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Renia kehrt nach einem Studienabbruch nach Berlin zurück. Dort erwarten sie Einsamkeit, eine Handvoll Familiengeheimnisse und immer wieder die Bilder düsterer Parallelwelten, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleiten. Langsam beginnt Renia daran zu zweifeln, dass es sich nur um Einbildung handelt. Was, wenn die vermeintlich imaginären Monster real sind? Was, wenn wirklich eines davon Jagd auf sie macht? Und kann Renia um ihr Überleben kämpfen, wenn ein Teil von ihr nicht überleben will?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Swantje Niemann
Das Buch der Augen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Hinweis
Buch 1: The Ghostwriter and the Ghosts
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Buch 2: Hotel Labyrinth
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
Buch 3: Frohes neues Jahr
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
Nachwort und Danksagung
Inhaltshinweise
Impressum neobooks
Auf der letzten Seite findet ihr eine Liste mit Inhalten in diesem Buch, die triggernd oder einfach nur unangenehm zu lesen sein könnten. Falls so etwas kein Thema für euch ist, könnt ihr sie getrost ignorieren. Die Liste ist auch auf der Website der Autorin zu finden.
Ich genoss das Rascheln von Buchseiten und die gedämpften Stimmen um mich herum. Für einen Moment vergaß ich meine Schuldgefühle und die nagende Ungewissheit. Es fühlte sich gut an, mir in einem weichen Sessel überteuerte Getränke bringen zu lassen. Gedankenverloren sah ich zwischen den spiegelverkehrten Buchstaben auf dem Fenster nach draußen.
Kurz glaubte ich, nebelumrankte Türme und darunter den Abgrund eines roten Himmels zu sehen, doch ein unwirsches Kopfschütteln später waren da wieder nur Autos und regennasses Kopfsteinpflaster. Ich lächelte bitter. In den letzten Monaten war die reale Welt unangenehm genug gewesen, dass meine desorientierenden Halluzinationen im Vergleich dazu beinahe ihren Schrecken verloren hatten.
Ich hatte fest damit gerechnet, meine letzten Stunden in der kleinen Universitätsstadt allein mit meinen Gedanken zu verbringen, doch Alice kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich in dem kleinen Lesecafé auf meinen Fernbus warten würde. Als sie sich in den Sessel gegenüber von meinem gleiten ließ, zuckte ich nur deshalb zusammen, weil ich sie nicht hatte durch die Tür kommen sehen. Ich sah sie an, prägte mir noch einmal ihr Gesicht ein: glattes Haar wie dunkler Honig, große blaue Augen, ein herzförmiges Gesicht und ein mitreißendes Grinsen. Letzteres versteckte sich gerade, aber ich wusste, dass es zurückkehren würde.
Wie schön sie war! Und wie wenig ich das gerade gebrauchen konnte. Bevor wir uns kennengelernt hatten, war die Grenze zwischen mir und der Welt glatt und undurchdringlich gewesen, doch nun spürte ich Risse und empfindliche Bruchkanten.
„Du kannst doch nicht einfach gehen, ohne dich zu verabschieden!“
„Ich wollte dir eine Nachricht schreiben.“ Ich senkte den Blick auf meine Finger, mit denen ich verstreuten Zucker zu Mustern formte.
Alice lächelte den vorbeikommenden Kellner ein wenig zu breit an, während sie eine heiße Schokolade bestellte. Ein Teil von mir wollte den Moment der Ablenkung nutzen, um diesem plötzlich zu engen Raum und ihrem fragenden Blick zu entkommen, doch dann sah sie mich wieder an und mein Stolz hielt mich fest.
„Stimmen die Gerüchte? Brichst du das Studium ab?“, fragte sie.
Ich spürte, dass sich mein Herzschlag beschleunigte, zupfte meinen Schal zurecht. „Ich würde lieber nicht über die Gründe reden.“
„Aber ...“ Sie unterbrach sich. „Das ist dein gutes Recht. Ich möchte nur wissen, ob du okay bist. Du hast die Trennung nicht gut aufgenommen ...“
„Ich glaube, du überschätzt deinen Einfluss auf mich.“ Ich verzog das Gesicht. „Sorry, das klang kälter, als es gemeint war.“
„Du hast dich zurückgezogen. Schon während unserer letzten Monate.“
„Vielleicht hast du einfach nach Gründen gesucht, wieso es mit uns beiden nicht so gut klappt, nachdem du dich in eine andere verliebt hast.“
„Hätte ich dich belügen sollen? Sagen, dass ich glücklich bin, während mir eine andere Frau nicht aus dem Kopf geht? Dazu habe ich zu viel Respekt vor dir, Renia!“
„Und ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen. Aber warum sitzen wir hier, wenn wir doch so einvernehmlich und erwachsen entschieden haben, dass wir ohneeinander besser dran sind? Haben wir nicht alles besprochen, was es zu besprechen gibt?“ Ich sprach gepresst und so schnell, dass ich darauf achten musste, nicht über meine eigenen Worte zu stolpern.
„Ich mache mir Sorgen um dich!“
Ich sah mich unwillkürlich um, hoffte, dass niemand sie gehört hatte. Alice war immer lauter als ich gewesen: ihre Stimme tragender und ausdrucksvoller, ihr Lachen ungehemmter, ihre Begeisterung mitreißender, ihre Wut über Ungerechtigkeiten leidenschaftlicher. Und ihre Frustration heftiger, wenn ich mal wieder einen dieser Tage hatte, an denen ich abweisend und schwermütig war, ohne zu wissen, warum. Alice mochte es nicht, mit Problemen konfrontiert zu sein, die sie nicht lösen konnte.
„Wieso?“, fragte ich, obwohl ich mir die Antwort nur zu gut vorstellen konnte.
„Wo soll ich anfangen? Dieser Studienabbruch – das passt nicht zu der Renia, die ich kennengelernt habe. Und dann sind da noch die Dinge, von denen du mir erzählt hast. Du hast Probleme und du stellst dich ihnen nicht!“
Zum ersten Mal, seit sie sich gesetzt hatte, sah ich ihr direkt in die Augen. „Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht damit belasten sollen.“
„Verdammt, Renia, es geht hier nicht um mich. Ich wollte doch nur, dass du dir Hilfe holst! Du kannst doch nicht erwarten, dass ich sowas achselzuckend hinnehme.“
„Nun ja, ich nehme es achselzuckend hin. Ich hatte viel Zeit, zu lernen, was real ist und was nicht.“
„Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, okay?“, verteidigte sie sich.
Ich auch nicht, Alice. Es tut mir leid, dass du nicht nur eine funktionierende, sondern eine aufrichtig glückliche Freundin wolltest und ich dir das nicht bieten konnte.
Ich nahm den letzten Schluck von meinem Kaffee. Normalerweise bevorzuge ich Tee, doch gerade brauchte ich die unangenehme Bitterkeit, die mich in der Gegenwart und in meinem Körper verankerte. „Es hat sich sowieso erledigt, oder?“
Sie sah auf, hielt meinen Blick mit ihrem fest. „Ich mag dich, Renia. Du bist mir immer noch wichtig. Auch wenn das mit uns beiden nicht das war, was wir uns vorgestellt haben ... ruf mich an, wenn du mich brauchst. Oder auch nur, wenn du Lust hast, als gute Freundinnen miteinander zu reden.“
Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Danke. Ich behalte es im Hinterkopf.“
Sie sah mich skeptisch an.
„Ich bin wirklich dankbar“, betonte ich. „Danke, dass du dir die Zeit für diesen Abschied genommen hast. Ich hätte mich nicht einfach so wegschleichen sollen. Und mach dir keine Vorwürfe. Wie gesagt, alles in allem sind wir ziemlich gut mit der ganzen Sache umgegangen.“
„Aber du bist nicht glücklich.“
Ich lächelte schief. „Es wäre auch unfair, wenn die gutaussehende akademische Überfliegerin auch noch das hätte.“
„Freut mich, dass du dein Selbstbewusstsein behalten hast.“ Etwas an der Art, wie sie „Selbstbewusstsein“ sagte, ließ mich an Anführungszeichen denken.
Ich sah auf die Zeitanzeige meines Handys. „Okay, mein Bus könnte jetzt da sein.“
„Willst du mir wirklich nicht sagen, wieso du auf einmal abreist?“
Ich lachte nervös. „Auf keinen Fall.“
„Renia ...“
„Nein.“
„Du kannst dich mir anvertrauen.“
„Ich gehe schnell bezahlen. Fühl dich eingeladen.“ Ich stand auf, bevor sie etwas sagen konnte, und zerrte meinen Koffer zur Theke. Der Kaffee brannte in meinem leeren Magen. Kurz fürchtete ich, dass ich ihn wieder hochwürgen müsste, aber der Moment verging. Es blieb nur dieses flaue Gefühl, als hätte ich einen Schritt ins Leere gemacht – oder als würde ich immer weiter ins Leere gehen, jeder Schritt ein neues Fallen.
Ich zahlte und bedankte mich mit dem Hauch des lokalen Akzents, der sich in den letzten Jahren in mein Englisch geschlichen hatte. Hektisch blinzelte ich gegen das jähe Brennen meiner Augen an, als der Barista mir mit dem gleichen schottischen Einschlag antwortete. Ich würde diese Stadt, mit der ich einige meiner schönsten Erinnerungen verband, so schnell nicht wiedersehen.
Ich schalt mich, dass ich Alice nicht gebeten hatte, auf meinen Koffer aufzupassen – irgendwie vergaß ich immer wieder, dass ich Menschen um Hilfe fragen konnte –, aber nun käme es mir seltsam vor, sie zu fragen. So bugsierte ich das Gepäckstück mit zusammengepressten Lippen zwischen den Tischen hindurch.
Nachdem ich die Toilette des Cafés benutzt hatte, kehrte ich zu meinem Tisch zurück. Ich war nicht sicher, ob ich darauf gehofft hatte, ihn leer vorzufinden, oder ob es mich verletzt hätte, aber Alice war immer noch da und blickte mit einem gezwungenen Lächeln zu mir auf.
„Jetzt machst du dich endgültig auf den Weg, oder?“
„Ja. Sorry.“
„Tja, dann ... pass auf dich auf.“
„Du auch.“
„Ich glaube, du hast das nötiger als ich. Denk bitte darüber nach, dir Hilfe zu holen. Wegen der ... Dinge, die du siehst. Und vielleicht auch aus anderen Gründen. Es fällt dir vielleicht schwer, das zu glauben, aber ‚latent unglückliche Person, die sich hinter Perfektionismus und Ironie versteckt‘“ – damit zitierte sie etwas, das ich ihr in einem müden, ungewohnt offenen Moment anvertraut hatte – „ist nicht die Standardeinstellung von Menschen.“
Ich hätte ihr nie davon erzählen dürfen. Und vor allem nicht von meinen Halluzinationen. Ich lächelte, ohne auch nur zu versuchen, es aufrichtig aussehen zu lassen. Wir schlossen einander unbehaglich in die Arme und kurz wollte ich mich an ihr festhalten, mich von der Wärme ihrer vertrauten Umarmung auffangen lassen. Ich hatte sie in den letzten Monaten so sehr vermisst, dass es beinahe physisch wehtat.
Ich machte mich auf den Weg. Der Bus war tatsächlich da und ich zeigte mein Ticket vor, nachdem ich zuvor mehrmals nervös überprüft hatte, ob es nach wie vor in meiner Tasche war. Handy, Ticket, Portemonnaie, Schlüsselbund, wiederholte ich in Gedanken, während ich sie nacheinander berührte. Auch wenn letzterer ausgedünnt war und die wenigen Schlüssel, die noch daran hingen, keine Türen mehr öffneten.
Der Busfahrer verstaute meinen Koffer und ich ließ mich auf einen weichen, abgewetzten Sitz sinken, so weit weg von der Person neben mir, wie es der knappe Raum und die Höflichkeit erlaubten. Ich hatte meinen E-Reader auf dem Schoß, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Stattdessen starrte ich aus dem Fenster, weiterhin mit dem Gefühl zu fallen – ich mochte aus eigener Kraft gesprungen sein, aber das machte den Aufprall nicht weniger beängstigend.
Apropos beängstigende Dinge: Ich musste eine Mail verschicken, solange ich noch im Netz der Stadt war. Ich holte mein Handy heraus und las den Text, den ich dreimal umgeschrieben und schließlich doch nur gespeichert hatte, ein weiteres Mal.
Mail to: Konrad Kiehn, Amelia Kiehn
From: Renia Kiehn
Subject: Wieder in Berlin
Hallo, wie geht es euch?
Vielleicht kam eure letzte Überweisung an das Wohnheim schon zurück. Wundert euch nicht darüber, das sollte so sein. Am besten beendet ihr den Dauerauftrag so schnell wie möglich.
Ich hätte wirklich früher schreiben sollen, aber ich war sehr beschäftigt damit, ein paar plötzliche Entwicklungen zu verarbeiten. Und um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, wie ich euch davon erzählen sollte. Okay, ich bringe es hinter mich: Ich bin exmatrikuliert und auf dem Weg zurück nach Berlin – mein Zimmer im Wohnheim ist an meinen Studierendenstatus gebunden und ich musste es schnell verlassen. Ich habe mir mein Transcript of Records geben lassen und kann mir sicher so einige meiner Kurse anrechnen lassen, wenn ich an einer Berliner Uni zu Ende studiere – das war ja sowieso mein Plan B. Leider dürfte das erst ab dem nächsten Wintersemester gehen.
Bitte fragt nicht, warum ich gehen musste, und bitte versucht auf keinen Fall, das irgendwie für mich in Ordnung zu bringen. Ich habe Mist gebaut und das hier war der bestmögliche Ausgang.
Es tut mir wirklich leid. Ich bin euch so dankbar, dass ihr mir dieses fantastische Studium in Schottland ermöglicht habt. Auch wenn es auf unerwartete und ziemlich stressige Weise enden musste, habe ich viele schöne Erinnerungen und eine Menge Wissen mitgenommen.
Wäre es okay, wenn ihr mir die Miete, die ihr sonst ans Wohnheim zahlen würdet, einfach direkt überweist? Ich werde euch das Geld zurückgeben, so früh ich kann. Ich bin fest entschlossen, mir mein zweites Studium komplett selbst zu finanzieren, ich muss nur über die ersten Monate kommen.
Macht euch keine Sorgen um mich. Ich komme schon zurecht.
Herzliche Grüße,
Renia
Ich seufzte und drückte auf „Senden“. Dann blickte ich wieder aus dem Fenster. Ich war froh, dass der Bus nicht noch einmal durchs Stadtzentrum fuhr. Wir passierten einen Außenbezirk und schließlich waren da nur Felder und Hügel und hier und da die Dächer einer Kleinstadt. Die aufgekratzte Nervosität des Aufbruchs wich Melancholie.
Stunden vergingen, ich beendete ein Buch und begann ein neues und wir erreichten London. London – Folkstone – Calais – Berlin: eine lange Reise mit Bussen und Bahnen. Ich wollte aus Umweltgründen nicht fliegen. Schließlich hatte ich mehr als genug Zeit und bereits genug, wofür ich mich schuldig fühlen konnte.
Es hatte mehrfach die Gelegenheit gegeben, mir etwas zu essen zu kaufen, aber ich tat es nicht. Obwohl ich ein hohles, ziehendes Gefühl im Magen hatte, hatte ich keinen Appetit. Ich hieß das leichte, distanzierte Gefühl willkommen, in das mein Hunger kippte, wenn ich ihn lange genug ignorierte; in den letzten Wochen hatte ich gelernt, dass er das zuverlässig tat. Unter dem Ärmelkanal antwortete mir mein Vater.
Mail to: Renia Kiehn
From: Konrad Kiehn
Subject: Sorgen!
Liebe Renia,
Geht es dir wirklich gut? Warum hast du uns jetzt erst geschrieben? Bestimmt hätte es eine Alternative zum Studienabbruch gegeben. Amelia und ich machen uns große Sorgen um dich. Warum müssen wir ausgerechnet jetzt auf der anderen Seite der Welt sein? Wenn du gerade dringend jemanden brauchst, kriegen wir das schon ausgehandelt, dass eine/r von uns zu dir kommen kann. Sag einfach Bescheid, in Ordnung? Oder frag Finja um Rat. Eventuell kannst du sogar bei ihr wohnen. Es ist zwar in der Schweiz, aber du musst ja nicht in Berlin unterkommen.
Natürlich überweise ich dir weiterhin Geld. Du bist auch noch über Amelia familienversichert. Der Berliner Wohnungsmarkt ist hart, also schau dich vielleicht auch außerhalb der Stadt nach einer Unterkunft um.
Bist du sicher, dass du das mit der Uni nicht doch klären kannst? Lass uns unbedingt telefonieren! Mach dir keine Sorgen, dass es bei uns gerade mitten in der Nacht sein könnte, du hast Priorität. Besorgte Grüße,
Konrad
Ich versicherte ihm, dass er und Amelia auf keinen Fall kommen sollten – sie waren mit einem Forschungsprojekt beschäftigt, auf das sie jahrelang hingearbeitet hatten. Ich wollte sie nicht unterbrechen. Und vor allem fühlte ich mich nicht bereit, ihnen in die Augen zu sehen.
Calais verschwamm vor meinen Augen. Ich war unterwegs immer nur für ein paar Minuten eingenickt, unterbrochen vom Ruckeln eines Busses unter mir oder dem Gefühl, dass sich ein Traum anschlich, dem ich mich nicht stellen wollte.
Auf den letzten hundert Kilometern vor Berlin sah ich die Welt flackern und zerreißen. Der Boden wurde zu Glas und unter mir gähnte ein roter Himmel. Geflügelte Silhouetten kreisten dort, gerade nahe genug, um zu erahnen, dass es keine Vögel waren.
Mit einem gereizten Seufzen blinzelte ich die Bilder weg. Manchmal wünschte ich mir, meine Albträume wären so atmosphärisch wie die Landschaften aus Rot und Anthrazit und Knochenweiß, die sich manchmal über meine Realität legten wie ein wenig schmeichelhafter Filter.
Aber natürlich mussten meine aktuellen Albträume voller erwachsener Ängste sein. Es brachte einen kleinen, ziehenden Schmerz mit sich, zu bemerken, dass mich nicht länger fantastische Monster, sondern die Sorge um Job, Unterkunft und Versicherungen um den Schlaf brachten.
Rede dir ruhig ein, dass sie dir keine Angst mehr machen, Renia. Tu so, als wäre da nicht immer dieser kleine Zweifel, ob es wirklich nur Halluzinationen sind.
Schließlich ließ der Zug die ersten Häuser Berlins hinter sich und wir fuhren zwischen grauen Wänden und Graffiti-Palimpsesten hindurch. Ein nicht allzu auffassungsschneller Teil von mir wollte mir einreden, dass das hier eine Heimkehr war, aber es wartete nicht länger ein vertrautes Bett auf mich, in dem ich mich von der erschöpfenden Reise erholen konnte. Ich hatte meinen Eltern versichert, dass sie ihre Wohnung für die nächsten drei Jahre untervermieten konnten, weil weder sie noch ich in Berlin sein würden.
Als der Hauptbahnhof ausgerufen wurde, erhob ich mich und hievte meinen Koffer erst aus der Gepäckablage und wenige Minuten später auf den Bahnsteig. Gigantische Werbetafeln und -banner, die das neueste Handy, Schokolade, Hotels und Ausstellungen anpriesen, wollten mir suggerieren, dass seit meiner Abreise kaum Zeit vergangen war. Ich musste schon genau hinsehen, um zu erkennen, dass eine neue Generation des Handys und eine neue Sorte Schokolade beworben wurden. Ich durchlief im Zeitraffer Irritation, Rührung und Gleichgültigkeit angesichts dessen, dass ich zum ersten Mal seit Jahren wieder von Schildern und Gesprächen auf Deutsch umgeben war.
Als ich aus dem Zug stieg, war ein Lächeln auf meinem Gesicht eingerastet und ich verlor es nicht, während ich mich zum großen Ausgang durchschlängelte. Menschen machten mir Platz, ohne es zu erwidern. Sie erkannten es instinktiv als die Herausforderung, die es war.
„Willkommen zurück, Renia“, sagte ich leise, als ich in die Herbstsonne trat.
Die nächsten Tage waren von hektischer Aktivität gefüllt. Ich lachte aufgesetzt ins Telefon, um meinen Eltern zu versichern, dass es mir gut ging, bewarb mich auf alle Wohnungen, WG-Zimmer und Jobs, die ich finden konnte, trieb Sport und besuchte die Berliner Stadtbibliotheken. In letzteren hatte ich in meiner Kindheit viel Zeit verbracht. Aber ich war nicht mehr die neugierige kleine Renia, die sich staunend zwischen vollgepackten Regalen drehte. Nun kam ich mit meinem Laptop hierher, weil ich ein wenig Ruhe brauchte, die ich in meinem Hostel-Vierbettzimmer nicht finden würde. Ich fand auch Zeit zum Lesen, aber es war eher Flucht als Entdeckungsreise.
Denk nicht an deine Schuldgefühle.
Denk nicht an deine ungewisse Zukunft.
Denk nicht an den Streit mit der Touristin, die dein Flüstern und Schreien im Schlaf für einen morbiden Scherz gehalten hat – auch wenn du es ihr nicht verdenken kannst.
Denk nicht an die Hände, die durch die Matratze hindurch nach dir gegriffen haben.
Meine Albträume und Halluzinationen waren in voller Stärke zurück und die Welt fühlte sich so durchlässig an wie lange nicht mehr. Vielleicht lag es daran, dass ich mich weniger in der Wirklichkeit verankert fühlte. Diese Stadt sollte mein Zuhause sein, aber sie fühlte sich nicht länger so an. Die Freunde, die ich in Schottland gewonnen hatte – es waren ohnehin wenige – rief ich nicht an. Ich wollte nicht wissen, ob sie sich auf meine Seite schlugen oder dachten, dass ich den Rausschmiss verdient hatte.
War es so überraschend, dass ich mich fragte, ob die kalten Luftzüge, die mich manchmal streiften, nur den Winter ankündigten oder aber von einem anderen Ort her wehten? Dass ich manchmal glaubte, Fauchen und Flüstern zu hören?
Scheiß-Familienkrankheit.
Als mich eine ehemalige Klassenkameradin, die meine Wohnungs- oder WG-Suche-Posts gesehen hatte, spontan anschrieb und zu einer Party einlud, sagte ich zu – einfach, weil ich eine Bestätigung brauchte, dass sich Menschen an mich erinnerten.
Nun musste ich mir nur noch gute Antworten auf die Frage zurechtlegen, wieso ich wieder in Berlin war, während die Leute, mit denen ich zur Schule gegangen war, entweder in Beruf und Ausbildung durchstarteten oder aber auf eine konsequente, coole Weise eben nicht. Bei mir war es etwas anderes – ich hatte mir meinen Ehrgeiz zu sehr anmerken lassen, als dass ich behaupten könnte, mein Traumberuf sei „lässige Versagerin“ gewesen.
Auf der Busfahrt blieb mein Blick an einer leise telefonierenden Frau mit einer Brille, kurzem schwarzem Haar und einem breiten Lächeln hängen. Die Lampen im Bus blitzten auf ihren zahlreichen Ohrringen, als sie lachend den Kopf zurückwarf, und betonten das satte Rubinrot ihres Lippenstifts. Sie war schön, aber ich glaubte nicht, dass ich mich deswegen nur mit Mühe abwandte. Vielleicht wäre ich in diesem Moment einfach nur gerne sie gewesen, lachend im Gespräch mit einer vertrauten Person.
Während der Fahrt beendete ich die Kurzgeschichtensammlung, die ich gerade las. Bereits jetzt zerfaserten die Geschichten in meinen Gedanken, wurden zu einem Mosaik aus Augenblicken und Formulierungen, die sich mir eingeprägt hatten. Aber das hatte wahrscheinlich mehr mit den „Dinge passieren“-Plots zu tun als mit meinem schlechten Gedächtnis.
Zum Glück hatte ich meinen E-Reader dabei: Sachbuch, Science-Fiction-Roman oder Fantasy-Epos? Ich entschied mich für Letzteres, ließ mich in die andere Welt sinken wie in eine warme Badewanne und war sehr zufrieden mit meiner Entscheidung. Vielleicht würde ich meiner Mutter das Buch empfehlen. Phantastik war ein Thema, über das ich mich ewig mit ihr unterhalten konnte. Darin war sie das Gegenteil meines Vaters. Er mochte seine Geschichten solide in der Realität verankert. Ich erinnerte mich noch gut an seine Missbilligung, wenn ich ein Spiel zockte, dessen düstere Ästhetik ein wenig an unsere Halluzinationen erinnerte. Ich hatte ihn mühsam überzeugen müssen, dass es mir guttat, mir für ein paar Spielstunden vorstellen zu können, dass sie berechen- und kontrollierbar waren.
Schließlich erreichte ich Französisch-Buchholz, wo die Party stattfand. Hier waren die mittlerweile nur noch von Straßenlaternen erhellten Straßen kopfsteingepflastert und von Einfamilienhäusern mit kleinen Gärten gesäumt. Nicht unbedingt die Gegend, in der ich eine Studentin erwarten würde, aber meine Wohnsituation war ja auch ungewöhnlich.
Kaum hatte ich die Lichter der Straßenbahnstation hinter mir gelassen, spürte ich eine Veränderung. In meinen Augenwinkeln öffnete sich ein Fenster in die Rote Welt wie ein blinzelndes Auge. Stimmen schabten in meinem Kopf. Etwas bewegte sich. Renia ... Das Flüstern war in meinen Gedanken, aber es gehörte nicht zu mir. Der Boden unter meinen Füßen war glatt geworden und feuchte, kühle Luft, die sich irgendwie anders anfühlte als noch einen Augenblick zuvor, glitt unter meinen Mantelkragen, tastete nach bloßer Haut. Kaltes Licht schimmerte auf obsidianschimmernden Fassaden, die sich bedrohlich zu beiden Seiten erhoben, nur um einen Lidschlag später zu verschwinden.
Ich machte kreischend einen Satz zurück, als sich ein Hund kläffend gegen den Zaun neben mir warf. Waren seine Augen auf etwas neben mir gerichtet? Nein, es war einfach nur ein nerviger Hund, der mich anbellte. „Beruhige dich“, forderte ich ihn augenverdrehend auf, doch meine Stimme zitterte und mein hämmerndes Herz wollte nicht zur Ruhe kommen.
Ich wollte fliehen, unter Menschen sein, doch erst musste ich mein Handy entsperren, um wieder auf die Karte schauen zu können. Ich tat es mit bebenden Fingern, dort wo das Licht der Straßenlaternen am intensivsten war.
Schnell fand ich meinen Weg. Die Party empfing mich mit Wärme und Stimmen und dem Geruch von Popcorn und für einen Moment fühlte ich mich beinahe willkommen. Die gesamte untere Etage des Hauses war eine große Wohnküche. Junge Menschen hatten es sich auf langbeinigen Hockern, Sofas und dem Boden bequem gemacht. Elisa – die Gastgeberin – stand am Küchentisch und presste Limetten aus.
Hallo in die Runde, habt ihr unterwegs auch ein Portal in eine höllenartige Parallelwelt gesehen?
Ich machte sofort ein paar bekannte Gesichter aus, doch meine Hoffnung auf ein Wiedersehen voller spannender Geschichten und einem Gefühl der Zugehörigkeit verflog schnell. Was die anderen erzählten, interessierte mich nicht und die einzigen interessanten Geschichten, die ich zu erzählen hatte, konnte ich nicht teilen.
Also zog ich mich in die Küchenzeile zurück und mixte ein paar Cocktails. Ich selbst hatte sie nie gern getrunken, schon bevor ich etwas über den Zuckergehalt der Dinger lernte. Das Kind in mir, das irgendwann mal den Berufswunsch „Hexe“ gehabt hatte, mischte trotzdem gerne bunte Substanzen mit fragwürdigen Auswirkungen auf das menschliche Gehirn. Irgendwann stand ich neben der Gastgeberin in der Küche und half beim Gemüseschnippeln.
„Danke für deine Hilfe, du musst das aber nicht machen“, sagte Elisa.
Ich winkte ab und kippte pedantisch in dünne, beinahe identische Streifen geschnittene Paprika in die dafür vorgesehene Schale. Zwei Bleche mit Pizzateig harrten ihres Belags.
„Ich hoffe, du findest noch eine Wohnung“, setzte Elisa das Gespräch fort.
„Danke. Und du studierst in Bamberg?“
„Genau. Ich bin nur mal hierhergefahren, weil meine Eltern mich gebeten haben, zu schauen, ob mit ihrem Haus alles stimmt. Sie machen gerade beide ein Sabbatical und sind in Italien unterwegs.“
Sie erzählte mir noch ein paar Dinge und ich reagierte angemessen. Kopfschmerzen nisteten sich in meinem Schädel ein und erwiesen sich als fleißige Heimwerker. Wahrscheinlich brachten sie sogar hässliche Wandtattoos an. Ich stellte fest, dass ich ein wenig zu müde für diese Gespräche war, die mich an Improvisationstheater erinnerten – stell dich auf die Bühne, lies die Situation, mach das Beste aus dem Scheinwerferlicht, aber achte darauf, niemand anderem die Show zu stehlen. Manchmal genoss ich diese Art Auftritt, aber heute war ich einfach nur erschöpft und, wie ich mir eingestand, zutiefst enttäuscht. Ich wusste nicht, was genau ich hier gesucht hatte, aber es war nicht da. Außerdem hatte ich den Verdacht, dass meine Mascara krümelte. Immerhin erwies sich der als unbegründet, wie ich im Badezimmer feststellte.
Der Lippenstift (ohnehin nur eine Nuance dunkler als die natürliche Farbe meiner Lippen) war ab, aber der Rest des Make-ups saß. Allerdings verlor der Concealer allmählich gegen meine Augenringe. „Du brauchst Schlaf, Renia“, sagte ich laut. „Alles wird besser, wenn du endlich wieder mehr geschlafen hast.“
Keine Visionen von der Roten Welt mehr. Kein überwältigendes Gefühl der Einsamkeit inmitten von Menschen, die mir vertraut und sympathisch sein sollten, an denen ich aber in diesen dunklen Momenten nur ihre Makel und ihre Gewöhnlichkeit sah. Vielleicht konnte ich meine Halluzinationen – oder zumindest die Gefühle, die sie weckten – ebenso verdrängen wie meine Einsamkeit. Wenn ich alles richtig machte, würde sich alles finden, nicht wahr? Wenn ich meine Bedürfnisse kontrollierte, würden sie nicht unerfüllt bleiben.
Nun stellte sich mir nur noch eine Frage: Wollte ich nach Hause gehen? Es war kalt draußen und die Dunkelheit spielte Leinwand für meine Fantasie. Die Alternative war, mit meinem Handy auf dem Sofa zu liegen, während es noch später und nicht heller und wärmer wurde. Außerdem hatte ich Hunger, aber hier lag fast nur noch Knabberzeug herum, von dem man allzu schnell zu viel aß. Alles Gemüse war auf den Pizzen gelandet und die mit viel Begeisterung verzehrt worden.
Ich wollte nach Hause. Idealerweise in ein Zuhause, das ein echter Rückzugsort war, aber das war keine Option. Wenigstens dürfte Schlaf gegen meine Kopfschmerzen helfen.
Darüber hinaus ging mir der selbstmitleidige Gesichtsausdruck meines Spiegelbilds auf die Nerven. Also kehrte ich in die Wohnküche zurück, winkte in die Runde und trat den langen Weg zurück zum Hostel an. Gelegentlich glaubte ich, schwere Schritte hinter mir zu hören, und einmal sah ich graue Schlieren direkt neben mir, wie einen Vorhang, den ich nur beiseiteschieben müsste, um eine labyrinthische Stadt knapp außerhalb meiner Wahrnehmung zu betreten. Ich erahnte ihre krummen Gassen und hohen Türme, als hätte ich sie in einem Traum oder einer fernen Kindheitserinnerung schon einmal besucht. Abgesehen davon war es eine ereignislose Fahrt.
Das Hostel war kälter und stiller, als ich es in einer Wochenendnacht erwartet hätte, aber eine warme Dusche vertrieb Kälte und Angst aus meinem Körper und die kühlen, glatten Laken wärmten sich rasch auf.
„Gute Nacht, Renia“, sagte ich leise und fügte, an die geisterhaften Erscheinungen von heute denkend, ironisch hinzu: „Träum was Schönes.“
Abgesehen von solchen Erlebnissen war ich seltsam ausgeglichen, auch wenn die Wohnungssuche mir mit jedem Tag, mit jeder Woche aussichtsloser erschien. Ich verbrachte Stunden auf sozialen Medien auf der Suche nach etwas, das sie mir nicht geben konnten, und hatte angefangen, Selbstgespräche zu führen. Mit den Menschen von der Party nahm ich trotzdem keinen Kontakt mehr auf. Ich mochte die kalte, halb verächtliche, halb verzweifelte Person nicht, zu der ich in ihrer Mitte wurde.
Eines Tages saß ich in der Janusz-Korczak-Bibliothek und wollte gerade eine Mail mit dem Betreff „Hallo Großnichte“ als Spam ungelesen löschen, bis mir die Absenderin auffiel: Katharina Sagert.
Stirnrunzelnd öffnete ich die Mail.
Mail to: Renia Kiehn
From: Katharina Sagert
Subject: Hallo Großnichte
Liebe Renia,
ich hoffe doch, ich kann dich duzen. Vielleicht erinnerst du dich an mich, auch wenn ich es gut nachvollziehen kann, wenn du das nicht tust. Als du mich das letzte Mal gesehen hast, warst du fünf, und es würde mich nicht überraschen, wenn Konrad sehr sparsam mit Informationen über mich gewesen wäre oder dir ein paar nicht sehr schmeichelhafte Dinge erzählt hätte.
Ich würde dir gerne die Gelegenheit geben, dir selbst ein Bild zu machen. Könntest du dir vorstellen, mich auf einen Kaffee zu treffen? Ich könnte mich überzeugen lassen, dir mit dem kleinen Wohnungsproblem zu helfen, von dem du auf Facebook erzählt hast.
Mit freundlichen Grüßen,
Katharina Sagert
P.S.: Wundere dich nicht, dass ich deine E-Mailadresse habe. Ich habe sie im Impressum deines inaktiven Buchblogs gefunden (vielleicht möchtest du den DSGVO-konform machen oder löschen – nur ein kleiner Ratschlag).
Hastig nahm ich meinen Blog offline, kramte in meinen Erinnerungen. Ich glaubte, mich tatsächlich an eine Großtante namens Katharina zu erinnern. Dann schrieb ich meinem Vater:
Mail to: Konrad Kiehn
From: Renia Kiehn
Subject: Großtante
Hallo Konrad,
das klingt jetzt sicher merkwürdig, aber habe ich eine Großtante namens Katharina Sagert? Ich habe eine Mail von jemandem bekommen, der das behauptet, und Sagert war doch dein Familienname, bevor du geheiratet hast, oder? Ist Katharina zuverlässig?
Die Wohnungssuche läuft noch.
LG,
Renia
Ich musste ihn trotz der Zeitverschiebung online erwischt haben, denn seine Antwort kam postwendend:
Mail to: Renia Kiehn
From: Konrad Kiehn
Subject: Re: Großtante
Liebe Renia,
„zuverlässig“ ist das einzig Positive, was ich über Katharina sagen kann. Du bist eine erwachsene Frau, aber falls du dich trotzdem überreden lässt, einen Rat von mir anzunehmen: Antworte einfach nicht auf ihre Mail. Du willst sie und ihre Geheimnisse nicht in deinem Leben.
Liebe Grüße,
Konrad
P.S.: Falls du Ratschläge, Geld, irgendetwas brauchst, sag Bescheid. Sei nicht zu stolz dazu.
Ich lächelte selbstironisch. Seine Hoffnung, dass ich mir die letzte Zeile zu Herzen nahm, war sehr optimistisch. Ich bedankte mich bei ihm und öffnete dann wieder Katharinas Mail. Ich zögerte. Dann antwortete ich:
Mail to: Katharina Sagert
From: Renia Kiehn
Subject: Re: Hallo Großnichte
Hallo Katharina,
meine Neugier ist geweckt. Wo sollen wir uns treffen?
LG,
Renia
An diesem Freitag ging ich nicht in die Bibliothek. Ich war zu aufgeregt vor dem Treffen mit Katharina und wollte mich ein wenig für die Welt nützlich machen. Nach dem Training und einer im Gehen verspeisten Mahlzeit schloss ich mich vor dem Brandenburger Tor einer kleinen Demonstration für konsequentere Klimapolitik an. Sie waren einmal größer gewesen, doch langsam, aber sicher griff Resignation um sich.
Als ich zwischen den jungen Menschen stand, die ihre gerechtfertigte Wut und ihre Hoffnung, dass sich noch etwas ändern ließe, herausschrien, überkam mich für einen Moment eine überwältigende Einsamkeit. Ich beobachtete meinen Körper wie von außen und hatte nicht länger das Gefühl, etwas mit der Welt zu tun zu haben, deren Verbesserung ich einforderte. Ich hielt ein aus einem Lieferkarton gebasteltes Schild mit einem bissigen Kommentar zu den gebrochenen Versprechen der Regierung hoch und auf meinem Rucksack verkündeten Buttons jeder Person, die nahe genug kam, dass ich für LGBTQ+-Rechte eintrat und sehr, sehr wenig von Nazis hielt. Für einen Moment musste ich gegen den irrationalen Impuls ankämpfen, diese Bekenntnisse zu Überzeugungen abzunehmen, die mir in diesem Moment abstrakt sinnvoll erschienen, aber jeden emotionalen Gehalt verloren hatten. Ich kam mir wie eine Hochstaplerin vor.
Darüber hinaus kamen die Erinnerungen an mein Erlebnis auf dem Weg zu Elisas Party zurück. Die Halluzination hatte eine neue Intensität – eine neue Intimität – gehabt, die mich immer noch verfolgte. Und ich dachte, ich hätte mich an die Bilder gewöhnt ... Ich blinzelte graue Schlieren weg, die über meiner Haut hingen wie Kerzenrauch. Unwillkürlich sah ich mich um, als fürchtete – oder hoffte – ich, dass jemand anderes sie bemerkte. Warum kamen mir diese Bilder so viel realer vor als das, was um mich herum geschah?
Ob die Menschen um mich herum bemerken würden, dass ich ein Eindringling in ihrer Mitte war? Egal. Auch wenn es mir so vorkam, als stünde ich nicht länger für meine eigene Welt, für meine eigene Gesellschaft hier, gab es doch Leute, die etwas damit anfangen konnten, und warum sollte ich sie nicht unterstützen?
Jemand taumelte gegen mich und riss mich in die Realität zurück. Ich sah mich gerade rechtzeitig um, um eine mollige Jugendliche mit purpurnem Haar stürzen zu sehen. Zuerst glaubte ich, sie sei gestolpert und wollte ihr aufhelfen, aber sie schien weggetreten zu sein. Ich packte die Frau neben mir am Arm. „Hey, Sie. Geben Sie schon mal die Nummer für den Krankenwagen ein.“ Dann drehte ich mich um. „Achtung, hier ist jemand umgekippt.“
Die Menschen reagierten schnell und wichen von der Gestürzten zurück. Die kam Sekunden später zu sich. „Alles okay, alles okay. Nur ein kurzes Blackout“, wehrte sie die Sorge der Umstehenden ab. „Nein, kein Krankenwagen bitte.“
„Sicher?“ Ich kauerte mich neben sie und half ihr, sich aufzurichten.
„Sicher. Nur mein Kreislauf.“ Ihre Stimme klang schon etwas fester und langsam wich die ungesunde Blässe aus ihrem runden Gesicht. „Hast du was zu trinken dabei?“
Noch bevor ich in meinen Rucksack greifen konnte, konnte sie sich zwischen den Wasserflaschen von vier hilfsbereiten Umstehenden entscheiden. „Danke.“
Die junge Frau, nach deren Arm ich gegriffen hatte, sah sie fragend an. „Die Nummer ist eingegeben. Also wenn du sicher gehen möchtest ...“
Die Gestürzte winkte hastig ab. „Nein, wirklich. Sowas passiert mir öfter. Wachstum, Kreislauf und so weiter ...“
Wir begleiteten sie aus dem Getümmel und zu einer Bank. Die andere Helferin und ich tauschten einen Blick. Zuvor war mir nur aufgefallen, dass sie ihr dunkles Haar im Nacken nachlässig, aber elegant mit einer Silbernadel zusammengedreht trug, doch nun registrierte ich ihr schönes, besorgtes Lächeln.
„Danke für eure Hilfe“, sagte das Mädchen, das umgekippt war. „Ich bin übrigens Kyra.“
„Kein Problem. Ich heiße Renia“, stellte ich mich vor und sah die andere Frau erwartungsvoll an.
„Roisín. Geht es dir wirklich schon wieder gut?“, fügte sie an Kyra gewandt hinzu.
„Ich glaube, ich würde lieber noch eine Weile sitzen, aber ja. Warte mal, ich schreibe meiner Freundin, damit sie mich hier einsammelt.“ Kyra zog ihr Handy aus der Tasche. „Sie war gerade auf der Suche nach einer Toilette, als ich umgekippt bin, und fragt sich jetzt wohl, wo ich bin.“
Ich faltete mein Plakat zusammen und verstaute es in meinem Rucksack. Kyra war mir sympathisch, aber es war Roisín, zu der mein Blick immer wieder wanderte. Ihre mühelos aufrechte Haltung und der hohe Kragen aus schwarzer Spitze, der aus ihrer Jacke lugte, verliehen ihr eine ruhige, altmodische Eleganz. Und die wiederum bildete einen faszinierenden Kontrast zu ihrem Gesicht – sie konnte nicht viel älter sein als ich. Ich wandte den Blick ab, sobald ich feststellte, dass sie mich ihrerseits mit ihren dunklen, schimmernden Augen musterte.
„Kyra!“ Eine Jugendliche mit einem hellgrünen Schal, der an jemandem mit heller Haut schrecklich ausgesehen hätte, eilte auf unseren Tisch zu. „Alles okay?“, fragte sie atemlos.
„Ja, es geht mir schon viel besser.“
„Die Freundin, der du geschrieben hast?“, fragte ich.
„Ja, das ist Claire. Bleibt doch noch ein bisschen“, schlug Kyra vor und strahlte mich und Roisín an, während sie ihrer Freundin in atemberaubender Geschwindigkeit die Ereignisse der letzten Minuten zusammenfasste.
Ich warf einen Blick auf mein Handy. „Tut mir leid, aber ich muss los. Und jetzt weiß ich, dass du nicht allein unterwegs bist. Also kann ich mich mit einem guten Gewissen davonmachen.“ Ich lächelte den Neuankömmling ein wenig gezwungen an. Etwas an der mühelosen Vertrautheit zwischen ihr und Kyra erinnerte mich zu sehr an das, was ich gerade in meinem Leben vermisste.
Kyra lächelte schief. „Machst du das öfter? Menschen helfen und dann einfach verschwinden?“
Ich lachte ein wenig zu laut. „Verschwinden, ja. Der Helfen-Teil ist gelegentlich ein bisschen ...“ Ich schnippte mit den Fingern. „... ambiguous. Wie auch immer man das auf Deutsch sagt.“
„Ambiguös?“, schlug Kyra vor.
„Oder ambig“, meinte Claire. „Klingt hässlich, ist aber auf jeden Fall korrekt.“
„Ambig habe ich auch schon gehört“, bestätigte Roisín.
„Schade. Es ist so ein schönes Wort und sollte eine schöne deutsche Entsprechung haben“, bedauerte ich.
„Jedenfalls Danke.“ Kyra lächelte mich an. Sie war immer noch blass und blickte unbehaglich drein, aber ich war mir relativ sicher, dass sie nicht wieder umkippen würde.
Ich zuckte die Achseln. „Wirklich kein Problem.“ Und dann, um nicht ganz so abweisend rüberzukommen, ergänzte ich: „Wer weiß, vielleicht habe ich heute Abend eine Wohnung.“ Ich lächelte noch ein wenig breiter.
„Meine Daumen sind gedrückt“, sagte Kyras Freundin.
„Wo bist du online unterwegs?“, fragte Kyra. Wir vollzogen das Ritual des einander auf verschiedenen Plattformen Findens und Abonnierens. Wieder lugte ich zu Roisín hinüber. Machte sie nur aus Höflichkeit mit?
„Schön, dich kennengelernt zu haben“, verabschiedete sie sich schließlich. Bildete ich mir das nur ein oder lächelte sie unerwartet breit und lange, als sie mich ansah? Wir standen weniger als einen Meter voneinander entfernt, aber ich hatte dennoch das Gefühl, dass sie es aus weiter Ferne tat.
„Danke.“
Frag sie doch gleich, ob sie dich wiedersehen möchte, flüsterte ein Teil von mir, den ich nach der Enttäuschung mit Alice sorgfältig begraben hatte. Ich trat ihn schwungvoll in sein Grab zurück – vorgeblich, weil ich nicht aufdringlich sein wollte, aber in Wahrheit, weil ich gerade etwas zu verletzlich für eine Ablehnung war – und machte mich auf dem Weg zur Friedrichstraße.
Ich musste nicht lange auf die S-Bahn warten, die mich weiter in den Westen der Stadt trug. Am Bahnhof Zoo stieg ich in die U-Bahn um und fuhr noch eine Handvoll Stationen. Wieder dachte ich, dass es ein sonderbares Gefühl war, in der Stadt meiner Jugend unterwegs zu sein, ohne ein Zuhause darin zu haben, auch wenn ich mich nun ein kleines bisschen willkommener fühlte.
In der U-Bahn nutzte ich mein Spiegelbild in der Scheibe, um mein Haar zu richten. Es war keine leichte Aufgabe, denn in den Doppelscheiben hatte ich zwei sich überlagernde Umrisse und mein Haar wurde zu einer einzigen dunklen Fläche. Das harte, weiße Licht von oben, das die Augen mit Schatten umgab und aus irgendeinem Grund immer das Dreieck zwischen Nase und Mundwinkeln betonte, schmeichelte mir nicht gerade. Aber bei wem tat es das schon?
Ich hatte überschätzt, wie lange ich brauchen würde, und so erreichte ich das kleine Café, das auf den Lietzensee hinausblickte, fast eine halbe Stunde zu früh. Um mir die Zeit zu vertreiben, schlenderte ich am Seeufer entlang. Weil der bleigraue Himmel wenig einladend aussah – die schweren Wolken hingen schon seit Tagen da wie ein unerfülltes Versprechen auf Regen –, waren außer mir nur wenige Leute unterwegs: eine grimmig dreinblickende Joggerin in einer magentafarbenen Windjacke, mehrere Menschen mit Hunden, ein junger Mann, der nur so lange wütende Selbstgespräche zu führen schien, bis ich nahe genug kam, um sein Headset zu erkennen.
Elisa hatte mir von einer anderen ehemaligen Mitschülerin erzählt, die nun hier in der Gegend wohnte. Ich fragte mich, ob ich vielleicht den Kontakt erneuern sollte. Ich hasste es, die erste Person zu sein, die schrieb oder – noch schlimmer – die wiederholt Kontakt aufnahm und damit preisgab, dass sie diejenige war, die ihn mehr brauchte. Aber vielleicht musste ich mich einfach überwinden, wenn ich in den Köpfen anderer mehr sein wollte als die Erinnerung an einen eloquenten Partygast oder diese eine Studentin, die immer eine Antwort parat hatte.
Aber wollte ich das? Was du anderen preisgibst, wird von ihnen nicht aufbewahrt wie ein historisches Artefakt unter Glas. Du nimmst in ihren Gedanken ein Eigenleben an, das du nicht länger kontrollieren kannst, und irgendwann besitzen sie eine Abbildung von dir, die dir gerade ähnlich genug ist, dass dich die Verzerrungen stören. Ich hatte mich schon oft innerlich gewunden, wenn mir andere Menschen ihre Version meiner Geschichte erzählten. Dann lieber eine glatte, flüchtige Präsenz voller Widersprüche sein, an der die Haken vorgefertigter Kategorien und Narrative keinen Halt fanden.
„Machst du das öfter? Menschen helfen und dann einfach verschwinden?“
Ich könnte mich daran gewöhnen.
Ich fragte mich, wie sich Roisín an mich erinnern würde.
„Du verbringst zu viel Zeit mit dir allein, Renia“, murmelte ich. Diese Sorte Überlegungen über menschliche Beziehungen trieben nur diejenigen um, die sie halb von außen betrachteten.
Ich musste meinen Schritt beschleunigen, um es rechtzeitig zurück zum Café zu schaffen. Die schnellere Bewegung vertrieb die Kälte aus meinen Gliedern und ich erreichte die Tür exakt zur verabredeten Zeit, zeitgleich mit einer fragil wirkenden, grauhaarigen Frau. Ich hielt inne und musterte sie stirnrunzelnd. Ihre Züge kamen mir bekannt vor. Das Alter hatte nahezu alles Fett aus ihren Wangen weggeschmolzen und eine Knochenstruktur bloßgelegt, die mir aus dem Spiegel bekannt vorkam. Wie bei mir war eine ihrer spärlichen Augenbrauen höher geschwungen als die andere. Auch die hohe Stirn und die gerade Nase hatten wir gemeinsam.
„Renia?“, fragte sie und räumte damit meinen letzten Zweifel aus.
„Ebenjene.“ Ich streckte ihr die Hand entgegen.
„Ich bin Katharina Sagert. Es freut mich, dass wir uns endlich wirklich kennenlernen.“
Ich hielt ihr die Tür auf und wir setzten uns an einen der wenigen Tische. Wir beide bestellten Tee, ich schwarz, sie Pfefferminze. Erleichtert stellte ich fest, dass sie nicht so langsam sprach, wie ich es von den Eltern meiner Mutter kannte, die ein zufriedenes Leben in Zeitlupe zu führen schienen.
„Was hat dir Konrad über mich erzählt?“, wollte sie wissen.
„Nichts“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Bis ich deine Mail erhalten habe, hätte ich die Frage, ob ich eine Großtante habe, nicht mit Gewissheit beantworten können.“ Ich grinste. „Also, welcher Skandal hat die Familie gespalten?“
Sie lächelte freudlos. „Glaub mir, unserer ist spektakulärer als der einer durchschnittlichen Familie. Aber bevor ich auf die wirklich interessanten Informationen eingehe, sollten wir einander näher kennenlernen. Du bist jetzt 22, oder?“
„21“, berichtigte ich. So ganz hatte ich mich noch nicht daran gewöhnt, dass ich nicht länger ein Teenager war, bei dem Reife bestaunt statt vorausgesetzt wurde.
„Hm ...“ Katharina sah mich lange an. „Seit wann bist du wieder in Berlin?“
„Seit drei Wochen, etwa.“ Ich verzog einen Mundwinkel und brachte das Gespräch auf sie: „Hast du die ganzen letzten Jahre über hier gelebt?“
Sie nickte. „Ja. Dass wir uns nur einmal begegnet sind, war Konrads Wunsch.“
Ich sah sie abwartend an, doch sie lieferte keine Erklärung. Stattdessen fuhr sie fort: „Ich habe beinahe mein ganzes Leben lang hier gewohnt, abgesehen von ein paar Jahren in meiner Kindheit, in denen meine Mutter mit uns zu Verwandten aufs Land floh. Ich habe hier studiert und gearbeitet und bin von meinen Reisen immer hierhin zurückgekommen. In verschiedenen Bezirken allerdings – ich hatte Wohnungen in Friedrichshain und Prenzlauer Berg, als die noch weit davon entfernt waren, ‚szenig‘ zu sein. Jetzt bist du dran. Erzähl mir von deinem Leben. Ich habe ein wenig verfolgt, was du so im Internet postest, aber du hast vor Jahren aufgehört, da viel von dir preiszugeben. Da dürftest du in der … neunten Klasse gewesen sein, oder?“
„Kommt hin.“
„Liest du immer noch gern?“
Ich fragte mich, woher meine Anspannung kam – das Gefühl, dass sich Katharina zu Smalltalk zwang, bevor sie endlich ansprach, was sie wirklich beschäftigte. Auf jeden Fall fühlte ich mich unbehaglich dabei, dass sie mein Leben online verfolgt hatte.
„Jetzt, da ich nicht mehr so viel für die Uni lesen muss, ja.“
In der Gesprächspause, die sich einstellte, kam unser Tee. Wohlwollend registrierte ich, dass es sich um lose Blätter handelte. Ich hob den Filter in der gläsernen Tasse leicht an und betrachtete die dunklen Schlieren, die er hinter sich herzog. Auch Katharinas Aufmerksamkeit schien für kurze Zeit von ihrem Tablett mit Teeutensilien gebannt, doch Sekunden später sahen wir einander wieder an.
„Angesichts dessen, dass du studiert hast, gehe ich einmal davon aus, dass du dein Abitur bestanden hast.“
„Mit einer 1,1“, murmelte ich. Okay, das war wahrscheinlich schlechter Stil, aber angesichts meiner jüngsten Erfahrungen tat es mir gut, mich an meine Erfolge zu erinnern.
Katharina lehnte sich zurück. „Du hättest also alles studieren können, aber hast dich für englische Literatur entschieden. Warum?“ Die Frage klang wie eine Herausforderung.
„Ich mag Englisch. Ich mag Literatur. Die Uni hat Stipendien ausgeschrieben.“
Es steckte natürlich mehr dahinter, darunter wie so oft der Wunsch, mit Erwartungen zu brechen. Ich war immer die überraschend streitlustige, aber auch ehrgeizige und vernünftige Tochter gewesen. Alle hatten für mich ein Studium in einem Fach mit guter beruflicher Perspektive oder irgendeine Form von politischem Engagement vorausgesehen.
„Und warum hast du dein Studium abgebrochen, wenn du Englisch und Literatur magst? Warst du doch nicht so gut darin, wie du dachtest?“
Ich nahm meinen Teefilter aus der Tasse, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. „Ich hatte Lust auf eine neue Herausforderung.“
„Und deshalb wirfst du einen Abschluss weg? Dein Vater meinte, du wärst intelligent.“
„Ich würde ja gerne sagen, dass mir jemand über dich erzählt hätte, du wärst sozial kompetent, aber da ich keine diesbezüglichen Erwartungen hatte, kann ich nicht enttäuscht sein.“
„Beantworte meine Frage.“
„Das habe ich.“
„Bist du nicht mit dem Ende deiner Beziehung zurechtgekommen?“
Sie musste im Rahmen ihrer Online-Recherchen zu meiner Person mitbekommen haben, wie ich als Reaktion auf einen Kommentar zu einem Post knapp erklärt hatte, dass Alice und ich nicht länger ein Paar waren.
Leise Verachtung mischte sich in ihre Stimme. Zuerst verkrampfte ich mich, rechnete mit einem homofeindlichen Kommentar, aber der blieb aus und mir wurde bewusst, dass es nur die Worte „nicht zurechtgekommen“ gewesen waren, bei denen der spöttische Unterton mitgeschwungen hatte. Aha. Ich konnte also zusammen sein, mit wem ich wollte, aber wehe, ich reagierte emotional auf die Trennung. Immerhin waren wir in der Beziehung ja nur so weit gewesen, dass ich erwogen hatte, dauerhaft in ein anderes Land zu ziehen. Zumindest, bevor sich meine Schwermut und diese sonderbare Distanz zwischen uns schoben. Bevor sich Alice Hals über Kopf in eine andere Frau verliebte.
Ich schnippte mit den Fingern. „Beziehung …? Oh, stimmt, ja. Das meinst du. Nein, ich habe schon ein paar Tage nach der Trennung nicht mehr daran gedacht, wenn man von der Logistik absieht. Es ist verblüffend, wie viele Kleidungsstücke und Bücher im Verlauf weniger Monate hin und her wandern.“ In meinen Gedanken nannte mich Alice eine Lügnerin, ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht. Es stand ihr gut. „Ich muss zugeben, ich vermisse dieses eine flauschige, schwarze Sweatshirt, das sie mir immer geliehen hat.“ Ja, ich vermisste dieses Sweatshirt. An ihr.
„So, warum dann?“
„Ich war noch nie irgendwo rausgeworfen worden und dachte, ich mache diese Erfahrung. Bestimmt steht das auf irgendeiner ‚Dinge-die-du-tun-musst-bevor-du-30-wirst-Bucketlist‘, die im Internet kursiert.“ Ich zögerte. Musste ich das erklären? Aber wenn Katharina nichts mit dem Begriff anfangen konnte, betrachtete sie eine Nachfrage wahrscheinlich als irrelevante Ablenkung.
„Du bist also rausgeworfen worden.“
Ich hob die Schultern.
„Warum?“ Ihr Tonfall war auf kühle, ruhige Weise gebietend.
Meine Gedanken kehrten zu den Ereignissen vor ein paar Wochen zurück – war es wirklich erst eine so kurze Zeit her? Und plötzlich dachte ich: Warum nicht die Wahrheit sagen? Ich hielt sie vor Menschen geheim, deren Meinung mir etwas bedeutete, aber diese alte Frau, mit der mich nur verband, dass sie die Tante meines Vaters war, hatte wenig getan, um meine Sympathie zu gewinnen. Und das entspannte mich auf sonderbare Weise. „Es ist eine ziemlich lustige Geschichte, wenn man sie mit ein wenig Distanz betrachtet.“
„Was du tust“, beobachtete Katharina.
„Was ich tue“, bestätigte ich. „Ich bin rausgeworfen worden, weil Alex eine Mail an die falsche Adresse geschrieben hat.“ Die Anspannung, die mit dem Erzählen dieser kleinen, schambehafteten Episode kam, wollte sich in einem Lachen entladen.
„Wer ist Alex?“
„Ein Kommilitone, der mich damit beauftragt hat, seine Bachelorarbeit für ihn zu Ende zu schreiben. Er hat sich in einer Mail überschwänglich dafür bedankt. Dummerweise hat er unter den Vorschlägen seines Mailprogramms, an wen er sie schicken sollte, den falschen Namen ausgewählt und sie an eine Person geschickt, die sie an die entsprechenden Stellen weitergeleitet hat. Dass ich mich stillschweigend exmatrikulierte, war die Bedingung dafür, dass die Uni keine rechtlichen Schritte einleitete.“
Ich hatte das Geld nicht gebraucht. Tatsächlich war die Mail, die uns hatte auffliegen lassen, Alex’ Bitte darum gewesen, es anzunehmen. Die Gründe, wieso ich ihm geholfen hatte, konnte ich nicht mal mir selbst erklären, geschweige denn dieser Fremden. Ich hob das Kinn. „Ich habe vor allem die Herausforderung genossen, seinen Stil zu imitieren. Rückblickend war das Ganze so ein klassischer Fall von ‚In dem Moment kam es mir wie eine gute Idee vor‘. Nun ja, ich habe aus der Sache gelernt, komme also deutlich klüger von meinem Studium zurück, als ich es begonnen habe. Leider ohne ein Zertifikat, das mir das bescheinigt.“