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Das Buch der anderen E-Book

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Beschreibung

»Es gibt so viele Möglichkeiten, Figuren zu erschaffen, wie es Autoren gibt.« Zadie Smith 21 Autorinnen und Autoren ihrer Generation folgten Zadie Smiths Bitte, zugunsten der von ihr ins Leben gerufenen Charity-Organisation »826 New York«, die Kinder und Jugendliche zum Lesen und Schreiben ermutigen will, honorarfrei eine Short Story zu der vorliegenden Anthologie beizutragen.Die Vorgabe: eine Geschichte schreiben, in deren Mittelpunkt eine fiktive Person steht. So präsentiert Nick Hornby das äußerst wechselvolle Autorenleben des J. Johnson in fiktiven Verlagsankündigungen »Über den Autor« (illustriert von Posy Simmonds), Jonathan Safran Foers Großmutter Rhoda bietet Plätzchen an, um uns die Geschichte ihrer Herzuntersuchung zu versüßen, und Dave Eggers lässt uns teilhaben an der Geschichte des hoffnungslos verliebten Steinriesen »Theo«.Mit einer Einleitung von Zadie Smith und Geschichten einiger der besten jungen englischsprachigen Autorinnen und Autoren diesseits und jenseits des Atlantiks ist »Das Buch der anderen« so schillernd und innovativ wie seine Autoren und so lebendig und vielfältig wie seine Charaktere. Mit Beiträgen von: Edwidge Danticat, Dave Eggers, Jonathan Safran Foer, Andrew Sean Greer, Aleksandar Hemon, A.M. Homes, Nick Hornby (u. Posy Simmonds), Heidi Julavits, Miranda July, A.L. Kennedy, Hari Kunzru, Jonathan Lethem, Toby Litt, David Mitchell, Andrew O'Hagan, ZZ Packer, George Saunders, Zadie Smith, Adam Thirwell, Colm Tóibín, Vendela Vida »Dieses Buch ist ein Schaufenster. Wer stehen bleibt und durch die Scheibe späht, sieht die junge anglo-amerikanische Literatur.« Die Welt

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Seitenzahl: 353

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Das Buch der Anderen

Übersetzt von: Henning Ahrens, Ditte und Giovanni Bandini, Isabel Bogdan, Barbara Christ, Clara Drechsler und Harald Hellmann, Juliane Gräbener-Müller, Frank Heibert, Ingo Herzke, Marcus Ingendaay, Margarete Längsfeld, Volker Oldenburg, Bernhard Robben, Benjamin Schwarz, Uda Strätling, Beate Thill, Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

Herausgegeben von Zadie Smith

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

VorwortJudith CastleFrankGideonGordon1. Stolz2. Romantik3. Wert4. Vernunft5. Form6. Empfindlichkeit7. Aufklärung8. PolitikHanwell sen.J. JohnsonWer schreibt, der bleibtLéléDer LügnerMagda MandelaDas MonsterNigoraRhodaRichterin Gladys Parks-SchultzSoleilRoy SpiveyCindy StubenstockTheoPerkus ToothDonal WebsterWelpeNewton WicksAutorinnen und AutorenDanksagung
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Vorwort

In diesem Buch geht es um einzelne Charaktere. Die an die beteiligten Autoren ausgegebene Devise lautete schlicht: Erfindet jemanden. Jeder Beitrag sollte sodann nach dem Namen der Hauptfigur benannt werden, also »Donal Webster« von Colm Tóibín, »Cindy Stubenstock« von A. M. Homes, »Frank« von A. L. Kennedy und so weiter. Weitere Auflagen bezüglich Geschlecht, Rasse oder sogar Spezies gab es nicht. So entstanden auch Geschichten wie »Das Monster« von Toby Litt oder »Welpe« von George Saunders. Kurz vor Redaktionsschluss kam mir die Idee, sämtliche Titel insofern zu vereinheitlichen, als immer der Vor- und der Nachname erscheinen sollten, was allerdings auf wenig Begeisterung stieß. Edwidge Danticats Einspruch überzeugte mich schließlich durch seine schiere Einfachheit: »Ich halte eine derart starre Konvention für wenig hilfreich. Nicht nur, weil sich das Inhaltsverzeichnis dann reichlich monoton liest, sondern auch, weil ein und dieselbe Person von unterschiedlichen Menschen ganz unterschiedlich genannt wird.« Also blieben beispielsweise Danticats »Lélé« oder Adam Thirlwells »Nigora« gewissermaßen im Naturzustand – ohne Nachnamen. In einem Fall ist der fehlende Nachname sogar das Geheimnis, um das sich die ganze Geschichte dreht. In einem anderen ist die Hauptfigur, um mit Simone Weil zu sprechen, ein geradezu geheiligtes menschliches Wesen und nicht nur eine Person oder Persönlichkeit, und der Name spielt überhaupt keine Rolle.

Dieser Band enthält insgesamt einundzwanzig Geschichten, zu viele, um sie alle einzeln zu nennen. Aber jede folgt ihrem ganz persönlichen Konzept, und es gab auch keine theoretischen Vorgaben hinsichtlich des Realismus einer einzelnen Figur – falls so etwas überhaupt existiert. Idealerweise sollte am Ende herauskommen, dass es etwa so viele Möglichkeiten der Charakterdarstellung gab wie Autoren. (Ich rechnete sogar damit, dass jemand die Leitidee als solche verwarf und mir mit seiner Geschichte bewies, dass es so etwas wie eine Charakterfigur gar nicht gibt.) Verblüffend ist allemal, wie verschieden das Thema von den einzelnen Autoren angegangen wurde, allein die gewählten Stillagen sind so individuell wie eben jene »anderen Leute«, von denen die Geschichten ihre Titel haben. Als Herausgeberin habe ich mich ehrlich bemüht, ihre Einzigartigkeit zu erhalten und so wenig einzugreifen wie möglich.

Ein Kennzeichen der eingereichten Geschichten wurde indes konsequent getilgt, nämlich das Zeichenformat, vulgo Schrifttype. Jeder Verlag hat natürlich seine Brotschrift, sie gehört zur Corporate Identity. Autoren sind da im Grunde nicht anders, auch sie versenden ihre Texte in einem Design, das einiges über sie aussagt. So verwenden nicht wenige Autoren dieses Buches, übrigens alles Amerikaner, die nostalgische Schriftart American Typewriter – gewissermaßen als seien die Druckfarben noch feucht und als ratterte im Hintergrund nach wie vor eine Rotationspresse. Zwei britische Landsleute bevorzugen dagegen die elegant-melancholische Didot. Ein anderer formatiert seinen Text wie eine Zeitungsspalte und benutzt dabei die akademisch angehauchte Georgia. Ähnlich verhält es sich beim Schriftgrad, er reicht von der myopischen Zehnpunkt- bis hin zur plakativen Achtzehnpunktschrift. Der Eigenarten und penibel durchgehaltenen Marotten gibt es viele, und sie erzählen immer auch ihre eigene Geschichte, doch in einem Buch müssen sie verschwinden, all die Vignetten zwischen den Absätzen, die grafisch gestalteten Titelzeilen, die überdimensionierten Anführungszeichen und die anderen abenteuerlichen Formatierungsideen wie zentrierte Dialogzeilen in Verbindung mit linksbündigem Fließtext etc. pp. Zuweilen wird sogar ganz auf Absätze verzichtet, auch das kommt vor. Doch nichts davon schafft es zwischen zwei Buchdeckel, was eigentlich schade ist, denn selbst solche Macken sind nicht ohne Wirkung und stets Teil der Botschaft. Ich hoffe aber, es bleibt – auch ohne Klimbim – genug übrig.

Bevor Sie sich selbst ein Bild machen können, muss ich noch ein Thema ansprechen, das im Zusammenhang mit Kunst und Literatur leicht anrüchig klingt, nämlich Geld. Dieses Buch ist sozusagen ein »gemeinnütziges Gemeinschaftswerk«, das heißt, die Herausgeberin muss Autoren ansprechen, die bereit sind, umsonst zu arbeiten. Nun weiß aber jeder Autor aus Erfahrung, dass selbst kurze Geschichten unberechenbar sind und sich zu einem raumfordernden Prozess im eigenen Zeitmanagement entwickeln können. Wenn man eine Geschichte anfängt, weiß man eigentlich nie, wann genau sie fertig sein wird – nach zwei Stunden, nach einigen Tagen, nach vier Monaten oder noch später. (Auch Zeichner von Comicromanen kennen dieses Phänomen.) Natürlich verhielt es sich mit diesem Buch nicht anders. Ich möchte also allen denjenigen danken, die für dieses Projekt Zeit geopfert haben, manchmal sogar viel Zeit, und das ganz ohne Honorar. Normalerweise lehnen Profis unbezahlte Arbeit ab – und das aus gutem Grund, wenn man sich George Eliots Bonmot in Erinnerung ruft. (»Von der Welt erwarte ich keine Gegenleistung für meine Bücher – außer Geld, damit ich nicht in Versuchung gerate, nur noch für Geld zu schreiben.«) Aber vielleicht ist es zuweilen ganz nützlich, wieder in die eigene Anfangszeit zurückversetzt zu werden, als man schrieb, weil man es wollte, und noch nicht diesen merkwürdigen Beruf daraus gemacht hatte. Es kann durchaus befreiend sein, alle strategischen und Effizienzgedanken zurückzustellen und »einfach nur so« zu schreiben. Das Stück muss dann weder in den neuen Roman passen noch muss es sich an die Konventionen irgendeiner Zeitschrift halten. Es kann sich erlauben, rücksichtslos zu sein, muss keinem Auftraggeber gefallen, mit dessen Honorarschecks man für gewöhnlich seinen Lebensunterhalt bestreitet. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Autoren dieses Buchs experimentieren, Tonlagen und Perspektiven ausprobieren, die man so von ihnen nicht kennt. Allein das macht diese Storysammlung schon lesenswert. Die einzelnen Geschichten sind lediglich – nach den titelgebenden Figurennamen – alphabetisch angeordnet, Sie können sie also in beliebiger Reihenfolge lesen.

Zugute kommen die Erlöse der Non-Profit-Organisation 826 New York,[*] die sich zum Ziel gesetzt hat, im Rahmen von Schülerworkshops sowie speziellen Lehrerfortbildungen junge Menschen zum Schreiben zu animieren. Und wenn man einmal darüber nachdenkt, leistet unser Buch, unser »gemeinnütziges Gemeinschaftswerk«, etwas ganz Erstaunliches. Hier erschaffen echte Schriftsteller reine Kunstgestalten, die wiederum echtes Geld für echte Jugendliche einspielen. Ich finde, für erfundene Figuren ist das eine äußerst seltene Daseinsberechtigung.

 

Zadie Smith

Rom, 6. März 2007

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Judith Castle

David Mitchell

»Hallo? Judith Castle?«

»Am Apparat.«

»Mein Name ist Leo Dunbar. Ich bin Olivers …«

»Olivers Bruder! Ich habe schon unendlich viel über Sie gehört, Leo!«

»Äh … gleichfalls, Judith. Hören Sie, ich …«

»Voll der Begeisterung, hoffe ich doch?«

»Bitte?«

»Ollys Erzählungen. Über meine Wenigkeit. Voll der Begeisterung!«

»Hören Sie, Judith, ich … also, ich muss Ihnen etwas Furchtbares mitteilen.«

»Ja, ich weiß! Und ich sage Ihnen, an die Decke gehen könnte ich deswegen.«

»Sie … wissen es?«

»Natürlich, die Nachrichten berichten über nichts anderes!«

»Was?«

»Ein landesweiter Bahnstreik betrifft nun mal das ganze Land, Leo! Ausgerechnet an dem Wochenende, wo ich nach Lyme Regis komme, um mit Olly den Liebesakt zu vollziehen, treten die verdammten Zugführer in Streik! Es wird genauso sein wie in den Siebzigern – drastische Preissteigerungen, Saturday Night Fever, hochnäsige Araber, warten Sie’s ab. Solche Dinge kehren immer wieder. Aber kein Gewerkschaftsrowdy stellt sich zwischen mich und Ihren Bruder. Ich könnte natürlich das Auto nehmen, aber auf der Autobahn bekomme ich immer meine Migräne, wie Olly Ihnen sicher erzählt haben wird. Holen Sie mich ab, oder kommt er selbst?«

»Judith, ich rufe aus einem anderen Grund an.«

»Schießen Sie los.«

»Oliver ist … tot, Judith … Judith? Sind Sie noch dran?«

»Aber unsere Suite ist schon gebucht. De luxe, mit Doppelbett. Die junge Frau im, im, im Hotel Excalibur hat meine Kreditkartennummer notiert. Es ist alles vorbereitet. Ich habe Oliver gestern Bescheid gegeben. Da war er noch nicht tot. Er war nicht einmal krank.«

»Es war ein Unfall mit Fahrerflucht. Er wollte schnell noch Tiefkühlerbsen besorgen und kam nicht mehr zurück. Der Notarzt sagte, er sei … der Notarzt sagte, Oliver sei auf der Stelle tot gewesen.«

»Aber das ist … entsetzlich …«

»Wir können es selbst nicht fassen.«

»Das ist … also … Ihr Bruder … wann ist die Beerdigung?«

»Die Beerdigung?«

»Olly und ich waren ein Liebespaar, Leo! Da darf ich auf der Beerdigung wohl kaum fehlen!«

»Die … die Beerdigung war leider schon.«

»Schon?«

»Heute Vormittag. Im engsten Kreis. Ich habe seine Asche von der Cobb gestreut.«

»Der was?«

»Der Cobb. Die Hafenmauer von Lyme Regis.«

»Ach so, die. Ja. Olly hat versprochen, mit mir dorthin zu gehen … zum Sonnenuntergang. Morgen Abend. Der Sonnenuntergang. Ach. Das Ganze ist so … so … tot?«

»Tot.«

»Das wenigste, was ich tun kann, ist zu Ihnen zu kommen und mich nützlich zu machen.«

»Sie sind ein Engel, Judith, und Olly hatte nur die zärtlichsten Worten für Sie übrig, aber wenn ich offen sein darf, es ist besser, Sie kommen nicht. Hier ist … der Teufel los. Das verstehen Sie doch, oder? Verwandte müssen benachrichtigt werden, die Exfrau, geschäftliche Angelegenheiten sind zu regeln, Anwälte … Berge von Papierkram … Versicherungen, das Testament, Vollmachten … tausendundeine Sache … ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht …«

 

Camilla macht mit ihrem Vater und Micki-Schicki Urlaub in Portugal. Ich habe ihr meine Tragödie in aller Kürze auf die Mailbox gesprochen. Die Tomaten zu gießen wirkte beruhigend, bis ich ein paar Blattläuse entdeckte. Ich verpasste den abscheulichen Biestern eine ordentliche Ladung Gift. Dann waren die Ameisen an der Reihe. Einen Kessel kochendes Wasser nach dem anderen habe ich auf die Terrasse geschüttet, bis ihre Leichen den Mosaikbelag pflasterten wie ein Sack voll Kommas. Plötzlich saß ich im Wintergarten, wo ohrenbetäubend laut Evita spielte. Olly musste zugeben, dass Sir Andrew ganz herrliche Melodien komponiert. Das war mit das Letzte, was er zu mir sagte. »Another Suitcase in Another Hall« begann, und die Tränen strömten mir über das Gesicht. Das Wochenende sollte ein neuer Anfang sein. Ich wollte mir Ollys Atelier ansehen, seine Familie kennenlernen, mich ihm hingeben, während der Meerwind sanft über die Vorhänge strich. Nach all den lauen ersten Begegnungen, all den zerstörten Hoffnungen hatte ich endlich einen Mann gefunden, dessen Mängel sich beheben ließen. Ein paar stramme Spaziergänge gegen den Bauchspeck. Ein taktvoller Hinweis, dass es vielleicht an der Zeit wäre, sich von dem grässlichen Schnauzbart zu trennen. Ein paar Musicals, um ihm seine Schwäche für »Folk Rock« auszutreiben. Dass Olly und ich geistig auf einer Ebene schwammen, war nicht weiter erstaunlich: Bei My Soulmate können nun mal nicht Hinz und Kunz Mitglied werden. Bei unserem Rendezvous in Bath konnte er jedoch nicht verbergen, dass er auch auf sinnlicher Ebene hingerissen von mir war. Sobald sie die fünfzig überschreiten, lassen sich die meisten britischen Frauen gehen, und wir Übrigen erstrahlen wie Rosen auf einem Trümmerfeld.

 

Ich riss das Steuer meines Saab herum und fuhr in die letzte freie Lücke auf dem Krankenhausparkplatz, sehr zum Ärger einer Rothaarigen, die sich offenbar einbildete, sie hätte ihn für sich gepachtet. Solche Dinge perlen an mir ab. Mein Buchladen hatte geöffnet, aber zu meiner Bestürzung war nicht ein Kunde zu sehen. Winnifred kämpfte im Lager mit einem Niesanfall, also stellte ich mich hinter den Tresen und ging die Post durch: drei Rechnungen, ein Vordruck vom Finanzamt, zwei Lebensläufe von aufstrebenden Talenten auf der Suche nach einem Samstagsjob, ein Glückwunschbrief, dass der Empfänger in der Lotterie eine Villa auf den Fidschi-Inseln gewonnen hatte – auf jede dieser dreisten Gaunereien kommen tausend Dummköpfe, die einfach nicht begreifen wollen, dass niemand Geld verschenkt –, und eine Ansichtskarte von Barry aus Grange-over-Sands, dem Auffanglanger für die asylsuchende Seele. Eine Australierin kam herein und fragte nach der No. 1 Ladies’ Detective Agency. Wir kamen ins Gespräch, und bald hatte ich Milly aus Perth dazu überredet, doch gleich die Alexander-McCall-Smith-Sammelbox zu kaufen. Sie verließ den Laden, und Winnifred hielt es für angebracht, sich zu zeigen. Winnifred ist eine kurzsichtige, vegane, homöopathische, Pu-der-Bär-hafte Lesbierin aus Wales.

»Judith! Was können wir … heute für dich tun?«

»Zunächst einmal die No. 1 Ladies’ Detective-Sammelbox nachbestellen. Quält uns wieder mal der Heuschnupfen?«

»Aber … du weißt doch, Judith, dass du … dass du …«

»Dass ich was, Winnifred?«

»… dass du … eigentlich … nicht mehr hier arbeitest.«

»Irgendwer muss das Kind schließlich schaukeln, solange Barry in der Gegend herumgondelt und der Ort voll mit Feriengästen ist. Wäre die Kundin eben eine Zigeunerin gewesen – huch, heutzutage muss man ja ›Roma‹ sagen, nicht? –, stündest du jetzt in einem leeren Laden. Denk mal drüber nach.«

»Aber … Barry wird kaum bereit sein, dich … zu bezahlen.«

»Bin ich vielleicht angezogen, als müsste ich mir Sorgen darüber machen, wie ich nächste Woche die Miete bezahle?«

»Judith … Barry hat gesagt, wenn du kommst, soll ich dich bitten …«

»Oliver ist tot, Winnifred.« Es platzte einfach so aus mir heraus. »Mein … mein Geliebter. Tot.«

Winnifred trat einen Schritt zurück. »Oh, Judith!«

»Mein Seelenverwandter.« Die Tränen übermannten mich. »Autounfall mit Fahrerflucht.«

»Oh, Judith!«

»Der Hohn darin ist einfach nicht zu ertragen. Morgen wollte Olly mich seiner Familie vorstellen. Wir wollten gemeinsam nach Fossilien suchen. Auf der Hafenmauer Eis essen. Den Liebesakt vollziehen. Es ist so … entsetzlich … ich wusste überhaupt nicht, an wen ich mich wenden …«

»Oh, Judith. Setz dich. Ich bringe dir eine Tasse Tee.«

»Der Theaterkreis braucht mich in einer halben Stunde, aber für ein offenes Ohr könnte ich wohl ein paar Minütchen entbehren … Earl Grey, bitte, mit einer Zitronenscheibe, wenn es nicht zu viele Umstände macht.«

 

Meine Theatergruppe führt im Oktober Das Phantom der Oper von Sir Andrew auf, und die Proben sind in vollem Gange. Roger, unser Regisseur, hat June Nolan, Terry Nolans Frau, die Hauptrolle gegeben. So bleibt der Lions Club hübsch heimelig unter sich. Unerheblich, dass June Nolan Stimme und Grazie eines Hundetrainers hat. Ich habe eine Nebenrolle abgelehnt und konzentriere mich auf die Arbeit hinter den Kulissen. Sollen die anderen um Ruhm und Ehre wetteifern. Meine Arbeit ist hektisch und undankbar; aber wie ich schon zu Olly sagte, würde ich Dummkopf mich nicht opfern, ginge der Laden innerhalb einer Woche vor die Hunde.

Als ich mein kleines Theater aufschloss, kamen mir wieder die Tränen. Olly wollte mich am Abend der Premiere besuchen. Leute, das ist Oliver Dunbar, ein sehr lieber Freund. Sein Atelier ist in Dorset, aber er hat sogar schon in New York ausgestellt. Ach, gebt nichts auf seine Bescheidenheit. Ollys Fotoarbeiten sind heiß begehrt.

In der Küche schlug mir Stille entgegen. Schmetterlinge schwirrten aufgeregt um den hängenden Sommerflieder. Es war ein traumhafter Sommertag, aber irgendwer hatte den Schlüssel für das Fenster nicht zurück an den richtigen Platz gelegt, und so konnte ich nicht lüften. Ich machte schnell noch einen Satz Beckenbodenübungen. Irgendwo in der Nähe heulte und heulte die Alarmanlage eines Autos wie eine nicht enden wollende Migräne. Gott, ich verabscheue Leute, die nicht in der Lage sind, ihre Alarmanlage richtig einzustellen. Ich verabscheue Micki-Schickis »Schön dich zu sehen«-Lächeln. Und Leber in Sahnesoße verabscheue ich auch.

Zum Kuckuck, wo waren nur die anderen?

 

»June, wo seid ihr denn alle?«

»Wer ist da, und wer ist ihr?«

Was ist das für eine Schauspielerin, die nicht mal Singular und Plural auseinanderhalten kann?

»Judith, natürlich. Zeigt dein Handy dir nicht an, wer anruft? Ich wusste gar nicht, dass du mit der Technik so auf Kriegsfuß stehst, June. Ich zeige dir gerne, wie es geht. Dann weißt du immer, wer gerade mit dir sprechen möchte.«

»Ich weiß sehr gut, wie das geht, Judith. Aber aus irgendeinem wundersamen Grund habe ich deine Nummer nicht gespeichert.«

»Also, ich bin jedenfalls im Theater, und nicht eine Menschenseele ist zu unserem Treffen erschienen, und wenn die Leute glauben, sie könnten mit diesem Einsatz ein Musical auf die Bühne bringen, das den Namen Musical verdient, dann …«

»Das Treffen war gestern.«

»Wie bitte?«

»Das Treffen war gestern.«

»Seit wann finden unsere Phantom-Treffen am Donnerstag statt?«

»Seit letzter Woche. Nadine war heute verhindert, darum hat Janice das Treffen um einen Tag vorverlegt. Erinnerst du dich nicht?«

»Kein Wunder, dass man alles durcheinanderbringt, wenn Termine so mir nichts, dir nichts …«

»Die anderen haben nichts durcheinandergebracht, Judith.«

Wenn June Nolan nicht so eine eingebildete Gans wäre – Terry ist ein hohes Tier in der Ciderbrauerei in Hereford, die weniger für ihren Cider als dafür bekannt ist, eine Legionellen-Epidemie verursacht zu haben –, hätte ich mich in Schweigen gehüllt.

»Nun, ich habe im Moment leider andere Dinge im Kopf. Mein Geliebter ist verstorben. Ich gebe zu, das hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen.«

»Oh.« Da war die eingebildete Gans vielleicht beschämt! »Wie … wie ist denn das passiert, Judith? Habt ihr euch sehr nahegestanden?«

»Ein Unfall mit Fahrerflucht. Die Polizei sucht noch nach dem Mörder. Ach, ich weiß nicht, ob überhaupt jemand verstehen kann, wie nahe Olly und ich uns standen. Nähe ist gar kein Ausdruck. Wir waren eins, June. Eins. Ich werde nie mehr ein ganzer Mensch sein.«

 

Als June Nolan endlich aufgelegt hatte, durfte ich Dummkopf das Tablett mit dem umsonst zubereiteten Kaffee wegräumen. Danach schloss ich mein Theater ab und ging zurück zum Parkplatz. Die Alarmanlage heulte immer noch. Vor dem Krankenhaus stand eine junge Familie, was sich allerliebst anhört, aber bei dieser wurde mir schwer ums Herz. Sie war ungefähr sechzehn, dick und aufgedonnert wie ein Flittchen. Auf dem Arm trug sie ein Neugeborenes, und in der freien Hand hielt sie ein riesiges Würstchen in Blätterteig. Er sah aus wie elf, war weiß wie Milchreis, hatte einen Ring in der Lippe und kurz geschorene Haare mit langen Strähnen vorne, die ihm in die Verbrecherstirn hingen. Er war das verkleinerte Abbild der englischen Rowdys, die in Scharen europäische Straßencafés belagern, seit dank der Billigflieger auch der Pöbel überall hinreisen kann. Der halbwüchsige Vater rauchte, vor dem Krankenhaus, direkt neben seinem Baby. An einem gewöhnlichen Vormittag wäre ich vielleicht wortlos vorbeigegangen, doch eine höhere Macht hatte mir durch Leo gerade erst gezeigt, wie zerbrechlich das Leben war.

»Was fällt Ihnen ein, vor Ihrem Kind zu rauchen!«

Die halbe Portion starrte mich hohlen Blickes an.

»Haben Sie noch nie etwas von Lungenkrebs gehört?«

Anstatt mich zu beschimpfen, zog er an der Zigarette, beugte sich über sein Kind und blies dem armen Fratz den Rauch direkt ins Gesicht.

Ist das die britische Familie der Zukunft?

Ja? Dann sollten wir das Thema Eugenik vielleicht noch einmal überdenken.

 

An den Parkplatz grenzt ein Pflegeheim. Yvonne, eine Aromatherapeutin, mit der ich kurzzeitig befreundet war, erzählte mir einmal, dass die Bewohner im Schnitt höchstens achtzehn Monate durchhalten. Die Alten welken, wenn man sie verpflanzt. Königin Elizabeth hat das Gebäude vor einigen Jahren persönlich eingeweiht. Ich habe dafür gesorgt, dass ich ihr die königliche Hand schütteln durfte. Auf unserem Foto lächelt sie mich an. Aus Dankbarkeit, weil ich ihr versicherte, dass nicht alle ihre treuen Untertanen glauben, sie hätte die arme Diana ermorden lassen. Dem Duke of Edinburgh traue ich allerdings alles zu. Das hab ich ihr auch gesagt. Ein Untertan hat die Pflicht, seinem Monarchen die Augen zu öffnen.

Ein Mann in Hausmeistermontur spähte grimmig in meinen Saab. Ich erkannte, dass in der Tat ich den grauenhaften Lärm verursacht hatte.

Mit einem kurzen »Pardon« stieß ich ihn zur Seite.

Er baute sich in voller Breite vor mir auf. »Ist das Ihr Wagen?«

Ohne eine Antwort schloss ich auf und stellte den Alarm ab.

»Ist das« – sein Schreien zeriss die plötzliche Stille – »ist das Ihr Wagen?«

»Sehe ich aus, also würde ich zum Spaß Autos knacken?«

»Seit einer halben Stunde geht das Scheißgeheule jetzt. Die da drüben« – er zeigte auf das Pflegeheim, in dessen Fenstern lauter blasse, ausgezehrte Gesichter mit einer Restlebenszeit von weniger als achtzehn Monaten zu sehen waren – »können bei dem Lärm überhaupt nicht mehr klar denken.«

»Ich glaube kaum, dass dort viel gedacht wird. Sollten Sie sich nicht lieber darum kümmern, dass ein Dieb sich direkt vor Ihrer Nase an fremden Autos zu schaffen macht?«

»Und ich glaube, es gibt überhaupt keinen Dieb!«

Solche Dinge perlen an mir ab. »Ach, dann leben wir wohl in einer verbrecherfreien Oase? Sehen Sie den Miniganoven da drüben? Woher wissen Sie, dass er das nicht gewesen ist? Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich bin in Eile.«

Zum Glück sprang der Saab gleich beim ersten Mal an.

Ich fuhr rückwärts aus der engen Parklücke.

 

Statt auf dem Heimweg befand ich mich plötzlich auf der Straße nach Black Swan Green. Fast wäre ich wieder umgekehrt: Daddy und Marion erwarteten mich erst am Samstag. Aber eine höhere Macht hatte mir aufgetragen, mich um meine Lieben zu kümmern, und so fuhr ich weiter, während die Turmspitze von St. Gabriel und die beiden riesigen Mammutbäume hinter den Obstgärten immer näher kamen. Früher hatten Philip und ich oft den Friedhof erkundet, während unsere Eltern nach der Kirche noch ein Schwätzchen hielten. Wie lange ist das her? Mummy konnte damals noch das Haus verlassen, also Ende der Siebziger. Einmal fand Philip am Fuß des Kirchturms einen Spalt. Einen schwarzen Spalt. Das sei die Tür zum Land der Toten, sagte er. Jemand habe vergessen, sie zuzumachen. Er schwor mir, dass er Stimmen hörte, die allein, so allein riefen.

Plötzlich kam mir der Gedanke, dass Olly nicht das einzige Opfer des flüchtigen Mörders war, denn die Mrs Judith Dunbar-Castle, die ich geworden wäre, war mit ihm getötet worden.

Nein, »Dunbar-Castle« klingt nach Schloss unter Denkmalschutz.

Judith Castle-Dunbar war eine Frau in den Fünfzigern, obwohl man sie leicht für zehn Jahre jünger hätte halten können. Sie war zufrieden, und Zufriedenheit ist die beste Kosmetikerin, wie Maeve, Besitzerin eines Bioladens, zu sagen pflegte, die jedem, nicht nur mir, Sand in die Augen streute. Olly und ich hätten unsere Ersparnisse zusammengelegt und uns ein großes Haus bei Charmouth gekauft. Die Dunbars hätten mich mit offenen Armen empfangen. Anders als die geldgierige Patricia, die ihn ausgezogen hat bis aufs letzte Hemd. Leo wäre Ollys Trauzeuge gewesen und Camilla meine Brautjungfer. Ollys erwachsener Sohn hätte Tränen der Freude in sein Sektglas geweint. Ich sehe dich nicht als Stiefmutter – du bist die große Schwester, die ich nie hatte. Ein Kammerorchester hätte Jesus Christ Superstar gespielt, und Ollys Freunde hätten einer nach dem anderen ausgeplaudert, was für ein Wrack mein Ehemann doch gewesen sei, bevor meine Wenigkeit ihm über den Weg lief.

Elstern hockten mit finsteren Absichten auf dem Friedhofstor von St. Gabriel.

 

Früher war ich größer als die Hecke um Daddys Haus. Jetzt ist sie so hoch wie der Carport. Wenn man in die Häuser seiner Kindheit zurückkehrt, soll man angeblich darüber staunen, wie klein alles geworden ist. Aber in Black Swan Green kommt es mir immer vor, als sei ich diejenige, die schrumpft.

»Daddy! Hier versteckst du dich also!«

»Warum sollte ich mich in meinem eigenen Gewächshaus verstecken?« Daddy beugte sich über einen Kaktus und behandelte ihn mit einem Spezialpinsel. Er stellte das Kricketspiel im Radio aus. »Wir haben erst am Sonntag mit dir gerechnet.«

»Ich war auf der Durchreise. Wegen mir musst du das Radio nicht abstellen.«

»Ich habe abgestellt, weil die Schmach zu groß ist. 139-8 gegen Sri Lanka. Sri Lanka.«

»Dieser Kaktus blüht ganz zauberhaft, Daddy.«

»Der hier, meinst du? Die Mexikaner nennen ihn Phönixbaum. Die Amis nennen ihn Blue Moon. Ich nenne ihn verdammte Zeitverschwendung. Sechs Jahre Gemache und Getue, und was kommt dabei heraus? Eine schimmlige, malvenfarbene Blüte, die nach Katzendreck stinkt.«

»Ach, Daddy!«

»Schneid mir mal einen halben Meter von der Schnur da ab.«

»Okay. Ist Marion nicht da, Daddy?«

»Die ist bei ihrem Literaturkreis. Du bist zu alt, um ›okay‹ zu sagen.«

»Literaturkreis? Hat Jilly Cooper einen neuen Wälzer geschrieben?«

»Sie lesen einen Isländer. Halldor Laxless oder so.«

»Halldor Laxless. Meine Güte.«

»Der einzige Schriftsteller, den ich ertragen kann, ist Wilbur Smith. Alle anderen sind Schwuchteln. Einen halben Meter, habe ich gesagt. Das sind fast drei Viertel.«

»Ich habe ein Schälchen Erdbeeren in die Küche gestellt.«

»Von Erdbeeren kriege ich Ausschlag. Schätze, du bleibst zum Mittagessen.«

Mummy hat sich früher oft darüber beklagt, Daddy würde sein Gewächshaus mehr lieben als sein richtiges Haus. Die Frisbees und Federbälle der Nachbarskinder wurden einkassiert, wenn sie zu nah daran landeten, ohne Rücksicht darauf, dass sie sich hinterher zusammentaten und ihren Unmut an mir ausließen. Nie wurde eine Geliebte zärtlicher gehegt als der samtweiche grüne Rasen, den Daddy mit Unkrautvertilgungsmittel und Vitaminen nur so überschüttete. Ich erinnere mich noch an den Tag, als er Philip beibrachte, wie man ihn richtig mähte. Das ist Männerarbeit, Judith. Frauen sind von Natur aus unfähig, gerade Linien zu ziehen. Und damit Schluss. Eine Frau von geringerem Format wäre darüber noch heute gekränkt.

»Ist Philips Geburtstagskarte noch angekommen, Daddy?«

»Philip muss das Büro in Adelaide auf Vordermann bringen.« Mit einer Pinzette und chirurgischem Feingefühl befestigte Daddy einen hängenden Kaktusarm an einem Bambusstab. »Ich habe den Jungen dazu erzogen, seine Arbeit zu erledigen. Und nicht, um mit Grußkarten, Blumensträußen und schaurigen Krawatten durch die Gegend zu tänzeln.«

»Dann ist aus seinem Vorhaben, diesen Sommer rüberzukommen, also nichts geworden?«

»Philip ist der Projektleiter.« Daddy maß einen Becher Kaktusnahrung ab. »Er trägt zu viel Verantwortung, als dass er einfach so alles stehen und liegen lassen könnte.«

»O je. Immer noch keine Mrs Philip Castle in Sicht?«

»Verflucht, woher soll ich das wissen, Judith? Du wirst es als Erste erfahren, wenn er unter die Haube kommt, dank deines weltweiten Spionagenetzwerks.«

»Das war nur eine Frage, Daddy. Nur eine Frage. Wie ich sehe, hast du vorne eine Überwachungskamera installieren lassen.«

»Hinten auch. Im alten Pfarrhaus wurde eingebrochen. Ich würde mir ja Wachhunde zulegen – und ihnen beibringen, erst zuzubeißen und später um Erlaubnis zu fragen, wie mein Vater in Rhodesien –, aber Marion ist strikt dagegen. Übrigens, wir haben die Kanufahrt in Norwegen gebucht, du stehst also im September fürs Gartengießen auf dem Dienstplan.«

»Liebend gerne, sofern ich dann hier bin.«

Daddy sah mich vielsagend an.

Ich hielt seinem Blick stand. Man darf sich von Daddy nicht einschüchtern lassen, sonst wird man wie Mummy. »Auf dem Anger entstehen neue Grundstücke?«

»Grundstücke? Bring mich nicht in Rage. Früher war dieses Dorf noch ein richtiges Dorf. Heute braucht nur jeder x-beliebige irische Spekulantenheini den Arschgeigen im Gemeinderat ein paar Mäuse rüberzuschieben, und schon zieht er über Nacht ein Dutzend Häuser für siebenhundert Mille pro Stück hoch. Ah, Marion ist zurück. Ich höre ihren Wagen.«

 

»Wie entsetzlich!« Marion schenkte den Kaffee ein, während ich ihr Goldrandgeschirr in den Geschirrspüler lud. »Er hatte noch so viel vor sich. Der arme, arme Mann. Und arme, arme Judith.«

»Ich bin mit ihm gestorben, Marion. So fühlt es sich an.«

»Fotograf, hast du gesagt?«

»Ha!« Daddy tunkte seinen Keks ein. »Die alte Leier.«

»Ein sehr, sehr angesehener. Seine Galerie ist in Lyme Regis. Was ist so witzig an Lyme Regis, Daddy?«

»Gar nichts.«

Marion sah ihn so vorwurfsvoll an, wie Mummy es nie getan hätte. »Die Polizei wird den Autofahrer doch hoffentlich früher oder später schnappen?«

»Die bewegen ihre bequemen Hintern nicht einen Zentimeter«, murmelte Daddy und stand auf. »Es sei denn, ein Flughafen wird in die Luft gejagt. So ist das heutzutage.«

»Die Polizei sagt, der Regen habe alle Spuren weggewaschen.« Ich setzte mich hin und trank Marions vorzüglichen Kaffee. Sie kauft sich jedes Jahr eine neue Maschine, ganz egal, ob die alte kaputt ist oder nicht.

Mummy hat nur einmal in ihrem Leben eine Kaffeemaschine benutzt. Sie legte drei Filtertüten auf einmal hinein, und der Küchenboden war eine einzige Überschwemmung. Drei Nächte hat sie deswegen durchgeweint.

Nach ihrer Heirat mit Daddy hat Marion im ganzen Haus alte, aufgearbeitete Eibenholzdielen verlegen lassen. Über dem Burenkamin hängt ein Wandteppich, bestickt von einem ihrer afrikanischen Patenkinder: Glück ist kein Ziel, sondern eine Lebenseinstellung. Solange einem kein Fliegenschwarm auf den Augen sitzt, ist das wahrscheinlich richtig. Ein Frau von geringerem Format wäre entrüstet, dass Daddy alle Spuren von Mummy aus dem Haus entfernt hat. Was würde ihr Geist noch wiedererkennen? Den alpinen Steingarten, der vor Jahren errichtet wurde, um mit den Taylors mitzuhalten. Die Kakteen und das Gewächshaus natürlich. Das Foto von Mummys und Daddys Hochzeitsreise auf der Frisierkommode, das nach vierzig Jahren ausgeblichen und blaustichig ist. Das Sommerhaus, das Daddy für sie gebaut hat, in der leisen Hoffnung, es würde ihr helfen, ihre Platzangst zu überwinden. Die Lüftung im Gästeklo. Mehr nicht. Oben bin ich schon seit Jahren nicht mehr gewesen. Nicht, dass ich scharf drauf wäre. Bestimmt frönen Marion und Daddy ihrem Liebesleben auf einer hypermodernen Riesenmatratze. Sie haben ein Liebesleben. So etwas spüre ich.

»Wenn deine Verlobung ein offenes Geheimnis gewesen ist«, sagte Marion, »dann will Ollys Familie dich bei der Beerdigung sicher dabeihaben.«

»Es würde ihnen nicht im Traum einfallen, ihn ohne mich zu Grabe zu tragen. Sein Bruder hat mir die entsetzliche Nachricht überbracht, bevor Ollys Exfrau davon erfuhr.«

»Wann findet die Trauerfeier statt?«

Daddy stellte das Küchenradio an. »… wurde soeben gemeldet, dass der angekündigte Streik, der Reisende an diesem Wochenende mit Chaos und Verspätungen konfrontiert hätte, abgesagt wurde. Die Bahngewerkschaft erklärte sich einverstanden mit einer Tarifanhebung von 4,9 Prozent für die nächsten zwei Jahre sowie einer Erhöhung der Zulagen. Ein Gewerkschaftssprecher …«

Daddy schimpfte zusammenhanglos vor sich hin und drehte auf der Suche nach Kricket an der Skala.

Aber eine höhere Macht hatte laut und klar zu mir gesprochen.

»Mein Zug geht morgen. In aller Frühe.«

 

Der Taxifahrer am Bahnhof in Axminster warf seine Zigarette weg und hob meinen Koffer in sein ungepflegtes Taxi. »Kopf hoch, Liebes. Vielleicht wird alles halb so schlimm.« Das könne ich mir kaum vorstellen, erwiderte ich spitz. »Ich bin hier, um meinen Mann zu beerdigen. Er hat seinen langen Kampf gegen die Leukämie verloren.« Meine Worte wirkten wie ein Zauberspruch. Schluss mit der Kitschmusik vom Lokalsender, Schluss mit dem ewigen »Liebes« und stattdessen eine angemessene Portion Respekt. Während wir im Nieselregen nach Lyme Regis fuhren, bemühte er sich, kultiviert Konversation zu machen. Er erzählte mir von der Schule seines Sohnes und der Schulaufsichtsbehörde, vom geplanten Bau einer offenen Vollzugsanstalt, der durch den heftigen Protest der Anwohner vereitelt worden war, sowie von einer viktorianischen, hinter unsagbar hohen Zypressen verborgenen Villa, die früher Benny Hill gehört hatte und wo heute den Gerüchten nach allerlei zwielichtiges Treiben herrschte. Meine Antworten waren höflich, aber kurz. Eine Witwe darf nicht geschwätzig sein, und außerdem musste ich meine Beckenbodenübungen machen.

»Hoffe, Sie bekommen besseres Wetter, Madam«, sagte er, als ich bezahlte.

Im Hotel Excalibur lief es genauso. »Geschäftlich oder zum Vergnügen?«, fragte das muntere Geschöpf im breitesten Dorset-Dialekt. »Weder noch«, erwiderte ich tapfer und würdevoll. »Ich bin hier, um meinen Gatten zu beerdigen. Irak. Mehr darf ich leider nicht sagen.« Vor meinen Augen verwandelte sie sich in eine ordentliche Empfangsdame. Sie überprüfte, ob es ein ruhigeres, größeres Zimmer fern des Tagungsflügels gab. Und siehe da, es gab eins. »Zum gleichen Preis?«, erkundigte ich mich zur Sicherheit. Sie war auf wohltuende Weise erschüttert. »Das würde uns im Traum nicht einfallen, Madam! Dort haben Sie es komfortabler, Mrs« – sie blickte auf die Anmeldung – »Mrs Castle-Dunbar. Möchten Sie sich vielleicht hinlegen? Ich lasse Ihnen gerne Tee auf Ihr Zimmer bringen.« Ich erwiderte, dass ich mir lieber ein wenig die Beine vertreten würde, und sie holte mir einen Schirm. Der Ständer war voll mit »Made in China«-Modellen – ohne Frage die Hinterlassenschaften zerstreuter Gäste –, aber sie suchte mir einen soliden rabenschwarzen Stockschirm aus, der eines Churchill würdig gewesen wäre.

 

Ja, es gibt in Lyme Regis haufenweise geschmacklosen Krempel, aber hier und da findet man noch echte Raritäten.

Zwischen Cap’n Scallywags Diner und der Wildest-Dreams-Spielhalle schmiegen sich Feays kleines Fossiliengeschäft und Henry Jeffreys, wo man nach alten Landkarten stöbern kann. In einem Blumengeschäft in der Silver Street kaufte ich zwölf rubinrote Rosen. Bei einem Juwelier in der Pound Street verliebte ich mich in eine Perlenhalskette. 395 Pfund sind kein Pappenstiel, aber erstens beerdigt man nicht jeden Tag seinen Seelenverwandten, und zweitens handelte ich einen Rabatt von 35 Pfund aus. Ich bat den alten Inhaber, das Etikett abzuschneiden, damit ich das gute Stück gleich anlegen konnte. »Sehr elegant, Madam«, sagte er. Wenn doch in allen Geschäften ein so höflicher Ton herrschte. England wäre ein besseres Land.

Dann kam ich zur Hafenmauer.

Die uralte Mauer aus Stein führt am Ufer entlang, bevor sie sich in zwei Arme teilt. Ein Arm schützt den kleinen Hafen, der andere führt hinaus ins offene Meer. Dem Letzteren folgend, pflügte sich Judith Castle-Dunbar durch eine Armee deutscher Rentner. Einen nach dem anderen beförderte sie mit einem Tritt in den Hintern in die salzige See, zumindest stellte sie es sich vor, so lebhaft, dass sie die Schreie und das herzhafte, teutonische Platsch! beim Aufschlagen hörte. Sir Andrews Requiem – erhabener als Mozarts, der nie wusste, wann es genug war – erklang tosend über dem Meer, für sie, für die Seele Oliver Dunbars. Der Nebel hing in kleinen Tropfen an ihrem Mantel. Sie erreichte das Ende. Judith Castle-Dunbar blickte nach Frankreich, das heute hinter einem untröstlichen Himmel aus Tränen verschwand. Einem untröstlichen Himmel aus Tränen. Judith Castle-Dunbar warf eine Rose in das Meeresgrab. Und noch eine und noch eine und noch eine, bis sie alle in den Fluten versunken waren. Ruhe in Frieden. Die Witwe hatte das unheimliche Gefühl, in einem Film zu sein.

Möwen sind ihre Vertrauten. Klamme Touristen, Angler, jugendliche Strolche und Drogensüchtige, reiche, gelangweilte Deutsche, gehässige June Nolans, Sojamilch-Winnifreds und braun gebrannte Marions, Ferienadmiräle auf ihren günstig erworbenen Jachten … sie alle schauen zu ihr hin und fragen sich: Wer ist diese Frau? Warum ist sie so tieftraurig? Noch lange nach dem heutigen Tag wird sie in den Häfen ihrer Gedächtnisse weilen. Diese Frau gehört in eine andere Welt. Eine Meryl-Streep-Welt. Eine Welt, die normale Menschen von außen sehen, aber niemals betreten können.

 

Oliver Dunbar Photography, heimelig in exquisiter Randlage gelegen, hatte ganz regulär geöffnet. Ein Glöckchen empfing mich: das Glöckchen, das Olly an jedem seiner Arbeitstage gehört hatte. Hier, in seiner Galerie. Ich muss sie mir unbedingt für meine Haustür besorgen. Drinnen war ein Mann am Telefonieren. Leo! Ich erkannte ihn an seiner Stimme. Leo ist einen Hauch kompakter als Olly, aber er hat die typisch sinnlichen Augen der Dunbars und das kantige Gesicht eines Jeremy Irons. Die schwarze Kleidung – sicher trägt er noch wochenlang Trauer – stand ihm gut, und wie viel Schneid, dachte ich, gehört dazu, das Leben in dieser schweren Zeit seinen gewöhnlichen Gang gehen zu lassen. Ein Dunbar lässt sich nicht unterkriegen. Trotz meiner diskreten Nachfragen hat Olly in Bezug auf seinen Bruder nie von einer Frau oder Freundin gesprochen, und Leo trug keinen Ring. Den Hörer zwischen Ohr und die männliche Schulter geklemmt, lächelte er mir bedauernd zu und gab mir ein Zeichen, ich solle mich ganz wie zu Hause fühlen. Es funkte sofort zwischen uns. So etwas spüre ich. Und warum auch nicht? Er ist der Bruder meines toten Geliebten. Ich gehöre zur Familie. Ich klappte den Schirm zu, stellte ihn in den Ständer und zog mich in eine Seitengalerie zurück, um Leo seine Privatsphäre zu lassen. Das Telefonat war ohnehin uninteressant: Terminabsprachen für Hochzeitsfotos im Standesamt. Olly und ich hätten in einem Steinkreis geheiratet. In der Seitengalerie hingen lauter Porträts. Manche Gesichter sind Fenster, andere sind Masken. Womit hatte Olly sie aufgeheitert, um ihnen diese Lächeln zu entlocken?

Welche behutsamen Worte hatte er gewählt? Alle diese Leute haben meinen lieben Olly überlebt, aber in ihren Porträts werden sein Humor und sein Mitgefühl uns alle überdauern. Diamantene Hochzeitspaare, Babys auf Wolldecken, zwanglos posierende Schwestern, Großfamilien in steiferen Posen, Matriarchinnen zwischen Scharen von Enkelkindern, strahlende Frischvermählte, störrische, durch gutes Zureden willig gestimmte Jugendliche. Sogar eine Sikh-Familie, hier in Dorset! Ist es nicht ein Wunder, wie in einem Kind zwei Gesichter zu einem werden?

Ich kam zu dem Schluss, dass es drei Sorten von Familien gibt.

Erstens, Familien, in denen man am Leben der anderen teilnimmt.

Zweitens, Familien, in denen man den anderen von seinem Leben erzählt.

Und drittens solche, in denen nicht einmal das geschieht.

Wir Castles gehören vermutlich zur zweiten Sorte. Philip visiert die dritte an, und das ist sein Problem. Aber mein höchstes Streben ist, zur ersten Sorte von Familie zu gehören. Zu einer Familie, die dich nicht von sich stößt, weil du das Verbrechen begehst, dich nach Nähe zu sehnen! Wenn ich Camilla, meiner eigenen Tochter, vorschlage, sie in London zu besuchen, heißt es Nein,Mum, diese Woche geht’s nicht oder Tut mir leid, Sinead feiert am Wochenende ihre Party oder Im Spätsommer, Mum, ich stecke bis über beide Ohren in Arbeit. Und dann ist plötzlich August, und sie düst mit ihrem Vater und Micki-Schicki nach Portugal. Wie soll ich mich da fühlen? Also tue ich im Buchladen, in der Theatergruppe und in meinem Englands-Blütezeit-Komitee mein Bestes, und was bekomme ich Dummkopf dafür? Dass Leute wie June Nolan mich eine Wichtigtuerin nennen, perlt an mir ab, aber was ist so verwerflich daran, wenn man gebraucht werden will? Wenn man seinen Lieben die unbequemen Wahrheiten erzählt, die sie einfach hören müssen?

Nach der Hochzeit hätte sich alles geändert. Alles. Olly, seine Schwestern, Leo versammeln sich samt besseren Hälften und Kindern jedes Wochenende im elterlichen Haus. Ich hätte Frieden gestiftet, Spannungen gelöst, Scherben gekittet, den Abwasch erledigt. Ehrlich, Judith, wir wüssten gar nicht, was wir ohne dich täten.

 

»Tut mir wahnsinnig leid«, sagte Leo. »Sie glauben gar nicht, wie …«

Das Telefon klingelte.

»Nicht schon wieder!« Leo verdrehte die Augen mit den langen Wimpern. »Darf ich?«

»Gehen Sie nur.« Judith Castle-Dunbars Stimme strotzt vor Selbstvertrauen und erinnert in ihrem rauchigen Klang an Margaret Thatcher. Mir gefällt das. »Sie haben bestimmt unglaublich viel zu regeln.«

»Das ist so unhöflich, und Sie sind so gütig.«

»Überhaupt nicht.« Ich spielte mit meinen Perlen und überlegte, ob er wohl erriet, wer vor ihm stand. »Sie halten sich sehr wacker.«

Leo schenkte mir ein spitzbübisches Lächeln und nahm auf seine männliche Art den Hörer ab. Ich setzte mich auf eine Stufe und machte ein paar Beckenbodenübungen. »Jimbo!« Diesmal senkte Leo die Stimme und wandte mir den Rücken zu. »Olly ist nicht da, nein …«

Sicher ein Bekannter, der die entsetzliche Nachricht noch nicht vernommen hatte. »Er geht ein, zwei Tage nicht ans Telefon.« Leo sprach leise, aber mein Gehör ist ausgezeichnet. »Er hat im Internet eine Frau kennengelernt – ja, ich weiß, viel zu riskant! Sie haben sich nur einmal getroffen, vor einer Woche in Bath … und schon hat sie ihn in ihren Krallen … Nein, Mitte vierzig, hat sie gesagt, aber Olly schätzt sie eher auf Mitte sechzig … Aber darum geht’s nicht. Nach einer Begegnung mietet sie sich gleich im Hotel Excalibur ein, um … das ist kein Witz, genauso hat sie es ausgedrückt – um mit ihm ›den Liebesakt zu vollziehen‹! Den Liebesakt vollziehen! So was kann man sich gar nicht ausdenken! Olly kommt also auf den Knien zu mir gekrochen und fleht mich an, sie anzurufen und ihr zu sagen, er sei tot. Das ist nicht witzig! Die einzige Möglichkeit, sie loszuwerden … Was sagst du? … Keine Ahnung … irgendeine arme, alte Vettel in den Wechseljahren. Sehnt sich verzweifelt nach Liebe, aber stürzt sich so gierig auf jeden Kerl, der sich vielleicht in sie verlieben würde, dass er sofort das Weite sucht! Was? Ach, das Komischste kommt erst noch. Ich wollte ihr sagen, dass er einen Herzinfarkt hatte – schlicht, sauber, keine Komplikationen, verstehst du? Aber als es drauf ankam, habe ich irgendwas von einem Unfall mit Fahrerflucht gefaselt … Hör auf zu lachen! Natürlich hat unser Fräulein Hormonersatzbehandlung sofort eine Hauptrolle bei der Beerdigung beansprucht, also habe ich gesagt, er wäre schon eingeäschert worden und ich hätte seine Asche persönlich ins Meer verstreut … Du, Jimbo, ich muss Schluss machen, ich hab Kundschaft. Olly kommt später ins Lord Nelson. Lass dir die intimen Einzelheiten von ihm selbst erzählen. Ja. Tschüs.«

Ein Eiswagen schob sich durch den zischenden Regen.

Seine Glocke spielte diese berühmte Pop-Ballade. Über die Liebe und Robin Hood.

Wie heißt das Lied doch gleich? Einen Sommer lang war es ganz oben in den Charts.

Einen langen, heißen Sommer, als Camilla noch ein Kind war.

Ach, jeder kennt dieses Lied.

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Frank

A. L. Kennedy

Das Kino war winzig: zwölf Reihen tief von der schwarz behängten Wand und der verdunkelten Tür bis zur leeren Leinwand, die inzwischen anfing, ihn zu beunruhigen, eine Art hängende Abwesenheit.

Wie konnte man mit so einem kleinen Kabuff überhaupt Geld verdienen? Selbst wenn es ausverkauft war?

Und das war es nicht. Ganz im Gegenteil. Er war nämlich der einzige Besucher. Der Junge an der Tür hatte extra für ihn das Licht anknipsen müssen, und Frank hatte ein schlechtes Gewissen bekommen, vielleicht sollte er nicht darauf bestehen, einen Film ganz allein sehen zu wollen, er könnte genauso gut nach oben gehen, in den größeren Saal, der sogar eine Empore hatte, wahrscheinlich auch Beinfreiheit, der mehr nach Kino aussah, professioneller. In einer halben Stunde würde oben eine Komödie laufen.

Oder er könnte zu einem Multiplex fahren: In der letzten großen Stadt, als er die Küste umrundet hatte, war eines gewesen – ein riesiger Block aus Glas und Metall, sah aus wie ein Flughafengebäude: da hätten sie bestimmt auch Publikum, sogar mehr als genug.

Aber das war nur geraten, vielleicht war das Multiplex auch leer. Die Bar, die Theken, wo man vorgefertigtes Essen verkaufte, die Toiletten, die Gänge – vielleicht lag das alles verlassen. Frank hoffte es.

Und er hatte nichts gesagt, als er seinen abgerissenen Kartenschnipsel zurückgenommen hatte und durch die Tür gegangen war, hatte sich nicht entschuldigt oder unsicher gezeigt. Es war einfach in diesen anscheinend stillen, aufmerksamen Raum getreten, während der jüngere Mann unauffällig verschwand und ihn allein ließ.

Vier Sitze nebeneinander, dann der Gang und noch mal vier, das war’s. Der Raum war nicht viel breiter als sein Wohnzimmer und erinnerte Frank an einen Bus, irgendein breites, langsames Fahrzeug, das sich langsam in ungenannte Richtungen in Bewegung setzte.

Er hatte sich nicht gleich einen Platz ausgesucht, war ein bisschen herumgewandert, die Einsamkeit gefiel ihm, ein ganzes Kino für sich – was man sich als Kind vorstellt, was einem Spaß machen würde. Er überlegte: Wenn sonst niemand mehr auftauchte, wollte er nachher beim Film die Plätze wechseln, ein bisschen Amok laufen, das Handy anlassen, damit er rangehen konnte, falls jemand anrief.

Dann war von hinten ein Grummeln männlicher Konversation zu hören, eine undeutliche Beschwerde über die Kälte, dann ausbrechendes Gelächter und Schritte – ein schweres Stapfen kam näher und ein leises Schlurfen, wurden leiser und verstummten.

Frank war bereit zu glauben, dass Leisefuß der junge Kartenabreißer war: Schlaffe Haltung und schmutzige, schief abgelaufene Converse All Stars – das Produkt eines achtlosen Zuhauses, einer wenig förderlichen Umgebung – wahrscheinlich war er aus irgendeinem Grund hinter Frank wieder hereingetappt und dann wieder raus ins Foyer – so klang es jedenfalls, aber man wusste nie so genau.