Das Buch von der Wiedergeburt - Christopher M. Bache - E-Book

Das Buch von der Wiedergeburt E-Book

Christopher M. Bache

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Beschreibung

Kaum ein Mensch, der nicht schon vor die Frage gestellt wurde, ob er nicht bereits ein früheres Leben hatte oder später in einem anderen Leben fortbestehen würde. Jedem darüber Nachdenkenden drängen sich weitere Fragen auf: Wie läßt sich die Einmaligkeit eines jeden Individuums mit dem Gedanken der Wiedergeburt vereinbaren? Wie könnte die Vorstellung, öfter als einmal zu leben, unser jetziges Leben verändern? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 448

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Christopher M. Bache

Das Buch von der Wiedergeburt

Aus dem Amerikanischen von Roland Irmer

FISCHER Digital

Das Gesetz der ewigen Wiederkehr – alles über Reinkarnation aus der Sicht der modernen Wissenschaft

Inhalt

Ich widme dieses Buch [...]Vorwort1 Lebenszyklen oder Vom Sinn des UniversumsDie exoterische und die esoterische Ebene der ReligionIst die Materie die bestimmende Wirklichkeit?Wie geht es weiter?2 Spontane und evozierte Erinnerungen an frühere LebenSpontane ErinnerungenEvozierte Erinnerungen3 Karma und WiedergeburtDie esoterischen LehrenFallgeschichten aus der ReinkarnationstherapieEin persönlicher philosophischer ExkursDas Leben zwischen den Leben4 Die ÜberseeleDie ÜberseeleFür das, was möglich ist, offen werdenDie Überseele und GottIndividuelle Identität und Überseele5 Die Rhythmen des LebensDie beiden Phasen des LebensBerg und TalHimmel und HölleSeelenalterSeelenalter und ChakrasDas Entwicklungspotential des Menschen6 Reinkarnation und ChristentumFalsche Schlüsse vermeidenEin reinkarnationistischer christlicher GlaubeWarum hat das Christentum die Reinkarnationslehre verworfen?Die weiteren Implikationen der Wiedergeburtslehre7 Wiedergeburt und Familie8 Das Netz des LebensDie Arbeit mit dem lebendigen NetzVeränderungen des NetzesDer innere KompaßIn der Gegenwart leben9 Der FeldeffektDas zweiseitige FeldEingriffe in die karmischen ZyklenDer FeldeffektKarma, Meditation und Liebe als AgapeSchlußüberlegungenNachwortAnhang: Reinkarnationslehre und Urchristentum1. Die Reinkarnation im Neuen Testament2. Die Reinkarnation im frühen ChristentumDankLiteraturverzeichnisPersonen- und Sachregister

Ich widme dieses Buch meinen Schülern und dem Andenken an Dr. Martin A. Greenman

Vorwort

Christopher Bache und ich sind recht verschiedene Wege gegangen, aber die Lektüre seines Buches zeigt mir, daß sie zum gleichen Ziel führen.

Chris ist durch das Studium von Philosophie und Religion schließlich dazu gekommen, die Reinkarnation, die das Thema dieses so klaren und in seiner Argumentation überzeugenden Buches ist, in seine Lebensanschauung mit einzubeziehen. Ich habe mich durch das Dickicht der Sozialpsychologie auf die Lichtung der transpersonalen Psychologie und zu guter Letzt in die hellen Gefilde der Nah-Todeserfahrungen vorgearbeitet, deren Erforschung meinem eigenen Weltbild mehr als alles andere seinen Stempel aufgedrückt hat.

Meine Lehrer waren die vielen hundert Menschen, die ich in den vergangenen zwölf Jahren über ihre Nah-Todeserfahrungen befragen durfte. Viele davon sind gute Freunde geworden.

Was sie mich lehrten, haben sie natürlich aus ihren Nah-Todeserfahrungen geschöpft, und ihre Erkenntnisse sind in dieses Buch mit eingeflossen.

Worin liegt der Grund für diese unverkennbare Konvergenz zwischen dem Glauben an die Wiedergeburt und den Implikationen der Nah-Todeserfahrungen? Meiner Ansicht nach ist der durch eine Nah-Todeserfahrung hervorgerufene transzendentale Bewußtseinszustand derselbe, der auch auf die Realität des Phänomens der Reinkarnation hinweist. Es fällt jedenfalls auf, daß viele der von mir über ihre Nah-Todeserfahrungen Befragten berichteten, daß sie durch ihre Erlebnisse entweder zu Anhängern der Reinkarnationslehre geworden seien oder die Idee der Wiedergeburt jetzt zumindest für so plausibel hielten, daß sie sich intensiver damit beschäftigen wollten. Die Erfahrung der Todesnähe führt den Menschen also durch unmittelbare Anschauung zu der Überzeugung, die der Anhänger der Reinkarnationslehre schon immer vertreten hat: daß die geistige Welt unsere wahre Heimat ist, daß das, was wir Tod nennen, nur ein kurzer Ausflug in dieses Reich des Geistes und das Leben in Wahrheit ewig ist.

Und – so fügen die von der Reinkarnation Überzeugten hinzu – wir kehren wieder.

Chris Bache zeigt, daß diese Grundthese durch eindrucksvolle und unabweisbare Belege gestützt wird. Aber diese Beweise sind nicht das Hauptthema des Buches. Es geht vielmehr darum zu zeigen, wie wir unser Leben besser verstehen und erfüllter leben könnten, wenn wir die Fakten, die für eine reinkarnationistische Lebensanschauung sprechen, begriffen und uns darüber klar würden, welche Konsequenzen das für uns hätte.

Um es noch einmal festzuhalten: Während der Autor im ersten Teil seines Buches überzeugend und engagiert den heutigen Stand der Reinkarnationsdebatte darlegt, ist sein eigentliches Ziel doch, uns zu zeigen, was wir für unser Selbstverständnis und unser spirituelles Wachstum gewinnen, wenn wir die Vorstellung der Wiedergeburt akzeptieren. Und das tut er mit Kompetenz und zwingender gedanklicher Konsequenz.

Er versteht es, die Ergebnisse aktueller Forschungs- und Erfahrungsgebiete, die zur Entstehung einer neuen, spirituelleren Sicht unseres Wesens beitragen, in einer beeindruckenden Synthese zusammenzufassen: Reinkarnationsforschung, Reinkarnationstherapie, Stanislav Grofs Erlebnistherapie, Untersuchungen über außerkörperliche Erfahrungen und Nah-Todeserlebnisse usw. Soweit ich sehe, ist Chris Bache der erste Autor, der die einzelnen Mosaiksteinchen dieser verschiedenen Erfahrungs- und Erlebnisbereiche zu dem einheitlichen Bild einer reinkarnationistischen Anschauung zusammengefügt hat, und viele Leser werden ihm schon allein dafür Dank wissen.

Denn jetzt, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, da die Erkenntnisse der modernen Bewußtseinsforschung und die Schlußfolgerungen, die sich daraus ziehen lassen, einer immer größer werdenden Öffentlichkeit zugänglich werden, erfährt die zeitweise aus der Mode gekommene Vorstellung von einem sinnvollen Kosmos neuen, nachdrücklichen Auftrieb.

Und Chris Bache weist sich hier mit seinem ersten Buch als bedeutender Vermittler dieser postexistentialistischen Perspektive aus. Denn aus seiner Interpretation der mit der Reinkarnation zusammenhängenden Erkenntisse der Bewußtseinsforschung ergibt sich für ihn die Folgerung, daß «das ganze Universum ein sinnvolles Gebilde ist», daß das Erlebnis der Wiedergeburt «nicht nur zu dem Glauben, sondern zu dem Wissen führt, daß wir ewig leben, daß der letzte Sinn des menschlichen Lebens darin liegt, lieben zu lernen», und daß «das Wichtigste ist, zu erkennen, daß wir in Sicherheit sind, daß es absolut nichts gibt, was uns auf Dauer von der Quelle des Lebens trennen könnte, und daß die Prüfungen des Lebens letztendlich zu unserem Besten sind».

Genau dasselbe habe ich auch von Menschen gehört, die Nah-Todeserfahrungen gemacht haben.

Und nun lade ich Sie ein, mit Chris Bache den Pfad zu beschreiten, auf dem er zu diesen Folgerungen gelangte – dabei kann es durchaus geschehen, daß auch Sie sich angeregt fühlen, eine ähnliche Reise anzutreten.

Kenneth Ring

1 Lebenszyklen oder Vom Sinn des Universums

Romy Crees wurde 1977 als Tochter von Barry und Bonnie Crees in Des Moines, Iowa, geboren. Sie war ein entzückendes kleines Mädchen, ein richtiger Wirbelwind, voller Neugier und immer zu Streichen aufgelegt. Beide Eltern waren gläubige Katholiken und deshalb in keiner Weise auf das gefaßt, was geschah, als Romy anfing zu sprechen. Denn sie schwatzte nicht einfach drauflos, wie andere Kinder das tun, sondern streute immer wieder Einzelheiten über ihr früheres Leben als Joe Williams ein. Sie erzählte, sie sei in einem Haus aus roten Ziegeln in Charles City aufgewachsen, einer Stadt, die ungefähr 300 Kilometer von Des Moines entfernt liegt. Sie behauptete, mit einer Frau namens Sheila verheiratet gewesen zu sein und drei Kinder mit ihr gehabt zu haben. Joe und Sheila seien beide bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen, den Romy sehr genau beschreiben konnte. «Ich habe Angst vor Motorrädern», sagte sie. Sie erinnerte sich an viele Ereignisse aus Joes Leben. Einmal hatte Joe zu Hause einen Brand verursacht, und Mutter Williams hatte sich die Hand verbrannt, als sie die Flammen mit Wasser löschen wollte. «Mutter hat Schmerzen im Bein – hier», sie zeigte auf eine Stelle am rechten Bein. «Mutter Williams heißt Louise. Ich habe sie lange nicht gesehen.» Sie bat oft, man möchte sie doch nach Charles City bringen, damit sie Mutter Williams beruhigen und ihr sagen könnte, daß «alles in Ordnung war».

Man kann verstehen, daß Romys Eltern das, was sie da hörten, beunruhigend und verwirrend fanden und sie Romy von ihren vermeintlich absurden Phantastereien abzubringen versuchten. Aber ihre genaue Schilderung von Joes Leben und von dem Unfall, der ihm ein Ende setzte, gab ihnen doch zu denken, und so waren sie schließlich bereit, Hemendra Banerjee kommen zu lassen, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Fällen von Kindern nachzugehen, die sich spontan an frühere Leben zu erinnern scheinen. Im Winter des Jahres 1981 kamen Banerjee und seine Frau in Begleitung zweier Journalisten von der schwedischen Zeitschrift Allers nach Des Moines, um sich mit Romy und ihren Eltern zu unterhalten. Später fuhren sie alle gemeinsam nach Charles City, um festzustellen, ob Romys «Erinnerungen» sich ganz oder teilweise bestätigen ließen.

Auf der Fahrt war Romy ganz aufgeregt und freute sich sehr darauf, endlich wieder bei Mutter Williams sein zu können. Kurz vor der Ankunft kletterte Romy auf den Vordersitz und sagte: «Wir müssen noch Blumen kaufen. Mutter Williams mag blaue Blumen. Und wenn wir da sind, können wir nicht durch die Vordertür gehen. Wir müssen um die Ecke zu der Tür in der Mitte.» Nach einem Blick ins Telefonbuch hielten sie vor einem weißen Bungalow in einem Vorort der Stadt an. Romy sprang aus dem Auto und zog Banerjee hinter sich her zum Haus. Es war nicht das rote Ziegelhaus, das Romy beschrieben hatte, aber auf einem Schild davor stand: «Bitte die Hintertür benützen».

Eine ältere Frau kam an den Seiteneingang des Hauses. Sie ging an Krücken und hatte einen festen Verband um das rechte Bein. Ja, sie sei Louise Williams. Ja, sie habe einen Sohn namens Joe gehabt, aber sie sei gerade auf dem Weg zum Arzt und habe deshalb keine Zeit, die ungewöhnlichen Besucher zu empfangen. Romy war sehr enttäuscht, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aber nach einer Stunde gingen Romy, ihr Vater und die schwedischen Journalisten wieder zu dem Haus und wurden hineingebeten.

Frau Williams erschrak geradezu, als Romy ihr die blauen Blumen überreichte, und erklärte, das letzte Geschenk ihres Sohnes sei auch ein Strauß blauer Blumen gewesen. Aber wie überrascht war sie erst, als Romys Vater ihr von Romys «Erinnerungen» an Joes Leben erzählte. «Woher weiß sie das denn alles?», fragte sie. «Ich kenne Sie doch gar nicht, und ich kenne auch sonst niemanden in Des Moines.» Sie erklärte, sie und Joe hätten in einem Haus aus roten Ziegeln gewohnt, genau wie Romy gesagt hatte, aber das Haus sei einem Wirbelsturm zum Opfer gefallen, der vor zehn Jahren in Charles City getobt habe. «Joe hat uns geholfen, dieses Haus zu bauen, und er bestand darauf, daß wir die Vordertür im Winter geschlossen halten.»

Romy und Frau Williams fühlten sich sofort zueinander hingezogen. Als Frau Williams aufstand, um etwas aus dem Nebenzimmer zu holen, lief Romy hinter ihr her. Sie kamen Hand in Hand zurück, denn Romy wollte die alte Dame stützen. Frau Williams hatte eine gerahmte Fotografie von Joe und seiner Familie in der Hand, die an dem Weihnachtsfest vor seinem und Sheilas Tod aufgenommen worden war. «Sie hat sie wiedererkannt», sagte Frau Williams überrascht. «Sie hat sie wiedererkannt!»

Frau Williams konnte vieles von dem bestätigen, was Romy erzählt hatte: Joe hatte eine Sheila geheiratet, die beiden hatten drei Kinder, die Namen von Verwandten stimmten und das Feuer in ihrem Haus, bei dem sie sich die Hand verbrannt hatte, war eine nicht zu leugnende Tatsache. Auch der Motorradunfall im Jahre 1975 hatte sich in allen Einzelheiten so zugetragen, wie Romy ihn geschildert hatte. Aber obwohl sich erwiesen hatte, daß Romys Aussagen zutrafen, waren weder Frau Williams noch Romys Eltern bereit, die Möglichkeit zu akzeptieren, daß es sich bei ihrer Tochter um die Reinkarnation von Joe Williams handeln könnte. «Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll», sagte Romys Mutter, «aber ich weiß ganz sicher, daß meine Tochter nicht lügt.»[1]

Romys Erinnerungen sind keine solche Seltenheit, wie ihre Eltern vielleicht meinten. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, gibt es Hunderte von gutdokumentierten Fällen, in denen Kinder sehr detaillierte und völlig korrekte Berichte von einem Leben gegeben haben, das sie vor ihrem jetzigen Leben gelebt haben wollen. Zusammengenommen sind diese Berichte so gewichtig, daß sie uns zu einer erneuten Prüfung einer der ältesten und hartnäckigsten Vorstellungen in der Geschichte der Menschheit nötigen, der Vorstellung nämlich, daß wir nicht nur einmal, sondern viele Male auf der Erde leben.

Aber haben wir denn Veranlassung, uns die Behauptungen dieser Kinder so zu Herzen zu nehmen? Die meisten von uns erinnern sich nicht im mindesten an ein früheres Leben. Außerdem lehren uns unsere fünf Sinne nur, daß wir mit dem Tod des Körpers von der Erde verschwinden. Ob wir nun einfach aufhören zu existieren oder «an einen anderen Ort» gehen – das bewußte Erleben der meisten Menschen spricht gegen die These von einer Rückkehr. Warum sollten wir diese Kinder also nicht einfach als – bislang unerklärliche – merkwürdige Sonderfälle abtun und uns an die scheinbar einfachere Alternative halten?

Manch einer mag sich veranlaßt fühlen, diese Kinder ernst zu nehmen, wenn er an all die bemerkenswerten Menschen denkt, die sich nach sorgfältiger Überlegung für den Glauben an die Reinkarnation entschieden haben. Dazu gehören so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Plato, Schopenhauer, John McTaggart, Benjamin Franklin, Leo Tolstoi, William James, Henry Wadsworth Longfellow, Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Walt Whitman, Saul Bellow, Richard Wagner, Gustav Mahler, Jean Sibelius, Paul Gauguin, David Lloyd George, George S. Patton, Charles Lindbergh, Henry Ford und Carl Gustav Jung. Aber natürlich ist die Liste der westlichen Intellektuellen und Künstler, die den Gedanken der Reinkarnation verworfen haben, viel länger.

Andere mögen sich von der einfachen Tatsache beeindrucken lassen, daß etwa die Hälfte der Menschheit seit Jahrtausenden an die Wiedergeburt glaubt. Das sollte uns zwar zu denken geben, aber andrerseits haben sich viele altehrwürdige Vorstellungen – zum Beispiel daß die Sonne sich um die Erde dreht und daß die Erde eine Scheibe ist – auch definitiv als falsch erwiesen. Alter und Beliebtheit einer Vorstellung sind noch keine Wahrheitsgarantie und können uns allein nicht veranlassen, die täglich neu gewonnene Erfahrung beiseite zu schieben, daß wir in unserem Wesen nur das sind, was unser Körper uns suggeriert und nicht mehr.

Letztlich liegt der stärkste Grund, die Erfahrung von Kindern wie Romy Crees nicht zu ignorieren, in den Kindern selbst, ganz gewöhnlichen Kindern, die in jeder Hinsicht vollkommen normal sind, abgesehen von der einen Besonderheit – daß sie sich offenbar an etwas erinnern, was die meisten von uns aus irgendeinem Grund vergessen haben. Wenn die aufgeklärten Westler des 20. Jahrhunderts die Reinkarnation je ernst nehmen sollten, wird das, so glaube ich, in erster Linie auf das geduldige und kritische Studium dieser Kinderberichte zurückzuführen sein. Wir wollen daher, ehe wir fortfahren, noch einen zweiten Fall betrachten, einen Fall, den Dr. Ian Stevenson von der University of Virginia recherchiert hat.[2]

Prakash Varshnay wurde im August 1951 in Chhata in Indien geboren. Als Kind zeigte er keinerlei auffälliges Verhalten, wenn man davon absieht, daß er vielleicht mehr als die meisten seiner Altersgenossen zum Weinen neigte. Aber einmal, er war gerade viereinhalb Jahre alt, wachte er mitten in der Nacht auf und rannte aus dem Haus. Als seine Eltern ihn eingeholt hatten, behauptete er, sein Name sei Nirmal, und er «gehöre» nach Kosi Kalan, einer etwa zehn Kilometer entfernt liegenden Stadt. Er sagte auch, sein Vater heiße Bholanath. In den nächsten fünf oder sechs Nächten zeigte Prakash das gleiche Verhalten: Er wachte mitten in der Nacht auf und lief auf die Straße. Danach geschah es seltener, kam aber noch einen Monat lang gelegentlich vor.

Er begann tagsüber von «seiner» Familie in Kosi Kalan zu reden. Er behauptete, er habe dort eine Schwester namens Tara und nannte auch mehrere Nachbarn. Sein Haus dort beschrieb er als ein Haus aus Backstein, im Gegensatz zu seinem jetzigen Haus in Chhata, dessen Wände aus getrocknetem Schlamm waren. Er sagte, sein Vater habe vier Läden, darunter einen Getreideladen, einen Stoffladen und ein Geschäft, in dem Hemden verkauft würden. Er erwähnte auch den eisernen Geldschrank seines Vaters, in dem er eine Schublade mit einem eigenen Schlüssel dazu habe.

Aus Gründen, die für seine Angehörigen unverständlich waren, wurde Prakash immer mehr von dem anderen Leben, an das er sich plötzlich wieder erinnerte, besessen und bat wiederholt, sie möchten ihn nach Kosi Kalan bringen. Er quälte sie so lange, bis sein Onkel schließlich nachgab und versprach, mit ihm dort hinzufahren. Zunächst versuchte er allerdings, ihn zu überlisten, indem er den Bus in die Gegenrichtung bestieg. Aber Prakash bemerkte die Täuschung, und sein Onkel gab sich geschlagen. In Kosi Kalan fanden sie tatsächlich einen Laden, der einem Mann namens Bholanath Jain gehörte, aber da der Laden geschlossen war, kehrten Prakash und sein Onkel nach Chhata zurück, ohne ein Mitglied der Familie Jain gesprochen zu haben.[3]

Wieder zu Hause angekommen, identifizierte Prakash sich weiterhin stark mit Nirmal. Er verlangte oft, man solle ihn mit Nirmal anreden und hörte nicht auf seinen eigenen Namen. Zu seiner Mutter sagte er, sie sei nicht seine richtige Mutter, und er beklagte sich über das einfache Haus. Mehrmals bat er unter Tränen, ihn wieder nach Kosi Kalan zu bringen. Eines Tages brach er einfach auf eigene Faust auf, in der Hand einen langen Nagel. Das sei, so sagte er, der Schlüssel zu seiner Schublade im eisernen Geldschrank seines Vaters. Er hatte schon fast einen Kilometer auf der Landstraße hinter sich, als man ihn aufgriff und nach Hause zurückbrachte.

Man kann sich vorstellen, wie beunruhigt Prakashs Eltern über die plötzliche Veränderung ihres Sohnes waren. Sie wollten ihren alten Prakash wiederhaben, ohne die aufwühlenden Erinnerungen, an deren Nachprüfung sie nicht im mindesten interessiert waren. Schließlich riß ihnen der Geduldsfaden und sie nahmen die Sache selbst in die Hand. Einem alten Brauch folgend, wirbelten sie ihn auf einer Töpferscheibe herum, in der Hoffnung, er würde dadurch seine Vergangenheit vergessen, und als das nichts nützte, schlugen sie ihn. Ob Prakash durch dieses Vorgehen nun wirklich sein Leben als Nirmal vergaß oder nicht, jedenfalls sprach er nun nicht mehr darüber.

Unterdessen lebte in Kosi Kalan eine Familie, die sechzehn Monate, bevor Prakash geboren wurde, ein Kind durch Pocken verloren hatte. Sein Name war Nirmal gewesen, sein Vater hieß Bholanath Jain und seine Schwester Tara. Nirmals Vater war Kaufmann und hatte vier Läden – einen Kleiderladen, zwei Lebensmittelläden und einen Gemischtwarenladen, in dem unter anderem auch Hemden verkauft wurden.[4] Die Familie Jain wohnte in einem bequemen Ziegelhaus, und der Vater hatte dort tatsächlich einen großen eisernen Geldschrank, in dem jeder seiner Söhne eine Schublade für sich hatte, mit einem eigenen Schlüssel dazu.

Die Familie Jain hörte bald von dem Besuch des Kindes, das behauptete, Nirmal zu sein, machte aber fünf Jahre lang keinen Versuch, der Sache nachzugehen. Im Frühsommer des Jahres 1961 hatte Nirmals Vater mit seiner Tochter Memo geschäftlich in Chhata zu tun und traf zufällig auch mit Prakash und dessen Familie zusammen. (Bevor diese Ereignisse sie zusammenführten, hatten die beiden Familien nichts voneinander gewußt. Sie hatten auch keine gemeinsamen Bekannten.) Prakash erkannte «seinen» Vater sofort und war überglücklich, ihn zu sehen.[5] Er erkundigte sich nach Tara und seinem älteren Bruder Jagdish. Als der Besuch beendet war, folgte er seinen Gästen bis zur Bushaltestelle und bat sie weinend, ihn mit nach Hause zu nehmen. Prakashs Verhalten muß einen tiefen Eindruck auf Bholanath Jain gemacht haben, denn schon wenige Tage später kamen auch seine Frau, seine Tochter Tara und sein Sohn Devendra nach Chhata, um Prakash mit eigenen Augen zu sehen. Als Prakash Nirmals Bruder und Schwester – besonders Tara – sah, brach er in Tränen aus. Beide nannte er beim Namen. Er erkannte auch Nirmals Mutter: Auf Taras Schoß sitzend, deutete er auf Frau Jain und sagte: «Das ist meine Mutter.»

Die Familie Varshnay war von dem plötzlich über sie hereinbrechenden Geschehen nicht begeistert, und es gefiel ihnen auch nicht, daß Prakashs Erinnerungen und Sehnsüchte wieder zum Leben erweckt wurden. Aber genau das war mit aller Macht geschehen. Dennoch ließen sie sich schließlich dazu überreden, Prakash noch einen letzten Besuch in Kosi Kalan zu gestatten. Im Juli desselben Jahres, als Prakash knapp zehn Jahre alt war, fuhren sie zum zweiten Mal mit ihm nach Kosi Kalan. Er führte sie ohne Hilfe von der Bushaltestelle zum Haus der Jains, obwohl der fast einen Kilometer lange Weg mit seinen Windungen und Abzweigungen gar nicht so leicht zu finden war und Tara ihn durch falsche Hinweise in die Irre zu führen versuchte. Als er schließlich beim Haus der Jains ankam, stutzte er und war verwirrt. Es stellte sich heraus, daß der Hauseingang seit Nirmals Tod umgebaut und die Tür ein gutes Stück seitlich versetzt worden war. Innen fand Prakash richtig das Zimmer, in dem Nirmal geschlafen hatte, und das, in dem er gestorben war. (Nirmal war kurz vor seinem Tod in ein anderes Zimmer gebracht worden.) Er entdeckte den Geldschrank der Familie und erkannte einen kleinen Wagen, der zu Nirmals Spielzeug gehört hatte.

Prakash konnte auch viele Menschen aus Nirmals Umfeld richtig identifizieren. Er erkannte nicht nur «seinen Bruder», Jagdish, und zwei Tanten, sondern auch zahlreiche Nachbarn und Bekannte der Familie, die er entweder beim Namen nannte oder beschrieb, oder beides.[6] Als man ihn zum Beispiel fragte, ob er einen bestimmten Mann identifizieren könne, gab er seinen Namen richtig mit Ramesh an. Die anschließende Frage: «Wer ist das?» beantwortete er mit der zutreffenden Erklärung: «Er hat einen kleinen Laden vor unserem Laden.» Eine andere Person identifizierte er als «einen unserer Nachbarn beim Laden» und beschrieb ganz richtig, wo sich der Laden befand. Einen dritten Mann begrüßte er spontan, als sei er ein Bekannter der Familie. «Weißt du, wer ich bin?» fragte der Mann, und Prakash antwortete richtig: «Du bist Chiranji. Ich bin der Sohn von Bholaram» (sic). Dann fragte Chiranji ihn, woher er ihn kenne, und Prakash antwortete, er habe in seinem Laden immer Zucker, Mehl und Reis gekauft. Chiranji bestätigte, daß Nirmal diese Dinge gewöhnlich in seinem Lebensmittelgeschäft gekauft habe, das er allerdings nicht mehr besitze, weil er es kurz nach Nirmals Tod verkauft habe.

Die Familie Jain erkannte Prakash schließlich als Reinkarnation von Nirmal an, was die ohnehin schon beträchtliche Angst der Varshnays noch verstärkte. Sie hatten sich von Anfang an dagegen gewehrt, Prakashs angebliche Erinnerungen zu überprüfen, und schließlich nur nachgegeben, um seine lästigen Bitten zu beenden. Da sich Prakash offenbar stark zu den Jains hingezogen fühlte, fürchteten sie nun, diese würden ihnen Prakash wegnehmen wollen, um ihn zu adoptieren. Sie waren auch äußerst mißtrauisch gegenüber den Leuten, die den Fall untersuchten, und hielten sie (fälschlicherweise) für heimliche Abgesandte der Familie Jain. Prakashs Großmutter ging sogar so weit, ein paar Nachbarn aufzufordern, die Gruppe der Nachforschenden zu verprügeln.

Im Laufe der Zeit ließ die Spannung zwischen den beiden Familien jedoch nach. Die Jains hatten keinerlei Absicht, Prakash seiner Familie wegzunehmen, und waren mit den Besuchen, die schließlich gestattet wurden, vollauf zufrieden. Die Ängste der Varshnays schwanden allmählich, und auch Prakashs emotionale Bindung an seine Vergangenheit verlor an Intensität.[7] Als nach einigen Jahren noch einmal Forscher kamen, um weitere Gespräche zu führen, wurden sie viel freundlicher aufgenommen.

Wieder ein Kind mit verblüffenden Kenntnissen vom Leben eines anderen. Wieder ein Elternpaar voller Verwirrung und Unruhe. Wir werden im nächsten Kapitel auf die Frage der Beweiskräftigkeit solcher Fälle zurückkommen. Im Augenblick möchte ich die Untersuchung in einer anderen Richtung fortsetzen, wobei ich noch mal auf Romys Fall zurückkomme.

Welche Bedeutung würde es für Romy haben, wenn sich herausstellte, daß sie früher wirklich als Joe Williams gelebt hätte? Würde es, wenn sie heranwächst und in das Alter kommt, in dem sie über ihre Erfahrungen nachdenkt, ihre Vorstellung von sich selbst und von ihrem Leben verändern? Und wenn ihre Eltern den Gedanken der Reinkarnation akzeptiert hätten, hätte das die Erziehung ihrer Tochter beeinflußt? Hätte es sich auf ihre Ansichten über Kinder ganz allgemein ausgewirkt?

Wie auch immer die Antwort tatsächlich ausgefallen wäre, ich bin jedenfalls der Meinung, daß der Glaube an die Wiedergeburt einen solchen Einfluß ausüben müßte. Ich möchte sogar sagen, daß ich mir nur wenige Glaubenswahrheiten vorstellen kann, die ähnlich weitreichende Auswirkungen auf unser Selbstverständnis und unsere Auffassung vom Leben haben wie die Frage, ob es die Reinkarnation gibt oder nicht. Vielleicht stellen sich die Kontraste mir so scharf dar, weil ich selbst erst nach vielen Jahren des Lebens und Denkens in dem, was ich heute die «Einmal-Perspektive» nenne, zum Glauben an die Reinkarnationslehre gekommen bin. Die Wiedergeburt hatte in der katholischen Südstaatenwelt, in der ich aufgewachsen bin, keinen Platz, und auch in der akademischen Welt, in der ich meine Ausbildung erhielt, wurde sie nicht ernst genommen. Ich kann mich nicht erinnern, in den ganzen elf Jahren an der Universität auch nur einmal in einer Vorlesung davon gehört zu haben. Ich wußte, daß die Wiedergeburt vom Hinduismus und vom Buddhismus gelehrt wurde, aber ich kam damals nur am Rande mit diesen Lehren in Berührung. Alle religiösen oder profanen Philosophen, mit denen ich mich beschäftigte, legten ihrem Nachdenken über die Rätsel des menschlichen Daseins die Annahme zugrunde, daß das Leben eine Erfahrung ist, die wir nur einmal machen. Bei allen sonstigen Differenzen war diese gemeinsame Basis ihr Ausgangspunkt. Erst nach meinem Examen in Religionsphilosophie kam ich zu der Überzeugung, daß die Wiedergeburt eine Grundtatsache des Lebens ist – und damit eröffnete sich mir eine ganz neue Welt. Wenn eine der Grundregeln des Lebens die Reinkarnation war, dann spielten wir nach ganz anderen Regeln, als ich bisher geglaubt hatte.

Bei der Reinkarnation geht es im Kern um das Thema der Lebenserwartung und damit mittelbar um die Frage nach der eigentlichen Natur und dem Zweck des menschlichen Daseins. Eine der grundlegendsten Fragen, die wir uns stellen können, lautet: Wieviel Zeit habe ich? Wieviel Zeit habe ich, um zu leben, um Erfahrungen zu machen, um zu lernen? Wieviel Zeit habe ich, um Fehler zu begehen und diese zu korrigieren, um herauszufinden, was ich mir vom Leben verspreche, und es anschließend zu verwirklichen? Haben wir, wenn es hoch kommt, hundert Jahre zu leben, oder leben wir vielleicht zehntausend Jahre – viele Hundertjahreszyklen lang? Das sind entscheidende Fragen, denn von ihrer Beantwortung hängt es ab, als was wir uns selbst verstehen und wie wir den Sinn des Lebens definieren. Wir können in unserem Wesen nur das verwirklichen, wozu wir Zeit haben, und wir können vom Leben nicht mehr erwarten, als es uns in der vorhandenen Zeit geben kann. Alles hängt davon ab, wie viele Jahre uns zur Verfügung stehen.

Wenn uns nur ein Lebenszyklus auf der Erde zusteht, so wird der Kreis der Dinge, die wir im Leben Aussicht haben zu verwirklichen, sehr eng. Die Zeit reicht gerade, um unsere Identität als Individuum von den Erwartungen der Familie abzugrenzen, etwas zu lernen, einen Partner zu finden und die nächste Generation aufzuziehen, im Beruf etwas auf die Beine zu stellen und, wenn alles gutgeht, vor dem Tod noch ein paar ruhige Jahre mit den Enkeln zu genießen. Zwischendurch mag es gelegentlich geschehen, daß wir staunend aufblicken zu dem Universum, in dem wir leben, oder daß die Ehrfurcht vor dem Wunder der Geburt oder der Schönheit der Milchstraße uns zu Tränen rührt. Vielleicht bringen wir sogar Jahre unseres Lebens damit zu mitzuhelfen, daß die Menschheit einen Aspekt dieses Wunderwerks ein wenig besser versteht. Aber wir wissen immer: Sosehr wir uns auch bemühen, uns bleibt keine Zeit, diesen Kosmos, in dem wir leben, wirklich zu erforschen oder an seiner Größe auf irgendeine nennenswerte Weise teilzuhaben.

Das alles sieht anders aus, wenn wir viele Lebenszyklen auf der Erde weilen. Unsere Rolle im kosmischen Drama erweitert sich proportional zu der Zeit, die wir auf der Bühne stehen. Durch die Reinkarnation ist unsere individuelle Entwicklung eng mit der Entwicklung des Universums als Ganzem verknüpft, und der Anteil, den wir an allem haben, was um uns herum geschieht, steigt in seiner Bedeutung. Das muß unweigerlich dazu führen, daß wir in unserer philosophischen Einschätzung den Zweck des menschlichen Daseins höher bewerten.

Von unserer Einstellung zur Frage der Wiedergeburt hängen die Antworten auf viele andere wichtige Fragen ab. Nehmen wir zum Beispiel das Problem des Leidens. Jeder von uns weiß, daß ein einziger Anruf, ein Arztbesuch oder ein unvorsichtiger Autofahrer genügt, um unser Leben zu vernichten. Wie sollen wir mit den scheinbar unerklärlichen Katastrophen umgehen, die unser Leben so leicht zerstören können, indem sie Beziehungen abrupt beenden und unsere Träume wie Seifenblasen zerplatzen lassen? Das Leben um uns herum ist so voller Gemeinheit, so voll schreiender Ungerechtigkeit, daß es kaum gerechtfertigt scheinen kann anzunehmen, das Universum, in dem wir leben, lasse eine sinnvolle Deutung zu oder es unterstütze uns gar bei der Verfolgung unserer geheimsten Wünsche. Oberflächlich betrachtet, erscheint das Leben grausam und erbarmungslos, scheinen wir den Launen des blinden Zufalls hilflos ausgeliefert zu sein, unfähig, unser Geschick selbst zu bestimmen.

Jeden Abend wird uns auf dem Fernsehschirm von neuem die Litanei der Ereignisse vorgebetet, die unser Leben vernichten können. Eine Frau, die den Ärger über ihren Chef noch nicht überwunden hat, fährt bei Rot über die Kreuzung und stößt mit einem Auto zusammen, in dem ein Ehepaar und sein Baby sitzen. Die Frau und das Baby werden getötet. Ein Mann flippt aus, läuft Amok und schießt in einem Einkaufszentrum wahllos in die Menge. Wenn wir täglich von solchen Ereignissen hören, wie sollen wir dann nicht zu der Auffassung gelangen, daß unser Dasein einem Drahtseilakt über einem Abgrund blinden Zufalls gleicht, der ständig alles, was wir lieben, zu verschlingen droht? Wenn tragische Vorkommnisse wie diese wirklich sinnlos sind, dann besitzt unser Leben keine Ordnung und unser Schicksal keine Logik. Ohne Ordnung ist das Leben zufällig, und wenn es zufällig ist, ist es tragisch. Ohne Sinn können wir zwar überleben, aber wir können uns nie entspannen. Letztlich können wir uns nie sicher fühlen, weil wir wissen, daß dem Leben nicht zu trauen ist. Denn unsere tiefsten Bedürfnisse sind ihm gleichgültig, und es honoriert unsere aufrichtigen Bemühungen nicht. Wenn auch nur ein Menschenleben vergeudet, auch nur einem menschlichen Wesen vom Leben übel mitgespielt wird, dann ist das Universum ungerecht, und niemand kann ihm trauen.

Unsere Einstellung zu den vom Leiden der Menschen aufgeworfenen Fragen unterscheidet sich grundlegend je nachdem, ob wir von der Annahme ausgehen, daß unser Leben auf der Erde einmalig ist, oder ob wir es als Glied in einer Kette von vielen Leben betrachten. Wenn wir nur komplizierte physikalische Gebilde sind, die ihr Dasein einer Spontanmutation verdanken, wie so viele heute meinen, dann hat unser Leben und alles, was in ihm geschieht, natürlich keinen echten Sinn außer dem, den wir ihm durch einen heroischen Willensakt zuschreiben – ganz im Sinne des Existentialismus. Wenn die physikalische Welt die einzige Welt ist, die es gibt, und wir mit unserem Körper sterben, dann leben wir in einer nur von Notwendigkeit und Zufall bestimmten, ohne Ziel und Zweck operierenden Welt. Uns bleibt dann nur die Aufgabe, aus unserer Lage das Beste zu machen und zur Risikominderung an der technischen Weiterentwicklung zu arbeiten.

Die andere mögliche Haltung ist die des westlichen religiösen Denkens, das annimmt, daß wir den Verlust des Körpers überleben und entschädigt werden durch ein Leben nach dem Tode, das die Ungerechtigkeiten des irdischen Daseins in der Ewigkeit ausgleicht. Leider liefert diese Auffassung keine Erklärung für ebendiese Ungerechtigkeiten, die als Ausdruck des Willens Gottes verstanden werden, ohne daß wir jedoch letztlich begreifen könnten, warum Gott sie zuläßt. Den jahrhundertelangen Debatten zum Trotz ist die christliche Theologie nie imstande gewesen, auf befriedigende Weise zu erklären, wie sich das Leiden der Menschheit mit dem Glauben an einen all-liebenden, all-mächtigen und all-wissenden Gott vereinbaren läßt. So ist das Problem des Leidens zu einem Teil des göttlichen Mysteriums geworden.[8]

Doch die Seelenqual, die das Problem des Leidens in der westlichen Theologie traditionsgemäß begleitet, und die daraus folgende Unerforschlichkeit Gottes sind uns nicht durch die Offenbarung, sondern durch die fragwürdige Annahme aufgezwungen worden, daß wir nur einmal auf der Erde leben. Sobald wir die andere Möglichkeit ins Spiel bringen, daß wir nämlich viele Lebenszyklen hier durchlaufen und die Erfahrungen, die wir jeweils in einem bestimmten Zyklus machen, nur im Kontext der anderen begriffen werden können, wird die Welt mit einem Mal vielschichtiger, aber auch menschlicher. Sobald wir dazu übergehen, die Rhythmen des Lebens vom reinkarnationistischen Standpunkt aus zu betrachten, verwandelt sich das Chaos um uns herum in eine Symphonie von erlesener Komplexität und Schönheit. Arbeiten, die in einem Jahrhundert begonnen wurden, werden in einem anderen fortentwickelt und in einem dritten abgeschlossen. Entscheidungen, die in einem Leben getroffen wurden, offenbaren ihre Folgen in anderen Leben. Alles wird in der Zeit bewahrt, nichts geht verloren.

Seit mehreren Jahrhunderten führt uns die Wissenschaft die unglaubliche Pracht und Herrlichkeit des von uns bewohnten Universums vor Augen. Von der Ebene des Makrokosmos, wo Galaxien entstehen und vergehen, bis hin zum Mikrokosmos, wo die Partikel nur die «Tendenz haben zu existieren», zeigt es nicht nur eine schier unheimliche Präzision, sondern auch einen Einfallsreichtum und eine Schönheit, deren Reiz wir uns nicht entziehen können. Auf jeder ihrer Ebenen ist die Natur ein Kunstwerk. Wohin wir in der physikalischen Welt auch unsere Augen wenden, überall herrschen Ordnung und Intelligenz.[9] Doch sobald wir uns der Betrachtung unseres eigenen Lebens zuwenden, scheint diese Ordnung zu entschwinden; so jedenfalls stellt es sich uns seit dem Zeitalter der Aufklärung dar. Alles um uns herum unterliegt dem Gesetz von Ursache und Wirkung, nur auf der existentiellen Ebene des Lebens scheint der Zufall zu herrschen. Ursache und Wirkung mögen das Wetter, unsere Physiologie, ja sogar unsere Psyche bestimmen, doch über das Schicksal scheinen sie keine Macht zu haben. So sind wir in dem Bereich, der für uns am wichtigsten ist, von der Ordnung abgeschnitten, welche die Welt um uns herum bestimmt. Wenn es sich wirklich so verhält, dann ist die Schönheit eines großartigen Sonnenuntergangs nichts als ein grausamer Scherz, denn unser Leben hat an jener Schönheit ebensowenig Anteil wie an der Ordnung, die sie hervorgebracht hat.

Doch ist es nicht die Beobachtung von Tatsachen, die uns zu der Vermutung nötigt, daß der existentielle Fluß des menschlichen Lebens nichts mit der das physikalische Universum durchdringenden Ordnung und Majestät gemein hat, sondern die Annahme, daß unser Leben in dem Moment zu Ende ist, wo der physische Körper zerfällt. Sobald wir zu einer reinkarnationistischen Sichtweise übergehen, entdecken wir die Kausalität, die wir vorher nicht sehen konnten. Der Gedanke der Wiedergeburt ist fast immer mit der Vorstellung von Ursache und Wirkung verbunden, die unsere vielen Leben zu einer sinnvollen Abfolge zusammenfaßt. Dieses kausale Prinzip wurde im alten Indien als Karma bezeichnet, und unter diesem Namen ist es auch heute den meisten bekannt, die mit diesem Gedanken vertraut sind. Dem Gesetz des Karma zufolge gibt es im Leben keinen Zufall. Selbst jene Ereignisse, die scheinbar grundlos geschehen, beruhen auf Ursachen, die tief im Schoß der Geschichte verborgen sind. Der Karma-Gedanke enthüllt die gesetzmäßige Abfolge von Ursache und Wirkung, auf der unser Leben beruht, und stellt dieses damit in den Rahmen einer größeren natürlichen Ordnung. Diese natürliche Ordnung ist zwar nicht identisch mit jener, die für das physikalische Universum gilt, teilt mit ihr aber die Eigenschaft der Gesetzmäßigkeit. So gibt uns die Vorstellung von Karma und Wiedergeburt das Gefühl der Verbundenheit mit dem Universum, in dem wir leben, zurück. Durch ihn hat unser Leben teil an Ordnung und Intelligenz, und damit auch an der Schönheit, die uns auf Erden allenthalben umgeben.

Die Annahme einer reinkarnationistischen Weltanschauung beeinflußt nicht nur unsere theoretischen philosophischen Überzeugungen; sie kann auch die Art beeinflussen, wie wir den konkreten Anforderungen begegnen, die das tägliche Leben an uns stellt. Das können Sie sich am einfachsten klarmachen, wenn Sie sich einen Moment Zeit nehmen und sich irgendein Problem oder eine Aufgabe vorstellen, mit der Sie im Augenblick gerade zu kämpfen haben – vielleicht eine Beziehung, eine schwierige Arbeit, eine finanzielle Angelegenheit oder sonst etwas, das Ihnen im Moment Sorge macht. Sobald Sie es klar vor sich sehen, überlegen Sie einmal, wie sich Ihre Einstellung zu der Situation ändern würde, wenn Sie sie als etwas betrachteten, das nicht aus dem Nichts entstanden ist, sondern aus einer bestimmten Richtung kommt, mit einem ganz bestimmten Zweck und mit auf Sie persönlich bezogenen Möglichkeiten. Eine solche Vorstellung muß zwangsläufig Ihr Erleben jedweder Situation beeinflussen.

Die Annahme einer reinkarnationistischen Weltanschauung kann unser Verständnis dessen, was wir sind und worum es im Leben geht, so verändern, daß wir das Spiel unmöglich nach den alten Regeln weiterspielen können. Wir müssen die «neuen Regeln» kennenlernen, die in einer von der Wiedergeburt bestimmten Welt gelten. Wie wirkt sich die Reinkarnationsvorstellung auf unseren jetzigen Lebensentwurf aus? Die Beantwortung dieser Frage ist eines der Hauptziele dieses Buches.

Je länger ich dem Glauben an die Reinkarnation anhänge, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß es unwichtig und manchmal sogar kontraproduktiv ist, Einzelheiten über frühere Leben zu wissen. Die Einbeziehung persönlicher Vergangenheiten in therapeutische Bemühungen kann zu einer psychischen Befreiung führen, aber wenn wir uns zu ausschließlich mit dem Gewesenen beschäftigen, wozu ja viele Anhänger der Reinkarnationslehre neigen, dann besteht die Gefahr, daß wir den Blick für unsere gegenwärtigen Möglichkeiten einengen. Die Vergangenheit sagt nichts darüber aus, wer wir sind oder was wir aus uns machen können, wenn wir uns auf unser Potential konzentrieren. Andererseits hat das Bewußtsein, daß unsere Gegenwart sich tatsächlich sinnvoll aus der Vergangenheit ergibt, signifikante Auswirkungen darauf, wie wir uns in das sich um uns herum entfaltende Leben einbringen.

So reizvoll die Reinkarnationstheorie auch im Prinzip sein mag, sie bleibt so lange eine bloße Hypothese unter vielen, wie wir keine verläßlichen Daten finden, die sie erhärten. Zum Glück gibt es solche Daten, und zwar heute mehr denn je zuvor. Früher mußten wir mit rein spekulativen oder religiösen Argumenten für oder gegen die Reinkarnationstheorie kämpfen. Heute dagegen steht uns ein großer, ständig wachsender Fundus an Fakten zur Verfügung, die auf zahlreichen Wissensgebieten, zuweilen unerwartet und ungebeten, auftauch(t)en. Aufgrund dieser zahlreichen Belege glaube ich auch, daß es bei der Reinkarnation im wesentlichen gar nicht um eine religiöse Frage geht. Gewiß, sie hat auch Auswirkungen auf die Religion, denn sie beeinflußt unsere Ansichten über das Leben im allgemeinen, aber für das heutige Denken ist die Wiedergeburt im wesentlichen zu einer empirischen Angelegenheit geworden, zu einer Frage, die nicht mehr aus dem Glauben heraus, sondern aufgrund sorgfältiger Überprüfung von konkreten Fällen entschieden wird.

Die kritische Erforschung der Reinkarnation ist nun schon seit über fünfundzwanzig Jahren im Gange. Skeptische Fachleute haben so viel Beweismaterial zusammengetragen, daß sogar schon Sekundärliteratur darüber erscheint, um dem Anfänger eine erste Orientierung zu ermöglichen.[10] Das nächste Kapitel gibt einen Überblick über einige der für die Wiedergeburt gesammelten typischen Beweise, wenn ich auch prinzipiell davon abgesehen habe, Argumente für die Reinkarnation zu wiederholen, die anderswo schon ausführlich erörtert wurden. Dieses Buch ist daher im wesentlichen eine deskriptive, keine argumentative Darstellung des Themas. Es setzt im allgemeinen voraus, daß die Belege, die für frühere Leben sprechen, verläßlich sind, und beschreibt von diesem Standpunkt aus die erweiterte Weltanschauung, die sich aus dieser Entdeckung ergibt.

Ich persönlich denke, daß die für die Reinkarnation sprechenden Fakten überzeugend sind, und ich glaube, daß die meisten Menschen bei sorgfältiger und vorurteilsfreier Prüfung des Forschungsmaterials zu dem gleichen Schluß gelangen werden. Und doch glaube ich, daß wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch etwas anderes brauchen als eindrucksvolle Beweise. Viele meiner Studenten finden zwar die für die Reinkarnation sprechenden Daten im Einzelfall verblüffend oder sogar überzeugend, können sich aber dennoch nicht entschließen, das Konzept als Ganzes zu akzeptieren, weil sie keine Weltanschauung haben, in deren Rahmen diese Daten sich sinnvoll interpretieren ließen. Sie sperren sich dagegen, weil sie nicht verstehen, wie eine Welt aussehen könnte, in der Reinkarnation stattfindet. Was sie brauchen, ist ein Modell des Lebens, das zwar die Wiedergeburt mit einbezieht, aber gleichzeitig unser Leben als Individuen, wie wir es hier und jetzt erleben, unangetastet läßt. Dieses Buch stellt den Versuch dar, ein solches Modell zu entwerfen. Es beschreibt, wie das Leben sich einem Betrachter darstellt, der von der Richtigkeit des Reinkarnationsgedankens überzeugt ist.[11]

Viele wichtige Fragen zur Wiedergeburt werden in diesem Buch einfach aus dem Grund nicht beantwortet, weil zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine verläßliche Antwort noch nicht möglich ist. Selbst wenn das Material ausreicht, uns zu überzeugen, daß wir mehr als einmal auf der Erde leben, so hat es uns bisher doch noch nicht erklärt, wie das geschieht. Wir wissen also nach wie vor nichts über die genauen Mechanismen, wie ein Leben in das nächste übergeht. Da gibt es noch vieles, was wir bis dato nicht verstehen. Auch sagen die Fallgeschichten als solche nichts darüber aus, wo unsere Reise angefangen hat und wohin sie führt. Jede Antwort scheint neue Fragen aufzuwerfen. Trotzdem sollten wir uns durch die Tatsache, daß wir bisher nur über bruchstückhafte Informationen verfügen, nicht davon abhalten lassen, die Reinkarnation als Lebenstatsache anzuerkennen. Um zu sehen, daß vor meiner Haustür eine Straße vorbeiführt, brauche ich nicht zu wissen, woher sie kommt oder wohin sie führt. Ebensowenig muß ich über ein Naturphänomen in allen Einzelheiten Bescheid wissen, um zu erkennen, daß da ein Naturphänomen ist, und zwar eines, das genauer untersucht werden sollte.

Die Arbeiten, auf die ich in diesem Buch zurückgreife, stehen stellvertretend für eine Vielzahl von Quellen. Ich halte die Daten einiger dieser Arbeiten für ausgesprochen gesichert, während die anderer einen wesentlich vorläufigeren Charakter haben, wie es für sondierende Untersuchungen typisch ist. Einige der Arbeiten berichten über neue Psychotherapien, die vielen Lesern nicht vertraut sein werden. Andere stellen Ideen vor, die auf höchst spezielle Erfahrungen zurückgehen, die sehr selten sind, so daß die sich daraus ergebenden Konzepte für unser Ohr fremd klingen. Ich möchte daher von Anfang an klarstellen, daß ich in dieser Untersuchung nur Studien verwende, die meiner Ansicht nach methodisch sauber und deren Autoren persönlich integer sind. Der Fachmann wird hier die Namen jener Männer und Frauen wiederfinden, die im Begriff sind, die Grenzen der Bewußtseinsforschung zu erweitern; dem Laien mögen nur wenige davon bekannt sein. Ich habe mich im allgemeinen nicht bemüht zu erklären, warum ich einen bestimmten Forscher oder ein bestimmtes Institut für seriös halte, weil das umständliche Darlegungen und langwierige Exkurse zur Rechtfertigung der einen oder anderen Entscheidung erfordert hätte. Statt dessen habe ich die meines Erachtens signifikanten Einzelinformationen aus der Bewußtseinsforschung und den ihr verwandten Gebieten zusammengetragen, einem Puzzle gleich zusammengesetzt und dem Thema Wiedergeburt zugeordnet. Der Leser ist eingeladen, die Quellen sorgfältig zu studieren und selbst zu entscheiden, ob sie die ihnen von mir geschenkte Aufmerksamkeit verdienen.

Da die religiösen Denksysteme des Ostens seit Tausenden von Jahren die reinkarnationistische Weltsicht gepflegt haben, ist es nur natürlich, wenn wir uns bei dem Versuch, die Bedeutung der westlichen Forschungsdaten auf diesem Gebiet zu erfassen, zunächst an sie wenden. Aber die Reinkarnation war nie eine ausschließlich östliche Vorstellung. In der alten Welt war der Glaube an die Wiedergeburt weit verbreitet, und auch heute finden sich seine Anhänger auf dem ganzen Erdball. Die Reinkarnationslehre ist Bestandteil der mystischen Überlieferung selbst vieler westlicher Religionen. Ob eine religiöse Tradition sich den Reinkarnationsgedanken zu eigen macht, hängt nicht davon ab, ob sie einer östlichen Kultur entstammt, sondern davon wie «tief» ihre spirituellen Praktiken gehen. Mit anderen Worten: Der Glaube an die Reinkarnation scheint immer dann aufzutauchen, wenn psychische und meditative Übungen praktiziert werden, die dem einzelnen erlauben, in tiefere Bewußtseinsschichten vorzudringen – dorthin wo die Erinnerung an frühere Leben gespeichert ist. Der eigentliche Gegensatz besteht also nicht zwischen östlichen und westlichen Religionen, sondern zwischen dem, was oft als die esoterische bzw. die exoterische Seite der Religion bezeichnet wird. Da ich mich auf dieses Begriffspaar im folgenden oft beziehe, will ich es zunächst etwas genauer erläutern.

Die exoterische und die esoterische Ebene der Religion

Die Philosophie, die einer Religion zugrunde liegt, berührt viele verschiedene Ebenen des Lebens. Für manch einen ist die Religion lediglich eine einmal wöchentlich zu absolvierende Übung und eine Reihe von Riten, die mit den wichtigsten Wendepunkten im Leben zusammenhängen. Für andere ist sie ein Wertesystem, dementsprechend sie ihr Familienleben, ihre Karriere, ihre politischen Aktivitäten usw. organisieren. Für wieder andere ist sie ein System von spirituellen Praktiken, die den Weg in tiefere Schichten der Seele bahnen und den einzelnen in das innere Wirken des Universums einweihen. Die exoterische oder «öffentliche» Seite der Religion ist ihr eher konventioneller Aspekt. Das ist die «Religion für das Volk», mit der die meisten Menschen aufwachsen. Es ist die Form der Religion, wie sie sich in den evangelischen oder katholischen Kirchen oder in den Synagogen findet, wobei sich die Echtheit und Tiefe des religiösen Lebens natürlich von Ort zu Ort unterscheiden.

Wenn wir die esoterische oder «geheime» Seite der Religion entdecken wollen, müssen wir uns ein wenig auf die Reise begeben. Als mystischer Aspekt der Religion zieht diese Seite jene an, denen der Glaube allein nicht genügt, die vielmehr das, was die Lehren beschreiben, real erfahren wollen. Wer ihr folgt, läßt sich auf einen anspruchsvolleren Lebensstil ein, denn er muß bereit sein, all sein Denken und Tun der Disziplin einer spirituellen Übung zu unterwerfen. Daher ziehen sich solche Menschen aus den Städten in die Berge oder hinter Klostermauern zurück, wo es weniger Ablenkungen gibt.

Die esoterischen Überlieferungen begnügen sich nicht damit, feinsinnige Vorstellungen zu lehren, sondern führen in die praktische Erfahrung der hinter diesen Vorstellungen liegenden Realität ein. Theorien verlieren in dem Maße an Bedeutung, wie die Erfahrung heranreift. Ohne die Erfahrungen, von denen die Worte künden, verlieren die Worte buchstäblich ihren Sinn.

Da die Suche nach Gott und der Transzendenz ein universelles Anliegen ist, hat jede Weltreligion sowohl eine esoterische wie eine exoterische Seite. Jede Religion ist sowohl für die sich mit den einfacheren Lehren Begnügenden als auch für jene da, die nicht nur wissen, sondern auch erfahren wollen. Wir können uns die Religion als eine Ellipse vorstellen, ein Oval, dessen einzelne Punkte alle die gleiche Entfernung von zwei Mittelpunkten haben. Die zwei Mittelpunkte der Religion sind ihre exoterische und ihre esoterische Seite. So unterschiedlich diese beiden Seiten auch sein mögen, sie gehören doch beide der gleichen Tradition an. Sie definieren verschiedene Punkte auf einem Kontinuum religiöser Erfahrung und Reflexion. Oft sind sie sogar abhängig voneinander, da die wenigen Esoteriker der Unterstützung der Vielen bedürfen, um ungestört ihren zeitraubenden Übungen nachgehen zu können, während diese wiederum intellektuellen und geistigen Halt bei der spirituellen Elite finden.

Ein großer Teil meiner bisherigen Arbeit als Religionsphilosoph hatte mit der esoterischen Seite der Religion zu tun. Im Zuge dieser Arbeit bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß ein gemeinsamer philosophischer Impetus die esoterischen Traditionen der Welt bestimmt. Ich halte es daher mit Gelehrten wie Huston Smith und Frithjof Schuon, die in den esoterischen spirituellen Traditionen – so verschieden die exoterische Seite dieser Traditionen auch sein mag – einen Kern übereinstimmender Lehren glauben ausmachen zu können.

Die Ellipsen-Analogie weiter ausführend, könnten wir die wechselseitigen Beziehungen der verschiedenen Religionen der Welt als eine Reihe sich überschneidender Ellipsen darstellen (Abb. 1.1). Der von den äußeren Punkten gebildete Kreis steht für die exoterische, der innere für die esoterische Dimension der Religionen. Auf der exoterischen oder volkstümlichen Ebene fallen die Unterschiede der religiösen Praxis ins Auge – die unterschiedlichen Rituale, heiligen Bücher, heiligen Kalender, Endzeiterwartungen usw. Aber auf der esoterischen oder mystischen Ebene weisen die verschiedenen Lehren erstaunliche Ähnlichkeiten auf.

Abbildung 1.1

Diese Konvergenz der esoterischen Ebene der Religionen ist eigentlich ganz einfach zu erklären: Spirituelle Sucher auf der ganzen Welt erforschen die psychospirituelle Seite der Existenz, deren Wirklichkeit für alle Menschen gleich ist. Wir mögen in vielen verschiedenen Sprachen denken und sprechen, aber die Basis dieser Fähigkeit, unsere Hirnanatomie, ist jedem Vertreter der Spezies Homo sapiens eigen. So auch auf geistiger Ebene. Je tiefer wir in den spirituellen Bau der Existenz eindringen, desto mehr machen die kulturellen Unterschiede einem gemeinsamen Urgrund Platz. Ein Teil dieses gemeinsamen Urgrunds war häufig auch in den westlichen Religionen die Reinkarnationslehre.

Die Metaphysik des traditionellen rabbinischen Judentums nimmt zum Beispiel nur ein Leben an und legt das Hauptgewicht in diesem Leben, entsprechend der prophetischen Tradition, auf das soziale Handeln. Doch selbst hier haben die Mystiker, die das chassidische Judentum geprägt haben, die Reinkarnationslehre akzeptiert und in ihre Theologie eingebaut.[12] Auch die offizielle islamische Lehre lehnt den Gedanken der Reinkarnation ab und betont die alte semitische Vorstellung des Einen Gottes, dem wir letztlich verantwortlich sind. Das hinderte aber die islamischen Mystiker, die Sufis, nicht daran, sich den Reinkarnationsgedanken zu eigen zu machen und den Menschen als konkreten Ausfluß der Gottheit in humanem Gewande zu betrachten.[13] Innerhalb des Christentums traten im Laufe der Geschichte außer der mystisch orientierten Gnosis immer wieder verschiedene christliche Sekten für die Reinkarnationslehre ein – und wurden als Ketzer von der orthodoxen Kirche verfolgt. Der Dissens hinsichtlich der Reinkarnation ist also weniger einer zwischen Ost und West als zwischen der exoterischen und der esoterischen Ebene der Religion.[14]

Es ist eine der aufregenden intellektuellen Entwicklungen unseres Jahrhunderts, daß die Sicht des Lebens, die die esoterischen spirituellen Lehren wie ein roter Faden durchzieht, durch die moderne Forschung auf den verschiedensten Gebieten bestätigt zu werden scheint. Der Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker C.G. Jung war der erste westliche Intellektuelle, der dieses Muster erkannte. Heute sind sich bereits viele Menschen zum Beispiel der Entsprechungen zwischen den von der Quantenphysik gelieferten Darstellungen der subatomaren Wirklichkeit und den Lehren der östlichen Meditationsmeister bewußt. Die Bücher von Fritjof Capra, Gary Zukav und Fred Wolf, um nur einige zu nennen, haben uns die erstaunliche Tatsache vor Augen geführt, daß jene, die die physikalische Materie, und jene, die das Bewußtsein am eingehendsten untersucht haben, in ihren Aussagen über den Aufbau der Welt auf bemerkenswerte Weise übereinstimmen. In ähnlicher Weise hat die heutige Bewußtseinsforschung Beweise für den Wahrheitsgehalt vieler Elemente der esoterischen Weltanschauung geliefert. Je tiefer wir mit Hilfe moderner Techniken in das Bewußtsein vordringen, desto deutlicher finden wir die vielen Einsichten dieser frühen Erforscher der Psyche bestätigt. Ein gutes Beispiel für diese Gesetzmäßigkeit sind Stanislav Grofs Arbeiten auf dem Gebiet der Erfahrungs- oder Erlebnistherapie.

Diese Konvergenz der alten und der modernen Zeugnisse sowie die kulturüberschreitende Konsistenz der esoterischen Sicht veranlassen mich, in diesem Buch ohne apologetische Einschübe und umständliche Rechtfertigungen esoterische Quellen heranzuziehen. Die Sicht des Lebens, die ich hier vorstelle, ist also eine alte Weltanschauung, der durch die moderne Forschung neues Leben eingehaucht wurde. Es ist eine spirituelle Sicht des Lebens, eine Sicht, die das physikalische Universum als Teil eines größeren und grundlegenderen spirituellen Universums betrachtet. Sie sieht die Reise des Menschen als einen wiederholten Kreislauf zwischen diesen beiden Dimensionen, eine Reise, die so lange fortgesetzt wird, bis wir schließlich das erreichen, was zu vollenden wir auf die Erde gekommen sind.

Indem ich diese Sicht des Lebens vorstelle, bin ich mir sehr wohl bewußt, daß ich auf einem Pfad schreite, der in der Mitte zwischen zwei das Denken unserer Kultur bestimmenden alternativen Anschauungen von der Wirklichkeit liegt. Auf der einen Seite steht die traditionelle jüdisch-christliche Lehre, die die Existenz einer spirituellen Dimension betont, aber den Reinkarnationsgedanken ablehnt. Auf der anderen Seite steht die materialistische Überzeugung, daß die Materie das einzige ist, was überhaupt existiert – oder, genauer gesagt, daß die Materie der Kern ist, der alles lenkt und kontrolliert, was überhaupt existiert. Da dieses Denksystem die Existenz einer unabhängigen spirituellen Dimension grundsätzlich ablehnt, ist in ihm natürlich auch kein Platz für die Idee der Wiedergeburt.

Wegen des tiefgreifenden historischen Einflusses des Christentums auf die westlichen Vorstellungen vom Leben nach dem Tode beschäftige ich mich im sechsten Kapitel mit der Frage, ob im Rahmen der christlichen Lehre Platz ist für den Reinkarnationsgedanken. Auf das materialistische Konzept möchte ich gleich hier kurz eingehen. Das ist ein wichtiger Exkurs, denn wir alle, die wir im 20. Jahrhundert gelernt haben zu denken, sind von dieser Sicht der Wirklichkeit geprägt. Sie ist direkt und indirekt mit dafür verantwortlich, was wir für möglich und unmöglich halten.

Ist die Materie die bestimmende Wirklichkeit?

Die Anschauung, daß nur die Materie existiert, nennt man Materialismus. Bei genauer philosophischer Betrachtung hat sich der Materialismus als unhaltbar erwiesen, weil unsere Gedanken und Gefühle, um nur zwei Beispiele zu nennen, nicht adäquat als materielle Phänomene beschrieben werden können. Weder sind sie in der Weise Materie, wie wir diese in anderen Zusammenhängen erleben, noch können sie auf irgendeine sinnvolle Weise auf Materie zurückgeführt werden. Dieser Mangel hat zu einer Neuformulierung der materialistischen Hypothese geführt: zum Naturalismus. Unter Naturalismus versteht man die Ansicht, daß 1. nichts existiert, was nicht eine materielle Komponente hätte, und daß 2. in allem, was existiert, die physikalische Komponente das letzte Wort hat.[15] Der Naturalismus ist also der Ansicht, daß alles, was existiert, im wesentlichen in der Materie wurzelt. Die Materie ist der ultimative Grund der Wirklichkeit, und alles muß letztlich auf ihr beruhen. Unsere Gedanken und Gefühle sind daher zwar nicht ausschließlich materielle Phänomene, haben aber – als Gehirnzustände – einen materiellen Aspekt, der ihre entscheidende und alles bestimmende Komponente darstellt. Der philosophisch nicht Vorgebildete macht oft keinen Unterschied zwischen Materialismus und Naturalismus, in dem richtigen Gefühl, daß für beide Anschauungen letztlich die Materie das Primäre ist, «was eigentlich zählt».

Der metaphysische Naturalismus ist die einflußreichste säkulare Weltanschauung unserer Zeit.[16] Er ist die herrschende «Religion» der amerikanischen Intellektuellen, und das, obwohl uns die Quantentheorie seit fünfzig Jahren ein komplizierteres Universum zeigt als die meisten metaphysischen Naturalisten es sich vorstellen können. So erfolgreich und dramatisch waren die Versuche der klassischen Naturwissenschaft, die Geheimnisse der physikalischen Welt zu enthüllen, daß wir Schritt für Schritt zu der Überzeugung gelangt sind, wir könnten schließlich alles im Universum physikalisch erklären. Das heißt, wir zogen den voreiligen Schluß, die physikalische Welt sei die Grundlage von allem, was existiert.

Zunächst war die wissenschaftliche Methode nur eine von mehreren Methoden, Erkenntnisse über die Realität zu erlangen. Die Wissenschaft untersuchte die materielle, die Theologie die geistige Welt. In dem Maße, in dem unser Zutrauen zur wissenschaftlichen Methode – zusammen mit unseren Träumen von dem, was wir damit alles würden erreichen können – wuchs, festigte sich auch unsere Überzeugung, daß der Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft nützlicher sei als der der Theologie. Die Methoden der Theologie gestatteten nicht die gleiche exakte Verifizierung oder Falsifizierung, wie sie mit den wissenschaftlichen Methoden möglich waren. Und war die wissenschaftliche Technologie nicht im Begriff, uns viele der Segnungen zu verschaffen, die wir früher – mit weit weniger Erfolg – durch die Religion zu erlangen hofften? Immer mehr Menschen kamen zu der Ansicht, wir sollten unsere Zeit nicht mit Themen verschwenden, deren Studium zwangsläufig unvollkommen bleiben mußte, sondern uns lieber auf die Erforschung der Dinge beschränken, die wir exakt und mit klaren Ergebnissen untersuchen können. Diese verständliche und vielleicht auch berechtigte methodische Vorliebe verwandelte sich indessen im Laufe der Zeit in etwas völlig anderes.

Angesichts ihrer außerordentlichen Erfolge drängte sich uns der Eindruck auf, die Wissenschaft untersuche etwas Realeres