Das Böse - Reinhard Haller - E-Book

Das Böse E-Book

Reinhard Haller

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Beschreibung

Der Code des Bösen Es entlädt sich in spektakulären Verbrechen, abscheulichen Gräueltaten, Gewalt, Sadismus, Vergewaltigung, Schul-Amokläufen oder sogenannten "Familientragödien". Doch wie entsteht Das Böse? Und: Existiert es in jedem von uns? Der Gerichtspsychiater Reinhard Haller hat sich auf die Suche nach den Wurzeln des Bösen begeben. Tausende Stunden saß er im Gefängnis Schwerstverbrechern gegenüber, nur mit Notizblock und Stift bewaffnet: Sexualmörder und Serienkiller, Terroristen, Räuber und Kinderschänder, alte NS-Verbrecher und junge Amokläufer. Sie alle erzählten ihm vom Tathergang, von ihren Motiven und Gefühlszuständen, von der Beziehung zum Opfer, ihrer Lebensgeschichte und ihrer heutigen Sicht auf das Verbrechen. Anhand dieser konkreten Fallbeispiele bringt Haller die Anatomie des Bösen zum Vorschein: - Dem Unbeschreiblichen ein Gesicht geben: Wie entsteht Das Böse? Wie und warum wird es ausgelöst? - Mit dem Bösen auf Du und Du: Begegnungen mit dem mehrfachen Prostituiertenmörder Jack Unterweger und dem Bombenleger Franz Fuchs - Mad or bad? Eiskalt geplant oder grauenhafte Tat eines Kranken? - Blick in die Abgründe der Seele: Fundierte Analysen des gefragten Justiz-Experten und forensischen Gutachters Wie böse ist Das Böse? Gerade weil Das Böse so bedrohlich und schwer zu beschreiben ist, übt es eine starke Faszination aus. Haller nimmt Einblick in die dunklen Bereiche der Täterpsychen, wie sie nur wenigen gewährt werden. Er setzt unterschiedliche Theorien über Das Böse in Bezug zu neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Biologie, Theologie, Genforschung und Psychiatrie. Die Ursachen sind vielfältig: Milieu, Kindheitstrauma, soziale Tragödien, falsche Freunde, Alkohol, Drogen, vor allem aber Kränkungen. Doch wie werden aus bösen Gedanken böse Taten? Wie frei sind wir wirklich in unserer Entscheidung für das Gute oder Das Böse? Dieses Sachbuch leuchtet nicht nur die Abgründe des Bösen aus, sondern gibt neue Impulse für die gesellschaftliche Debatte über Verbrechen und Bestrafung. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage.

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Reinhard Haller

Das Böse

Die Psychologie der menschlichenDestruktivität

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2019 Ecowin bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gesetzt aus der Minion Pro, Radikal

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

ISBN 978-3-7110-0248-8

eISBN 978-3-7110-5272-8

Inhalt

Vorwort

Das (un)fassbare Böse

Die Vermessung des Bösen oder wie böse ist das Böse?

Das motivlose Böse oder Mord ohne Motiv

Das Böse und die Normalität

Die böse Idee

Die bösen Gefühle

Die böse Lust

Der böse Ruhm: School Shootings und Co.

Die böse Trias: Amok, Terror, Massaker

Das böse Schweigen

Der böse Vater

Die böse Mutter

Die böse Partnerschaft

Die bösen Gene

Die bösen Hirnzellen

Der Code des Bösen

Das Böse geht weiter

Literatur

Vorwort

»Das Böse bedarf keiner Krankheit, um auf die Welt zu kommen,es bedarf keiner Ungerechtigkeit und auch keiner dunklen Mächte –es bedarf lediglich des Menschen.«

Hans-Ludwig Kröber

Ich habe lange Zeit im Gefängnis verbracht – wegen Mordes. Weit über ein Jahr meines Lebens war ich mit Personen, denen die Tötung anderer Menschen vorgeworfen wird, in engen Zellen eingeschlossen und habe ihre Geschichten gehört. Nichts ist zwischen uns gestanden, kein Gitter und kein Sicherheitsglas, nur ein Notizblock mit Schreibstift, ein paar Untersuchungsmaterialien – und ein noch nicht begreifbares Verbrechen. Von Angesicht zu Angesicht haben mir Sexualmörder und Serienkiller, Terroristen, Räuber und Kinderschänder, alte NS-Verbrecher und junge Amokläufer von ihren Motiven und Gefühlszuständen, von der Beziehung zum Opfer und vom Tatablauf, von ihrer Lebensgeschichte und ihrer heutigen Sichtweise erzählt. In der nach einer Mischung aus Kernseife, Schweiß, Metall, Gulasch und Exkrementen riechenden Gefängnisluft hat sich zwischen Betroffenheit, Reue, Depression, Kälte, Lügen, Manipulationsversuchen und echter Bereitschaft zur Wahrheitsfindung allmählich die Kontur des Bösen entwickelt.

Mit dem richterlichen Auftrag, die Persönlichkeit der Täter zu beschreiben, ihre Motive zu analysieren und festzustellen, ob sie mit klarem Verstand – das Gesetz spricht dann von bösem Willen – oder krankhafter Absicht gehandelt haben, wollte ich bei über 300 Tötungsdelinquenten die Wurzeln des Bösen suchen. Diese waren in krankhaften Veranlagungen und belastenden Milieueinflüssen, in traumatisierenden Kindheitserlebnissen und sozialen Tragödien, in Prägungen durch schlechte Vorbilder und falsche Freunde, in überkochenden Emotionen und im Druck der delinquenten Gruppe, im Beherrschtsein von totalitären Systemen und in der narzisstischen Selbstüberhöhung, in alkoholischer Enthemmtheit und drogenbedingter Verwirrtheit, vor allem aber in Kränkungserlebnissen zu finden. Was kränkt, macht nicht nur krank, sondern oft auch kriminell.

Die zur bösen Tat führenden Motive waren, zumindest vordergründig, oft erstaunlich banal. Einmal hat der Streit um sieben Euro ein Menschenleben gefordert, ein andermal war die Auseinandersetzung um eine Grenzmarke, um wenige Quadratmeter billigen landwirtschaftlichen Grundes Ursache für ein Massaker. Manchmal entwickelte sich das Böse aus einer jahrelangen Konfliktsituation, dann wieder resultierte es aus den sich aufschaukelnden Emotionen eines Wirtshausstreites. Oft entspringt es momentanen Frustrationen, manchmal folgt es einem umfassenden, bis in alle Einzelheiten durchdachten, grauenhaften Plan. In nicht wenigen Fällen standen hinter dem Bösen fanatische Ideen, psychische Beeinträchtigungen oder wahnhafte Gedanken, sodass man nicht von der bösen, sondern von der kranken Tat sprechen müsste. Manchmal kann man die kalte Planung und die gefühllose Durchführung eines Gewaltverbrechens kaum glauben, oft erschauert man vor den grausig-sadistischen Fantasien, die sich hinter normalen menschlichen Fassaden zeigen. Im Schicksal vieler Täter, die selbst Opfer waren, kann man sehen, wie das Böse aus Bösem hervorgeht und der Kreislauf nie endet. Manchmal kann sich auch der Sachverständige, welcher zu emotionaler Distanz und professioneller Neutralität verpflichtet ist, dem Gefühl des Mitleids oder der Abscheu nicht entziehen, wenn etwa ein Sexualmörder entrüstet berichtet, wie ihn das um sein Leben zitternde kindliche Opfer noch mit Geld »bestechen« wollte.

Die meisten Täter sind bemüht, ihre kriminelle Handlung als etwas Gestörtes und Krankes, als eine nicht zu ihrer Person gehörende Handlung darzustellen und vermuten die Ursachen in unbewussten tiefenpsychologischen Vorgängen oder in den niemandem geheueren »Abgründen der Seele«. Die Schuld wird damit vom eigenen Willen auf dunkle seelische Kräfte, für die man weniger verantwortlich zu sein scheint, geschoben. Typische Begründungen lauten etwa: »Mein Hirn hat falsch getickt«, »In mir muss etwas Krankes abgelaufen sein« oder »Ich war wie ferngesteuert«. Fast immer aber war ich erstaunt, wie normal die Begegnungen mit Menschen, die man als Mörder bezeichnet, verlaufen. Kein Einziger hat das Gespräch verweigert, viele konnten oder wollten sich an die eigentliche Tat nicht erinnern, die meisten haben Teile davon verdrängt. Häufig haben sie abgestritten, beschönigt und gelogen. Alle aber strebten nach einer Erklärung für ihr verbrecherisches Handeln, das ihnen oft genug selbst als fremd und unbegreiflich erschien, und wollten die Ursachen für das Böse finden.

Die Bösen sind nicht nur die anderen und es lebt nicht nur in den als Verbrecher deklarierten Menschen, auch wenn sich diese und ihre böse Tat so ideal für unsere psychischen Projektionen anbieten. Das Böse existiert auch in uns, vielleicht in einem verschatteten Anteil unserer Psyche oder in der Tiefe des Unbewussten, vielleicht in einer Gestalt, die wir selbst gar nicht kennen und, wenn es das Schicksal gut mit uns meint, nie in vollem Umfang kennenlernen. Dass wir aber die Präsenz des Bösen in jedem von uns vermuten oder zumindest erahnen, zeigen die folgenden alltäglichen Abläufe: Wenn in unserer Nähe ein Verbrechen geschieht und der Täter zu unserem entfernten Bekanntenkreis gehört, ist ein eigenartiges, nahezu gesetzmäßiges Reaktionsmuster zu beobachten. Wir können es anfangs nicht glauben, sind bass erstaunt und geben Äußerungen wie: »Das kann nicht wahr sein, von dem hätte ich das nie geglaubt, er war ganz normal, an dem ist mir überhaupt nie etwas aufgefallen« und so weiter von uns. Nach ein, zwei Tagen hat sich unsere Einschätzung etwas geändert: Der Täter sei immer schon ein eigenartiger Mensch gewesen, habe so komisch geschaut und ist uns allen irgendwie unheimlich vorgekommen. Spätestens nach zwei weiteren Tagen hat sich die Meinung, dass man dem Betroffenen seit jeher ein Verbrechen zugetraut habe und die nunmehrige Tat ganz genau zu ihm passe, durchgesetzt.

Dieser regelhafte Wandel der Sichtweise sagt nichts anderes, als dass jeder von uns jedem seiner Mitmenschen alles zutraut, dass er das Böse auch im normalen Mitmenschen vermutet und dies wohl auch in sich selbst befürchtet. Die Angst vor dem eigenen Bösen wird verdrängt, indem dieses in andere hineinprojiziert wird. Wie hat doch der Dichter Max Frisch gesagt: »Wenn Menschen, die eine gleiche Erziehung genossen haben wie ich, die gleichen Worte sprechen wie ich und gleiche Bücher, gleiche Musik, gleiche Gemälde lieben wie ich – wenn diese Menschen keineswegs gesichert sind vor der Möglichkeit, Unmenschen zu werden und Dinge zu tun, die wir den Menschen unserer Zeit, ausgenommen die pathologischen Einzelfälle, vorher nicht hätten zutrauen können, woher nehme ich die Zuversicht, dass ich davor gesichert sei?«

Was meinen wir wohl, wenn wir unserem Gegner im Streit mit den Worten drohen: »Du wirst mich noch kennenlernen«? Wohl jenen Teil unserer Person, den es auch gibt, den wir normalerweise verborgen halten, zu dem wir uns lediglich in höchster Erregung bekennen und den wir selbst dann noch nicht aussprechen: das Böse.

Gerade weil das Böse so bedrückend und bedrohlich, so unbegreiflich und schwer beschreibbar, so weit weg und doch jedem so nah ist, übt es eine starke Faszination aus. Dies hat nicht nur mit Sensationsgier zu tun, sondern mit dem Wunsch, möglichst alle Seiten des Menschen kennenzulernen, den Blick auch auf jene Seite der Seele, die man als deren Abgründe bezeichnet, zu werfen und dem Unbeschreiblichen ein Gesicht, einen Namen zu geben. Bislang Unbekanntes und Unbenanntes zur Sprache zu bringen bedeutet, die Angst davor zurückzudrängen.

Das Antlitz des Bösen unterliegt einem gewissen Wandel, es stirbt aber niemals aus. So gehen Sexualmorde, eine der schlimmsten Kombinationen des Bösen, seit Jahren kontinuierlich zurück, auch wenn die mediale Darstellung einzelner Fälle oft einen anderen Eindruck vermittelt. Andererseits nehmen andere Taten, die ebenso völlig unschuldige Menschen betreffen, wieder in erschreckender Weise zu. Man denke nur an Schul-Amokläufe oder alle jene Verbrechen, die unter dem Begriff der »Familientragödie« zusammengefasst werden. Völlig neue Formen des Bösen zeigen sich in der virtuellen Kriminalität, in der Internet-Pornografie oder in den Betrügereien im großen Netz. Das Böse zeigt sich nicht nur in spektakulären Verbrechen und Gräueltaten, sondern oft in sehr subtiler Form: in Lieblosigkeit und Zurückweisung, in zwischenmenschlicher Kälte und Verachtung, in Mobbing und Unterdrückung, in fehlendem Verständnis und purem Egoismus.

Auch wenn versucht wird, die psychischen Merkmale der Verbrecher genau zu erfassen und die Persönlichkeitszüge nach den gängigen Klassifikationsmustern einzuordnen, die diversen Charaktere zu typologisieren und spezifische Verbrechensmuster zu beschreiben, bleibt manches dunkel. Die zahlreichen wissenschaftlichen Erkenntnisse über Verbrechensursachen und -theorien sind hilfreich, die aktuellen Erkenntnisse der Persönlichkeits- und Hirnforschung liefern zusätzliche Aspekte. Die heutigen Möglichkeiten der Hirnuntersuchung, vom Hirnstrombild bis zur Computertomografie und von der psychodynamischen Untersuchung bis zur Testpsychologie reichend, haben manches erklärt. Dennoch ist immer etwas offen geblieben, ein letzter Rest, den man mit keiner Hypothese begründen und mit keiner Theorie begreifen kann. Dieser Teil hat mit der Freiheit des menschlichen Willens zu tun, jenes Willens, der sich auch zum Guten oder zum Bösen entscheiden kann.

Nichts kann die nicht fassbaren und nicht beschreibbaren Aspekte des Bösen besser erhellen als konkrete Beispiele, als Geschichten von Verbrechen und Erzählungen über böse Taten. Deshalb sollen Ihnen die folgenden Kapitel nicht nur unterschiedliche Theorien über das Böse vermitteln und Erkenntnisse der verschiedensten Wissenschaften, von der Biologie bis zur Theologie und von der Genforschung bis zur Psychiatrie reichend, über dessen Wesen liefern, sondern an individuellen Beispielen das Gegenteil des Guten verdeutlichen.

Das (un)fassbare Böse

»So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung,kurz das Böse nennt,mein eigentliches Element.«

Mephistopheles in Goethes »Faust«

Wir sprechen nicht gerne darüber, über das Böse, wir umschreiben und vermeiden den Ausdruck, halten ihn für dunkel und bedrohlich, für vielschichtig, mehrdeutig, unwissenschaftlich und undefinierbar – und wissen doch, was damit gemeint ist. Das Böse ängstigt und bedrückt uns, es ist unheimlich, unfassbar und sehr oft unaussprechbar. Es fällt uns schwer, das Böse zu benennen, selbst den bloßen Ausdruck nehmen wir kaum in den Mund. Haben Sie sich schon einmal gefragt, weshalb wir in einem Streit bei zunehmendem Ärger und ablehnender Haltung gegenüber unserem Gegner diesen mit den Worten: »Mein lieber Freund« ansprechen und aus welchem Grund wir eine bös gemeinte Drohung in die geradezu gegenteilig klingende Formulierung: »Ich werde dir noch helfen!« kleiden? Vermutlich, weil wir uns schwertun, böse Seiten in uns zu betrachten, böse Absichten als solche kundzutun und das Wort an sich auszusprechen.

Man kann den Begriff des Bösen tatsächlich nur schwer beschreiben und nur unzureichend erklären. Der Ausdruck ist geprägt durch Merkmale wie aggressiv, frevlerisch, infam, amoralisch, krank, gemein, niederträchtig oder teuflisch. Eigenschaften wie Gehässigkeit, Rachsucht, Neid, Missgunst, Arglist, Übelwollen, Hinterhältigkeit oder Verschlagenheit sind in diesem Gedankengebäude des Verwerflichen ebenso enthalten wie alles, was mit Zerstörung, Krankheit, Katastrophe, Verderben und Verbrechen zu tun hat. Das Böse ist – wie der Bochumer Psychiater Prof. Theo R. Payk formuliert – ein mysteriöses Konstrukt, unter dessen Dach sich alle möglichen Varianten des Unguten versammeln. Es ist der Inbegriff des Negativen, des Schlechten und des Zerstörerischen.

Im Gegensatz zum unscharfen Begriff des Hauptwortes wird das Eigenschaftswort »böse« nuanciert eingesetzt. Wir sprechen von bösen Krankheiten und bösem Willen, von bösen Geschichten und bösen Zeiten, von bösem Erwachen und bösen Überraschungen oder bezeichnen ein erkranktes Organ als böse. Reden wir von bösen Jungs und bösen Mädchen, die angeblich zwar nicht in den Himmel, aber sonst überall hinkommen, ist durchaus ein Augenzwinkern dabei.

Mit dem Bösen haben sich Theologen und Philosophen, Soziologen und Biologen, Juristen und Kriminologen beschäftigt. In religiöser Sicht wird unter dem Bösen eine gottfeindliche Haltung verstanden. Nach jüdisch-christlicher Theologie resultiert das Böse aus dem Ungehorsam gegenüber Gott. Es beginnt mit dem gefallenen Engel Luzifer, geht weiter mit dem Sündenfall im Paradies und der Erbschuld aller Menschen und setzt sich im ersten Mordfall, der Geschichte von Kain und Abel, fort. Das Böse wird durch den Satan, den Fürst des Bösen, personifiziert. Als verführerischer Feind des Menschen ist er der Gegenspieler Gottes. Aus biblischer Sicht ist das Böse eine das Leben zerstörende gottfeindliche Haltung, ein Ungehorsam gegen Jahwe, ein destruktiver Trieb oder eine dunkle Macht, wie sie besonders im Markusevangelium dargestellt wird.

Unter den mannigfachen Interpretationen der Philosophie ragen einerseits jene des unabwendbaren Übels, welches man wie eine Naturkatastrophe erdulden muss, andererseits die des selbst herbeigeführten Missbrauchs der menschlichen Freiheit heraus. Nach Augustinus kommt das Böse aus dem freien Willen des Menschen, der durch die Erbsünde Schuld für sein Leiden trage, in die Welt. Immanuel Kant sieht den Ursprung des Bösen in der durch Egoismus, Gier oder Hass geprägten menschlichen Natur. In seinem Werk Über das radikal Böse in der menschlichen Natur hält er den Menschen zwar nicht für bösartig, glaubt aber an eine Neigung zum Bösen, die sich überwinden lasse. Den Kant’schen Gedanken, wonach die Wurzel des Bösen in der Freiheit des menschlichen Willens zu suchen sei, bringt der Philosoph Rüdiger Safranski mit den Worten: »Das Böse ist der Preis der Freiheit« auf den Punkt. Das Böse wird als notwendig angesehen, um dessen Gegenstück, das Gute, überhaupt zu erkennen. Ohne das Böse könne das Gute nicht einmal existieren und von ihm gar nicht unterschieden werden. Donatien-Alphonse-François Marquis de Sade, welcher den Menschen in ein kaltes, gleichgültiges Universum mit dem sicheren Tod vor Augen hineingeworfen sieht, kam auf seiner Suche nach dem absolut Bösen zu dem Schluss, dass dieses im Wunsch nach totaler Vernichtung liege. Er möchte die ganze Schöpfung rückgängig machen, um sich von der übermächtigen Natur zu lösen und vom Sein loszukommen. Er strebt nach einem Triumph über die Natur und einem völligen Bruch, nach einer Zerstörung um der Zerstörung willen, welche für ihn das Böse schlechthin ist.

Aus metaphysischer Sicht wird das Böse im Willen zum Bösen gesehen. In der Morallehre gilt es als böse, wenn sich der Mensch unmittelbar durch Triebe und momentane Bedürfnisse leiten lässt: »Das Böse ist jene Schwäche, die den bösen Neigungen nachgibt«. Die psychoanalytischen Theorien sehen die Ursache des Bösen im Todestrieb, während die evolutionsbiologische Forschung die Aggression, das sogenannte Böse, als Voraussetzung der Selbsterhaltung und Fortpflanzung interpretiert.

Mad or bad?

Die Psychiatrie, die sich im Aufgabenbereich der gerichtlichen Begutachtung und der Behandlung von abnormen Verbrechern mehr als jede andere Disziplin mit dem Bösen beschäftigen muss, hat den Begriff lange Zeit peinlich vermieden. Erst in jüngster Zeit ist eine zögerliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen zu beobachten. In den letzten Jahren beschäftigt die Frage nach dem Bösen viele Fachdisziplinen und Spezialisten, insbesondere Hirnforscher, die neue, moderne Aspekte des Bösen im Menschen entdecken.

Trotz des schwierigen Umgangs mit dem Phänomen des Bösen hat der Mensch seit jeher ein Bedürfnis, dem Bösen einen Namen, eine Gestalt oder ein Gesicht zu geben. Es wurde in Naturerscheinungen, wilden Tieren und bösen Geistern gesehen, in Dämonen und strafenden Göttern, in Ungeheuern, in Krankheiten und Katastrophen. Das Böse nahm die Gestalt von Monstern, von Herrschern der Finsternis und Göttinnen der Bosheit, von Schlangen und Satyrn, schließlich vom Teufel an. Der Satan, der »Vater der Lüge«, ist jener gefallene Engel, der sich gegen Gott auflehnte und von diesem in die Hölle gestürzt wurde. Luzifer, der Fürst der Hölle und Geist der Finsternis, ist nach traditionellen Vorstellungen rastlos unterwegs, um Böses zu tun. In Gestalt des Mephistopheles lässt ihn Goethe in Faust seine zerstörerische Botschaft verkünden: »Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht«. Im ersten Petrusbrief wird der Diabolus, der »Durcheinanderwerfer«, mit einem brüllenden Löwen, der umhergeht und sucht, wen er verschlingen könne, verglichen. Wenn man der althochdeutschen Wurzel des Bösen folgt, erkennt man die Kraft des Bösen in einer destruktiven Energie, einem Verderben bringenden Potenzial: »bosi« bedeutet dort so viel wie anschwellend, aufgeblasen, erdrückend.

Die zur Massenbewegung ausartende Hexenverfolgung des Mittelalters, die zwischen 1450 und 1750 etwa 70 000 Menschenleben – ganz überwiegend von Frauen – forderte, war trotz all ihrer Machtinteressen auch ein furchtbarer Großversuch zur Inkarnation des Bösen. Durch unvorstellbare Foltermethoden, vom »peinlichen Verhör« bis zu schwersten Sadismen reichend, sollten böse Gedanken und Pläne geoffenbart und die Kooperation mit dem Bösen bewiesen werden. Später sind die bis heute noch nicht verschwundenen Vorstellungen der Besessenheit durch das Böse in den Vordergrund getreten und haben eine Rechtfertigung für den Exorzismus, die rituelle Austreibung böser Geister, mit all seinen Folgen geliefert. Das Hervorrufen von tranceartigen psychischen Ausnahmezuständen hat ihm in Asien, Afrika und Lateinamerika eine große Tradition, etwa im Schamanismus, in der in Ostafrika anzutreffenden Zar-Krankheit oder im haitischen Voodoo-Kult, beschert. Aus psychiatrischer Sicht leiden angeblich vom Teufel besessene Personen an hysterischen Anfällen und Dissoziationen, an Dämmerzuständen, psychotischen Schüben oder Wahnerkrankungen. Nicht selten wird das Gefühl, von bösen Kräften beherrscht und von übernatürlichen Mächten besessen zu sein, durch Autosuggestion, seltener auch durch Fremdsuggestion induziert.

Ab dem 19. Jahrhundert, in dem großes Interesse an psychischen Störungen und kriminellem Verhalten entstanden ist, machte sich ein bis heute anhaltender Trend breit, das Böse über die Schreckensgestalten der Geschichte zu personifizieren. Aus den historischen Beschreibungen lassen sich zum Teil recht genaue Psychogramme der grausamen Eroberer, Führer und Herrscher ableiten, welche bemerkenswerte Parallelen zu den bei sadistischen Mördern und Serientätern beschriebenen psychischen Merkmalen aufweisen. Nach heutiger psychiatrischer Diagnostik würde man bei Zar Iwan IV., »dem Schrecklichen« (1530–1584), wohl eine emotional-instabile, aggressiv-sadistische, paranoid-narzisstische Persönlichkeitsstörung feststellen. Adolf Hitler wäre als nicht geisteskranker, gemütsarmer Soziopath mit dissozialen, narzisstischen und histrionischen Zügen, der später amphetaminsüchtig geworden ist und in den letzten Jahren wahrscheinlich an Parkinson erkrankt ist, zu bezeichnen. Bei dem nach außen hin introvertiert, bedächtig und zum Teil sogar väterlich wirkenden Josef Stalin ließen sich extrem misstrauische, schlau-heimtückische, machthungrige, eitle und wiederum paranoide Charakterzüge beschreiben. Und der äußerst öffentlichkeitsscheue Pol Pot, der 1925 geborene kambodschanische Kommunistenführer, dürfte wohl ein gemütskalter, sadistischer, paranoider, unberechenbarer Psychopath gewesen sein.

Wir tun uns also schwer, das Böse zu erklären, zu beschreiben und zu benennen. Am ehesten gelingt es uns noch, einzelne Taten und Verbrechen als »böse« zu bezeichnen. Darf ich Sie deshalb fragen, was Sie spontan antworten würden, wenn ich Sie um ein Beispiel für eine besonders verwerfliche Tat oder das grausame Verbrechen schlechthin bitte, wenn ich Sie um eine Beschreibung dessen, was für Sie das Böse ist, ersuche? Wahrscheinlich würden Sie spontan eines der großen Menschheitsverbrechen, den Holocaust oder den Massenmord der Roten Khmer, die Gräueltaten des jugoslawischen Bürgerkrieges oder den Völkermord in Ruanda nennen. Vielleicht auch die blutigen Eroberungszüge der spanischen Kolonialisten, welchen nach verschiedenen Schätzungen mindestens 50 Millionen Indios zum Opfer gefallen sind, oder den Völkermord in Armenien und die Deportationen in der Stalin-Ära. Fallen Ihnen als Erstes die grausamen Massen ein, die sich an Verbrennungen und Räderungen ergötzen und in blinder Hysterie Unschuldige lynchen? Andere haben bei der Frage nach dem Bösen primär die sozialen Ungerechtigkeiten im Auge, etwa die ungleiche Verteilung der Lebensmittel, die dazu führt, dass allein mit jenem Teil der Nahrung, der das Übergewicht in der westlichen Welt hervorruft, niemand mehr verhungern müsste?

Für manch einen sind jene Formen von Menschenfolter, wie sie im »Hexenhammer« des Mittelalters oder in modernen Anleitungen heutiger Geheimdienste ausführlich beschrieben werden, ein verdichteter Ausdruck des Bösen. In der »Carolina«, der peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V., werden genaue Weisungen zur Durchführung von Vierteilungen, wie sie in Wien noch 1680 vollzogen wurden, gegeben: »Es wird dem Delinquenten von des Scharfrichters Knechten erstlich mit einem großen, dazu bereiteten Messer … die Brust gleich herunter von vorn aufgeschnitten, die Rippen herumgebrochen und herumgelegt, sodann das Eingeweide samt dem Herzen, Lunge und Leber, auch alles, was im Leibe ist, herausgenommen und in die Erde verscharret, anbei wohl dem armen Sünder vorher aufs Maul geschmissen. Nach diesem wird derselbe auf einen Tisch, Bank oder Klotz gelegt, und ihm mit einem besonderen Beil erstlich der Kopf abgehauen, nach diesem aber der Leib durch sohanes Beil in vier Teile zerhauen, welche sämtlich, neben dem Kopfe … an den Straßen aufgenagelt werden.«

Vielleicht denken Sie bei der Frage nach Beispielen des Bösen an Verbrechen, die sich außerhalb von Krieg und Diktatur ereignen, etwa an Familientragödien, bei welchen der Verlierer eines Rosenkrieges einen letzten Sieg erringen will und alle übrigen Familienmitglieder niederschlachtet, oder an radikale Jugendbanden, die in rauschenthemmtem Zustand einen Behinderten zu Tode prügeln. Kommen Ihnen die vielen Arten der sogenannten Euthanasie oder die mannigfachen Facetten des Psychoterrors, von den subtilen Formen der Niedertracht bis zum systematischen Mobbing reichend, in den Sinn? Für manche zeigt sich heute das Gesicht des Bösen am klarsten in Massenkündigungen, durch welche die wirtschaftlichen Existenzen ganzer Familien zerstört werden. Die zynische Verwendung des Ausdrucks »Freisetzung« beweist abermals, wie sehr wir das Böse euphemistisch umschreiben.

Bei Kriegen, Massenvernichtungen und anderen bösen Großereignissen wird uns allerdings das individuelle Böse viel zu wenig bewusst. Der Krieg erscheint wie eine Katastrophe, welche die Menschen in ihrer Gesamtheit trifft, etwas Geplantes und von oben Vorgegebenes, bei dem höhere Ziele angestrebt werden, ohne dass das unendliche Leid des Einzelnen zählt. Bei Verbrechen, die tausende Menschenleben fordern, setzt man sich nicht gern mit dem Einzelnen, sei er nun Opfer oder Täter, auseinander. Um das Böse besser fassbar zu machen, ist es hilfreich, dieses anhand einzelner Taten und Schicksale zu betrachten. Darf ich Sie deshalb bitten, an ein einziges Verbrechen zu denken, das Sie als durch und durch böse bezeichnen. Ich nenne Ihnen einige Beispiele:

•Die Tat des Josef F., der seine Tochter 24 Jahre lang in einem dunklen, feuchten Kellerverlies eingesperrt, sie über Jahre vergewaltigt und mit ihr acht Kinder gezeugt hat, welche ebenfalls viele Jahre ihres Lebens im fensterlosen Kerker gefangen gehalten wurden.

•Die Gedanken- und Handlungswelt jenes sadistischen Sexualmörders, welcher wenige Tage nach der Haftentlassung ein Kind grauenhaft ermordete, lachend erzählte, dass dieses mit dem Angebot seines Taschengeldes um sein Leben gebettelt habe und ankündigte, dass er die bevorstehende Haft mit der Vorstellung, eines Tages ein Mädchen »vivisezieren« – das heißt, bei lebendigem Leib Stück für Stück und Schicht für Schicht zerschneiden – zu können, leicht überleben werde.

•Das Inferno des Kriegsheimkehrers Walter Seifert, der im querulativen Kampf um eine Rente einen Flammenwerfer baute, in eine Grundschule eindrang und acht Kinder sowie zwei Lehrerinnen tötete und mehrere Personen lebensgefährlich verletzte. Viele Opfer leiden bis heute an den körperlichen und seelischen Folgen des in ihrer Kindheit, am Beginn des Lebensweges erlittenen Anschlags.

•Das außer Kontrolle geratene Agieren jener 21-jährigen Mutter, die ihr schreiendes Baby nicht beruhigen konnte und dann wiederholt gegen eine Wand schmetterte, sodass es neben zahlreichen Brüchen irreparable Schäden an Hirn und Rückenmark erlitt und für sein Leben lang ein schwerer Pflegefall bleiben wird.

•Das Morden des als »Dr. Tod« berühmt gewordenen Harold Shipman, der als praktischer Arzt in Manchester über 20 Jahre hinweg mindestens 250, möglicherweise sogar mehr als 600 meist hilflose und pflegebedürftige PatientInnen aus Habgier und narzisstischen Größenanwandlungen mit Betäubungsmitteln tötete.

•Den Kannibalismus des Jeffrey Lionel Dahmer, welcher zwischen 1978 und 1981 insgesamt 17 junge, meist homosexuelle Männer in eine Falle lockte, überwältigte und fesselte, sie dann über Stunden und Tage quälte, sie vielfach vergewaltigte, ehe er sie ermordete, sich noch an ihren toten Körpern verging und Teile der Leichen verspeiste.

•Das Schicksal spielende, über Leben und Tod entscheidende Agieren der Nazi-Ärzte, welche die Kinderschar mit völliger Unberührtheit und kaltem Lächeln in zwei Gruppen einteilten: in eine, die direkt in die Gaskammer geführt wurde, und in eine andere, mit deren Mitgliedern entsetzliche medizinische Experimente wie künstliche Infizierung mittels tödlicher Krankheitserreger oder Tötung durch Phenol-Injektionen direkt ins Herz durchgeführt wurden.

•Das tyrannische Horrorwerk des Vietnam-Veteranen Leonard Lake und des Ex-Marineinfanteristen Charles Ng, welche zwischen Juli 1984 und April 1985 in einem abgelegenen Bunker in den Bergen der Sierra Nevada mindestens 25 Frauen folterten, vergewaltigten und ermordeten, dies mit dem Ziel, die meist attraktiven Opfer zu beherrschen, sexuell gefügig zu machen und zu töten. »Wenn du etwas liebst, lass es frei, wenn es nicht zurückkommt, jage es und bringe es um«, war auf einem in der Nähe des Bunkereingangs gefundenen Schild zu lesen, was darauf hinwies, dass sie den Frauen teilweise die Flucht ermöglichten, um sie mit Nachtfernrohr zu verfolgen und mit Präzisionswaffen zu erschießen.

•Das grauenhafte Handeln jenes Mörders, der – ganz seinen perversen Fantasien folgend – seinen gefesselten Opfern den Bauch aufschlitzte, sich durch ihr Körperinneres zum Herzen vorwühlte und es als höchsten Genuss bezeichnete, durch Zusammendrücken des schlagenden Lebensorgans einen Menschen sterben zu lassen.

•Die am 27. Oktober 1553 in Genf auf Geheiß Calvins durchgeführte Verbrennung des »Ketzers« Michel Servet, der auf einem Stapel feuchten Holzes durch ein »langsames Feuer« drei grauenhafte Stunden lang gemartert wurde, bis er endlich den Tod finden konnte. Sein einziges »Verbrechen« bestand darin, dass er in der Frage der Dreifaltigkeit Gottes eine andere Meinung vertrat als die calvinistische Kirche.

•Die Menschenschlachtungen des kanadischen Schweinezüchters Robert Pickton, welcher zwischen 1995 und 2001 in der Nähe von Vancouver 26 Frauen bestialisch tötete, die Leichen mit der Häckselmaschine zerkleinerte und die Leichenteile teilweise an Schweine verfütterte, teilweise mit Schweinefleisch vermischte und Freunden und Bekannten zu essen gab.

•Das von Goldgier und reinem Sadismus getriebene Wüten der Konquistadoren, welche die Schärfe ihrer Schwerter an den Leibern der zutraulich-ahnungslosen Bevölkerung »überprüften«, indem sie den Eingeborenen den Bauch aufschlitzten oder Gliedmaßen Stück für Stück abschnitten und Indiokinder ihren Hunden zum Fraß vorwarfen.

•Den Kindesmord jener hessischen Eltern, die ihre neugeborene Tochter Siri über ein halbes Jahr mit sadistischer Freude folterten, ihr die Knochen brachen, die Lippen mit einer Zange zusammenklemmten, das halb verhungerte Baby mit heißem Wasser überbrühten, ehe sie dem erst acht Monate alten Kind am 2. Mai 2008 den Schädel zertrümmerten.

All diesen Taten ist gemeinsam, dass sie nicht von psychisch kranken Menschen verübt worden sind, dass sie einen beträchtlichen Planungsgrad aufweisen, die Opfer entmenschlicht wurden, extreme Gemütskälte und hochgradiger Sadismus auf Täterseite und schwerwiegendste Folgen für die Opfer zu erkennen sind und dass sie bei jedem normal empfindenden Menschen instinktiv Abscheu und Grauen hervorrufen. Damit sind bereits einige wesentliche Kennzeichen des Bösen beschrieben.

»Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, was man lässt«, formulierte Wilhelm Busch in seiner unvergleichlich treffenden und knappen Art. Damit hat er wohl nicht nur unsere Gleichgültigkeit gegenüber Armut und Elend der Mitmenschen gemeint, sondern auch Verhaltensweisen wie jene von gezählten 40 Bergsteigern, die in ihrem ehrgeizigen Ziel, den höchsten Berg der Welt zu bezwingen, den am Rande der Route sterbenden bolivianisch-amerikanischen Arzt Dr. Nils Antezana einfach seinem Schicksal überließen und sich nicht um den Erfrierenden kümmerten.

Das Böse begleitet den Menschen seit Beginn und ist allgegenwärtig, es ist aktuell und zeitlos. Je mehr wir uns aber bemühen, dieses Übel zu verdrängen und zu verschweigen, desto mehr wird es uns ängstigen. Bei unseren Überlegungen zum Bösen müssen wir unterscheiden, ob wir es mit bösen Fantasien, bösen Plänen oder – was maßgebend ist – mit bösen Handlungen zu tun haben. Jeder Mensch hat böse Gedanken und Vorstellungen, entwickelt negative Ideen und spürt in sich aggressive Impulse und Strebungen. Solche interpsychische Vorgänge sind nicht von vornherein etwas Schlechtes, das heißt, das gedankliche Durchspielen hat oft auch eine entlastende, konfliktbereinigende Funktion. Der Effekt ist ähnlich wie jener der Märchen, welche durch ihre archaischen Bilder, ihre wundersame Symbolsprache und ihre klare Auflösung unsere unbewussten Aggressionen und Ängste besänftigen können. Für die Psychohygiene ist es von größter Wichtigkeit, dass die Gedanken tatsächlich frei sind – wie es in einem Volkslied so schön heißt – und der Mensch nicht durch moralische Vorstellungen vom anständigen Denken dieser inneren Spiel- und Übungswiese beraubt wird. Wenn aus bösen Gedanken böse Pläne mit all ihren schrecklichen Einzelheiten aufgebaut werden, wird der Bereich der persönlichen Freiheit und Verantwortbarkeit zum Teil schon verlassen. Entscheidend ist aber die Tat, also die Frage, ob Vorstellungen, Gedanken und Pläne tatsächlich in Handlungen umgesetzt werden, ob die Grenze von innen nach außen überschritten und der Schritt zur Verwirklichung, zum bösen Werk getan wird. Ganz im Sinn des Bibelwortes, nach welchem man den Menschen an seinen Taten erkennen wird, hängt auch die Verwerflichkeit des Bösen von der Frage der Umsetzung in eine konkrete Handlung ab.

Je mehr der Wille durch tiefgreifende Emotionen, hochgeschaukelte Affekte, dynamischen Druck einer Gruppe oder mitreißenden Sog einer Masse, durch Alkohol- und Drogeneinfluss oder durch psychische Krankheiten beeinträchtigt ist, umso mehr verschiebt sich die Grenze zwischen Bösem und Gestörtem, zwischen freier Entscheidung und krankhaft determiniertem und damit unfreiem Handeln. Je klarer der Verstand, desto größer die Möglichkeit zur bösen Entscheidung. Halten wir also fest: Ein Tatverhalten ist als umso bösartiger zu bezeichnen, je mehr der dahintersteckende Plan in vollsinnigem Zustand entworfen wurde und je weniger der Täter durch emotionale Einflüsse, Berauschungen, psychopathologische Phänomene oder Hirndefekte beeinträchtigt gewesen ist. Der Leitgedanke des Planungsgrades einer Tat zieht sich vom Profiling noch nicht identifizierter Täter bis hin zur Quantifizierung des Bösen, zur Einschätzung des Verwerflichkeitsgrades einer bösen Handlung.

Wie schwierig die Unterscheidung zwischen »mad or bad« in der Praxis ist, zeigt sich in einer der kriminalhistorisch bedeutsamsten Kriminaltaten, in jener des Albert Hamilton Fish. Dieses Verbrechen beinhaltet so viel an Sadismus, pathologischer Bösartigkeit und geradezu unglaublicher Perversität, dass man kaum sagen kann, ob der Täter eher als krank denn als kriminell betrachtet werden muss:

Albert Fish wurde 1870 in einer mit psychischen Krankheiten schwer vorbelasteten Familie geboren. Seine Mutter erkrankte an Schizophrenie, ein Bruder war psychisch behindert, ein weiterer Bruder war Alkoholiker und eine Schwester litt unter Wahnideen. Schon im Alter von fünf Jahren verlor Fish seinen Vater und wurde daraufhin von der überforderten Mutter in ein Kinderheim gegeben. Dort wurde er vernachlässigt, verprügelt und auf vielerlei Weise gequält. Fish, der in sich starke homosexuelle Tendenzen spürte, sagte später, dass ihm die Qualen Spaß gemacht und ihn die Übergriffe sexuell erregt hätten. Schon damals habe er seine sadistische und masochistische Veranlagung erkannt. Später fügte er sich selbst Schmerz zu, indem er zum Beispiel verschiedene Nadeln in diverse Körperteile steckte. Wie so viele spätere Serienmörder fiel er in der Kindheit durch extreme Tierquälereien auf. So tränkte er einmal den Schwanz eines Pferdes mit Benzin und zündete diesen an. Als Jugendlicher verehrte er den deutschen Serienmörder Fritz Haarmann, er war von dessen Taten fasziniert und sammelte alles, was er über diesen bekommen konnte.

Albert Fish war vier Mal verheiratet und hatte insgesamt sechs Kinder. Diese zwang er, rohes Fleisch zu essen und ihn mit einem Stock blutig zu schlagen. Nachdem er von seiner ersten Frau verlassen worden war, begann er, sich selbst in obsessiver Weise zu quälen. Er stach sich mit großen Nadeln in der Genital- und Anusregion, führte sich mit Benzin getränkte Baumwollstreifen in den After ein und zündete diese an. Wie die meisten Serienmörder wurde Fish von einer ständigen Unruhe getrieben, welche ihn zu Reisen in insgesamt 23 US-Staaten führte.

Im Alter von 40 Jahren beging er seinen ersten Mord an einem Homosexuellen. In der Folge wurde wiederholt gegen ihn wegen Mordverdachts ermittelt, Fish konnte aber nie überführt werden.

Im Alter von 58 Jahren entführte Fish ein zehnjähriges Mädchen, brachte das Kind in ein leer stehendes Haus, wo er es überwältigte. Er erwürgte das Opfer, schnitt ihm den Kopf ab, kochte verschiedene Körperteile und verzehrte sie über mehrere Tage zur Mahlzeit. In der Folge entführte er mehrere Kinder, schnitt diesen Nase, Ohren und Penis ab, quälte sie zu Tode und aß ihre Innereien. Ab dem 52. Lebensjahr wurde er von religiösen Wahnvorstellungen befallen, glaubte, der Heiland zu sein und die Welt für die Sünden bestrafen zu müssen. Auf der Straße verkündete er:

»Gebenedeit sei, wer kleine Kinder packt, um ihnen mit Steinen den Schädel einzuschlagen.«

Fish wurde 1934 verhaftet. Er wurde überführt, weil er in einem Brief an die Mutter seines Opfers das Töten und Verzehren der Tochter ausführlich geschildert und seine Vorliebe für Menschenfleisch angesprochen hatte. Im Laufe der Ermittlungen konnten ihm zahlreiche Tötungen nachgewiesen werden. Man vermutete, dass er bis zu hundert Personen umgebracht hatte. Trotz mehrerer psychiatrischer Untersuchungen konnte nicht geklärt werden, ob er schuldfähig sei oder nicht. Die Diagnosen lauteten auf Persönlichkeitsstörung, Selbstkastrierung und Kastrierung anderer, Sadismus, Masochismus, aktive und passive Flagellation, Nadelstechen, Urintrinken, Essen der eigenen Exkremente, Pädophilie, Exhibitionismus, Voyeurismus, Fetischismus, Kannibalismus und Nekrophilie.

Das Gericht befand ihn trotz psychiatrischer Zweifel an seinem Verstand als zurechnungsfähig und verurteilte ihn zum Tode. Vor seiner Hinrichtung zeigte sich Fish freudig erregt und meinte, dass er einen so »einzigartigen Schauer«, wie er ihm auf dem elektrischen Stuhl zuteil werde, »bisher noch nicht ausgekostet habe«. Beim ersten Versuch der Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl kam es zu einem Kurzschluss, da Fish 27 Metallnadeln in seinen Unterleib gesteckt hatte. Erst der zweite Versuch tötete den Marquis de Sade unter den Serienkillern. Auch wenn seine Verbrechen die Grenzen des Vorstellbaren überschreiten und an grausamer Perversität nicht zu überbieten sind, stellt man sich die Frage, ob jemand, der unter Halluzinationen und Wahnzuständen gelitten hat, tatsächlich auf den obersten Platz der Skala des Bösen gehört.

Zeitlos böse

Das Empfinden der Bevölkerung wertet jene Taten als besonders verwerflich, die zu jeder Zeit und in jeder Kultur als moralisch untragbar und sündhaft gelten. In der Rechtskunde werden Mord, Vergewaltigung, Diebstahl als delicta mala per se bezeichnet, das bedeutet, sie werden unabhängig von jeder rechtlichen und religiösen Wertung als böse eingeschätzt. Es muss also etwas geben wie eine genetisch angelegte Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Gut und Böse. Dieser »Moralinstinkt« lässt sich aber nicht näher definieren. Ähnlich wie beim Begriff des Bösen weiß jedoch jedermann, was damit gemeint ist: die Einhaltung von bestimmten sozialen Regeln, die für ein Zusammenleben von Menschen unabdingbar sind; die Achtung der Rechte des anderen und die Eindämmung eigener egoistischer Ansprüche; vor allem aber die Verhinderung der Zerstörung menschlichen Lebens. Wissenschaftler aus den Bereichen Biologie, Psychologie und Philosophie, die sich mit der Frage eines angeborenen Moralinstinkts beschäftigen, kamen zu dem Schluss, dass die zentralen Maßstäbe der Moral und anderer Werte global vergleichbar und keine Frage der jeweiligen Kultur seien. Ob das Gewissen tatsächlich in den Genen steckt, ob wir mit einem Sinn für das Gerechte auf die Welt kommen und uns die Unterscheidung zwischen Gut und Böse in die Wiege gelegt wird, wie diese »Vernunft der Natur« angelegt ist, ist allerdings wie so vieles in der Forschung über das Böse noch nicht geklärt.

In diesem Sinne kann das Böse als jener Handlungsteil verstanden werden, der mit freiem Willen unter Umgehung des »Moralinstinkts« durchgeführt wird und sich in aggressiver Weise gegen die körperliche, psychische oder soziale Integrität anderer richtet. In den folgenden Kapiteln wird der Begriff des Bösen in dieser pragmatischen Festlegung verwendet.

Die Vermessung des Bösen oder wie böse ist das Böse?

»Im Schlechtesten der Menschen steckt noch so viel Gutesund im Besten noch so viel Böses,dass keiner befugt ist, zu urteilen und zu verurteilen.«

Robert L. Stevenson