Das Buch Onyx - Die Chroniken vom Anbeginn - John Stephens - E-Book

Das Buch Onyx - Die Chroniken vom Anbeginn E-Book

John Stephens

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Beschreibung

Drei Geschwister, drei Bücher, ein großes Geheimnis

Kate, Michael und Emma haben es geschafft, zwei der drei Bücher vom Anbeginn zu retten: Kate gehört das Buch Emerald, Michael ist der Wächter des Buches Rubyn. Kein noch so atemberaubendes Abenteuer und nicht die hinterlistigsten Gegner haben die drei gescheut, um dem finsteren Magier Magnus die Bücher zu entreißen – und ihre Eltern endlich zu befreien. Doch der Preis dafür ist hoch: Denn Magnus ist es gelungen, die kleine Emma zu entführen. Werden Kate und Michael ihre Schwester finden? Werden sie das Buch Onyx in ihren Besitz bringen? Und werden sie endlich ihre Eltern wiedersehen, die sie so lange vermisst haben? Nur eines ist sicher: Es wird ein Kampf auf Leben und Tod.

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Seitenzahl: 568

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Kinder- und Jugendbuchverlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.© 2014 der deutschsprachigen Ausgabe: cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Text © 2015 John Stephens Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel: »The Black Reckoning- The Books of Beginning, Book Three« bei Alfred A. Knopf, an imprint of Random House Children’s Books, a division of Random House LLC, a Penguin Random House Company, New York. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen Übersetzung: Friedrich Pflüger Lektorat: Andreas Rode Umschlagkonzeption und -illustration: Geviert – Büro für Kommunikation, München, Conny Hepting, Silhouette Archiv Geviert, Shutterstock/romavka CK · Herstellung: UK Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-12175-4V003www.cbj-verlag.de

Prolog

KAPITEL 1 – Gefangen

KAPITEL 2 – Der Archipel

KAPITEL 3 – Das zerdrückte Blatt

KAPITEL 4 – Schokoladenkuchen

KAPITEL 5 – Der Rat

KAPITEL 6 – Die Verbindung

KAPITEL 7 – Der Zauberer begleicht seine Schulden

KAPITEL 8 – Die Neue Welt

KAPITEL 9 – Willy

KAPITEL 10 – Big Rogs Festessen

KAPITEL 11 – Die verlorene Stadt

KAPITEL 12 – Das Nest

KAPITEL 13 – Flüchtlinge

KAPITEL 14 – Der Fährmann

KAPITEL 15 – Das Geheimnis der Hexe

KAPITEL 16 – Die Carriadin

KAPITEL 17 – Das Ding am Strand

KAPITEL 18 – Der verlorene Stamm

KAPITEL 19 – Die enthüllte Prophezeiung

KAPITEL 20 – Das Gefängnis

KAPITEL 21 – Urteil

KAPITEL 22 – Michaels Armee

KAPITEL 23 – Nebel und Eis

KAPITEL 24 – Der Sturz

KAPITEL 25 – Das Schwert

KAPITEL 26 – Das Versprechen

KAPITEL 27 – Lebe wohl, auf Wiedersehen

Emma trommelte dem riesigen Mann auf den Rücken. Sie wand sich hin und her und versuchte, ihm das Gesicht und die Augen zu zerkratzen. Sie trat ihn und schlug um sich. Es half nichts. Rourke hatte sie über seine Schulter geworfen und hielt sie fest gepackt, während er mit langen, sicheren Schritten auf das flammende Portal in der Mitte der Lichtung zuging.

»Emma!«

»Emma!«

Zwei Stimmen riefen sie aus dem Dunkel. Emma reckte den Hals und spähte in die Bäume, die wie eine Mauer um die Lichtung aufragten. Die erste Stimme war die von Michael, ihrem Bruder. Die zweite Stimme aber, die sie erst vor wenigen Augenblicken gehört hatte – kurz bevor Rourke den Blendzauber abgelegt hatte, der ihn als Gabriel erscheinen ließ –, die zweite Stimme war die ihrer Schwester Kate, die sie für immer verloren geglaubt hatte.

»Kate! Ich bin hier! Kate!«

Emma drehte sich um und versuchte, über Rourkes Schulter zu spähen und zu erkennen, wie nahe sie schon am Portal waren, wie viel Zeit ihr noch blieb …

Das Portal war ein hoher, von Flammen umkränzter Holzbogen, und sie waren schon so nah, dass Emma die Hitze des Feuers spüren konnte. Noch drei Schritte, dann war es zu spät. Doch im selben Moment erschien eine Gestalt und trat aus den Flammen. Ein Junge, ungefähr so alt wie Kate, vielleicht ein bisschen älter. Er trug einen dunklen Umhang, die Kapuze war zurückgeschlagen, aber sein Gesicht lag vor der lodernden Glut im Schatten. Das Einzige, was sie erkennen konnte, war ein Paar funkelnder grüner Augen.

Und dann sah Emma, wie er eine Handbewegung machte …

»Lasst mich raus! Lasst mich raus!«

Emmas Hals war schon ganz wund vom Schreien. Ihre Hände schmerzten, weil sie die Metalltür lange mit Fäusten traktiert hatte.

»Lasst mich raus!«

Vor einigen Stunden war sie aus dem Schlaf hochgeschreckt – schweißgebadet, mit Kates Namen auf den Lippen und allein in einem Raum, den sie nicht kannte. Es war ihr egal, dass es nicht mehr Nacht war und dass sie sich nicht mehr auf der Lichtung befand. Es war ihr sogar egal, wo sie jetzt war. Das spielte alles keine Rolle. Sie war entführt worden, sie war eine Gefangene und sie musste entkommen. Nur das zählte.

»Lasst mich raus!«

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Tür tatsächlich versperrt war, hatte sie die Zelle nach Fluchtmöglichkeiten abgesucht. Es gab keine. Wände, Boden und Decke waren aus großen schwarzen Steinquadern gemauert. Durch die drei kleinen Fenster, die so hoch lagen, dass Emma sie nicht erreichen konnte, war nichts als blauer Himmel zu sehen. Sonst gab es nur das Bett, in dem sie erwacht war – eigentlich nur eine Matratze mit ein paar Decken. Und daneben stand etwas zu essen: ein Teller mit Fladenbrot, Schalen mit Joghurt und gelb-braunem Hummus, etwas undefinierbares, verbranntes Fleisch und eine Steingutkanne mit Wasser. Das Essen und das Wasser hatte Emma in einem Anfall von Stolz und Wut aus dem Fenster geschleudert, was sie nun bereute, weil sie inzwischen hungrig und sehr, sehr durstig war.

»Lasst! Mich! Raus!«

Entkräftet lehnte sie sich an die Tür. Sie war nahe daran, sich auf den Boden sinken zu lassen, das Gesicht in den Händen zu verbergen und zu schluchzen. Aber dann dachte sie an Kate, ihre ältere Schwester, deren Stimme sie gehört hatte, als Rourke sie über die Lichtung trug. Ihre Schwester war aus der Vergangenheit zurückgekommen, um vor ihren Augen zu sterben. Und Michael hatte sie, obwohl er der Hüter der Chronik des Lebens war, nicht wieder zum Leben erwecken können (was Emma zu der Frage brachte, wozu ein Buch des Lebens dann überhaupt gut war). Aber sie hatte Kates Stimme gehört! Und das bedeutete, dass es Michael doch gelungen war! Kate war am Leben! Und wenn Kate irgendwo dort draußen war, dann kam es überhaupt nicht infrage, dass Emma sich jetzt hinsetzte und weinte. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie das tat, lag bei null Komma null null null null Prozent.

»Lasst! Mich! Raus!«

Noch immer presste Emma ihre Stirn gegen die kalte Metalltür. Sie brüllte direkt dagegen und spürte, wie die Tür erzitterte, wenn sie mit den Fäusten dagegenschlug.

»Lasst! Mi…«

Sie brach ab und hielt den Atem an. Jedes Mal, wenn sie ihr Schreien und Trommeln gegen die Tür unterbrochen und gelauscht hatte, war nichts als Todesstille zu hören gewesen. Aber jetzt war da etwas. Schritte. Nur leise und irgendwo weit unter ihr, aber sie wurden lauter. Emma trat von der Tür zurück und blickte sich nach einer Waffe um. Sie fluchte, weil sie die Steingutkanne zum Fenster hinausgeschleudert hatte.

Die Schritte wurden immer lauter – ein schweres, rhythmisches Rums – Rums – Rums. Sie beschloss, an der Person, die hereinkam, vorbeizuhuschen, ganz egal, wer es war. Faselte nicht Michael auch immer etwas vom Überraschungsmoment? Wenn ihr nur der große Zeh nicht so wehtäte. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihn sich beim Treten gegen die blöde Tür gebrochen hatte.

Die Schritte verstummten direkt vor ihrer Zelle. Dann hörte man den Schließbolzen mit einem metallischen Schaben zurückschnappen. Emma spannte die Muskeln und war bereit, loszuspringen.

Die Tür schwang auf, Rourke trat gebückt herein und machte alle Fluchtpläne zunichte. Der riesige Mann füllte den gesamten Türrahmen aus; nicht einmal eine Fliege hätte sich vorbeiquetschen können.

»Aber, aber! Du machst vielleicht ein Tamtam!«

Er trug einen langen schwarzen Mantel mit Pelzfutter und einem hohen Pelzkragen. An den Füßen hatte er schwarze Stiefel, die ihm fast bis an die Knie reichten. Er lächelte und zeigte dabei eine endlose Reihe großer weißer Zähne. Seine Haut war glatt und ohne Narben. Die Verbrennungen, die Emma auf seinem Gesicht gesehen hatte, als er sie auf der Lichtung packte, waren wieder völlig verheilt.

Emma spürte die Mauerquader in ihrem Rücken. Sie zwang sich, aufzuschauen und Rourke ins Gesicht zu sehen. Dann sagte sie:

»Gabriel wird dich umbringen.«

Der Riese lachte. Er lachte von Herzen und warf dabei den Kopf nach hinten, wie man es in Filmen manchmal sieht, und sein Gelächter schallte von der Zellendecke zurück.

»Und dir ebenfalls einen schönen guten Morgen, junge Dame.«

»Wo bin ich? Und wie lange bin ich schon hier?«

Da Rourke vor ihr stand und alle Hoffnung auf eine Flucht zunichtemachte, wollte Emma wenigstens Antwort auf die Fragen, die ihr zuvor egal gewesen waren.

»Erst seit dieser Nacht, Mädchen. Und was den Ort betrifft: Du bist am anderen Ende der Welt und alles um dich herum ist durch Verschleierungszauber verborgen. Deine Freunde könnten direkt hier vorbeikommen und würden nichts bemerken. Niemand wird dich retten.«

»Ha! Deine blöden Zaubertricks werden Dr. Pym nicht aufhalten. Er braucht bloß so zu machen« – sie schnippte mit den Fingern – »und schon fällt hier alles in sich zusammen.«

Rourke lächelte sie in der Art an, wie Erwachsene Kinder anlächeln, wenn sie diese nicht ernst nehmen.

Hätte Emma irgendeine Chance gehabt, an Rourkes Gesicht heranzukommen, so hätte sie ihm einen Hieb verpasst.

»Mädchen, ich glaube, du überschätzt deinen Zauberer und unterschätzt meinen Meister.«

»Was redest du da. Der blöde grässliche Magnus ist tot. Dr. Pym hat es uns erzählt.«

Wieder dieses unverschämte Lächeln. Er suchte wirklich Streit.

»War tot, Mädchen. Ist er aber nicht mehr. Mein Meister ist zurückgekehrt. Du solltest das wissen. Hast ihn schließlich selbst gesehen.«

»Hab ich nicht!«

Emma verstummte. Ihr war ein Bild vom vorigen Abend wieder in den Sinn gekommen – der Junge mit den grünen Augen, der aus den Flammen trat. Und mit dieser Erinnerung war es, als würde ein Schatten über sie fallen. Sie versuchte, das Gefühl abzuschütteln, und redete sich ein, dass das nicht möglich war – dass der Junge nicht der grässliche Magnus sein konnte.

Rourke sagte: »Aha. Du erinnerst dich.«

Die Stimme des Iren klang siegesgewiss. Aber wenn er erwartete, dass das kleine, dünne und erschöpfte Mädchen sofort und vor seiner Nase in Tränen ausbrechen und aufgeben würde, dann hatte er sich getäuscht, denn Emma war eine echte Kämpfernatur. Schon als kleines Kind hatte sie gekämpft, Jahr um Jahr, ganz gleich, in welchem Waisenhaus, gekämpft um kleine und große Dinge, um ein Handtuch ohne Loch oder eine Matratze ohne Flöhe, hatte gegen Jungen und Mädchen gekämpft, die Michael nicht in Ruhe ließen, denn für Fieslinge hatte sie ein ganz besonderes Gespür.

Sie reckte das Kinn vor und ballte die Fäuste, als würde sie gleich auf ihn losgehen.

»Du lügst. Er ist tot.«

»Nein, Kindchen. Der grässliche Magnus lebt. Und das hat er deinem Bruder zu verdanken.«

Trotz ihrer Wut spürte Emma, dass er die Wahrheit sagte. Aber es ergab keinen Sinn. Warum hätte Michael so etwas tun sollen? Dann wurde ihr blitzartig klar, wie es zugegangen sein musste: Auf diese Weise hatte Michael ihre Schwester wieder zurückgebracht. Das war der Preis gewesen. Um Kate wieder zum Leben zu erwecken, hatte er es auf sich genommen, den grässlichen Magnus wieder auf die Welt loszulassen. Alle würden ihm die Schuld dafür geben, und Emma liebte ihren Bruder darum umso mehr. Sie fühlte sich gestärkt und reckte sich gleich noch ein bisschen höher.

»Und warum ist dein blöder Meister dann nicht hier? Hat er Angst?«

Rourke starrte sie an und sagte, als hätte er eine Entscheidung getroffen: »Komm mit.«

Er drehte sich um, schritt durch die Tür und ließ sie hinter sich offen. Emma blieb trotzig stehen, weil sie nichts tun wollte, was Rourke von ihr verlangte. Dann begriff sie aber, dass sie überhaupt nichts erreichen würde, wenn sie in der Zelle blieb, und hastete ihm hinterher.

Direkt vor der Zellentür führte eine Wendeltreppe nach unten, und sie hörte, wie sich Rourkes Schritte unten entfernten. Sie war also in einem Turm. Das hatte sie schon vermutet. Auf dem Weg nach unten kam sie in jedem Stockwerk an einer Zellentür wie ihrer eigenen vorbei. Die Treppe schraubte sich im Turm abwärts, und immer wieder kam Emma an Fenstern vorbei, die den Blick auf ein Meer von schroffen, schneebedeckten Bergkämmen freigaben, das sich nach allen Seiten erstreckte.

Wo war sie nur?

Die Treppe endete in einem Gang, der aus den gleichen rauen, schwarzen Steinquadern gemauert war wie der Turm. Rourke bog nach rechts ab, ohne auf sie zu warten. Emma, die eine Fluchtmöglichkeit witterte, wandte sich nach links, aber zwei gelbäugige Morum Cadi in schwarzen Lumpen versperrten den Weg.

Ob Rourke sie dort postiert hatte? Jedenfalls schienen sie Emma zu erwarten und starrten sie an. Ihr Verwesungsgeruch erfüllte die Luft und ließ in Emmas Brust eine entsetzliche und beschämende Furcht aufsteigen.

»Kommst du?«, hallte Rourkes Stimme spöttisch herüber. »Oder soll ich dich an der Hand nehmen?«

Emma verfluchte ihre Schwäche, rannte Rourke nach und biss sich auf die Lippe, um nicht zu weinen. Sie nahm sich fest vor, laut zu jubeln und Blumen zu werfen, wenn Gabriel dem Riesen endlich den blöden kahlen Kopf abschlug.

Er wartete an einem Durchgang ins Freie auf sie.

»Ich weiß, was du willst«, sagte sie, als sie bei ihm ankam. »Du willst, dass ich dir dabei helfe, das letzte Buch zu finden. Kate hat das Buch der Zeit, Michael die Chronik des Lebens oder so ähnlich. Ich weiß, das letzte ist für mich.«

Sie wusste nicht, warum sie das gesagt hatte, aber sie war außer sich, dass sie vor einem einzigen Paar von Kreischern solche Angst gehabt hatte – sie hatte schon Hunderte gesehen; diese hier hatten sie einfach auf dem falschen Fuß erwischt – und außerdem wollte sie Rourke beweisen, dass sie nicht irgendein beliebiges kleines Mädchen war; sie wusste Bescheid.

Rourke starrte auf sie herunter. Ein perfekter blauer Himmel umrahmte seine Glatze.

»Und weißt du, was das letzte Buch ist?«

»Ja.«

Rourke stand nur da und schwieg. Ein eisiger Wind blies in den Gang, aber Emma blieb, wo sie war, und ließ die Arme hängen. Sie wäre eher gestorben, als dass sie zugab, dass sie fror.

»Es ist das Buch Onyx, das Buch des Todes. Aber ich werde dir nicht helfen, es zu finden. Das kannst du dir abschminken.«

»Dann bleibt mir angesichts meiner grenzenlosen Enttäuschung wohl nur, die Fassung zu wahren. Aber nenne das Buch wenigstens bei seinem richtigen Namen. Es heißt das Buch Reckoning. Außerdem irrst du dich, denn du wirst es für uns finden. Nur jetzt noch nicht. Der grässliche Magnus hat zunächst andere Pläne. Du fragtest, wo er ist. Komm.«

Er ging nach draußen. Emma folgte ihm, auch wenn sie insgeheim wütend auf sich selbst war, weil sie gehorchte.

Sie gingen über eine steinerne Befestigungsmauer, die einen großen, rechteckigen Hof einschloss, der offenbar der Festung vorgelagert war. Wenn Emma über die Schulter blickte, sah sie die Festung schwarz und mächtig hinter sich aufragen. Der Turm, in dem sie gefangen gewesen war, stach wie ein krummer Finger in den Himmel. Im Innenhof unter ihr drängten sich etwa dreißig oder vierzig Gnome und Morum Cadi – kein Problem für Dr. Pym und Gabriel.

Trotzdem schwand ihre Zuversicht.

Die Festung war auf einer Felszacke errichtet, die ein auf allen Seiten von Bergen umgebenes Tal überragte. Von den Mauerzinnen konnte man meilenweit sehen. Gabriel und die anderen würden erst einmal herausfinden müssen, wo sie war, und dann all diese Berge überqueren. Und selbst wenn ihnen das gelang, wie sollten sie sich dann unbemerkt der Burg nähern?

Rourke blieb an einer Ecke des Wehrgangs stehen und winkte Emma heran. Sie nahm sich vor, sich keine Angst anmerken zu lassen.

»Vor vierzig Jahren«, erzählte der gewaltige Mann, »griffen Pym und andere aus der magischen Welt meinen Meister an. Sie dachten, sie hätten ihn besiegt. Vernichtet. Aber er verfügt über eine Macht, die seine Feinde nicht begreifen. Und schon bald werden sie das erfahren.«

Er zeigte ins Tal hinaus. Emma legte die Hände auf die raue Steinbrüstung und beugte sich vor.

Einen Moment lang verstand sie nicht, was sie dort sah. Doch dann stockte ihr trotz aller guten Vorsätze, keine Furcht zu zeigen, hörbar der Atem. Alles, was sie dort im Tal für einen dunklen Wald gehalten hatte, war in Bewegung! Als sich ihre Wahrnehmung änderte, hörte sie mit einem Mal Stampfen, Klirren und Rufen aus der Ferne – wie einen tiefen, rhythmischen Trommelschlag. Überall im Tal brannten Feuer, von denen schwarze Rauchfahnen in den Himmel zogen. Was Emma für Bäume gehalten hatte, das waren in Wahrheit Kobolde und Kreischer und wer weiß, was noch – Tausende und Abertausende.

Hier stand eine ganze Armee bereit.

»Der grässliche Magnus«, sagte Rourke, und seine Stimme bebte dabei unwillkürlich vor Erregung, »zieht in den Krieg.«

»Schnell, Kinder! Wir haben wenig Zeit.«

Kate und Michael eilten mit dem Zauberer durch die engen, gewundenen Gassen. Bis eben war es ein warmer, sonniger Tag gewesen, aber plötzlich waren schwarze Wolken aufgezogen. Durch die Straßen heulte ein kalter Wind, der den Staub in kleinen Wirbeln in die Höhe riss.

»Wohin gehen wir?«, fragte Michael. Er trappelte keuchend übers Kopfsteinpflaster. Dabei schlug ihm immer wieder die Tasche in die Seite, die ihm die Elfenprinzessin Wilamena als Ersatz für die alte geschenkt hatte, die er im Vulkan verloren hatte, und in der er jetzt die in rotes Leder eingebundene Chronik des Lebens trug.

»Zur Fußgängerbrücke, über die wir gestern Abend gekommen sind«, antwortete Dr. Pym. »Mein Freund errichtet dort ein Portal.«

»Ein Portal wohin?«, fragte Kate.

»Zu einem sicheren Ort«, erwiderte der Zauberer und fügte leise an: »Hoffentlich.«

»Aber Emma …«

»Ich habe es überall verbreitet. Mehr können wir im Augenblick nicht tun. Schnell jetzt!«

Sie rannten durch eine Kleinstadt, die wenige Meilen westlich von Wien direkt an der Donau lag. Das Stadtbild war geprägt von einer bunten Mischung von Häusern mit Giebeldächern und Geschäften. Das Städtchen war Teil der magischen Welt und deshalb in Karten und Atlanten nicht verzeichnet – ein verborgener Ort, den nur wenige Auserwählte zu Gesicht bekamen. Kate schätzte, dass sie und Michael und der Zauberer in den drei Tagen seit Emmas Entführung und ihrer eigenen Flucht aus dem Elfenwald am Ende der Welt durch vierzehn oder fünfzehn derartige Siedlungen gekommen waren. In einem Dorf außerhalb von Mexico City hatten sie mit drei blinden Hexern gesprochen, die jedes Wort schon kannten, bevor es die Kinder ausgesprochen hatten. Dann war da die verrauchte Gaststube in Moskau gewesen, mit Zwergen in hohen schwarzen Stiefeln und langen Gewändern, die wie Priesterröcke aussahen. Die Zwerge hatten Silbertabletts mit dampfenden Kaffeekannen herumgetragen. In einem schwimmenden Dorf im Südchinesischen Meer hatten sie leuchtende, geisterhafte Gestalten gesehen, die hauchzart über die nächtliche Wasseroberfläche geschwebt waren – Wassergeister, hatte der Zauberer gesagt. In einem tief verschneiten Dorf in den Anden hatte die dünne Luft ihren Lungen zugesetzt. In einem kleinen Fischerort in Neuschottland an der kanadischen Atlantikküste hatte es nur geregnet und nach Fisch gestunken. Und in der Zauberschule im von der Sonne versengten afrikanischen Busch hatten sie Jungen und Mädchen gesehen, die jünger als Michael waren. Ihre Köpfe waren kahl rasiert und sie trugen leuchtend gelbe Gewänder, in denen sie lachend herumrannten und ein Spiel spielten, bei dem man blaugrüne Feuerbälle hin und her warf.

Überall verbreiteten sie dieselbe Botschaft: Der grässliche Magnus ist zurückgekehrt; ihr müsst euch vorsehen.

Überall hatten sie dieselben Fragen gestellt: Habt ihr unsere Schwester gesehen? Habt ihr unsere Eltern gesehen?

Auch die Antworten waren überall dieselben: Nein. Nein.

Und gestern waren sie in einem Städtchen an der australischen Küste gewesen, wo sich die Wellen wie lange blau-weiße Halbmonde an einem goldenen Strand brachen und die Bewohner sich die Zeit sowohl mit Magie als auch mit Wellenreiten vertrieben. Oder war das schon heute gewesen? Es war so schwer, den Überblick zu behalten, wenn man auf dem ganzen Globus herumhüpfte und aus der Mittagssonne in einem Augenblick tiefste Nacht wurde. Jedenfalls hatten sie in dem australischen Städtchen einen Freund von Dr. Pym besucht, einen hageren Zauberer mit sonnengegerbter Haut, der immerzu barfuß lief und Michael »Kumpel« nannte. Ihm hatten sie dieselben Fragen gestellt wie allen anderen, und plötzlich war mitten auf dem Marktplatz mit markerschütterndem Geschrei und gezückten Schwertern eine Horde Morum Cadi aufgetaucht. Dr. Pym hatte im Wohnzimmer des Mannes augenblicklich ein Portal geöffnet, einen schimmernden Vorhang aus Luft, durch den er die Kinder gezerrt hatte, obwohl sie laut riefen, dass sie helfen könnten …

»Nein. Wenn ihr hier seid, dann macht es das für die anderen nur gefährlicher.«

Einen Moment später hatten sie am Ufer der dunkelblauen Donau gestanden. Erschöpft und erschüttert waren sie zum Haus einer weiteren Freundin des Zauberers gegangen, einer Hexe mit mürrischem Gesicht und kurzem, glatt zurückgekämmtem Haar, und nach mehreren Tassen starkem Tee hatte man Kate und Michael mit der Warnung, dass »manche Pflanzen beißen«, zum Spazieren in den Garten der Frau hinausgeschickt. Währenddessen wollten sich Pym und die Frau besprechen. Sie waren kaum eine Stunde dort gewesen, als Pym aus dem Haus gerannt kam und ihre Namen rief.

»Warum müssen wir rennen?«, fragte Michael. »Können Sie nicht irgendwo ein Portal öffnen?«

»Nein«, antwortete der Zauberer. »Auch wenn ich euch das im Augenblick nicht erklären kann.«

»Aber warum benutze ich nicht einfach die Chronik der Zeit?«, fragte Kate. Es war inzwischen keine Frage mehr, dass die Magie des Buchs auf sie übergegangen war und sie diese heraufbeschwören konnte, um nach Belieben durch Raum und Zeit zu reisen. »Ich kann …«

»Nein! Nur wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Es ist zu gefährlich!«

Kate wollte gerade entgegnen, dass sich ihre augenblickliche Lage ziemlich gefährlich anfühlte, als der Schrei eines Kreischers die Luft zerriss und sie und Michael wie angewurzelt stehen blieben. Sie konnten einfach nicht anders. Beide wussten sie, wie sie die Angst kontrollieren konnten, die sie ergriff, wenn sie den Schrei eines Morum Cadi hörten, aber sie brauchten Zeit, um sich darauf einzustellen.

Der Schrei hatte sie völlig unerwartet getroffen und kam ganz aus der Nähe.

Zwei Kreischer kamen um eine Ecke gejagt. Kate sah, wie sich der Zauberer umdrehte und die Hände in der Luft bewegte. Die Morum Cadi waren nur wenige Meter entfernt, so nah, dass Kate ihre glühenden gelben Augen sehen konnte. Genau in dem Augenblick, als sich die Kreaturen auf Kate und Michael stürzen wollten, schien sich die Straße plötzlich wie eine Welle aufzubäumen. Die Pflastersteine stapelten sich nun zu einer Mauer auf, die bis an die Dächer der Häuser reichte. Durch die Mauer des Zauberers geschützt hörten Kate, Michael und Dr. Pym, wie die Schwerter der Ungeheuer klirrend und scheppernd gegen die Steine schlugen.

»Kommt weiter«, sagte Dr. Pym und zog sie fort.

Einen Straßenzug weiter schossen Kate, Michael und der Zauberer aus dem Gewirr der Straßen und befanden sich direkt am Fluss mit der Fußgängerbrücke. Davor stand die dunkelhaarige Hexe und blickte noch düsterer und humorloser drein als zuvor.

»Ist es bereit?«, fragte Dr. Pym.

»Das Portal ist offen«, antwortete die Hexe. Sie hatte einen Akzent und spie jedes einzelne Wort wie einen Kanonenschlag aus, als wollte sie es so weit wie möglich fortschießen. »Es bringt euch nach San Marco. Dort könnt ihr ein Boot nehmen.«

»Das ist gut. Und ich werde dich morgen sehen.«

»Ja.«

»Und vergiss nicht …«

»… das Portal zu schließen, wenn ihr durch seid. Ich weiß. Schnell. Sie sind gleich hier.«

Die Augen der Frau wanderten für einen Moment zu Kate und ihrem Bruder, und ihre Gesichtszüge wurden ein winziges bisschen milder. »Wir werden eure Schwester und eure Eltern finden. Eure Familie ist nicht verloren. Geht jetzt.«

Dr. Pym zog sie den Anstieg zur Brücke hinauf, und Kate sah, wie sich die Luft ganz ähnlich kräuselte wie das Wasser unter ihnen. Sie ergriff ihren Bruder an der Hand. In den letzten Tagen hatten sie so viele Portale durchquert, durch Feuer, das sie nicht verbrannte, durch Wasserfälle und durch einen Lichtstrahl, aber immer hatte sie sich vergewissert, dass sie Michaels Hand hielt. Sie hatte schon so viel verloren – ihn durfte sie nicht auch noch verlieren.

Die Schreie der Kreischer waren jetzt lauter und näher, aber Kate sah sich nicht um. Sie hielt den Blick auf den flirrenden Vorhang in der Luft vor ihnen gerichtet. Dann schob Dr. Pym sie hindurch. Kate hielt Michaels Hand noch fester, schloss die Augen und spürte das vertraute Gefühl in der Magengegend, hörte das laute Brausen und das Knacken in ihren Ohren – wie in einem Tunnel. Dann war alles still.

Oder doch nicht völlig still, denn leise plätscherten Wellen ans Ufer und über ihnen krähte eine Möwe. Kate spürte die Sonne auf ihrem Gesicht und schlug die Augen auf. Vor ihnen lag blaues Wasser und für einen Moment dachte sie, sie wären zurück in Australien. Dann sah sie, dass sie an einem Strand mit glatten grauen und schwarzen Kieseln standen.

Sie drehte sich zu Michael um. »Alles in Ordnung?«

Er nickte und löste seine Hand aus ihrem Griff. »Ja.«

»Hast du eine Idee, wo wir sein könnten?«

Er zuckte die Achseln. »Das wird uns Dr. Pym wohl sagen.«

Aber der Zauberer lief schon am Strand entlang in Richtung eines Landungsstegs, an dem etwa ein Dutzend Boote vertäut waren – ziemlich ramponierte kleine Dinger, über die man schwarze Netze zum Trocknen gehängt hatte. Kate musterte ihren Bruder. Er hatte seine Brille abgenommen und putzte sie mit seinem Hemd. Die letzten Tage war er ungewöhnlich schweigsam gewesen. Sie verstand das natürlich. Michael gab sich die Schuld für die Rückkehr des grässlichen Magnus und damit auch für die Entführung von Emma. Kate hatte auf ihn eingeredet, er hätte nur getan, was getan werden musste, und außerdem hätte sie daran ebenso viel Schuld wie er.

»Ach ja?«, hatte er da geantwortet. »Und warum?«

»Na, ich war’s doch, die gestorben ist.«

Sie war gestorben und Michael hatte das Buch Rubyn, die Chronik des Lebens, benutzt, um sie zurückzuholen. Dazu hatte er aber zuerst den grässlichen Magnus wiederauferstehen lassen müssen, und der hatte sogleich mithilfe seines Dieners Rourke Emma entführt. Michael hatte das alles also nur getan, weil sie nicht aufgepasst hatte und gestorben war. So hatte sie es gemeint.

An Schuldigen herrscht kein Mangel, hatte Kate sagen wollen.

Aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass da noch etwas anderes war. Etwas, das er ihr nicht erzählte. Woraus nur bestand diese Mauer, die er zwischen ihnen errichtet hatte?

Wenige Minuten später waren sie schon auf einem Boot. Die kleinen Wellenkämme schlugen – schwapp – schwapp – schwapp – gegen den Rumpf, und zwei geblähte Segel trieben sie voran. Das Meer war mit kleinen Inseln übersät. Kate peitschte immer wieder das Haar ins Gesicht, sodass sie es mit beiden Händen festhalten musste. Sie und Michael saßen mittschiffs auf einer Bank, die Füße auf den zu dicken Ballen zusammengerollten Netzen. Der Zauberer saß ihnen gegenüber, der Hauptmann stand achtern am Ruder, das er lässig mit einer Hand hielt. Das Boot roch nach totem Fisch und Meersalz. Dr. Pym hatte gesagt, die Reise würde nicht mehr als eine Stunde dauern, und angesichts der relativ ruhigen See und der Art, wie das Boot über die Wellen hüpfte, vermutete Kate, dass der Zauberer für den Wind sorgte, der ihnen die Segel füllte.

»Ich möchte euch beiden für eure Geduld danken«, sagte Dr. Pym so laut, dass er über dem Rauschen des Windes zu hören war. »Ich weiß, dass ich in letzter Zeit nicht besonders mitteilsam war, aber es war wichtig, dass wir schnell vorankommen und möglichst große Strecken zurücklegen. Aus diesem Grund habe ich die anderen ausgeschickt.«

Mit den »anderen« meinte er Gabriel und die Elfen. An dem Abend, als Kate, Michael und Dr. Pym die Antarktis verlassen hatten, hatten sich auch Gabriel und zwei Gruppen von Elfen aufgemacht, um Emma zu suchen und die Nachricht zu verbreiten, dass der grässliche Magnus zurückgekehrt war. Kate frage sich, ob jemand von ihnen wohl schon etwas von Emma gehört hatte.

»Aber jetzt«, sagte der Zauberer, »ist es Zeit, in die nächste Phase einzutreten.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Kate. »Die nächste Phase ist die Rettung von Emma!«

»Natürlich. Das ist unser erstes und wichtigstes Ziel. Aber auch wenn wir vor allem eure Schwester retten wollen, müssen wir uns um den grässlichen Magnus kümmern. Das ist Teil der Botschaft, die ich verbreitet habe. Noch etwa ein Tag, dann werden alle Angehörigen der magischen Welt, die unsere Sache unterstützen – seien es Elfen, Menschen oder Zwerge –, ihre Vertreter hierherschicken, damit wir unser weiteres Vorgehen planen können.«

»Sie meinen, wir werden einen Krieg anfangen?«, fragte Michael.

Der Zauberer sah mit einem Mal sehr alt und müde aus. »Mein Junge, wenn wir aus den vergangenen Ereignissen etwas lernen können, dann ist es, dass der Krieg bereits begonnen hat.«

»Und wo sind wir hier?«, wollte Kate wissen. »Wohin fahren wir?«

»Das«, der Zauberer umfasste mit einer weiten Bewegung des ausgestreckten Arms das Meer und alle Inseln, die sie umgaben, »ist der Archipel, eine Ansammlung von gut drei Dutzend Inseln, die unsichtbar für die äußere Welt im Zentrum des Mittelmeers liegen. Die Inseln sind alle verschieden, es gibt welche für Zwerge und welche für Elfen, aber auch Inseln die nur von Feen oder Trollen oder Drachen bewohnt werden. Wir jedenfalls sind auf dem Weg …«, er deutete auf einen grünen Haufen in der Ferne, »… dorthin. Wir reisen nach Altre Terros, auch Loris genannt und auch bekannt unter dem Namen Xi ’alatn. Es ist unsere größte Stadt, Heimat der größten magischen Gemeinschaft und in vielerlei Weise das wahre Herz unserer Welt. Hoffentlich finden wir hier die Antworten und die Hilfe, die wir brauchen.«

Sie verfielen in Schweigen. Kate gab die Bemühungen auf, ihr Haar zu bändigen, und konzentrierte sich stattdessen darauf, im heftig tanzenden Boot das Gleichgewicht zu behalten. Wie immer in den ruhigeren Momenten während der vergangenen beiden Tage fiel es ihr schwer, nicht an Emma zu denken, sich nicht zu fragen, ob sie verletzt oder verängstigt war und ob sie sie wiedersehen würde. Denn immer wenn sie sich solchen Gedanken hingab, geriet sie unweigerlich in einen Irrgarten aus Sorgen und Gewissensbissen, der nur zu weiteren Sorgen und Gewissensbissen führte.

Sie dachte lieber an ihre Eltern und an die Botschaft, die Michael erhalten hatte – dass sie entkommen waren und nun nach dem letzen Buch vom Anbeginn, dem Buch Onyx, suchten. Zehn Jahre lang waren sie Gefangene des grässlichen Magnus gewesen. Wie waren sie entkommen? Hatte ihnen jemand geholfen? Wenn ja, wer? Und warum waren sie nun hinter dem letzten Buch her, anstatt sie, ihren Bruder und ihre Schwester zu suchen? Hatte es etwas mit der Warnung ihres Vaters zu tun, der zufolge die Kinder nicht zulassen sollten, dass Dr. Pym die drei Bücher wieder zusammenbrachte?

Allerdings wusste Kate nicht, wie verlässlich die Warnung war, denn sie war nicht direkt von ihrem Vater, sondern von einer geisterhaften Projektion in seiner Gestalt gekommen. Diese war einer Glaskugel entstiegen, die Michael zerbrochen hatte. Der Geist hatte sich dann in Luft aufgelöst, ohne den Grund für seine Warnung zu nennen. Von diesem Teil der Botschaft hatten die Kinder Dr. Pym nichts gesagt, aber untereinander hatten sie immer wieder diskutiert, was er im Sinn haben könnte. Zu einem Ergebnis waren sie allerdings nicht gekommen. Kate hatte den Zauberer einfach selbst fragen wollen, aber Michael hatte sich dagegen ausgesprochen und gemeint, sie bräuchten noch mehr Zeit. Weil er die Botschaft erhalten hatte, hatte Kate sich gefügt und schob das Ganze auf.

Kate sah den alten Zauberer an. Er trug noch immer denselben ausgefransten Tweed-Anzug, die Hornbrille war noch immer verbogen und geflickt (und die Gläser im Augenblick mit Gischt gesprenkelt), und sein weißes, immer etwas zerzaustes Haar wehte heftig im Wind. Sie brauchte ihn nur anzusehen, um sich sicher zu fühlen. Er war Dr. Pym; er war ihr Freund.

Aber warum gab sie sich nicht mehr Mühe und überzeugte Michael davon, dem Zauberer zu erzählen, was ihr Vater gesagt hatte? Hatte sie denn selbst irgendwelche Zweifel an ihm?

Sie näherten sich nun der Insel. Kate riss sich zusammen und hörte auf zu grübeln. Die Insel war von einem imposanten weißen Kliff gesäumt und schien hoch über sie aufzuragen. Jenseits der Klippen war das Land grün bewachsen. In der Mitte ragte ein einzelner Berg steil in den Himmel, von dem nach allen Seiten scharfe Grate herabliefen. Von einer Stadt konnte Kate nichts sehen.

»Wir kommen von Luv«, sagte der Zauberer. »Die Stadt Loris liegt auf der windabgewandten Leeseite, wo sich das Kliff bis zum Wasser senkt.«

Während er sprach, drehte das Boot scharf in den Wind, und Kate und Michael hielten sich am Dollbord fest. Nun konnten sie auch andere Boote erkennen, alte Fischerboote wie das, in dem sie saßen, kleine, von nüchternen Zwergenoffizieren gesteuerte Boote und ein sehr schnelles, mit einem kunstvollen Blumenmuster bemaltes Boot, das von einem Elf gesteuert wurde, der offenbar einer Schule von Delfinen etwas vorsang, gleichzeitig sein Haar kämmte, ihnen sorglos zuwinkte und sie etwas seltsam mit »La-la-lo!« begrüßte.

Kate erwartete, dass Michael eine Bemerkung über die Lächerlichkeit der Elfen machte, aber ihr Bruder schwieg.

Sie umrundeten die Insel und die Kinder sahen, dass sich die Klippen tatsächlich zum Wasser senkten und einen Hafen freigaben. Es war, als strecke ihnen die Insel zwei lange, felsige Arme entgegen, und als sie sich in die Umarmung begaben, kamen sie in ruhiges, blaues Fahrwasser. Vom Kai ragten steinerne und hölzerne Landungsbrücken wie Reißzähne in den Hafen hinaus. Dutzende von Booten lagen angedockt oder fuhren umher. Das Ganze wirkte sehr geschäftig – Fischerboote fuhren mit ihrem Fang in den Hafen ein, andere waren mit Kisten und anderer Fracht schwer beladen. Die Luft war erfüllt von den Rufen der hier arbeitenden Menschen.

Jenseits des Hafens erstreckte sich ein schmaler Strand; dahinter erhoben sich hohe weiße Mauern, die die ganze Stadt umfassten und zweifellos vor langer Zeit zum Schutz errichtet worden waren. Jetzt standen die Tore weit offen und auf den Mauerkronen blühte ein Feuerwerk bunter Blumen. Die Stadt selbst zog sich mit dicht gestaffelten weißen Steinhäusern den Hang hinauf. Kate fiel besonders ein einzelnes Gebäude auf, das am obersten Ende der Stadt direkt am entfernten Kliff stand. Während die übrigen Häuser alle aus demselben weißen Stein gebaut waren, schimmerte dieses rosa und wirkte sehr massiv; es thronte hoch über der Stadt und sah aus, als würden Riesen dort wohnen.

Kate hatte keinen Zweifel, dass die rosafarbene Festung ihr Ziel war.

Inzwischen war der herbeigezauberte Wind abgeflaut. Die Segel erschlafften und das Boot glitt auf eine Steinmole mit einem einzelnen freien Liegeplatz zu. Als sie näher kamen, bemerkten die Kinder dort eine kleine, stämmige Gestalt, die einen Fischer anbrüllte, der dort sein Boot hinsteuern wollte.

»Was glaubst du, wer ich bin? Ich werde die verrottete Nussschale, die du ein Boot nennst, versenken, wenn du nicht sofort Leine ziehst! Hier ist reserviert!«

Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, zog die Gestalt eine schimmernde Axt aus dem Gürtel und drohte dem Fischer damit, worauf dieser hastig zurückruderte.

Kate hatte das Gesicht und die Stimme längst erkannt und freute sich zum ersten Mal seit Tagen wieder von Herzen.

Im selben Augenblick sprang Michael auf und brachte damit fast das Boot zum Kentern. »König Robbie!«, rief er. »Das ist König Robbie! König Robbie!«

Auch der Zwergenkönig hatte sie gesehen, winkte mit seinen kurzen Armen und grinste.

»Ach, was seid ihr beiden doch für ein Anblick für meine geschundenen Augen! Lasst euch mal richtig ansehen.«

Die Kinder standen auf der Landungsbrücke und Robbie McLaur, König der Zwerge von Cambridge Falls, hatte sie schon heftig umarmt und ihnen borstige Küsse auf beide Wangen gedrückt.

»Du bist ja noch schöner geworden«, sagte er zu Kate, »obwohl das eigentlich überhaupt nicht möglich ist. Und du …«, er wandte sich an Michael, »bist auch nicht mehr so feucht hinter den Ohren wie letzte Weihnachten! Ich will meinen Bart darauf wetten, dass irgendwas passiert ist! Los – raus mit der Sprache!«

»Nun, Euer Hoheit«, sagte Michael sichtlich erfreut, den alten Freund wiederzusehen. »Wir haben ein ziemliches Abenteuer erlebt. Ich hatte einen Zank mit einem Drachen, aber das ist kaum der Rede wert, und dann war da eine Belagerung, bei der ich eine unbedeutende Rolle gespielt habe …«

»Du hast dich verliebt, stimmt’s? Lüg mich nicht an, Kumpel!« König Robbie drohte ihm schelmisch mit dem Zeigefinger. »Versuche nicht, etwas vor Robbie McLaur zu verheimlichen! Wie heißt denn das glückliche Zwergenmädel?«

Kate sah, wie Michael ganz rot wurde und stammelte: »Oh … nun … ich …«

Der Zwerg lachte und schlug ihm auf die Schulter. »Ich mache doch nur Spaß. Ist doch keine Schande, sich in ein Menschenmädchen zu verlieben. Bei einer Elfe wäre das schon etwas anderes, was?«

Kate wusste ein bisschen über Prinzessin Wilamena Bescheid und sie wusste auch, dass eine blonde Locke in einer Seidenschleife in Michaels Tasche verstaut war. Michael wurde noch röter.

»Eine Elfe?«, meinte er. »Pah.«

Der Zwergenkönig legte jedem der Kinder eine kleine, kräftige Hand auf die Schulter und hielt sie so fest, dass es beinahe wehtat. »Ihr wisst das natürlich, aber ich sage es trotzdem noch einmal laut, denn dann gilt es ganz bestimmt: Wir werden eure Schwester finden. Ich, Robbie McLaur, werde nicht ruhen, bis sie wieder frei ist. Das gilt auch für alle meine Zwerge.« Er besann sich kurz und fügte dann hinzu: »Außer für Hamish. Der nutzlose Lump liegt nur auf der faulen Haut und hat nichts als Fressen und Saufen im Sinn. Alles, nur nicht arbeiten oder duschen … Auf jeden Fall«, und damit packte er ihre Schultern noch fester, »werden wir sie befreien. Dafür habt ihr mein Wort.«

Kate stiegen Tränen in die Augen und sie umarmte den Zwergenkönig heftig.

»Schon gut«, murmelte er und tätschelte ihr den Rücken.

Dr. Pym hatte während des Wiedersehens geschwiegen und sagte nun: »Euer Majestät, wir waren einige Zeit ohne Rast unterwegs, und ich bin mir sicher, dass die Kinder erschöpft sind. Wir sollten sehen, dass sie in ihre Zimmer kommen.

»Da hast du recht«, antwortete der Zwerg. »Folgt mir.«

Die vier gingen die Landungsbrücke hinunter, und über den Strand, vorbei an den Menschen, die sich durch die Tore drängten und weiter in die Stadt hinein. Die schmalen Straßen wanden sich bergauf. Alles war aus demselben weißen Stein erbaut – Häuser, Straßen und Gartenmauern. Aber aus der Nähe war der Stein nicht rein weiß, sondern durchzogen von grauen und schwarzen Adern und Flecken. Sie begegneten Menschen, Zwergen und Elfen, die einkauften, ihre Häuser putzten und in Cafés saßen – und Kate bemerkte, dass sie viele Blicke auf sich zogen.

Wissen die etwa alle, wer wir sind?, fragte sie sich. Oder fallen Michael und ich so auf?

»Ich bin gestern Abend angekommen«, sagte König Robbie. »Alles ist so, wie du es gewünscht hast.«

»Ich danke dir«, sagte Dr. Pym. »Sag mir, hat man von neuen Angriffen gehört?«

Er und König Robbie liefen direkt vor Kate und Michael.

»Aye. Zwei Meldungen heute. Eine aus Südamerika. Die andere vom Horn von Afrika. Aber wie kommst du darauf?«

»Wir hatten selbst Schwierigkeiten.«

»Dann geht’s also los. Das sind die ersten Böen vor dem Sturm. Aber warum zum Teufel ist er so stark? Früher war er nicht halb so verwegen, aber jetzt zieht er gegen die ganze Welt in den Krieg!«

»Er muss tatsächlich eine neue Machtquelle gefunden haben. Mich schaudert bei dem Gedanken, was das sein könnte. Hast du von Gabriel oder den anderen etwas gehört?«

»Nein.«

König Robbie und der Zauberer unterhielten sich weiter, aber Kate hörte nicht mehr zu. Sie hatte gehört, was sie wissen musste. Emma war noch immer fort.

Sie bogen um eine Ecke, und Kate entdeckte am Ende der Straße das riesige rosafarbene Gebäude, das sie schon vom Boot aus bemerkt hatte. Außer seiner ungeheuren Größe und der besonderen Farbe des Steins fiel vor allem auf, wie hastig zusammengeschustert das Bauwerk aussah. Die Fassade war von ungleichmäßiger Höhe und über dem Dach erhoben sich Kuppeln, Pergolen und Türme der verschiedensten Größen und Formen, dazu ein Mischmasch aus Balkonen, Säulenreihen und Bögen. Und dennoch besaß das Ganze eine seltsame, beinahe vollkommene Schönheit, so ähnlich wie die natürliche Wuchsform einer Blume.

Und da war noch etwas. Das Gebäude barg eine große Macht. Schon als sie es vom Boot aus das erste Mal gesehen hatte, hatte Kate ein Beben in der Brust gespürt. Und jetzt, aus der Nähe, war sie sich völlig sicher. Das rosafarbene Gebäude war erbaut worden, um etwas zu schützen. Nur was?

Sie gingen durch einen Torbogen, wo ihnen zwei bewaffnete Wächter – ein Mensch und ein Zwerg – salutierten.

Der Zauberer blieb stehen. »Dies ist die rosafarbene Zitadelle. Wir aus der magischen Welt halten hier unsere Treffen ab. Das Gebäude beherbergt die größte magische Bibliothek, die es gibt, dazu zahllose Schätze und Wunder. Die Zitadelle ist gleichzeitig Museum, Universität und Parlamentsgebäude. In den oberen Etagen gibt es sehr komfortable Gästezimmer. Ich habe für euch welche reservieren lassen.«

»Und was ist dort?«, fragte Kate und deutete auf einen Durchgang, an dessen Ende es grün leuchtete.

»Der Garten«, antwortete der Zauberer. »Die Zitadelle ist um ihn herum gebaut. Ich werde ihn euch später zeigen.«

Dort ist es, dachte Kate. Das, was ich spüre, ist dort.

Sie verabschiedeten sich von König Robbie, der versprach, sie zum Abendessen zu treffen, und Dr. Pym führte sie durch ein Wirrwarr von Durchgängen, Treppen und Korridoren bis in einen großen, kühlen und nur schwach erleuchteten Raum. Kate konnte ein Bett, einen Schrank und einen Tisch erkennen; dann stieß der Zauberer ein Paar schwere Holzläden auf, das Licht flutete herein und tief unter ihnen war das blaue Meer zu sehen. Er zeigte auf eine Tür.

»Hier geht’s zum zweiten Schlafzimmer. Ruht euch erst einmal gut aus. Ich werde euch das Abendessen bringen lassen. Und seid versichert, dass dies der sicherste Ort der Welt ist.«

Er drehte sich um und ging.

Kate fühlte eine schwere Last auf ihren Schultern. Es war, als hätte die Erschöpfung nur auf sie gewartet. Sie setzte sich aufs Bett. Einen Moment später, und sie wäre vielleicht zusammengebrochen.

»Äh«, sagte Michael. »Ich nehme dann wohl das andere Zimmer.«

»Michael …«

Er drehte sich an der Tür um.

»Ich wollte fragen …«

»Ja, ich weiß, dass ich König Robbie nichts von Wilamena erzählt habe. Aber …«

»Das meine ich doch gar nicht.« Eigentlich hatte sie fragen wollen, ob er auch die Gegenwart einer großen Macht im Gebäude gespürt hatte, aber als sie ihm ins Gesicht sah und sich mehr denn je der neuen und schrecklichen Distanz zwischen ihnen bewusst war, überlegte sie es sich anders. Stattdessen fragte sie: »Stimmt irgendetwas nicht?«

»Wie meinst du das?«

»Bist du böse auf mich?«

»Was? Nein! Bestimmt nicht.«

Kate sagte nichts. Die Stille zog sich in die Länge. Michael starrte auf den Boden, und als er wieder sprach, klang seine Stimme anders. Diesmal war es seine eigene, wirkliche Stimme.

»Wenn ich das Buch des Lebens benutze, durchlebe ich das ganze Leben der anderen Person. All ihre Erinnerungen und Gefühle sind für ein paar Sekunden meine eigenen. Ich hätte dir das schon früher sagen müssen. Ich möchte nicht, dass das geschieht, aber es passiert einfach. An das meiste kann ich mich hinterher nicht mehr erinnern. Es ist, wie wenn man versucht, sich einen Traum zu merken.«

»Aber an manches erinnerst du dich.«

»Ja.«

»Und als du mich zurückgeholt hast …«

Michael blickte auf, und als sich ihre Augen trafen, wusste Kate, was er sagen würde.

»Der Junge im Glockenturm, der zum grässlichen Magnus wurde …«

Kates Kehle war so trocken wie Papier. »Rafe.«

»Du liebst ihn.«

Kate wusste nicht, was sie mehr traf – die Tatsache, dass Michael das gesagt hatte, oder die einfache, direkte Art, wie er es getan hatte. Der alte Michael, wie sie ihn noch vor einer Woche in Baltimore gekannt hatte, hätte herumgedruckst und alles getan, um bloß nicht über Gefühle reden zu müssen – ganz egal, ob es um seine eigenen ging oder um die von anderen.

»Du liebst ihn«, fuhr er fort. »Und dabei weißt du, dass er der grässliche Magnus ist. Du weißt, dass er der Feind ist. Und trotzdem liebst du ihn.«

»Nein, das tue ich nicht.« Kate hielt sich mit beiden Händen an der Bettkante fest. »Ich … liebe den grässlichen Magnus nicht.«

»Ich meine Rafe. Ihn liebst du. Aber er ist der grässliche Magnus. Sie sind ein und derselbe.«

»Warum sagst du das? Wieso …?«

»Du kannst ihn nicht retten. Das musst du wissen.«

Nun war es Kate, die auf den Boden starrte. Es schockierte sie, dass Michael erklärt hatte, dass sie Rafe liebe – den Jungen, den sie in der Vergangenheit vor hundert Jahren getroffen hatte, der ihr das Leben gerettet hatte und dabei zum grässlichen Magnus geworden war. Und doch war ihr die Wahrheit die ganze Zeit voll bewusst gewesen. Obwohl Kreischer sie von Ort zu Ort rund um die Welt gejagt hatten und obwohl Emma immer noch fort war, hatte sie in den vergangenen Tagen nur allzu oft die Augen geschlossen und sich Rafes Gesicht vorgestellt, sich daran erinnert, wie sie mit ihm auf dem Dach der Hochbahn gefahren war und der eisige Wind in ihre Wangen gebissen hatte. Oder daran, wie er ihr in einem warmen, verrauchten chinesischen Restaurant das Essen von Nudeln beigebracht hatte. Wie sie mit ihm im Schnee getanzt und dabei seinen Herzschlag gespürt hatte …

Immer wieder hatte Kate sich ermahnt, nicht mehr an ihn zu denken, ihn zu vergessen. Und dann war sie von der schlichten Erinnerung an ihre Hände, geborgen in seinen, überwältigt worden.

Sie sagte: »Hast du es auch Dr. Pym erzählt?«

»Nein. Und das werde ich auch nicht. Aber du musst dich entscheiden. Emma oder er. Beide kannst du nicht retten. Du musst dich entscheiden.«

Damit drehte Michael sich um, ging aus dem Zimmer und ließ sie allein.

»So, du kannst dir also vorstellen, hier zu leben?«

Gabriel stand in einem Dorf am Rijkinka-Fjord, einem langen, schmalen Meeresarm, der sich tief in die Wälder von Westnorwegen schlängelte. Das kleine Dorf bestand aus kaum dreißig Häusern, die sich zwischen den Bäumen und der spiegelglatten Wasserfläche ans Ufer schmiegten. Neben ihm stand eine dünne, alte Frau mit weißem Haar und großen, blauen Augen. In einer Hand hielt sie einen Stock, der andere lag auf Gabriels Arm. Sie wartete auf seine Antwort, und so sah Gabriel noch einmal auf den Fjord hinaus und lauschte auf die Stille der Bäume.

»Es ist schön. Friedlich.«

»Ja«, sagte die Frau. Sie seufzte. »Das war es.«

Um sie herum liefen die Dorfbewohner zwischen den verbrannten und rauchgeschwärzten Ruinen ihrer Häuser herum und stöberten nach Habseligkeiten, die sich noch verwenden ließen. Dunkler Rauch hing am Himmel. Gabriel und die Frau wandten sich die schmutzige Straße hinunter und sie tastete mit dem Stock den Weg durch Asche und Schutt.

»Natürlich haben Miriam und ich die üblichen Schutzmaßnahmen ergriffen, gegen Vampire und Werwölfe und dergleichen. Aber das ist Jahrzehnte her. Vielleicht sind wir nachlässig geworden. Aber geholfen hätte es ohnehin nichts. Es waren Hunderte. Morum Cadi. Gnome. Und sogar ein Troll.

»War er auch selbst hier?«

»Nein. Rourke führte sie an.«

»Sagte er etwas?«

Die alte Hexe schnaubte kurz. »Oh ja. Er ist extra zu uns gekommen und hat gesagt: ›Ihr habt euch schon einmal gegen meinen Meister erhoben. Deswegen geschieht das hier. Wenn ihr noch einmal Widerstand leistet, werden wir nicht mehr so gnädig sein.‹ Er sagte, diesmal könnte uns Pym nicht schützen.«

Gabriel sagte nichts.

Die alte Hexe blieb stehen. Ihre knochige Hand packte Gabriels Arm. »Er ist mächtiger denn je. Ich konnte es spüren.«

»Wir glauben nicht, dass er das Buch Reckoning schon besitzt. Das Buch Onyx ist noch verborgen.«

»Aber er hat die Hüterin, nicht wahr? Er hat die Hüterin des Buchs des Todes?«

»Ja.«

Der Griff ihrer Hand erschlaffte, als hätte sie etwas von ihrer Kraft verloren. »Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis er es findet. Und danach wird ihn niemand mehr aufhalten können.«

»Das wird nicht geschehen.«

Die alte Frau tätschelte seinen Arm.

»Sag Pym, dass wir zu ihm stehen. Wir sind vielleicht nicht mehr, was wir einmal waren, aber wir halten zu ihm bis zum Ende.« Sie hielt inne. »Ich meine … ich halte zu ihm.«

»Das mit deiner Schwester tut mir leid.«

Sie nickte zum Dank und deutete mit dem Stock zum Waldrand. »Von dort kamen sie.« Sie stakste weiter die Straße hinunter und ihr Stock machte dabei leise patsch-patsch im Schlamm. Gabriel sah ihr hinterher.

Er brauchte nicht lange zu suchen, bis er den Ort fand, wo Rourke und seine Armee erschienen waren. Dort waren die Bäume in einem großen Kreis gefällt und der Boden verbrannt. Aber woher waren sie gekommen? Gabriel wusste, dass man ein Portal nicht mehr zu seinem Ursprung verfolgen konnte, wenn es wieder geschlossen war. Jedenfalls nicht auf magischem Weg. Aber sein Vorteil war, dass er kein Zauberer war. Er war nur ein gewöhnlicher Mensch. Ein Mann, der sich mit Bäumen, mit Pflanzen und mit der Landschaft auskannte. Er bückte sich und hob ein kleines, zerdrücktes Blatt vom Boden auf. Es war von vielen Stiefeln zertreten worden und er glättete es vorsichtig auf seiner Handfläche.

Gabriel erkannte nicht, was für ein Blatt es war, aber er wusste, dass solche Blätter nicht in diesem Wald wuchsen. Es musste mit dem Stiefel eines Angreifers hierhergekommen sein. Aber woher? Gabriel spürte, wenn er die Pflanze fand, dann fand er auch den grässlichen Magnus. Und wenn er den grässlichen Magnus fand, dann fand er auch Emma.

Aber dazu brauchte er Hilfe.

Zwei Stunden später und fünftausend Meilen südwestlich lief Gabriel einen steilen, felsigen Pfad entlang, während die Sonne hinter den Bergen unterging und die Bäume lange Schatten auf den Weg warfen. Die anbrechende Dunkelheit bereitete ihm keine Sorgen; er hätte den Weg auch mit verbundenen Augen gefunden. Und so erreichte er wenig später den Berggrat und blickte auf das kleine Dorf im Tal hinunter.

In den fünfzehn Jahren, seitdem Dr. Pym ihn für den Kampf gegen den grässlichen Magnus und für die Rettung der Kinder gewonnen hatte, war Gabriel nur selten hier gewesen. Und jedes Mal war es ihm weniger wie sein Zuhause vorgekommen.

Er wusste, dass es völlig dunkel sein würde, wenn er das Dorf erreichte. Er hätte früher da sein können, aber der goldene Schlüssel, den der Zauberer ihm gegeben hatte und mit dem er rasch auf der ganzen Welt von Ort zu Ort springen konnte, brauchte ein passendes Schlüsselloch – und in seinem Dorf gab es keines. Er hatte durch das große Haus in Cambridge Falls gehen müssen und dabei den alten Hausmeister Abraham beinahe zu Tode erschreckt. Als sich der alte Mann erholt hatte, wollte er natürlich alle Neuigkeiten über die Kinder erfahren, und Gabriel hatte berichtet, während die übellaunige Haushälterin Miss Sallow von der Küche aus gelauscht hatte. Als Gabriel von Emmas Entführung erzählt hatte, war sie aus der Küche gekommen und hatte Abrahams Hand ergriffen.

»Du musst sie retten«, hatte die alte Frau völlig aufgewühlt gesagt. »Unbedingt!«

Bald danach hatte er sich auf den Weg gemacht.

Im Dorf war es dunkel und still. Gabriel kam sich vor wie ein Geist, der im Schatten wandelt.

Er kam an eine baufällige Hütte am unteren Ende des Dorfes und hob die Hand, um anzuklopfen, aber da rief von innen schon eine Stimme: »Komm rein, komm rein!«

Gabriel schob die Türe auf und spähte in den verräucherten Raum. An der Kochstelle in der Mitte brannte ein Feuer; davor zeichnete sich groß und unförmig der Umriss einer Frau ab, die über einen Kochtopf gebeugt stand. Für einen Augenblick rührte er sich nicht. Der Anblick der alten Frau am Feuer und der Geruch nach dem Rauch von Kiefernholz, nach wilden Zwiebeln und Möhren und Thymian – das alles löste einen Knoten in seiner Brust. Mit einem Mal war er wieder ein kleiner Junge: Er war zu Hause.

»Ich habe Eintopf aufgesetzt, als ich wusste, dass du kommst«, sagte Granny Peet. »Allerdings ohne Kartoffeln. Die sind ganz schlecht gewachsen dieses Jahr.«

Dies holte Gabriel wieder in die Gegenwart zurück. Er trat in die Hütte und zog die Tür hinter sich zu. »Ich will gar nicht wissen, woher du wusstest, dass ich komme.«

»Gut. Du würdest es sowieso nicht verstehen. Setz dich.«

Gabriel rückte sich einen niedrigen Hocker an die Feuerstelle und Granny Peet rührte weiter in ihrem Topf, während die Ampullen und Anhänger, die sie an unzähligen Halsketten trug, mit leisem Klingen aneinanderstießen. Gabriel verspürte noch immer das Gefühl, zu Hause zu sein, aber allmählich legte sich wieder die Spannung über seine Brust. Und so würde es bleiben, bis Emma in Sicherheit war, das wusste er.

»Du warst zu lange fort«, murmelte die alte Frau und das Feuer vervielfachte die Runzeln in ihrem Gesicht. »Dies ist dein Zuhause. Es nährt dich.«

»Vieles ist vorgefallen.«

»Ich weiß. Ich höre es flüstern. Was hast du mir mitgebracht?«

Gabriel griff in seine Tasche und zog ein sauber zusammengefaltetes Tuch hervor. Er schlug es auf und zeigte ihr das schlaffe schwarze Blatt. Es schien ihm ein furchtbar unbedeutendes kleines Ding zu sein, um all seine Hoffnung daran zu hängen, aber es war alles, was er hatte. »Ein Dorf in Norwegen ist angegriffen worden. Dort habe ich es gefunden.«

Granny Peet hatte schmutzige, angeschwollene Finger mit dicken gelben Nägeln, aber sie hob das Blatt ganz behutsam auf, drehte es im Feuerschein hin und her und hielt es sich schließlich ganz dicht an die Nase, um daran zu riechen.

»Hmpf.«

Sie nahm das Blatt mit zu einem Tisch, der hinter Gabriel stand. Dort befand sich zwischen Wurzeln und Ästen ein Topf mit Erde. Granny Peet drückte ein Loch in die Erde, legte das Blatt hinein und bedeckte es wieder. Dann schöpfte sie mit der Kelle eine Flüssigkeit darüber, die für Gabriel wie gewöhnliches Wasser aussah. Dann schlurfte sie zurück zur Feuerstelle.

»Mal sehen, ob es uns etwas zu sagen hat. Und du, iss erst einmal, und dann erzähle mir, was du sonst noch auf dem Herzen hast.« Sie drückte ihm eine randvolle, dampfende Schale Eintopf in die Hände.

Gabriel wollte schon sagen, dass er nur wegen des Blatts gekommen sei, aber dann wurde ihm klar, dass sie recht hatte. Da war noch etwas anderes. Etwas, das schon seit Tagen an ihm genagt hatte.

Er wusste nur zu gut, dass Granny Peet erst zuhören würde, wenn er seine Schale geleert hatte. Also griff er nach dem Löffel und aß. Der Eintopf war zu heiß, und er verbrühte sich den Mund, aber mit jedem Bissen wurde die Erinnerung an die langen Stunden lebendiger, die er hier am Feuer der weisen Frau gesessen hatte, während sie Geschichten über die Welt jenseits des kleinen Dorfes erzählte. Er dachte daran, wie sie gesagt hatte, er würde zum Kampf in einer wichtigen Angelegenheit gerufen werden. »Man wird viel von dir verlangen«, hatte sie gesagt. »Ein schreckliches Opfer.«

Und er hatte genickt. Damals war er ein kleiner Junge gewesen, kleiner als seine Altersgenossen. Seine Eltern waren bei einem Bergrutsch umgekommen, als er jünger als Emma gewesen war. Vielleicht war das der Grund, warum ihm die Kinder so nahestanden. Nach dem Tod seiner Eltern war er vom ganzen Dorf und insbesondere von Granny Peet aufgezogen worden. Sie hatte ihm zu essen gegeben und ihn unterrichtet. Er war rasch gewachsen. Schon als Junge hatte er alle Männer im Dorf überragt. Er hatte sich oft gefragt, ob ihm Granny Peet etwas ins Essen gemischt hatte. Wenn er sie danach fragte, sagte sie: »Grübel nicht über deine Stärke nach. Sei dankbar dafür. Wenn die Zeit kommt, wirst du jedes bisschen Kraft brauchen.«

Als Gabriel den Eintopf aufgegessen hatte, ging es ihm so gut wie seit Tagen nicht mehr. Er saß entspannt mit der leeren Schüssel in den Händen da. Die alte Frau hatte sich neben ihm auf einem Hocker niedergelassen und rauchte eine kurze, knorrige Pfeife. Ihre Augen waren nichts als zwei dunkle Höhlungen zwischen den Falten ihres Gesichts.

Er begann zu sprechen. »Seit fünfzehn Jahren helfe ich nun Dr. Pym bei der Suche nach den verlorenen Büchern. Er sagte, nur wenn wir die Bücher finden, können wir die Kinder retten.« Gabriel erzählte nicht, wie oft sein eigenes Leben in Gefahr gewesen war, wie viele neue Narben er davongetragen und auf wie viel er um dieses Kampfes willen verzichtet hatte; das alles wusste die alte Frau.

Gabriel fuhr fort: »Aber zuletzt habe ich gegen einen Mann gekämpft, einen Diener des grässlichen Magnus.« Gabriel bemerkte nicht, wie er bei der Erinnerung an den Kampf mit Rourke im Vulkan unwillkürlich die Hände um die Schale krallte. »Er sagte mir, wenn es den Kindern gelingt, alle drei Bücher vom Anbeginn zu finden und wieder zu vereinen, dann werden sie sterben. Und er sagte, dass Pym das weiß.«

Granny Peet sagte eine Weile nichts, sondern saß nur da, zog an ihrer Pfeife und ließ den Rauch aus dem Mund strömen. Gabriel konnte draußen die Bäume ächzen hören und vernahm das Geflüster, wenn die Äste aneinander rieben.

Schließlich sagte sie: »Das ist möglich.«

Gabriel war, als bewege sich die Erde unter ihm. Er griff nach der hölzernen Schale wie nach einem Anker, der ihm Halt geben konnte. »Dann stimmt es also, dass sie sterben werden, wenn sie die Bücher zusammenbringen?«

»Ja. Höchstwahrscheinlich.«

»Und Pym weiß das auch?«

»Ohne Zweifel.«

»Und du hast das gewusst und mir nichts erzählt? Da suche ich all die Zeit nach den Büchern und schicke damit die Kinder ins Verderben.«

Gabriel bemerkte die Wut in seiner Stimme, aber das war ihm egal. Die alte Frau sah ihn an, regungslos, der Ausdruck ihrer Augen undurchdringlich. Offenbar wartete sie, bis seine Wut verebbte wie eine Welle, die sich brach und dann wieder ins Meer zurücklief.

»Die Bücher müssen gefunden werden«, sagte sie schließlich. »Sie müssen gefunden werden, und nur die Kinder können das schaffen.«

»Aber warum müssen sie gefunden werden? Weil auch der grässliche Magnus nach ihnen sucht? Sie können nicht der einzige Weg sein, ihn zu besiegen. Wenn nötig, dann werde eben ich ihn töten, ihn und jeden seiner Anhänger. Ich werde nicht …«

»Nein«, sagte die alte Frau. Und plötzlich war nichts Gebrechliches oder Ungepflegtes mehr an ihr. Sie war hart und präzise. »Der grässliche Magnus hat viel an Macht gewonnen. Und all deine Kraft und dein Mut, alles Wissen Pyms und alle Macht und Entschlossenheit der guten Menschen werden nicht genügen. Nur die Bücher können ihn noch besiegen. Und nur die Kinder können sie finden.«

Gabriel verstummte und starrte ins Feuer. Er bemerkte, dass er noch immer die Schale umklammert hielt, und stellte sie weg.

»Aber es gibt noch einen anderen Grund«, sagte die alte Frau. »Im Gerüst der Welt ist etwas aus den Fugen geraten. Es hat vor langer Zeit begonnen, aber in letzter Zeit schreitet der Zerfall immer rascher voran. Wenn das nicht behoben wird, dann kommt es zu einer Katastrophe, die niemand aufhalten kann. Nur die Bücher können das verhindern. Alle Gedanken Pyms richten sich nur auf diesen einen Punkt.«

Gabriel sah sie an. Die Narbe, die an der Seite seines Gesichts herablief, pochte. »Also müssen die Kinder geopfert werden.«

»Vielleicht«, sagte die alte Frau. »Aber vielleicht auch nicht. Prophezeiungen sind eine verzwickte Sache.«

»Du meinst, es gibt einen Weg, sie zu retten?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich möchte glauben, dass es so ist.« Sie legte ihm ihre warme Hand auf den Arm. »Diese Kinder bedeuten dir etwas, aber die Jüngste, sie ist für dich wie eine Tochter. Du würdest alles für sie tun.«

Bei den Worten der alten Frau musste Gabriel an Emma denken – und an den Morgen, einige Jahre war das nun her, als er die drei vor den Wölfen der Gräfin gerettet hatte. Damals war Emma ihm in den Wald gefolgt und hatte beobachtet, wie er sich an einen Hirsch angepirscht und ihn erlegt hatte. Gabriel erinnerte sich, wie Emma ihre Angst überwunden hatte. Es hatte ihn überwältigt, und in sein Herz war das Verlangen eingezogen, sie zu beschützen. Eine Liebe, die nie mehr nachgelassen hatte.

Er nickte, schwieg aber.

»Du must mit Pym sprechen«, sagte die alte Frau. »Weise ihn nicht zurück deswegen. Auch ihm sind die Kinder teuer. So, und jetzt wollen wir uns mal das Blatt ansehen.«

Sie stand auf und watschelte an ihm vorbei zum Tisch. Sie kam mit dem Topf zurück, nur dass aus der Erde nun eine handhohe Pflanze wuchs. Sie hatte einen dünnen, dornigen Stamm und lange, gezackte Blätter. Granny Peet stellte sie neben das Feuer, nahm einen Zweig in die Hände, tauchte das Gesicht in die Blätter und sog tief die Luft ein.