafrika: noch ein ganzes Stück hinter dem Kap, dem Kap der Guten Hoffnung. Für das Schiff gilt Hoffnung nicht. Das Schiff wird bald ausgedient haben.

Als ich vor Jahren mit dem Schiff fuhr, war es noch ein Fliegender Holländer: Es durfte keinen Hafen anlaufen. Im Schiffstagebuch las ich den kuriosen Eintrag: »Von Bremerhaven nach Bremerhaven via Azoren.«

Ich hatte damals viel Arbeit von zu Hause mitgeschleppt. Das war ein grober Fehler. Diesmal will ich den Alten ausfragen– nach Strich und Faden: Wir haben viel Zeit vor uns.

Meine zweite Reise mit dem Nuklearschiff.

»Die erste Reise war angenehm, o Jonny! Die zweite Reise war unbequem, o Jonny!« geht es mir durch den Sinn. Hoffentlich wird das nicht stimmen…

Der Abschied nach meiner ersten Reise war trist. Er hätte gar nicht trister sein können: Winter. Schlechtes Wetter. Alles mögliche ging schief.

Das soll meine zweite Reise mit der Otto Hahn werden. Gegen Ende der ersten hatte mir der Alte auf der Seekarte gezeigt, zu welchem Liegeplatz das Schiff in Bremerhaven verholt werden sollte. Das konnte eine Ewigkeit dauern: durch die Schleuse und dann durch mehrere Hafenbecken.

»Hier geht’s nur über den Achtersteven«, sagte der Alte damals, und, als hätte er meine Gedanken erraten: »Von der Schleuse bis Festmachen mindestens zwo Stunden.«

Dabei bewegte mich nur ein Gedanke: nichts als runter von dem Kahn!

Aber daran war nach dem Festmachen noch nicht zu denken. Ich hatte meine Kammer abgeschlossen und lungerte an Oberdeck herum, weil der Alte noch keine Zeit hatte für ein richtiges Abschiednehmen.

Da fuhr auf der Pier ein kleines signalrotes Auto vor: die Kapitänsfrau! Weil sich kein Mensch um sie kümmerte, half ich ihr über die steile Hühnerstiege und den Niedergang herauf und weiter zur Kammer des Alten. Heftig schnaufend erklärte ich ihr dabei: »Der ganze Salon sitzt noch voller Typen von der Gesellschaft. Wasserschutzpolizei ist auch da, der Hafenarzt– und was weiß ich noch.«

Als wäre es gestern erst passiert, ist mir alles wieder gegenwärtig.

»Dann kann das noch Stunden gehen«, höre ich die Kapitänsfrau.

Die Sitzung im Salon will sie nicht stören, wir machen es uns also in den grünen Sesseln der Kapitänskammer bequem.

»Wo hier der Whisky ist, weiß ich«, sage ich und hole die Flasche aus dem Papierkorb neben dem Schreibtisch.

Während ich Gläser und Eiswürfel bringe, redet die Kapitänsfrau ohne Unterbrechung. Ich tue, als sei ich ganz Ohr, hänge aber meinen Gedanken nach. Trotzdem höre ich immer wieder mal aus dem Redefluß das Wort »Atmosphäre« heraus. »Eine reizende Atmosphäre«, »eine bezaubernde Atmosphäre«, »da hatte alles so viel Atmosphäre«.

Als sie ihren Whisky hat, sagt die Dame: »Sie wollen noch was über den U-Boot-Krieg schreiben? Das verstehe ich nicht. Wen interessiert denn das heute noch? Das ist doch alles schon sooo lange her.«

Ganz Höflichkeit, bestätige ich ihr: »Ja, Schnee von gestern, würde ich sagen.«

Nach dem dritten Glas geht die Kapitänsfrau aus sich heraus. Ich erfahre, daß der Alte nach dem Krieg als Steuermann auf einem Kümo fuhr, der ihrem Vater gehörte. An der argentinischen Küste von Hafen zu Hafen und immer die ganze Familie an Bord.

Die Kapitänsfrau hebt geziert ihr Glas, wobei ein Lächeln über ihr Gesicht geht. Sie trinkt mit vorgestülpten Bardot-Lippen und läßt für einen Moment ihre rosa Zungenspitze sehen.

»Und nach ein paar Wochen war schon Hochzeit«, sagt sie mit einem merkwürdigen Anflug von Rechthaberei in der Stimme. Und dann erzählt sie weiter, wie sie an Bord mit dem Alten zurechtgekommen sei.

Mitten in die Bekenntnisse der Kapitänsfrau hinein platzt ein untersetzter Mittvierziger, picobello im schwarzen Anzug, der sich als »Schräder!« vorstellt: der Agent des Schiffes.

Herr Schrader trägt die Haare mit Pomade angeklitscht scharf nach hinten gekämmt. Die paar Meter vom Schott her legte er fast tänzelnd zurück. Nun aber läßt er sich wie ein Sack in den dritten Sessel fallen, lehnt sich weit zurück und streckt seine Beine von sich.

Der Kapitänsfrau verschlägt es die Sprache: Man kann die Beule, die sein Gemächte in der Hose macht, deutlich sehen.

Ich biete Herrn Schrader einen Whisky an, doch Herr Schrader lehnt ab, er dürfe nichts mehr trinken, er habe – und dabei zwinkert er mir zu, als ginge es um Obszönitäten– schon ganz gehörig einen gezwitschert. Die Erklärung für die Sauferei folgt auf dem Fuß: »Ich habe nämlich eben einen Freund beerdigt.«

Das erklärt, warum Herr Schrader einen schwarzen Anzug trägt, samt schwarzer Krawatte.

»Fünfunddreißig Jahre– Krebs!« informiert uns Herr Schrader mit gedämpfter Stimme.

»Erst fünfunddreißig?« kommt es von der Kapitänsfrau. »Und schon Krebs?«

Herr Schrader richtet seine Augen fest auf die Kapitänsfrau und sagt bitter: »Ja, Hodenkrebs!«

Danach ist erst mal Ruhe. Die Kapitänsfrau gibt sich verwirrt. Dann fragt sie zaghaft: »Gibt es denn so was?«

»Ja!« antwortet Herr Schrader und ist jetzt todernst.

Nun sitzen wir wörtlos herum. Herr Schrader starrt halb verglast vor sich hin, die Kapitänsfrau wendet sich schließlich ganz langsam aus der Hüfte zu mir her.

Ich weiß, daß es jetzt an mir ist, etwas zu sagen, aber was nur? Wie kann ich nur diesem Gespräch einen Drall zum Optimismus hin geben? Herr Schrader preßt die Lippen aufeinander, dann reißt er plötzlich den Mund auf, daß es dumpf klackt. Herr Schrader schluckt trocken und fährt sich mit langer Zunge über die ganz Breite der Oberlippe. Erst mit den Fingern der linken, dann der rechten Hand trommelt er Wirbel auf die Sessellehnen und läßt sich schließlich zehn Zentimeter tiefer sinken. Es würde mich nicht wundern, wenn er jetzt auch noch seinen schwarzen Schlips löste.

Am liebsten würde ich diesen Stinkstiefel beim Kragen packen, aus dem Sessel hieven und aus der Kammer befördern– mit einem Tritt in den Hintern. So aber sage ich nur: »Das ist schlimm, Herr Schrader.«

Herr Schrader richtet nun seine schwimmenden Augen auf mich. Gleich wird er losschluchzen, denke ich und sage schnell: »Aber Sie leben!«

Herr Schrader nickt gedankenschwer und erwidert: »Da haben Sie eigentlich recht!«

Dann greift er zur Flasche und gießt sich das große Glas halbvoll.

»Sodawasser?« frage ich ihn.

»Nein!« sagt Herr Schrader entschieden und schüttet sich den Whisky mit weit nach hinten gelegtem Kopf in den Schlund.

Allmählich wird’s Zeit für mich, aber der Alte ist immer noch im Salon beschäftigt. Seine Besucher haben es sich anscheinend bequem gemacht. Da kann er nicht einfach aufstehen und verschwinden. Ich verfalle auf eine List, vom Maschinenbüro aus rufe ich im Salon an: »Hier ist der Direktor für Arbeitsschutz beim Senat der Hansestadt Bremen…«

Damit eise ich den Alten für ein paar Minuten zum Abschiednehmen los.

»Mach’s gut! – Laß dich nicht unterkriegen!– Also: Mast- und Stengebruch und daß mir keine Klagen kommen!– Und laß dich bald wieder sehen!«

Und dann die Klettertour über die Gangway hinab bis zum Podest. Nun die Stufen am frisch gebauten Gestell hinunter, über einen amerikanischen Ponton hinweg, dann auf einer Laufplanke durch den Schlamm. Neben dem wartenden Auto ein Blick zurück. Ich war noch nie so nahe am Schiff, um es mit einem Blick fassen zu können. Ich mußte den Kopf hin und her drehen und die Augen vom Bug bis zum Heck wandern lassen.

Mein Gott, war der Dampfer auf einmal groß! Viel größer, als er mir während der Bordtage vorgekommen war. Und wie er über die Dalben hochwuchs! Noch einmal konnte ich seine merkwürdige Silhouette mit dem Blick abtasten: zwei mächtige Aufbauten statt einem.

Kein Mensch war zu sehen. Ein verlassenes Schiff! Niemand da, dem ich winken konnte.

Milchiger Dunst stieg vom Wasser hoch, Gâre-du-Nord-Stimmung. Quai des Brumes. Befremdliche Ruhe, kaum ein paar verlorene Töne. Nur von Ferne das Geknatter von Niethämmern.

Ich lasse anhalten. Der Taxifahrer muß mich für einen komischen Vogel halten. Soll er doch. Ich will photographieren. Will ich wirklich? Will ich nicht nur das Wiedersehen mit dem Alten noch ein bißchen hinauszögern?

Aluminiumfabriken ziehen am Taxifenster vorbei, eine riesige Parade weißgestrichener Tanks, dünne, schwarze Masten, die orangefarbene Flammen aufgesetzt haben: Da wird Gas abgefackelt. Möwen fliegen dicht über die Fackelparade hin. Es sieht aus, als machten sie Mutproben.

Immer neues schwarz und weiß gestrichenes Geschlänge von Destillieranlagen. »Raffinaderij« nennen sie sich auf holländisch. Ich werde das Wort, das sich mir mit Riesenbuchstaben aufdrängt, meinem geringen holländischen Wortschatz einverleiben.

Das übliche: Die Termine haben sich verschoben. Am 6.Juli sollte das Schiff hereinkommen, am 7.Juli auslaufen. Jetzt ist schon der 8.Juli. Es hat Nordweststürme gegeben, gegen die das Schiff bei seiner Heimreise nicht mit der gewohnten Geschwindigkeit von fünfzehn Knoten ankam. Mit Nordweststürmen war in dieser Jahreszeit kaum zu rechnen.

Vor Mitternacht – das weiß ich– wird die Otto Hahn nicht auslaufen. Jetzt ist es noch nicht mal Abend.

Warum will ich überhaupt wieder auf dieses vermaledeite Schiff? Mal wieder raus aus dem Trott?– das wäre eine Erklärung. Aus alter Verbundenheit mit dem Alten?– eine andere. Aber da kommt sicher noch mehr zusammen.

Der Alte und ich, wir wollen uns davor hüten, daß diese Reise zu einer sentimentalen gerät.

Ich habe eine schöne Ausgabe von Laurence Sternes »Sentimental Journey«. Lessing war es, der dem Übersetzer »Empfindsame Reise« als deutschen Titel riet. »Empfindsam«– einverstanden.

Als ich das erste Mal Durban hörte, wußte ich auf Anhieb nicht, wo Durban liegt. Nun aber fahre ich hin, mehr als drei Wochen lang und dann die gleiche Zeit zurück. Das macht mit der Hafenliegezeit mindestens sieben Wochen. Für eine so lange Absens von den täglichen Geschäften fühle ich mich in Rechenschaftsschuld vor jenem meiner Engel, der den Verbleib meiner Tage registriert: Diesen Seetörn habe ich mir als eine Art Sanatoriumsaufenthalt verordnet. Abschalten! lautete der Imperativ, der aus dem halben Entschluß zur Reise einen ganzen machte.

Aber da war noch etwas anderes: Ich war auf der letzten Reise mit meinen Erkundungen des Schiffes und des Alten im wahrsten Wortsinn auf halbem Weg stehengeblieben: Das Schiff hatte mitten im Atlantik, zwischen Bremerhaven und den Kanaren, kehrtgemacht, und zwar mit einem Williamsturn, wie mir bedeutet wurde, ohne daß ich die Besonderheit dieses Manövers verstand.

Dieses Mal hat das Schiff einen Zielhafen. Das mag selbstverständlich klingen, aber damals hatte es eben keinen, und die Stimmung an Bord war dementsprechend mies.

Mein schlimmstes Versäumnis während der ersten Reise mit der Otto Hahn: Ich hatte mich nicht genügend mit seinem Antrieb befaßt, dem »Fortschrittlichen Druckwasserreaktor«. Die Reise war zu kurz. Wenn ich den Physiker an Bord, »die Forschung« genannt, und den Chief miteinander fachsimpeln hörte, fühlte ich mich hilflos wie ein Eleve im äußersten Vorhof der Weisheit.

Als ich 1937 Abitur machte, war von Kernspaltung noch keine Rede. Erst 1938 entdeckte Otto Hahn gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Fritz Straßmann die Kernspaltung des Urans und des Thoriums. Diesmal habe ich mich belesen und fühle mich halbwegs gerüstet.

Ich bin gespannt, wer von den alten Leuten mit auf die Reise geht. Der Bootsmann war ein verrücktes Huhn. Obwohl die See hoch ging, hatte er eine Tischkreissäge an Oberdeck festgelascht und schnitt Kistendeckel in handlange Stücke. Mir wurde ganz übel bei dem Anblick: Ich sah schon blutige Finger über Bord rollen. Bei solchem Seegang mit der Kreissäge zu arbeiten war ein starkes Stück.

Später zeigte mir der Bootsmann mit sichtlichem Stolz fünf große Säcke, die er hinter der Luke vier festgelascht hatte: »Alles Brennholz! Freut sich Muttern. Das reicht für den nächsten Winter. Ich brauch’s nämlich nur zum Anheizen.«

Ich zeigte ihm den Rücken meiner linken Faust, Daumen, Zeigefinger und kleinen Finger hochgestellt: »Raten Sie mal, Bootsmann, was das bedeutet!« Ich spannte ihn nicht lange auf die Folter: »Die Bierbestellung eines Sägewerksbesitzers: fünf Glas Bier.«

Der Bootsmann begriff den Witz gleich. Ein guter Mann, umsichtig, schnell von Kapee und ein vorsorgender Familienvater. Was will der Mensch mehr?

Er hatte auch ein paar leere Tonnen an Oberdeck festgezurrt. Sie hatten keine Funktion. Sie waren nur Futter für den Rost: »So, Rost, nun kannst du schön fressen!« hörte ich ihn murmeln.

Wahre Gebirgszüge von braunschwarzem Eisenerz legen sich vor den Blick. Die Straße macht eine Linkskurve, und endlich öffnet sich der Ausblick auf das Hafenbecken: Wir fahren jetzt an den Gebirgszügen entlang. Auf der anderen Seite mennigerot gestrichene Schiffsleiber hinter einem Gewirr von Krangestängen.

Dann noch ein fürchterliches Stück Straße: Tiefe Schlaglöcher wuchten mich nach links und nach rechts, als säße ich auf einem Kamel und nicht in einem holländischen Taxi.

Zwischen den aufeinander zulaufenden Schrägen zweier gewaltiger Kohlenhalden steht, wie das Korn in einer riesigen Kimme, ein Dampferschornstein! Kurioses Bild, für das ich wieder halten lasse. Die Funnelmarke ist die der HAPAG.

Ich gehe ein paar Schritte auf mein Motiv zu, um den Schornstein größer ins Bild zu bekommen– da merke ich: Der Dampfer hinter den Kohlenbergen ist die Otto Hahn. In all dem Grau, Schwarz und Rostbraun weiß wie aus dem Ei gepellt: Erst als ich ganz nahe heran bin, erkenne ich ein paar Schmutzspuren vom Entladegeschäft. Der Alte hat mir ja geschrieben, daß man der Otto Hahn die Ringelsocke der HAPAG übergezogen hat statt der alten gelbblauen Schornsteinmarkierung mit dem Signet für den Atomkern. Die schwarz-weiß-rot geringelte gelbe Socke bedeutet: Das Schiff wird jetzt von der HAPAG bereedert.

Zwei Autos stehen verlassen unter dem Kran auf der Pier. Kein Mensch ist zu sehen. Natürlich: Sonnabend.

Da entdecke ich den Alten! Er steht hoch über mir mit abgespreizten Armen am Ende der Gangway. Ein Seemann ist schon unterwegs, um sich mein Gepäck zu schnappen.

»Da bist du endlich! Was war denn?«

»Mit dem Flug nach Amsterdam hat es nicht geklappt. Da ist eine Maschine ausgefallen. Ich wollte viel früher da sein.«

Prüfende Blicke hin und her: Ob der Alte wieder ganz auf dem Damm ist? Seinen Posten hat ein Jüngerer übernommen. Für den Alten war es fraglich, ob er noch einmal fahren könnte. Beim wochenlangen Liegen auf der Reede vor Angola hatte er sich in der Tropenhitze eine Lungentuberkulose geholt, die ihn fast über den Jordan gebracht hätte. Der Bordarzt hatte zwar Strahlenschutzlehrgänge absolviert, aber eine simple Tb zu diagnostizieren war er nicht in der Lage. Schlimm für den Alten: Operation und über ein Jahr Krankenhaus, um die verschleppte Krankheit auszukurieren.

Jetzt ist er nicht mehr der »eigentliche« Kapitän des Schiffes. Der Alte fährt nur mehr als Urlaubsvertreter.

Kaum Leute zu sehen. Der größte Teil der Besatzung, so erfahre ich vom Alten, wird ausgetauscht. Die alten Leute sind schon von Bord, der Bus mit den neuen kommt aus Hamburg. Er sollte längst da sein.

Alle Luken sind schon wieder dicht. Die Ladung des Schiffes ist gelöscht: ein Haufen Eisenerz, der jetzt unter den riesigen Gebirgsketten an Land neben dem Schiff liegt. Schwer vorstellbar, daß das 12500Tonnen sein sollen.

Ein serviler Typ kommt auf mich zu: »Ihr Gepäck ist schon in Ihrer Kammer. In der Eignerkammer.«

Bei meiner ersten Reise wohnte ich vorn im Brückenaufbau. Bis in die Messe, die im achteren Aufbau liegt, war es ein gutes Stück Weg– Zwangsweg: Wollte ich etwas zu essen haben, mußte ich laufen. Ich hatte nichts gegen die aufoktroyierte Körperbewegung vor und nach den Mahlzeiten, nur bei Kälte, Regen und Sturm war es lästig.

In der Eignerkammer im achteren Aufbau logiere ich in der Nähe der Futtertröge. Der Alte hat mir am Telephon die Kammer im Brückenaufbau ausgeredet: Da dröhne jetzt ein Kühlschrank in der Pantry nebenan. Und außerdem habe der neue Kapitän fünf Waschmaschinen gekauft und eine davon direkt vor meiner ehemaligen Kammer aufstellen lassen– samt Trockenschleuder. Der Lärm sei kaum auszuhalten. Ich sei in der Eignerkammer über die Maßen privilegiert.

Gut, dann schauen wir uns erst mal die Kammer an. Die mir zugedachte Behausung, eine wahre Luxussuite mit Schlaf- und Wohnraum, will mir nicht gefallen. Eine Großfamilie hätte darin Platz. Mit diesem Luxus wird es mir wohl ergehen wie mit dem von aufgefexten Hotelzimmern: Was habe ich davon, wenn ich im Dunkeln auf der Koje liege. Untertags werde ich fast immer mit der Kamera unterwegs sein.

Einen Kühlschrank gibt es auch. Es ist aber nichts darin.

Ich lasse mir keine Zeit, meine Sachen ordentlich wegzustauen. Eine merkwürdige Spannung treibt mich um, wie immer vor einer Ausreise: Ich will, ehe wir ablegen, noch einmal telephonieren. Das einzige Landtelephon, das eigentlich nur der Alte und der Chief benutzen dürfen, ist im Leitstand angeschlossen. Der Alte hat den Chief gewahrschaut. Weil ich nicht aufgepaßt habe, bin ich auf meinem Weg zum Leitstand in die Irre gelaufen, obwohl ich hier Bescheid wissen müßte. Also: Schott auf – Schott dicht– Niedergang hoch – Längsgang– Quergang – Längsgang– neues Schott auf. Dieses Schiff ist ein besonders kompliziertes Labyrinth– ein horizontales und vertikales Labyrinth zugleich.

Endlich finde ich das Schott mit der Aufschrift »Vorsicht starker Maschinenlärm!«. Es gegen den Luftsog aufzuziehen kostet Kraft. Ölig warmer Dunst schlägt mir entgegen. Ich höre nur gedämpften Maschinenlärm von unten herauf. Mein Blick fällt durch silbern blinkende Laufroste hindurch nach unten – wie durch mehrere Schichten von Spinnennetzen– bis in die Tiefe des Schiffes. Dort drängen sich zwischen dick bandagierten Rohren die Hochdruck- und Niederdruckturbine und daneben das Getriebe.

Ich atme durch: Ich fühle mich wieder wie zu Hause. Ein Kranbalken ragt dicht neben mir in den Maschinenraumschacht hinein. Dieser Schacht geht durch sämtliche Decks bis zum Kiel des Schiffes hinunter und nach oben bis zum Schornsteindeck hinauf: fast dreißig Meter. In die Tiefe führen kurze, blanke Eisenleitern von einem Geschoß aus Eisenrosten zum anderen– fast von der gleichen Art wie die Feuerstiegen an amerikanischen Häusern.

Ich klettere Sprosse um Sprosse die steilen Stiegen hinunter, gerate auf eine Galerie, finde eine neue Eisenstiege. Auf jedem Absatz nehme ich neue Perspektiven wahr, neue Formen, neue Formüberschneidungen. Maschinenkathedrale fällt mir ein. Aber hier ist keines von Rilkes wiegenden Gerüsten, hier ist alles präzise festgeschweißt und -genietet.

Am liebsten würde ich mich niederhocken und die Stimmung dieser riesenhaften Maschinenhalle ganz in mich aufnehmen, aber im Leitstand wartet der Leitende Ingenieur, der Chief, auf mich.

Das Summen, wie von tausend Bienenschwärmen, wird lauter, je tiefer ich gelange. Gelbes Licht fällt aus einer Reihe von Fenstern schräg über mir. Eine Art Veranda hängt in halber Höhe. Hinter den Fenstern glimmen rote Signalaugen. Das ist der Leitstand. Ich muß wieder höherklettern.

Als ich das Schott zum Leitstand öffne, schlägt mir angenehme Kühle entgegen. Mir ist, als trete ich aus einer lärmenden Werkhalle heraus direkt hinein in den Operationssaal einer Klinik.

»Mit dem neuen Chief, Bornemann, kommst du schon zurecht, der ist in Ordnung«, hat der Alte mir gesagt.

Der Chief kommt mir mit ausgestreckter Hand entgegen und fragt, ohne irgendeine Begrüßungsfloskel: »Sie kennen unseren Kapitän?«

»Schließlich nicht die erste Reise, die ich mit ihm mache.«

»Ich meine schon länger– bevor Sie auf diesem Dampfer gefahren sind«, insistiert der Chief.

Der Chief läßt mich mit seinem Blick nicht los. Ich kann jetzt nicht kneifen. »Ja, damals hatte das Schiff freilich nur siebenhundertfünfzig Tonnen, und der Typ hieß SiebenC.«

Da strahlt der Chief und sagt: »Wußte ich’s doch! Der Kommandant im Boot ist unser Kapitän.«

»Erraten!«

»Und der Aktionsradius war auch nicht von schlechten Eltern«, sagt der Chief.

»Und die Seetüchtigkeit schon gar nicht«, gebe ich zurück. »Wenn man einfach die Klappe zumachen kann, hat das sicher auch seine Vorteile.«

Der Chief ahnt nicht, wie wichtig für mich seine Neugier ist: Er hat schon zwei, drei Fahrten mit dem Alten als Kapitän auf diesem Schiff hinter sich und weiß trotzdem nichts von dessen kriegerischer Vergangenheit. Der Alte hat nie etwas herausgelassen. Auch der Chief auf meiner ersten Reise hatte davon keine Ahnung.

Jetzt kommt es mir selber merkwürdig vor, daß ich nur alle paar Jahre Nachricht vom Alten erhielt. Immer auf Postkarten. Die erste Postkarte kam aus Las Palmas– Spätherbst 1949. Ich traute meinen Augen kaum. Las Palmas de Gran Canaria! Und da stand: »Seit Anfang September als Skipper unterwegs auf einer Segeljacht«, und auch: »Vier Mann Besatzung. Haben an Papieren nur Kennkarte. Zielhafen Buenos Aires. Werde dort wahrscheinlich auf Dampfer anmustern. Falls günstig, auf Walfänger in die Antarktis.«

»Ich muß mal eben in den Verstärkerraum«, sagt der Chief und läßt es wie eine Aufforderung zum Mitkommen klingen.

Ich trotte also hinter ihm her. Im Verstärkerraum hockt ein Assi in tiefer Kniebeuge und liest Skalen ab. Die Werte notiert er in einer Kladde auf seinen Schenkeln. Als der Assi den Chief sieht, richtet er sich auf, und die beiden reden ein paar Minuten technisches Rotwelsch. Schließlich wendet sich der Chief mir zu und erklärt wie ein Fremdenführer: »Hier im Verstärkerraum ist die gesamte Nuklear- und Prozeßinstrumentierung untergebracht.«

Ich nicke und frage: »Was ist Prozeßinstrumentierung?«

Der Chief faßt sich an seinen blonden Bart, als könne er so besser nachdenken: »Das läßt sich nicht mit zwei Worten sagen. Mal später…«

Wieder im Leitstand, pflanzt sich der Chief hinter dem Steuerpult auf. »Von hier aus wird alles gesteuert: Reaktor, Turbinen, alle Hilfskreisläufe. Und hier«, der Chief macht eine Rekommandeursbewegung gegen die Rückwand hin, »erscheinen alle Meßwerte, alle Informationen, auch die über das Arbeiten der Haupt- und Hilfsmaschinen.«

»Das Herz des Schiffes!« sage ich.

»Nein. Eher das Hirn der Maschine.«

Da habe ich mein Fett weg. Ich lasse den Blick umherwandern: Der Schemel erlaubt es mir, mich dabei um 360Grad zu drehen. Die Wand sieht aus wie mit hochgestellten Mensch-ärger-dich-nicht-Spielmustern tapeziert.

Ich fühle mich an Fernsehbilder aus Houston in Texas erinnert. Die gespannten Blicke auf die Monitore, die Schaltkreise an den Wänden, die klinische Atmosphäre: Alles sieht aus wie bei einem Raumschiffstart. Hier könnte man Szenen für einen Science-fiction-Film drehen, sage ich mir und nehme mir sogleich vor, mich an einem Treatment zu versuchen. Laut sage ich: »Sieht alles nach Science-fiction aus.«

Der Chief bedenkt mich dafür mit einem zweifelnden Blick. Er hat für solche Vorstellungen wohl nichts übrig. Für ihn ist hier alles normal. Dies ist seine ganz und gar reale Welt. Wer sich hier nicht heimisch fühlt, ist in seinen Augen wahrscheinlich ein Spinner.

Er stützt sich mit steif durchgedrückten Armen auf das Steuerpult. Ich merke, daß er zugleich mit den Kontrollämpchen auch mich beobachtet. Ich werde mich hüten, noch einmal ins Fettnäpfchen zu treten. Ich will nicht nur staunen, wie bei der ersten Reise, ich will alle Anlagen kapieren. Aber vor allem will ich in den SB, den Sicherheitsbehälter. Schon deshalb werde ich mich mit dem Chief gutstellen müssen.

Gleich wage ich einen Vorstoß: »Wenn Sie demnächst mal im SB zu tun haben sollten, wäre ich gern dabei. Das letzte Mal habe ich es nicht geschafft. Nun fehlen mir ein paar Aufnahmen.«

Der Chief betrachtet mich nur aus großen Augen. Nicht einmal die Haltung seiner Arme ändert sich.

»Ja!« sagt er endlich knapp, »ich werde Sie wahrschauen– vorausgesetzt, daß der Kapitän einverstanden ist.«

»Am besten, Sie fragen ihn gleich heute abend«, gebe ich zurück.

Als ich gerade sagen will: »Eigentlich bin ich ja zum Telephonieren gekommen«, fragt der Chief: »Wie ist denn Ihre Nummer?«

Der Chief meldet das Gespräch unter seinem Namen an und sagt: »Der Zahlmeister berechnet es Ihnen.«

»Der Zahlmeister?« frage ich zurück. »Wir hatten doch hier eine Purserin.«

»Die ist nicht mehr an Bord«, sagt der Chief und fügt in einer merkwürdig bedeutungsvollen Tonlage noch »leider« an.

Während ich auf die Verbindung warte, schaue ich mich um: Über dem Steuerpult leuchtet in einem Geviert weiß die Schrift »Reaktor in Betrieb«. Links und rechts davon Schemata. Dazu viele kreisrunde Felder mit Skalen, grüne und rote Quadrate, dazwischen Leitwege. Stellwerk? Cockpit? Moderne Kunst?

Auf einem Monitor kann ich die Tür zum Leitstand von außen sehen. Dieser Raum hier ist ein streng abgeschirmter Bereich. Ich lese die Plastikschildchen unter den gelben Skalen auf dem immensen Steuerpult: »Ventil Vollast«, »Regler Primärdruck«, »Neutronenfluß«, »Kontrollstab1Korrektur«, »Kontrollstab2Korrektur«, »Kontrollstab3Korrektur«, »Kontrollstab4Korrektur«, »Kontrollstab1234GruppeA«, Kontrollstab5678GruppeB«, »Kontrollstab9101112GruppeC«, »Kontrollstäbe1 bis 12Testbetrieb«.

Die Schalter, die dazugehören, liegen auf »Null«. Man kann sie auch auf »Senken« oder auf »Heben« stellen. Unter anderen Skalen steht: »Speisewasserschwachlastventil«, »Schwachlast Drehzahl P2SS«, »Speisewasservollast«.

Der Reaktor läuft, wie ich auf dem Manometer sehe, auf »Hotellast«.

Der eigentliche Kapitän, Molden, den der Alte auf dieser Reise vertritt, ist noch an Bord. Ich höre beim Übergabepalaver in der Kapitänskammer, was sich die beiden zu sagen haben. Molden, ein schwerer Mann, scheint kein Kind von Traurigkeit zu sein. Ein ums andere Mal unterbricht er seine Rede mit einem dröhnenden Gelächter. Das steckt den Alten an. Ich habe ihn kaum je so viel lachen hören. Wer hier zum Schott hereinkommt, muß glauben, er sei in eine fröhliche Trinkrunde geraten. Vielleicht hat Molden tatsächlich ordentlich einen gezwitschert.

»Die Fritzen von der HSVA haben Zeit eingeräumt bekommen, die sie für ihre Schlängelfahrten haben wollten«, sagt er.

»Ab Biskaya?«

Prompt fühle ich mich hilflos, ein Dilettant zwischen Fachleuten. Schlängelfahrten? Nie von Schlängelfahrten gehört. Von HSVA auch nicht.

»Ja, ab Biskaya! Es ist ganz klar gesagt worden: Jegliche Unterstützung, die im Rahmen des Üblichen liegt– das heißt keine Crash-stops oder Crash-Manöver vor und rückwärts und auch kein Flachwassermanöver. Dagegen hab ich ein Veto eingelegt. Wenn wir Flachwassermanöver fahren, gibt’s zu viele Vibrationen.«

»Wollten die tatsächlich Flachwasser haben?« fragt der Alte.

»Ja. Flachwasser wäre auf diesem Törn praktisch nur südlich von Cap Blanc möglich, aber dort ist ja alles in Bewegung– zu viele Fischer. Das ist gestorben. Jetzt sind sie auch mit ruhigem Wasser zufrieden. Ich denke mir: am besten südlich der Neckermann-Islands.«

Auf dieses Stichwort kann ich mir wenigstens einen Reim machen: Neckermann-Islands– das können nur die Kanarischen Inseln sein.

»Da sollen wir schon anfangen? Ich denke, das soll einfach so im Weiterfahren gemacht werden und ohne Zeitverlust?«

»Nee. Zwei Tage dauert das ungefähr. Achtundvierzig Stunden werden schon verbraten. Bis Dakar, würde ich sagen, acht Tage plus zwei für Versuche, also zehn Tage«, erklärt Molden.

Ich hocke da und staune über dieses Programm. Mit Zwischenfragen will ich nicht stören. Lieber abwarten, später den Alten ausfragen. Vorläufig bloß zuhören.

»Also so achtzehnten, neunzehnten Dakar. Die Leutchen von der HSVA wollen diese Ankunft Dakar wahrscheinlich möglichst so legen, daß sie grade eben das Flugzeug verpassen«, sagt Molden, lacht dröhnend und fährt fort: »Das nächste geht erst zwei Tage später raus. Aber das ist abgesegnet. Das kann man machen. Sie müssen sich bitte noch mit der Agentur in Verbindung setzen, Telegrammadresse, Telephon, alles da.«

»Und Dakar hat das Absetzen genehmigt, wir können in die Hoheitsgewässer rein? Und die Leute werden auf Reede abgeholt?«

»Ja, auf Reede. Ist alles abgesegnet«, sagt Molden wieder, »das einzige ist die Zwanzigtagenotiz für Durban. Sie brauchen ja einundzwanzig oder zweiundzwanzig Tage bis da hinunter, durch die Verzögerung bedingt. Die Zwanzigtagenotiz an die African Coaling ist von Bord aus zu geben.«

»Über zwanzig Tage? Ist das notiert in der Charterparty?« fragt der Alte.

Und weiter geht das Frage-und-Antwort-Spiel: »Kosmos bekommt ETA zweimal in der Woche, montags und donnerstags. Rapps oder Rapp heißt doch der Sachbearbeiter bei Kosmos?«

»Ja, genau!«

»Man sagte mir, es sei eine Charter an Bord? Und die Adresse ist auch da?«

»Ja, ja.«

Der Dialog stockt. Zum Glück weiß ich, was eine Charter ist, die Beladungsvereinbarung zwischen Befrachtern und Abladern.

»Was haben wir denn noch?« fängt Molden wieder an. »Ich glaub, das wär’s! Ach ja, es fährt außerdem noch eine Ozeanographin mit, die Messungen vornimmt. Und der Arzt ist auch neu.«

»Also drei Wissenschaftler von der HSVA und eine Ozeanographin?«

»Die Ozeanographin wird nicht in Dakar ausgeschifft. Die fährt die ganze Reise mit und soll im Rahmen des Möglichen auch ein bißchen unterstützt werden. Vielleicht stellen Sie mal hier und da einen Mann zur Verfügung…«

»Mann zur Verfügung, sagten Sie?« fragt der Alte.

Da hebt ein großes Gelächter an.

»Jawoll. Die ist eben nicht so leicht zu befriedigen.«

Herr Molden lacht, als wolle er explodieren. Der Alte guckt einen Moment sauertöpfisch, muß dann aber grinsen. Jetzt mache ich mir schnell ein paar Notizen: HSVA, Kosmos, ETA… Keine Ahnung, was das bedeutet.

»Gibt’s noch die Mammiletters?«

»Ja: drei Stück pro Nase.«

Ich kritzele auf meinen Zettel: »Mammiletters?«

»Machen Sie jetzt richtig Urlaub?« fragt der Alte.

Aha, endlich sind sie fertig, denke ich.

Doch das Palaver ist damit noch immer nicht zu Ende. Alles wird noch einmal durchgekaut.

Ich höre nur mit halbem Ohr zu und stutze erst, als ich wieder African Coaling höre: »…die Party von der African Coaling– das werden sechzig bis siebzig Leute.«

»Aber die Party doch nicht an Deck? Da ist es doch jetzt nicht mehr klimatisch so ganz…«

»Durban ist nicht so wie Port Elizabeth. Durban ist schon wieder ein bißchen wärmer.«

»Trotzdem, abends kann es da ganz hübsch kalt sein«, wirft der Alte ein, »und ordentlich wehen kann’s auch, deshalb bin ich der Ansicht, daß man das unter Deck machen sollte.«

Molden explodiert schon wieder vor Lachen: »Unter Deck! Natürlich.«

Der Alte lacht nicht mit. Er will das Gespräch zu Ende bringen: »Also Gastgeber ist African Coaling?« Er klingt ungeduldig.

»Ja. Es sollen noch paar zusätzliche Leutchen erscheinen. Aber da kriegen Sie rechtzeitig Bescheid.«

»Die wollen immer ihren ganzen Verein dabeihaben«, raunzt der Alte, »also Sie meinen: sechzig bis siebzig Leute?«

»Meine Schätzung! Aber Genaues weiß man eben nicht«, und Molden lacht schon wieder, »Auslaufen Mitternacht– soll das bleiben?«

»Ja«, sagt der Alte.

Ich atme tief durch, endlich Schluß! Aber da fängt Molden wieder an, und die beiden reden, unterbrochen von Moldens brüllendem Gelächter, über Personalwechsel. Erst als ich den Alten sagen höre: »Wie heißt der Erste Offizier?«, wache ich aus meinem Halbschlaf auf.

»Becker, Becker.«

»Schon länger an Bord?«

»Ja– drei Reisen.«

»Wer macht Ladung?«

»Ladung macht hier unser Lademeister Meier– aber zusammen mit Herrn Becker.«

»Wir laden also Kohle«, sagt der Alte.

»Anthrazit!«

»Anthrazit?«

Das bloße Wort Anthrazit bringt Molden wieder zum Lachen. Auch der Alte verzieht sein Gesicht zu einem Grienen. Er gibt sich gutwillig: Wir sind schließlich keine Spaßverderber! Wenn ich nur wüßte, was es bei Anthrazit zu lachen gibt. Ich finde keine obszöne Bedeutung von Anthrazit.

»Wir werden das so hinfixen«, fängt der Alte noch einmal an, »achtzehnten, spätestens neunzehnten Dakar. Agent Dakar ist Usima. Telegrammadresse und Telexadresse hab ich.«

»Also dann ist soweit alles in Ordnung«, sagt Molden, »und wir können endlich einen zur Brust nehmen– steht schon da!

Als Molden von Bord und der Alte der verantwortliche Kapitän ist, frage ich ihn: »Was heißt HSVA?«

»Hamburgische Schiffbau-Versuchsanstalt.«

»Wer ist Kosmos?«

»Kosmos ist der Befrachter des Schiffes.«

»Und was ist ETA?«

»Expected Time of Arrival.«

»Und African Coaling?«

»Die Gesellschaft, von der wir die Ladung bekommen.«

Plötzlich ist Betrieb in der Kammer. Drei, vier Leute wollen etwas vom Alten.

Ich retiriere, so behende ich das mit meinem kaputten Bein kann, durch das offene Schott: Ich will sehen, was draußen passiert.

Sechzehn Uhr: Bis zum Ablegen sind es noch acht Stunden.

Von der Pier her kommt wildes Hupen: Der Omnibus fährt vor. Ich stehe und staune: Statt der erwarteten Seeleute steigen Mädchen und Frauen mit dicken Koffern und Taschen aus. Auch Kinder sind dabei. Endlich erscheinen ein paar Kerle.

Ich lehne mich mit den Ellenbogen auf die Verschanzung und betrachte die Wuhling da unten genau: Der karottenrote Kopf gehört zu einem besonders Kleinen, der sich aufgeregt gebärdet und herumschreit, weil sein Koffer noch im Bus ist. Wie um des Kontrastes willen hält sich ein vollbärtiger Riese, der aussieht wie der Weihnachtsmann aus einem Kinderbuch, dicht neben ihm. Zwei Dickbäuche mit Schnauzbärten, sicher Maschinenleute, könnten aus einem amerikanischen Groteskfilm kommen. Vor allem aber sehe ich knallbunte Pullover und Kopftücher. Die Tonkulisse zum Spektakel bilden die in Baßlage zu den Leuten, die neben mir über die Reling hängen, hinaufgebrüllten Zurufe und das spitze Gekicher und Gegacker des weiblichen Trosses.

»Die werden schon ein paar Flaschen gelenzt haben«, kommentiert neben mir ein Matrose den Auftritt. »Is ja och ne ganz schön lange Strecke«, sagt ein anderer, »ne Menge Kilometer von Hamburg bis hierher.«

Hoch über der Szene auf der Pier fährt ein Schiff durch einen Taleinschnitt des schwarzen Gebirges dahin und zieht meinen Blick auf sich: Es hat zwei Lagen übereinandergestapelter Container auf dem Oberdeck und sieht aus wie ein Spielzeugschiff. Ich kann mir nicht recht vorstellen, wie ein Schiff mit diesen riesigen buntbemalten Kästen an Bord bei schwerer See zurechtkommen will.

Bis Mitternacht bleibt noch eine Menge Zeit. Ich gehe auf die Brücke und mache mich im Ruderhaus wieder mit den Geräten und Instrumenten vertraut.

Die Brücke ist ein mächtiges, quer über das Schiff reichendes Deck. Auch bei vollem Ballast liegt sie noch achtzehn Meter über der Wasserlinie.

Das Schiff wird im Ballastzustand fahren– mit zwei Dritteln des Höchstballastes von 11000Tonnen, den es aufnehmen kann. Der Ballast besteht aus Seewasser.

»Warum denn Seewasser?« habe ich den Alten gefragt.

»Weil sich für den Hinweg nach Durban keine Ladung gefunden hat«, war die Antwort.

»Diese Riesenstrecke mit Wasserballast abfahren– wirtschaftlich kann man das ja wohl kaum nennen.«

»So isses!« hat der Alte seinen üblichen Redestopper gesetzt.

Ich schaue mich gründlich um. In Blickrichtung des Rudergängers am Ruderstand: der Ruderlageanzeiger, der Kreiselkompaß und das Sprachrohr zum Peildeck. In einem Kasten vor dem Ruderstand die automatische Steueranlage. Sie hält das Schiff gegen die Einwirkungen von Wind und Seegang auf Kurs. Sobald wir auf freier See sein werden, wird sie eingeschaltet.

Und da ist die Rosette, die zum Flachlot gehört. Im Kasten daneben ein Anzeiger der Tochter des Tieflots, das bis zu tausend Meter hinabreicht. Die Schalter für Navigations- und Deckslichter. Der Kasten mit den Anlagen für Rundfunk, Rundsprech- und Tonaufzeichnungen. An der achteren Wand dicht unter der Decke die »Kästen für die Brieftauben«– in Wahrheit die Behälter für die Nationalitätenflaggen und die Signalflaggen. Auch der Handgriff, der sich mitten im Raum an der Decke befindet, wird Novizen gern zum Jux falsch bezeichnet– als »Notbremse fürs Schiff«. Er dient zur Fernbedienung des Signalscheinwerfers.

Ich tigere auf dem Schiff herum und nehme die magische Stimmung der Ausreise durch alle Poren in mich auf. Alles beschwört wieder die Erinnerung an meine erste Reise herauf.

Im Kartenhaus finde ich ein Faltblatt mit dem Aufdruck »Gästeprospekt« und lese:

»Ein besonderes äußeres Kennzeichen der NS (Nuklearschiff) Otto Hahn sind die hohen Aufbauten. Neben der eigentlichen Besatzung können noch vierzig Techniker und Forscher für Forschungsaufgaben des Schiffes untergebracht werden, und dies erfordert auch zusätzliches Wirtschaftspersonal. Während die Mannschaft auf dem untersten Deck, dem Hauptdeck, untergebracht ist, sind die Kabinen der Techniker in dem Poopdeck darüber gelegen, und abermals ein Deck höher, im Aufbaudeck, befinden sich die Kabinen für die Ingenieure. Das oberste Deck, das Bootsdeck, besitzt Einrichtungen für einige Gäste. Es möge hierzu erwähnt werden, daß die NS Otto Hahn auch als Fahrgastschiff zugelassen ist, weil sie den höchsten Anforderungen an Sicherheit genügt.«

Dieses Schiff ist bedeutend stärker unterteilt als jedes normale Handelsschiff. Vom Brückendeck herab sehen die vielen an Oberdeck aufgereihten Entlüftungsrohre der Tanks grotesk aus. Sie entlüften die Seitenhochtanks, die auf den Doppelbodenseitentanks stehen. Die vielen Tanks mitsamt ihren Entlüftungen sind ungewöhnlich. Mit den vielen Zellen lassen sich verschiedene Ladungszustände simulieren.

Zum Essen laufe ich im Schlepptau des Alten vom Brückenhausaufbau über Deck nach achtern. Erst nehmen wir die Parade der Ventile ab. In dieser Massierung habe ich sie noch auf keinem anderen Schiff gesehen. Dann schenke ich dem senkrecht angelaschten schwarzen Riesenersatzanker einen staunenden Blick. Schließlich klettern wir ein Deck höher, auf das vordere Poopdeck. Hier hat der Bootsmann Strecktaue gespannt.

»Paß auf, daß du nicht über die Leinen stolperst!« mahnt der Alte.

Während wir an den Strecktauen entlanggehen, memoriere ich: Jene Leinen, die »Spring« heißen, also die Vorspring und die Achterspring, sind Leinen, deren Zugrichtung den Vorleinen und den Achterleinen entgegenlaufen. Sie laufen durch Klüsen vorn und achtern in Richtung Schiffsmitte zu Pollern auf der Pier.

Wir gehen am Reaktordeckel vorbei, hart an einem Flügel der Ersatzschraube hin– alles ist hier, scheint es, doppelt vorhanden. Vom Steuerbordgang steigen wir durch ein Schott und wechseln aus der windigen Kälte plötzlich in warmen, leicht ölig riechenden Dunst. Nun auf PVC statt auf Eisenplatten, laufen wir wie in engen Raubtiergängen immer weiter nach achtern.

Der Alte wendet sich im Gehen halb zurück und fragt überraschend: »Hörst du noch was von Simone?«

»Selten.«

Lange Pause.

»Diesmal will ich aber genau wissen, wie du Simone aufgespürt hast.«

»Sie mich! Würde besser passen.«

Ich hatte gehofft, Simone würde mir erspart bleiben. Aber wie konnte ich.

»Ist sie denn noch in Paris?«

»Nein, Amerika«, antworte ich knapp.

Der Alte bleibt stehen und guckt mich an: Er wartet, daß ich weiterrede. Aber ich bin nicht dazu aufgelegt. Simone ist mir allzusehr entschwunden.

Ich muß aufpassen, damit ich mir diesen vertrackten Weg durchs Schiff wieder einpräge: quer rüber in den Mittelgang, rechts um die Ecke, an etlichen Schotts vorbei, bis das Schott kommt, hinter dem der Niedergang liegt, der zum nächsten Deck hochführt. Wenn der Alte nicht vorausginge, hätte ich mich daran vorbeigetrollt: Ein Schott sieht aus wie das andere.

Der Alte bleibt vor dem Niedergang stehen, wartet, bis ich neben ihm bin, dann fragt er: »Was machen eigentlich deine Knochen?«

»Habe ich etwa geklagt?«

»Ich wollte nur mal fragen«, sagt der Alte.

»Und deine Innereien?« frage ich.

»Geht so.«

Wir sind beide operationsgeschlagen: Fast wären wir beide abgekratzt. Fast? Um ein Haar!

»So gelenkig wie Prinz Philip bist du eben nicht mehr«, frotzelt der Alte.

»Der hat auch nichts anderes im Kopf, als sich gelenkig zu halten.«

»Du vergißt die schönen Uniformen und die Pferde! Übrigens: die alte Messe gibt es nicht mehr. Jetzt essen Offiziere und Assis in einer allgemeinen Messe, der Kombüse direkt gegenüber.«

»Was soll denn das?«

»Demokratisierung. Moderne Zeiten«, gibt der Alte zurück, »dafür kommt das Essen warm auf die Back– und außerdem soll das Arbeitskräfte sparen.«

»Und die Mannschaften?«

»Die Unteroffiziers- und die Mannschaftsmesse gibt es noch– gegenüber auf der Steuerbordseite, ein Deck tiefer auf dem Hauptdeck. Der Salon ist auch noch vorhanden, aber gegessen wird da nur noch ausnahmsweise mal, Spitzenessen im Hafen. Und im ehemaligen Rauchsalon, abgetrennt durch eine Schiebetür, ist jetzt eine Bar. Barbetrieb jeden Abend!«

Der Alte sagt das so knarzig, daß ich dadurch gleich seine Meinung über diese Neuerung erfahre. Dann sagt er noch: »Stimmung etwa so ausgelassen wie im Kontakthof vom Palais d’amour auf der Reeperbahn– hat man mir wenigstens gesagt. Ich laß mich dort nicht sehen.«

Einen Niedergang hoch, rote Plastikhandläufe. Jetzt weiß ich, wie es weitergeht: Im nächsten Deck, dem Ingenieursdeck, wieder ein Stück nach vorn, dann rechts um die Ecke– und dann heißt es wieder aufgepaßt und nicht das falsche Schott erwischen! Aber noch sind wir nicht am Ziel. Neuer Niedergang, und endlich entwirrt sich das Labyrinth: zehn Schritte nach vorn, noch einmal um die Ecke – im Vorbeigehen werfe ich einen Blick auf die graue Schreibmaschine im Maschinenbüro– und da ist schräg vis-à-vis die Messe, die neue Messe.

»Jetzt ist das mehr wie in einem McDonald’s-Laden«, sagt der Alte. In der neuen »Sozialmesse« gibt es keine richtige Tafel, auch keine großen Rundtische, sondern nur mehr kleine für bestenfalls vier Leute.

»Das ist doch keine Messe, sondern ein mieses Bahnhofsrestaurant! Jeder setzt sich hin, wo gerade ein Stuhl frei ist!« sagt der Alte mürrisch.

»Apropos«, sage ich, »ich habe einen Kühlschrank in der Kammer, aber nichts drin.«

»Der Steward hat seinen Laden noch nicht auf«, sagt der Alte, »und ob es morgen, am Sonntag, Bier geben wird, ist ungewiß.«

»Was nützt mir denn dann der Kühlschrank?«

Der Alte hebt die Schultern. Es sieht nach tiefer Resignation aus.

»Und in der Bar?« frage ich ihn hoffnungsvoll.

»Die ist jetzt noch nicht auf.«

»Kann ich sie wenigstens mal sehen?«

»Das kannst du haben! Die liegt direkt deiner Kammer gegenüber. Wart mal, ich komm mit.«

Ich sehe mich in der neuen Bar um und staune über die Kleineleutepracht.

»Diesen Tresen hier, den hat uns die Holsten-Brauerei als Leihgabe hingestellt«, brummt der Alte.

»Mäzenatentum?«

»Nee, Konsumförderung.«

»Aber auf dem Schiff gab’s doch schon eine Bar?«

»Ja, ganz achtern, die gibt’s noch. Die heißt jetzt ›Hähnchen‹.«

»Was soll denn das?«

»Hähnchen– nach Otto Hahn!«

Da bleibt mir fast die Luft weg. Der Alte hebt wieder die Schultern und läßt sie gleich darauf sinken. Das soll wohl heißen: So läuft das nun mal– Otto Hahn, Atomphysiker, was sagt das den Leuten schon?

»›Atom-Otto‹ für das Schiff ist schließlich auch nicht besser«, brummt der Alte.

Während wir warten, daß die Stewardeß uns das Essen bringt, erinnere ich mich, daß der Chief während meiner ersten Reise beim Abendbrot vom Alten wissen wollte, ob das Schiff ein neues Core bekommen würde.

»So ein Core kostet gewaltig– ich meine mit den notwendigen Umbauten im Reaktorbereich«, sagte der Alte und tat sibyllinisch. Die Vorstellung, daß dieses Schiff kein neues Core bekommen könnte und verschrottet werden müßte, erschien mir damals absurd. Jetzt ist es fast gewiß, daß es ein drittes Core nicht geben wird.

Wie anders und viel angenehmer als hier im neuen Speiseraum waren unsere Tischrunden im alten Salon. Die Runde wartete schon, wenn der Kapitän hereinkam, jeder wohlgesittet hinter seinem rotledernen Stuhl, die Hände hübsch adrett auf die Lehne gestützt. »Die Flügeltüren öffnen sich, und herein tritt der Graf!« hatte ich auf der Zunge, weil alles so würdevoll wirkte, schluckte es aber hinunter. Frau Mahn, die Stewardeß, setzte sich gravitätisch in Bewegung, um die Suppe zu holen. Der Kapitän verteilte Wohlwollen rechts und links, machte die üblichen zum Platznehmen auffordernden verlegenen Gesten. Erst wenn er sich schwer in seinen Sessel sinken ließ, war der zeremonielle Teil erledigt. Wir saßen wie eine große Familie um den mächtigen Rundtisch. Meistens gab es schon beim Frühstück einen langen Klön.

Der damalige Erste Offizier ließ sich immer neue Verbesserungsvorschläge einfallen, vor allem solche für den Bau von Schiffsbrücken.

Ich fühle mich acht Jahre zurückversetzt und denke wie damals: Der Erste hatte wohl recht. In unserem Ruderhaus ist alles so weitläufig, wie es vor Jahrzehnten schon war. Ein Ruderhaus wie zu Zeiten der Windjammer. Die Seekarte des Gebiets, in dem das Schiff sich gerade bewegt, ist in einem Kartenraum hinter der Brücke aufgelegt anstatt schnell parat zu sein. Vom Radarschirm sind es mehrere Meter bis zum Maschinentelegraphen. Von dort liegt das Echolot wieder weitab. Der Erste meinte, man könnte sich doch die Cockpits von Flugzeugen zum Muster nehmen und nicht die ›Santa Maria‹. Er belegte seine konstruktiven Vorschläge mit Skizzen aus seinem Notizbuch.

»Vielleicht kriegen Sie ́ne Prämie«, stichelte der Alte damals.

Das reizte mich, auch eine Zukunftsvision zum Besten zu geben: »Eines Tages – das sehe ich schon kommen– tragen die Nautiker ihre Instrumente als Ohrclips mit sich herum.«

Jetzt sitzen wir allein an einem Tisch in der neuen voll demokratischen Messe. Ich merke, daß mich der Alte verstohlen mustert.

»Tempora mutantur«, sage ich halblaut vor mich hin.

»So isses!« quittiert das der Alte.

Schweigen.

Als wir nach dem Essen beide allein herumsitzen, fragt er: »Und was macht sie in Amerika?«

»Wer?« frage ich in Gedanken.

»Simone natürlich!«

»Da kassiert sie Versicherungen für abgebrannte Spielzeugläden.«

»Was soll das denn heißen?«

»In den Spielzeugläden wird auch Feuerwerk verhökert, und das geht leicht hoch. Vor einiger Zeit schon im zweiten Laden.«

Da guckt der Alte mich nur fragend an. Ich bin heilfroh, daß in diesem Augenblick die Stewardeß zum Abtragen kommt, ich habe immer noch Hemmungen, mit dem Alten über Simone zu reden.

Viele neue Leute an Bord. Von den Mates kenne ich keinen. Die drei Schiffbauforscher, die mit neuen Logs irgendwelche Erkenntnisse über das Verhalten des Schiffes bei Hartruderlagen sammeln wollen, sind noch nicht zu sehen. Nur der schwarzhaarige kleine Körner, »der Mann von der Kernenergie«, den ich schon von der ersten Reise her kenne, taucht auf. Er repräsentiert allein die Forschung: Fachgebiet experimentelle Physik.

Über das rot gepönte Deck gehe ich nach vorn. Die Jakobsleitern für die Lotsen sind schon ausgebracht. Die Steuerbordseite des Schiffes ist noch böse verdreckt. Über diese Seite ist entladen worden. Die Schläuche zum Abspülen sind zwar schon angeschlagen, aber Matrosen sind nicht zu sehen. Wahrscheinlich soll erst auf See richtig rein Schiff gemacht werden.

An einer Abgasleitung, die am Brückenaufbau hochgeführt ist, wird noch geschweißt. Der Krangreifer scheint sie demoliert zu haben.

Im letzten Licht mache ich Farbaufnahmen: das Orangerot einer Boje mit der Schrift »Otto Hahn« darauf, daneben ein schwarz-rot gepönter Feuerlöschkasten, zwischen den beiden Rots weiße Relingstützen und dahinter die braunschwarzen Eisenerzhalden. Wenn ich leicht in die Knie gehe, bekomme ich auch noch das Filigran der riesigen Löschbrücke darüber als graphisches Element zu all den Farbflächen mit ins Bild.

Eine Stunde später ist es dunkel. An der Abgasleitung vom Hilfsdiesel wird immer noch geschweißt. Auf der weißen Schiffswand wecken die blendenden Schweißflammen rosaviolette Reflexe, die sehr poppig wirken.

Der Alte hat Zeit für mich. Seine Kammer hat er eingeräumt. Ich höre von ihm, daß die Abgasleitung nicht, wie es zuerst hieß, vom Greifer des Löschkrans beschädigt worden, sondern im Laufe der Jahre durchgerostet sei.

»Das Schiff hat eben schon eine gehörige Menge Betriebstage hinter sich«, sagt der Alte, »zehn Jahre– keine Kleinigkeit. Wenn wir in Durban sind, wird das Schiff insgesamt zweitausend Tage in See gewesen sein, die Ankerzeiten inbegriffen.«

Für ein modernes Schiff gilt das normalerweise als ein langes Leben. Nicht aber für die Otto Hahn. Dieses Schiff wird so gut in Schuß gehalten wie wohl kein zweites auf der Welt. »…soll in fremden Häfen für die Bundesrepublik werben«, heißt es in den offiziellen Verlautbarungen der Gesellschaft.

Als ich das Schiff zum ersten Mal an der Pier in Bremerhaven mit kaum erkennbaren Konturen im Nebel gesehen hatte, war ich enttäuscht: nichts Besonderes, ein Schiff wie alle anderen, nur etwas merkwürdig gebaut, ungewöhnliche Silhouette, Brückenaufbau weit nach vorn gerückt und auf dem Poopdeck vor dem Wohnbereichsaufbau die befremdlichen Deckel und der komische Kran.

Seither fragte ich mich wieder und wieder, warum man um dieses Wunderwerk von Reaktor herum ein so »gewöhnliches« Schiff gebaut hat. Das Atomzeitalter war, so schien es, für die Schiffskonstrukteure noch nicht angebrochen. Die Innenausstatter gar müssen die letzten Dezennien verschlafen haben: nirgends ein Hauch von Großzügigkeit und Modernität. Dafür aber die Insignien falscher Sparsamkeit und alle nur erdenklichen Parallelen zum sozialen Wohnungsbau:

Die Stiegen im vorderen Aufbau etwa könnten popeliger gar nicht sein. Mit PVC belegte Stufen, Aluminiumvorstöße, mit einem roten Kunststoffzeug belegte Handläufe, die von einer Art Zaun aus Rund- und Vierkantstäben gestützt werden. Diesen Wechsel von runden zu kantigen Stäben hat sicher einer für einen Entwurfseinfall gehalten. Unten liegt ein meterbreiter grüner Kokosläufer. Auf dem Kokosläufer zwei Fußabtreter aus grünem Gummi und darauf jeweils noch ein nasser Feudel.

»Unter einem Nuklearschiff hatte ich mir ein ungemein modernes Fahrzeug vorgestellt, aber kein so konventionell gebautes«, sage ich zum Alten, »ein Truppentransporter könnte nicht nüchterner und phantasieloser sein als die Otto Hahn.«

»Ein Staatsdampfer!« sagt der Alte. »Was erwartest du denn vom Staat?«

»Ist der Bootsmann noch an Bord?«

»Welcher?«

»Das verrückte Huhn– wie hieß er doch?«

»Meinst du Waldapfel?« fragt der Alte.

»Ja, den! So ein verrückter Name!«

»Der ist wohl noch da. Aber so genau weiß ich das nicht, schließlich habe ich die letzten Reisen nicht mitgemacht.«

Und dann frage ich: »Wie bist du eigentlich auf das Kümo geraten– deine Frau hat mir davon erzählt…?«

»So? Hat sie?« sagt der Alte, »das ist eine lange Geschichte. Die erzähl ich dir erst, wenn du erzählst, wie – wie du sagst– Simone dich aufgespürt hat.«

»Das ist eine noch längere Geschichte«, weiche ich aus. Und wir sitzen beide da und hängen unseren Gedanken nach.

»Was willst du denn über das Schiff verzapfen, wenn ich mal fragen darf?« höre ich den Alten schließlich. Ich schüttele den Kopf, wie um eine Hörstörung loszuwerden, dann antworte ich: »Eine Reportage, wieder eine Reportage, was denn sonst? Ich war doch immer Reporter. Bin ich auch heute noch. Wenn ich einen sogenannten ›Plot‹ erfinden sollte, käme ich mir albern vor. Ich habe noch immer die Wirklichkeit so, wie sie ist, interessant genug gefunden. Im Grunde hätte auf der Titelseite vom ›Boot‹ ›Reportage‹ statt ›Roman‹ stehen sollen.«

»Und warum heißt es nicht Reportage? Hast du denn nicht selber Roman hingesetzt?«

»Nein, der Verlag. Reportage gilt hierzulande als leicht diskriminierend. Ein Roman muß es schon sein. Das ist nun mal so bei den Philistern.«

Ich hole tief Luft und rede, den Alten im Blick, weiter: »Und außerdem geschah das auch deinetwegen. Du hattest ja das Manuskript gelesen und dann gesagt, bloß gut, daß es die dargestellten Gestalten nicht gegeben hat.«

Da grinst der Alte: »Witzbold!« und fragt, ob ich schon meine Mammiletters abgegeben hätte.

»Mammiletters– was ist denn das?«

»Ja, kennst du das nicht? Dreimal wird von Bord ein Funktelex an die Reederei gesendet mit Nachrichten für die Angehörigen. Zum Beispiel: Position des Schiffes, Adresse des Agenten in Durban. Die Reederei kopiert die Telexe und versendet die Nachrichten in den adressierten Briefumschlägen.«

»Menge Service! Ich fühle mich richtig betreut!«

»Tscha!« macht der Alte und grient, als sei das seine Erfindung: »Die Umschläge gehen heute abend noch an Land.«

Beim Hinaufsteigen zur Brücke beklage ich mich: »Die Plastikhandläufe der Niedergänge sind doch total fehlkonstruiert. Sie laden sich elektrostatisch auf, wenn man die Hände auf ihnen hingleiten läßt. Und wenn man dabei mit den Fingern die Eisenteile an der Unterseite berührt, bekommt man einen hübschen Schlag versetzt.«

»Wieso faßt du die auch an? Bist du eine alte Frau?« kontert der Alte.

»Gut, ich werde mich in Zukunft vor dieser Art Entladung hüten und mir sagen: Zu anständigen Handläufen hat es wohl nicht gereicht!«

Der Hafen ist jetzt mit viel gelben Nebelleuchten und blauweißen Lampen beleuchtet. Die Raffinerien haben rote Warnleuchten in verschiedenen Höhen aufgesteckt. Die Kräne mit den extrem hoch gestellten Brücken sind über und über mit weißen Lampen besetzt und leuchten wie Christbäume. Auch jeder Kran trägt hoch oben eine rote Warnleuchte. Ein Schlepper kommt zu uns heran und beginnt auch schon beizudrehen. Unsere Aufbauten stehen, von Sonnenbrennern bestrahlt, scharf ausgeschnitten gegen die Dunkelheit. Ein zweiter Schlepper, der wahrscheinlich als Drücker fungieren wird, hält sich an Steuerbordseite, seinen Bug direkt auf unsere Bordwand gerichtet, klar zum Leineübernehmen. Der Revierlotse ist schon an Bord. Der Hafenlotse, der die Schlepper kommandieren wird, kommt erst noch. Wir haben Ebbtide.

»Vorne haben wir acht Meter, hinten acht Meter fünfzig Tiefgang!« höre ich den Alten.

Auf der Seekarte ist die ganze Ausdehnung des Rotterdamer Hafens zu erkennen. Diese Karte reicht vom Marshaven über den Waalhaven, den Eebenhaven und das Botlek, in dem wir liegen, über die verschiedenen Petroleumhäfen bis hinaus zum Europort, der schon in den Schlick gebaut ist. Ein Hafen, der auch weit draußen liegt und den man über den Beerkanal erreicht, heißt Mississippi-Haven: endlich ein Name, der einen Hauch von Ferne hat.

Auf der Brücke herrscht wie immer vor dem Ablegen Hektik. Der Alte wird von allen Seiten zugleich bedrängt: Er muß Time sheets entgegennehmen. Ein Beauftragter der Firma, für die die Ladung bestimmt ist, will Unter-Schriften über die geleistete Arbeitszeit beim Entleeren haben. Ich höre, daß die 12500Tonnen Erz, die das Schiff aus Port Elizabeth herangekarrt hatte, innerhalb von zehn Stunden aus dem Schiff gebracht worden sind.

»Gute Leistung«, sagt der Alte.

Ein Clerk der Agentur erscheint und gibt den Meßbrief zurück und die Ausklarierungspapiere von den Hafenbehörden.

»Und jetzt übergeben wir die ›Note of readiness‹ und den ganzen Papierkram wieder an die Agentur für die Charter«, erklärt mir der Alte.

Mitternacht. Die Gangway wird hochgenommen. Der Hafenlotse ist nun auch an Bord. Er hat mir, als er auf die Brücke kam, »guten Morgen, Stürmann« gewünscht. Als Stürmann könnte ich also ganz gut durchgehen. Die Küstenfunkstelle teilt mit, daß wir draußen mit Nordwest7 zu rechnen haben. Mir soll es recht sein.

Das Schiff ist mit drei Vorleinen und einer Spring noch fest. Jetzt werden zwei Vorleinen eingeholt. Eine Vorleine und die Spring bleiben stehen. Die alten Schiffstaue aus Hanf gibt es nicht mehr. Jetzt sind die Trossen aus Polyäthylen, einige auch aus Stahldraht.

UKW-Gespräche dröhnen quäkend durchs Dunkel. Der Erste ist mit Schnellheftern zugange. Der Alte soll Papiere unterschreiben und geht dazu ins Kartenhaus hinter dem Ruderhaus, weil es dort hell ist. Kaum ist er zurück, halten ihm die Lotsen Zettel zum Unterschreiben hin: die Leistungsbestätigung für den »Havenloudsdienst«.

Eine Schleppleine wird nun von dem Schlepper übernommen, der sich vor den Bug gesetzt hat. Das Deckslicht vorn wird ausgeschaltet.

Der Alte befiehlt: »Achtern alles los!« Achtern ist auch ein Schlepper fest. Der Rudergänger, der schnell noch Kaffee für den Lotsen holen mußte, steht jetzt auf seinem Platz.

Ich staune: Das Leinenkommando fährt auf der Pier mit einem Auto hin und her. Eben hat es direkt unterhalb der Brücke das Auge der Trosse von einem Poller gelöst. Damit ist die letzte Leine, die Spring, losgeworfen. Beide Schlepper ziehen das Schiff quer vom Kai ab. Direkt unter unserem Sonnenbrenner leuchtet die Spaltbreite Wasser, die sich zwischen Pier und Schiffswand mehr und mehr öffnet, olivbraun auf.

Das Schiff hat sich ohne laute Kommandos – wie klammheimlich– in Bewegung gesetzt. Ganz langsam erreichen wir die Mitte des Fahrwassers. Ich trete auf die Backbordnock hinaus. Über dem Eingang zur Brücke sehe ich den Umdrehungsanzeiger: fünfundzwanzig Umdrehungen, langsame Fahrt.

Ich stehe fest auf meinen malträtierten Beinen, und alle nächtlichen Ausfahrten, die ich erlebte, werden wieder lebendig. Noch jedesmal war es die reine Poesie: die vielen Lichter, die sich langsam gegeneinander verschieben, keiner redet, nur der Lotse gibt ein paar knappe Kommandos, aber auch die klingen gedämpft.

Seit Minuten schon habe ich ein zischelndes Geräusch im Ohr. Eine weiße Fahne – Dampf– steht über dem Schornstein: Ein Überdruckventil vom Hilfskessel hat geöffnet.

Wir nehmen eine Parade von Schiffen ab, die uns, von Sonnenbrennern angestrahlt, entweder Bug oder Heck zukehren.

Jetzt tritt der Schlepper in Aktion, der nahezu mittschiffs parallel mitläuft, aber doch mit einer Schleppleine am Heck eintaucht. Die Leine kommt tide, unser Bug dreht nach backbord. Wir passieren an Steuerbord eine rote Tonne. Aus dem Botlek auslaufend kommen wir auf den großen Maaskanal, den neuen Wasserweg.

Kaum Schiffsverkehr. Alle Schiffe liegen fest. Aber tagsüber und an Wochentagen muß es hier wild zugehen.

Der achtere Schlepper wirft los, als wir gerade an einem halben Schiff vorbeikommen: Nur das Vorschiff mit den Brückenaufbauten liegt auf Hellingen. Im Vorbeifahren kann ich tief in den angeschnittenen Laderaum hineinschauen. Die Szene wird von einer riesigen Gasfackel erleuchtet, die noch mehr Licht gibt als unsere Sonnenbrenner.

Zurück in die Kammer. Ich verstaue meine Filme im Kühlschrank. Die Kameras nehme ich vom Schreibtisch und lege sie auf den Teppichboden: Es soll stürmisch werden– keine Nacht zum Schlafen, also gehe ich lieber gleich wieder auf die Brücke.

Im Stiegenhaus fällt mein Blick durch ein Bulleye nach achtern auf ein vom Mondschein verwandeltes Schiff. Ich trete näher ans Bulleye heran, und der Ringausschnitt weitet sich: Das weiße Schiff scheint leicht zu fluoreszieren, auch die Strudelzöpfe zu beiden Seiten leuchten fahl, und die Hecksee auch, die jetzt aus dem Schornstein zu quellen scheint: ein ganz und gar unwirklicher, ein magischer Anblick. Weil die Mondschatten scharf zeichnen, ist jede Einzelheit zu erkennen: die Abstützungen der Verschanzungen rechts und links, die Reihen der Entlüfter der einzelnen Ballasttanks, die Schwanenhälse, die Umlenkpfosten, mittels derer die Seile, die zum Aufziehen der Luken dienen, auf die Winsch gelenkt werden, auch den runden Reaktordeckel und davor ein kleineres rechteckiges Luk, das Montageluk, und den Deckel für das Servicebecken. Auf dem Reaktordeck erkenne ich an Backbordseite die vierflügelige Ersatzschraube und vor der Verschanzung des Reaktordecks den riesigen Reserveanker. Der dicke Mast, den ich hell gegen den tiefdunkelblauen Himmel stehen sehe, ist der Abluftmast, durch den die Luft aus dem Reaktorbereich abgeleitet wird– alles vertraute Formen, und doch erscheinen sie im Mondlicht ganz anders als am Tag: Sie haben ihre Schwere verloren.

Ich muß an den Ozeandampfer aus weißem Zucker denken, den unser Konditor zu Weihnachten ins Schaufenster stellte, mit einer elektrischen Birne in der Mitte, die ihr Licht durch hundert Bulleyes schickte. Der Konditor hatte sogar noch gelbe und rote Gelatineblättchen von innen vor einige der Bulleyes geklebt, so daß das Ganze sich äußerst prächtig, wenn auch nicht seemännisch akkurat darbot.

Den Alten finde ich in der Dunkelheit nicht gleich. Er steht über den großen Radarschirm gebeugt auf der Steuerbordseite des Ruderhauses. Das Schiff verfügt über zwei Radarschirme. Ein Gerät ist auf Dreiviertel-Seemeilen-Bereich geschaltet, das andere auf anderthalb Seemeilen.

Der Rudergänger muß den Kurs nicht mit dem Steuerrad halten, sondern benutzt dazu Druckknöpfe, die er mit beiden Daumen bedient. Ich fühle mich gleich wieder heimisch auf dieser Brücke. Von hier aus kann ich stundenlang zusehen, wie der Bug einsetzt und zu beiden Seiten des Schiffes die Bugwelle fahl aufleuchtet. Oder ich beobachte einen der Radarschirme. Bald muß ein Feuerschiff herauskommen. Im Glas war es noch nicht zu sehen. Auf dem großen Radarschirm aber zeichnet es schon. Voraus, ein Strich an Steuerbordseite, fährt ein Riesentanker, etwa fünfkommasieben Meilen ab. Einen Mitläufer gibt es noch, der etwas in unseren Kurs hineinhält und zweidreiviertel Meilen ab ist. Die Objekte springen auf dem grünen Glas ruckweise weiter.

Wieder hinab aufs Oberdeck. Ich will das Schiff in diesem seltsamen Licht mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sehen. Ich trete auf die Back hinaus und gehe vor bis zur Monkey-Back. Das Spill glänzt im leichten Schimmer, der vom Himmel durch die Wolken sickert. Das scharfe Rauschen der Bugwelle hüllt mich ein: Ich könnte vor lauter Glück zerfließen. Jetzt sehe ich auch, daß die Signallampen für manövrierunfähig vorgeheißt sind– einschaltbereit für jeden Fall.

Wieder hinauf zur Brücke. Beim Hochsteigen über die vielen Treppen nutze ich das Rollen des Schiffes aus und steige die nach links aufsteigenden Treppen just dann hoch, wenn das Schiff gerade nach Backbord rollt.