Das Buch der Geheimnisse - Franz Fassbind - E-Book

Das Buch der Geheimnisse E-Book

Franz Fassbind

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Beschreibung

In dem ersten Band seiner Reihe Werkausgabe, werden Erinnerungen an die Erlebnisse eines kleinen Jungen erzählt, der gerade in die Schule gekommen ist und sich dort zurecht finden muss. Dies gelingt ihm manchmal besser und manchmal nicht ganz so gut, aber er etwas in der Hinterhand: Das große Buch der Geheimnisse. Aus diesem Buch liest ihm sein Vater Abend für Abend vor und mit dem spannenden Wissen, welches er dabei lernt, schafft er es nicht nur, sich schnell bei seinen Klassenkameraden beliebt zu machen, sondern wird sogar zu einer Art Anführer.-

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Das Buch der Geheimnisse

Saga

Das Buch der GeheimnisseCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1988, 2019 Franz Fassbind und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711757208

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Für Ursula und Judith

und ihren blauen Wandschrank

Das Geheimnis der Brillenschlange

Es sind nun schon viele Jahre her, seit ich diese Geschichte erlebt habe.

Ich war damals ein kleiner Junge, trug kurze Hosen und kurzgeschorenes Haar. Ich trug auch eine Brille, weil ich sonst das kleine Einmaleins nicht lesen konnte, wenn es der Lehrer mit großen Zahlen an die Wandtafel schrieb. Als ich zum erstenmal mit meinem Drahtgestell auf der Nase ins Klassenzimmer trat, schrie Knorz: „Hui, seht dort die Brillenschlange!“ Alle lachten. Ich lachte mit. Als aber das Lachen meiner Kameraden nicht aufhörte, merkte ich, daß sie sich über mich und über meine Brille lustig machten. Noch am gleichen Tag fragte ich meinen Vater, was eine Brillenschlange sei. Die Mutter flüsterte meinem Vater zu, er solle mir doch die Brillenschlange im Zoo zeigen. Da wußte ich, daß Knorz die Brillenschlange vom Zoo her kannte. Mein Vater holte ein dickes Buch, erklärte mir das Geheimnis der Brillenschlange, und weil wir schon bei den Brillen und bei den Schlangen waren, erklärte er mir auch das Geheimnis der Brillenvögel und der Klapperschlangen.

Als mich Knorz am nächsten Tag auf dem Schulplatz erblickte, rief er wieder: „Hui, seht dort die Brillenschlange!“

Ich schrie zurück: „Hört, wie die Klapperschlange klappert und plappert!“ Da lachten alle. Aber diesmal lachten sie nicht über mich. Knorz spürte das, schnitt eine Grimasse und sagte: „Ich habe die Brillenschlange im Zoo gesehen. Eine Klapperschlange habe ich dort nicht gesehen. Also gibt es keine Klapperschlange.“

Da erzählte ich meinen Kameraden das Geheimnis der Klapperschlange. Ich erzählte von Nordamerika, von den Indianern, von der Klapper an der Schwanzspitze der Klapperschlange und von der Schlange im Paradies, die gewiß auch eine Klapperschlange gewesen sei, sonst hätte sie nicht so viel und so dumm klappern und plappern können.

Von diesem Tage an lachte Knorz nicht mehr über mich und meine Brille. Er war einmal sitzengeblieben, mußte die erste Klasse wiederholen und sah schon fast wie ein Erwachsener aus. Ich fürchtete seine Fäuste. Er aber fürchtete sich vor meinen Geheimnissen, die mir mein Vater abends beim Einnachten aus einem dicken Buche vorlas. Mein Vater war arm und konnte mir darum die Brillenschlange im Zoo nicht zeigen. Aber ich wollte nicht in den Zoo, denn ich kannte jetzt ja schon viele Geheimnisse, die es dort gar nicht gab.

In den Schulpausen drängten sich meine Kameraden zu mir heran und fragten: „Kennst du ein neues Geheimnis?“ Ich nickte dann und begann zu erzählen. Einmal, als ich über ein besonders schönes Geheimnis gesprochen hatte, meinte Elfi, ein rundes Mädchen mit schwarzen Augen und dicken Zöpfen: „Er sieht eben mehr als wir. Er trägt eine Brille.“

Zwei Tage später wurde mir in der Turnstunde meine Brille gestohlen. Ich hatte sie mit dem Schulsack in den Kleiderschrank gelegt. Nach der Turnstunde tanzte Knorz auf dem Schulhausplatz einen wilden Kriegstanz. Er trug meine Brille, zeigte auf mich und schrie: „Er lügt. Ich sehe nichts. Es gibt keine Klapperschlange.“

So ist es mit den Brillen : die einen sehen damit, die andern sehen nichts. Und fast gleich ist es mit den Geheimnissen.

Die Geschichte, welche ich jetzt erzähle, ist das größte Geheimnis, das mir begegnet ist. Dieses Geheimnis ist sogar größer als das Geheimnis der Klapperschlange und der Brillenvögel. Ich habe es zuerst lange für mich behalten. Während ich es für mich behielt, wurde ich groß. Als ich groß war, erzählte ich es meinen Freunden. Aber meine Freunde waren ebenfalls groß und erwachsen. Einige besaßen glänzende Autos, andere eine wunderschöne Frau. Wieder andere waren gescheit. Keiner war so dumm wie Knorz. Aber sie glaubten mir nicht, obwohl ich auch heute noch eine Brille tragen muß. So behielt ich mein Geheimnis bei mir und beschloß zuletzt, es niemandem mehr zu erzählen.

Jetzt bin ich alt und weiß eigentlich nie recht, wann ich sterben muß. Und wenn ich mir so überlege, daß kein Mensch auf der ganzen Welt mein größtes Geheimnis kennt und daran glaubt, dann werde ich traurig. In einem solchen traurigen Augenblick fielen mir nun heute früh meine Kameraden ein, die sich einst in den Sphulpausen um mich drängten und fragten: „Kennst du ein neues Geheimnis?“ Da mußte ich an die vielen armen Kinder denken, deren Herzen heute hungern, weil es keine Geheimnisse mehr gibt. Und um dieser hungernden Kinderherzen willen beschloß ich, mein Geheimnis preiszugeben und zu erzählen.

Das Unglückszimmer, die Glückskammer und die Stube

Wir wohnten damals in einem sechsstöckigen, schmalen Haus. Auf der rechten Seite des Hauses lag ein weiter Platz mit Kastanienbäumen, deren Blüten im Frühling wie Kerzen brannten. Auf der linken Seite gab es keine Bäume und keine Lichter. Zwar hätte man in der engen, dunklen Gasse eine Menge Lichter brauchen können.

Wenn mich ein Kummer quälte, schaute ich über die Brüstung des Küchenfensters in die Gasse hinab, und wenn ich mich glücklich fühlte, lehnte ich zum Fenster im Schlafzimmer meiner Eltern hinaus und zündete in Gedanken das ganze Jahr hindurch auf allen Bäumen Lichter an. So wurde die Küche mein Unglückszimmer und das Schlafgemach der Eltern meine Glückskammer. Wer vom Unglückszimmer in die Glückskammer gelangen wollte, mußte durch die kleine Stube gehen. In der Stube aßen wir. In der Stube sprachen und schwiegen sich meine Eltern aus. In der Stube lernte und spielte ich. Und vom Stubenfenster aus konnten wir über einem niederen Haus auf der anderen Seite der Gasse — mein Vater nannte dieses Haus immer nur die Zahnlücke — weit in der Ferne einen bewaldeten Hügelzug sehen. In der Stube war alles beisammen. Sie war Unglückszimmer und Glückskammer. Einmal saß ich beim Verdämmern des Tages mit Vater und Mutter auf dem grünen Sofa und träumte durch das offene Fenster, durch den Staub und den Lärm der Stadt zu den fernen violetten Wäldern hinüber. Der liebe Gott zündete am Kastanienbaum des Himmels langsam und feierlich die Blütensterne an. Dann spürte ich, daß die Welt mit allen Indianern und Klapperschlangen zusammengenommen nicht größer sein konnte als unsere Stube.

Ich habe seither in meinem Leben noch manches Unglückszimmer und manche Glückskammer gefunden. Ich weinte seither in manchem Unglückszimmer. Ich lachte seither in mancher Glückskammer. Aber nie mehr habe ich eine Stube bewohnt, die so groß war, daß man darin vor Glück traurig und vor Traurigkeit glücklich sein durfte.

Die Stubenwände waren mit vergilbten Tapeten verklebt. Die Tapete ähnelte einer Wiese. Eine schreckliche Dürre mußte diese Wiese verheert haben, denn die braunen Strohblumen an der Wand lebten nicht mehr. Wenn von den fernen Wäldern her ein Windstoß durch das offene Stubenfenster fuhr, erwartete ich eigentlich immer, er werde das Laub an den Wänden aufwirbeln und in einer geheimnisvollen, raschelnden Spirale zum Nachthimmel emporblasen. Die Strohblumen auf der Stubentapete erinnerten mich Zudem an das schönste Kleid meiner Mutter. An diesem Kleid hing eine ähnliche verblühte Blume. Sie war mit einer Nadel unter der linken Schulter des Kleides befestigt und beschattete so gleichsam das Herz meiner Mutter, von dem ich damals noch nicht wußte, daß es ebenfalls schon seine Dürre gehabt hatte. Eines aber wußte ich damals: wenn ich mit dem Bleistift zwei winzige Kreise in das oberste Blütenblatt der Strohblumen an der Wand zeichnete, sahen sie plötzlich wie die Köpfe meiner Kameraden aus, die sich in den Schulpausen oft um mich drängten und fragten: „Kennst du ein neues Geheimnis?“ So hatte ich meine Freunde ständig bei mir. Auch Knorz war dabei. Er mußte sich allerdings mit einem Platz hinter dem Ofenrohr begnügen, aber dort konnte er sich dafür auch — ohne uns damit zu stören — seinem Geschrei und seinen Brillentänzen hingeben.

Man kann sich nun vorstellen, wie schön und wahr das Leben mit meinen Freunden und Kameraden war. Meine Eltern ahnten natürlich nicht, daß sie alle, ohne einen Rappen Mietzins bezahlen zu müssen, sozusagen auf meine Kosten mit uns in der gleichen Stube wohnten. Wenn ich arbeiten mußte, wandte ich mich an sie. Wenn ich Spielgefährten brauchte, rief ich einen von ihnen herbei. Keiner hat je meine Einladung ausgeschlagen. Ich war der König unserer Stube, und da die ganze Welt zu unserer Stube gehörte, war ich zugleich auch so etwas wie ein König der Welt. Aber das begriff ich erst später.

„Fleißkind!“ rief ich dem besten Rechner meiner Klasse an der Stubentapete zu. „Siebzehn und neunundzwanzig sind?“ Hier schaltete ich eine kleine Pause ein. Ich bin in der Schule kein starker Rechner gewesen. Aber weil ich die Lösung meiner Aufgabe von Fleißkind verlangte und nicht von Knorz, mußte mir Fleißkind aus meinem Mund die richtige Antwort geben. Ich dachte also angestrengt nach und antwortete mir daraufhin mit verstellter Stimme: „Siebzehn und neunundzwanzig sind sechsundvierzig.“ Man könnte nun annehmen, daß ich auf diese Weise allmählich ein zweites Fleißkind wurde. Aber ich war oft müde und faul. Dann wandte ich mich hinter das Ofenrohr, fragte Knorz, und Knorz antwortete etwa: „Siebzehn und neunundzwanzig sind einundvierzig. “ So blieb denn alles beim alten. Ich habe jedoch später erfahren, daß überall auf der Welt immerfort alles beim alten bleibt. Aber das war ein schlechter Trost für mich.

Die Reise ins Morgenland

Die Gesichter meiner Freunde und Kameraden an der Stubenwand hatten jedoch auch einen großen Nachteil. Ihre Gesichter konnten nämlich die Augen nicht schließen. Also sahen sie alles, was sich in der Stube ereignete. Sie sahen auch jene Dinge, die ich gerne vor ihnen verheimlicht hätte. Sie sahen, wie ich mit den Beinen auf dem Boden strampelte, weil ich keine Leberwurst essen mochte. Sie sahen, wie mich mein Vater prügelte, wenn ich gelogen oder in der benachbarten Bäckerei eine Tafel Schokolade gemaust hatte. Ich mauste die Schokolade, weil ich sie anderntags unter meine Schulkameraden verteilen wollte. Ich hoffte, sie damit beschwichtigen zu können. Ich glaubte nämlich, auch meine richtigen Schulkameraden, also nicht bloß die Tapetenfreunde, wüßten jetzt alles von mir. Zuletzt schämte ich mich so vor ihnen, daß ich in den Schulpausen keine Geschichten und keine Geheimnisse mehr zu erzählen wagte und noch mehr Schokolade stahl. Die gestohlene Schokolade verbarg ich auf dem Estrich. Sobald ich hundert Tafeln besaß, wollte ich mich nachts aus dem Hause schleichen, einen Güterwagen besteigen und mit ihm ins Morgenland fahren. Ich habe es schon einmal gesagt: damals wußte ich eben noch nicht, daß ich trotz aller Fehler und trotz aller Scham so etwas wie ein König der Welt war. Es ist eine traurige Sache mit den Königen. Die wahren Könige schämen sich ihrer Krone, oder sie wissen nicht einmal, daß sie Könige sind. Andere kommen — solche, die keine Könige sind —, stehlen die Kronen der wahren Könige und setzen sie sich selber auf. Die wahren Könige müssen dann Schokolade stehlen, nachts aus dem Hause schleichen, einen Güterwagen besteigen und mit ihm ins Morgenland fahren. Aber das war vermutlich schon immer so, sonst wären ja nicht drei Könige aus dem Morgenlande, sondern drei Könige aus dem Abendlande zum Christuskind gereist. Die hatten auch gestohlen. Wie wären sie sonst zu ihren Königreichen gekommen? Aber das Schöne an den drei Königen aus dem Morgenlande war, daß sie ihre Königreiche nur stahlen, um sie einem armen, kleinen und hungernden Kind vor die Füße zu legen. Doch das ist schon lange her.

Ich fuhr natürlich nicht ins Morgenland. Mein Vater entdeckte meinen Reisevorrat. Ich mußte die Schokoladentafeln in die Bäckerei zurücktragen, erhielt aber keine Prügel. Dafür las mir mein Vater abends beim Einnachten auch keine Geheimnisse mehr vor. Ich fürchtete mich aber trotzdem. Ich fürchtete mich vor meinen Freunden und Kameraden an der Stubentapete. Mitten in der Nacht tappte ich aus meinem Schlafzimmer in die Stube und tötete sie. Ich radierte ihnen mit dem Gummi die Augen aus. Meine Eltern erfuhren nichts von dieser Tat. Heute muß ich zugestehen, daß ich in meinem ganzen Leben kein größeres Unrecht begangen habe.

In den folgenden Tagen fiel beim Essen kein Wort. Mein Vater blickte finster vor sich hin. Meine Mutter legte ihm einmal die Hand auf den Arm und flüsterte: „Er ist allein. Er hat keine Geschwister. Solche Kerle haben es nicht leicht.“

Oh, sie wußte ja nicht, wie allein ich war. Sie kannte meinen Kummer nicht. Ich mied die Stube, lernte schlecht, spielte nicht mehr und schaute stundenlang über die Brüstung des Küchenfensters in die Gasse hinab.

Auf dem weiten Platz vor der rechten Seite unseres Hauses blühten die Kastanienbäume.

Es war Frühling.

Ich merkte es nicht.

Wie Knorz mein Freund wurde

Ich bin jetzt ein alter Mann. Die alten Leute wissen es: das Leben bringt dunkle und heitere Stunden. Den Jungen ist damit nicht geholfen. Sie sehen nie über die dunklen und über die heiteren Stunden des vollen Lebens hinweg. Sie wissen nicht, daß das Leben genau so rund wie die Erde ist und daß die Sonne immer nur auf der einen Hälfte des Lebens scheint. Aber das Leben dreht sich, und selbst am Nord- und Südpol des Lebens dauert die Nacht nicht ewig.

Ich wurde krank, fieberte, und als ich nach einigen Wochen zum erstenmal nach meiner Genesung mit gläsernem Gesicht in die Stube wankte und auf dem Sofa ruhte, bemerkte ich hinter dem Ofenrohr das Gesicht meines Kameraden Knorz. Ich hatte in der Nacht des Todes meine besten Freunde umgebracht, ihn jedoch, der mir soviel Kummer bereitete, hatte ich verschont und vergessen, weil er sich hinter dem Ofenrohr versteckt hielt. Er lebte und klagte mich an: „Ich bezeuge und beschwöre ...“ schrie er mit weitaufgerissenen Augen. Aber ich ließ ihn schreien und brachte es nicht über mich, ihm etwas anzutun. Ich wollte nicht mehr allein sein, redete Knorz zu, tröstete ihn, versprach, ihm künftig meine Hefte auszuleihen und sein bester und einziger Freund zu werden.

Ich hielt dieses Versprechen, zog mich, als ich wieder zur Schule ging, endgültig von meinen ehemaligen Kameraden zurück und schloß mich immer enger an Knorz an. Knorz wunderte sich zuerst über meine unerwartete Anhänglichkeit, verriet jedoch mit keinem Wort, daß er die Ereignisse jener Schreckensnacht kannte. Meine Dankbarkeit nahm überschwengliche Formen an. Ich lieh ihm Spielsachen und verlangte sie nicht mehr zurück. Ich forderte nichts von Knorz, er aber nahm meine Gunstbezeigungen freudig entgegen. Er schien mich wirklich zu lieben.

Eines Tages rief Knorz in der Schulpause alle Kameraden herbei. Wir standen neben dem Brunnen, vor dem ich früher jeweils meine Geheimnisse erzählt hatte. Ich glaube mich noch daran erinnern zu können, daß an diesem Tage kein Wasser aus der rostigen Röhre floß. Ein seltsames, unheimlich glänzendes Feuer brannte in den Augen meines Freundes. Ich fürchtete, er werde nun die Geschichte der Mordnacht auf der Stubentapete erzählen: „Ich bezeuge und beschwöre . . . “ Er aber lachte nur und sagte: „Gib jetzt doch endlich zu, daß du gelogen hast. Es gibt keine Klapperschlange.“

Ich atmete auf und antwortete: „Natürlich habe ich gelogen. Es gibt keine Klapperschlange. “

Erst als ich die Schmährufe meiner Klassengenossen hörte, wurde mir klar, was ich angestellt hatte. Ich eilte schutzsuchend zu Knorz. Der sprang über den Schulplatz, warf Kiesel nach mir und jubilierte: „Er lügt. Er lügt. Es gibt keine Klapperschlange. “ Meine Klassengefährten umringten Knorz und krähten mit ihm: „Er lügt. Er lügt. Es gibt keine Klapperschlange.“ Ich schluchzte auf und verbarg mein Gesicht in den Händen.

Da legte jemand den Arm um meine Schultern und meinte: „Natürlich muß es Klapperschlangen geben. Warum soll es keine Klapperschlangen geben. Es gibt ja so viele Schlangen. “ Ich hob den Kopf. Elfi, das runde Mädchen mit den dicken Zöpfen, stand vor mir und schaute mich mit großen, schwarzen Augen an.

Die andern lachten Elfi aus. Aber plötzlich verstummte der Lärm. Die hohe, hagere Gestalt eines Lehrers — es war nicht unser Klassenlehrer — trat mitten unter uns. Er trug ein Glas in der Hand. Das Glas war mit einer gelben, aber durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. In der Flüssigkeit lag, zusammengerollt, ein riesiger Wurm.

„Ich glaube, dieser Streit muß endlich entschieden werden“, begann er. „Euer Geschrei dringt bis ins Lehrerzimmer hinauf. Natürlich gibt es Klapperschlangen.“ Elfi ergriff meine Hand und drückte sie. Der Lehrer fuhr fort: „Es gibt sogar mehr als zwei Dutzend Klapperschlangenarten. Eine davon, ein Klapperschlangenkind sozusagen, seht ihr hier. Ihr werdet später noch mehr darüber erfahren. Seid ihr jetzt zufrieden?“

Ich war zufrieden. Mein Leben drehte sich. Die Sonne ging auf. Am gleichen Abend saß ich, diesmal allein, beim Verdämmern des Tages auf dem Stubensofa und träumte, wie einst, zu den fernen Wäldern hinüber. Der liebe Gott beugte sich aus seinem hochgelegenen Lehrerzimmer und zündete am Kastanienbaum des Himmels langsam und feierlich die Blütensterne an. Nach einer Weile setzte sich auch mein Vater zu mir.

„Haben die Sterne auch Namen?“ fragte ich.

„Gewiß“, antwortete mein Vater.

„Wer hat die Sterne getauft?“

„Die Menschen haben sie getauft. Jeder Stern hat einen Vornamen. Einige Sterne zusammengenommen haben einen Familiennamen. Jede Sternfamilie bildet ein Sternbild. Es gibt beispielsweise ein Sternbild des Drachen, ein Sternbild des Hasen und, ganz in der Nähe des Äquators, ein Sternbild der Schlange.“

Der blaue Wandschrank

In unserer Stube gab es neben der Tapete und dem grünen Sofa noch einen runden Tisch, drei Stühle, zwei Türen und, schräg in eine Ecke hineingebaut, einen blauen Wandschrank. Ich weiß nicht, warum ich die Farbe des Wandschranks behalten, die Farbe der Türen hingegen vergessen habe. Vermutlich waren die Türen ebenfalls blau gestrichen, aber sie bedeuteten nicht soviel für mich wie der Wandschrank. Hinter den Türen verbargen sich dunkle Korridore, das Unglückszimmer, die Glückskammer und mein Schlafgemach. Der unterste Teil des Wandschranks barg meine Spielsachen. Auf dem ersten Holzbrett lag das Plätteisen meiner Mutter, auf dem zweiten standen einige dicke Bücher mit goldblauen Einbänden. Ich konnte diese Bücher nur erreichen, wenn ich vor dem offenen Wandschrank auf einen Stuhl kletterte.

Ich träumte viel, spielte selten und meist nur bei schlechtem, regnerischem Wetter. Zum Träumen brauchte ich eigentlich bloß das offene Stubenfenster, den blauen Himmel und die violetten Wälder. Am Morgen träumte ich von einem Lift, mit dem ich zur Sonne hinauffuhr. Hier setzte ich mich für gewöhnlich auf einen schwarzen Sonnenfleck, buk goldgelbe Fastnachtskrapfen, spießte sie an einen Sonnenstrahl und schickte ihn mit dem luftigen Gebäck durch eine weiße Wolke. Von dort aus gelangten die Leckereien fein gezuckert auf die blitzenden Teller, welche die Mutter auf den Stubentisch legte. Der Vater band eben das Mundtuch um den Hals, schmunzelte und sagte dann: „Wo nimmst du bei meinem schäbigen Lohn bloß das Geld für diese Herrlichkeiten her?“

Da strahlte meine Mutter und antwortete: „Ja, dein Bub! Wenn du wüßtest, was das für ein Tausendkünstler ist! “

„Er hat doch die Krapfen nicht in der Bäckerei gestohlen?“ fragte mein Vater mit drohender Stimme.

An dieser Stelle wachte ich meistens aus meinem Traum auf.

Am Nachmittag träumte ich von einem Wald und von einem schlanken Baum, in dessen Krone ich mir eine Hütte erbaut hatte. Wenn ich die Hütte betrat, wuchs der Baum in einer Sekunde hoch über den Mond hinaus. Meine Hütte stand plötzlich an einer Biegung der Milchstraße. Ich trug eine goldene Uniform und eine silberne Mütze. Über meiner Lorbeerhütte stand „Zollamt“, auf meiner Mütze „Mane, Thekel, Phares“. Unaufhörlich kamen Leute am Fenster meiner Hütte vorbei: Chinesen, Neger, Weiße und Indianer. Die Chinesen tauschten bei mir Schlitzaugen gegen runde Negeraugen, die Neger ihre Wuschelköpfe gegen langes Indianerhaar, die Indianer ihre Bogennasen gegen chinesische Stupsnasen um und verschwanden dann fröhlich hinter der Straßenbiegung. Nur die Weißen fanden nichts, das sie gegen ihre ratternden und rauchenden Flugzeuge und Autos eintauschen konnten. Ein grün gekleideter Polizist mit rubinroten Handschuhen schrie ihnen zu: „Umkehren. Ihr verderbt mir mit eurem Gestank die Milch!“ Hinter dem Polizisten kauerten kleine magere Kinder, schlürften Rahm aus der Milchstraße und sahen nach jedem Schluck rosiger aus. Zuletzt waren sie kugelrund, leuchteten wie die Handschuhe des Polizisten und rollten lachend um die Biegung. Sehr selten kamen in Lumpen gekleidete Männer und Frauen bei mir vorbei. Sie trieben ein Schweinchen vor sich her. Der Polizist riß dann jeweils ein Lorbeerblatt aus meiner Hütte und steckte es den Vagabunden ins Haar. Sobald das geschehen war, begann die Milchstraße zu singen und zu sieden. Sie hob sich, wuchs, schäumte, dampfte, und die trinkenden Kinder schrien begeistert: „Sie siedet. Sie siedet über den Straßenrand hinaus. Sie wird den ganzen Fußboden des Himmels bedecken. “

Am Abend träumte ich fast immer von einer elektrischen Eisenbahn. Sie fuhr zwischen den Stationen der Sterne hin und her. Manchmal, besonders Mitte August und Mitte November, sah ich sie sogar sekundenlang über den schwarzblauen Nachthimmel flitzen. Fleißkind, dem ich einmal davon erzählte, lächelte mitleidig und meinte: „Das ist keine Eisenbahn. Das sind Meteore.“ Zugegeben: Fleißkind wußte viel. Aber: wer zuviel weiß, weiß keine Geheimnisse mehr. Ich glaubte an die elektrische Eisenbahn. Kein Mensch auf der ganzen Welt hat je mit einer so großen Eisenbahn gespielt.

Das waren meine Träume vor dem offenen Stubenfenster, unter dem blauen Himmel und beim Anblick der violetten Wälder hinter der Zahnlücke. Wenn sich nun der blaue Wandschrank des Himmels schloß, wenn sich Wolken, Nebel und Dunst zwischen mich, den Himmel und die Wälder legten, blieb nur noch der blaue Wandschrank in der Stube. Der blaue Wandschrank wurde mein Regenhimmel und mein Regenwald.

Es zischt im Steckkontakt

Als ich an einem grauen Regentag aus der Schule heimkehrte und die Stubentüre öffnete, rief meine Mutter: „Paß auf die Schnur auf!“

Ich bückte mich, kroch unter der Leitung hindurch und küßte meine Mutter. Sie stand vor dem Tisch, den sie zum Plätten hergerichtet und mit weißen Tüchern bedeckt hatte.

Ich setzte mich auf das Sofa und atmete begierig die feuchte, nach Wachs, Stärke und frischer Wäsche duftende Luft ein. Eine wohlige Wärme erfüllte das dämmerige Zimmer.

„Hast du Aufgaben?“ fragte meine Mutter ohne aufzublicken und führte das glänzende Bügeleisen sanft und lautlos über eine Hemdenbrust.

„Nein.“

Die Mutter schwieg. Manchmal tauchte sie einen Wedel in den Napf und bespritzte ein Wäschestück mit Wasser. Wenn sie dann mit dem heißen Plätteisen über die angefeuchteten Tuche glitt, hörte man ein geheimnisvolles Zischen. Jetzt zischte es auch im Steckkontakt. Die schwarzen Fäden, welche die Drähte der Stromleitung isolierten, waren zerfetzt.

„Das ist gefährlich, Mutter!“ sagte ich und deutete auf die Schnur.

Sie nickte: „Ich sollte das Bügeleisen schon lange zum Elektriker bringen. “

Ein Windstoß rüttelte am Fenster und peitschte den Regen an die Scheiben. Tausend Tropfen kugelten durcheinander. Das waren Tränen, welche die Schutzengel über böse Menschen weinten. Ich schaute rasch hinter das Ofenrohr.

Dann fragte ich: „Hat der Vater immer noch keine Arbeit?“

Ich dachte an die guten und bösen Menschen, welche jetzt auf den Straßen herumirren mußten, und hätte sie am liebsten alle zu uns in die Stube gebeten. Dann wäre wohl auch mein Vater nach Hause gekommen. Ich wußte nämlich aus belauschten Gesprächen, daß er seine letzte Stelle vor einigen Tagen verloren hatte und sich auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz befand.

Meine Mutter stellte das Plätteisen auf den Untersatz, kehrte mir den Rücken zu und fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. Sie sah jetzt wie ein weinender Schutzengel aus.

„Willst du nicht spielen?“ fragte sie. Ihre Stimme klang dünn, leise und ein wenig heiser. Dann fügte sie noch hinzu: „Dein Vater ist ein fleißiger Mann.“

Ich träumte zum blauen Wandschrank hinüber. Seine Türe war geöffnet.

„Ich weiß schon“, brummte ich. „Elfis Vater ist auch ein fleißiger Mann. Aber er hat dennoch keine Arbeit.“ Ich hörte meine Stimme. Diese Stimme und der Anblick des blauen Wandschrankes flößten mir Mut ein. „Heutzutage ist das nun einmal so“, fuhr ich ruhig und beruhigend weiter. „Der liebe Gott wird wissen, wozu das gut ist.“

Diesen Satz hatte ich von meiner Mutter gelernt. Wenn sie krank war und wochenlang liegen mußte, sagte sie zu meinem Vater: „Der liebe Gott wird wissen, wozu das gut ist.“ Ich verstand zwar nicht, was meine Mutter mit diesen Worten meinte. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wozu eine kranke Mutter oder ein arbeitsloser Vater gut sein kann. Ich dachte dann jeweils an Elfi. Sobald ich an Elfi dachte, fiel mir eine Antwort auf diese unerklärlichen und geheimnisvollen Fragen ein. Ich habe bis heute keine bessere Antwort darauf gefunden. Sie lautet: ,Der liebe Gott wird wissen, wozu das gut ist. Er sieht eben mehr als wir. Er trägt eine Brille.‘

Meine Mutter kehrte sich wieder zum Bügeltisch und griff nach dem Plätteisen.

Ich trat vor den blauen Wandschrank, holte eine steife, hölzerne Puppe, einige Stoff-Fetzen und ein mit Stroh gefülltes Kissen daraus hervor. Die hölzerne Puppe bestand aus Latten von ungleicher Länge, die mein Vater kreuzweise übereinander genagelt, mit einem dunkelblauen Kleidchen und oben mit einem runden pausbackigen Kartonscheibengesicht versehen hatte. Diese Puppe bettete ich sanft, als ob sie aus Glas wäre, auf das Kissen und deckte die kleine Vogelscheuche mit Stoff-Fetzen zu. Dann kniete ich auf den Fußboden und bezeichnete Stirne, Mund und Herz des hölzernen Kindes mit einem Kreuze.